Abgesang?
Nachdenkliche Abschiedsworte eines Verfassungsrichters am 5. Mai 1996 vor versammelter Bundes-Prominenz. Ernst-Wolfgang Böckenförde, ein profilierter Vertreter der deutschen Staatsrechtswissenschaft und zugleich engagierter Katholik mit SPD-Parteibuch, erklärte: „Das Bundesverfassungsgericht -dies ist meine Überzeugung, die sich mir seit dem letzten Herbst aufdrängt und, nicht zu meiner Freude, verfestigt hat das Bundesverfassungsgericht ist heute nicht mehr das, was es bis zum 10. August 1995 war.“
An diesem Tag war der sogenannte Kruzifix-Beschluß des Verfassungsgerichts veröffentlicht worden. Böckenförde verzichtete allerdings auf den nach seinen Worten an sich fälligen „Rückblick auf das Bundesverfassungsgericht“. Dieses Thema müßte nämlich „auch in politischen Zusammenhängen behandelt werden, sich zu Politik und zu Politikern verhalten“. Dies aber sei mit der richterlichen Zurückhaltung in politics nicht vereinbar.
Unheilschwangeres Raunen eines Pensionärs oder erwiesener Befund des Verfalls einer Institution, die in den bald fünf Jahrzehnten ihres Bestehens eine so gewiß nicht erwartete , Karriere'im Machtgefüge der Republik gemacht hat? Nicht zufällig stellte sie den heutigen Inhaber des höchsten Staatsamtes. Zumindest ist Böckenfördes Klage ein zeitgeschichtliches Zeugnis dafür, wie tief gerade auch bei den amici curiae, den professionellen Verfassungspatrioten, die Sorge über den Autoritätsverfall des Bundesverfassungsgerichts gediehen war.
Wendet man aber den Blick auf vergleichbar turbulente Zeiten, dann relativiert sich die Betroffenheit, fällt geradezu eine Art argumentativer Wiederholungszwang ins Auge, reift die Erkenntnis: Bis heute ist die Verfassungsgerichtsbarkeit eine -pauschal gesprochen -in Politik und Medien teilweise unverstandene Institution, deren politischer Spielraum -absichtsvoll? -unterschätzt und deren an Expertenregeln gebundene Arbeitsweise oftmals übersehen wird. Daraus erklärt sich mancher , Überraschungseffekt'für die Öffentlichkeit, und die Enttäuschung der , Verlierer'reibt sich man-ches Mal an der Tatsache, daß Urteile des Verfassungsgerichts immer Geltung entfalten, auch wenn sie weder prägnant noch politisch klug formuliert sein sollten.
Das jüngste deutsche Verfassungsorgan ist andererseits auch nicht zu begreifen, wenn man nicht seine ganze Geschichte in den Blick nimmt. Wie Jahresringe eines Baumes lagern sich richterliche Erkenntnisse und die Ergebnisse heikler Bewährungsproben auf die Karlsruher Standfestigkeit ab.
Stilverfall?
Den Sprachgestus der Revolte leisten sich auch konservative Politiker mit und ohne Staatsamt, wenn sie höhere Werte wie Soldatenehre oder Kruzifix zu verteidigen meinen gegen die institutioneile Sicherung des bürgerlichen Verfassungsstaats: „Gegen den puren Unsinn und Übermut, auch der höchsten Gerichte, ist Widerstand geboten“ das Volk müsse sich nicht „von diesen juristischen Kaziken . . . alles bieten lassen“ Wem „linker Scheißdreck“ nicht zusagt, der bietet schon mal Prügel mit Dreschflegeln an Da angeblich durch „Rechtsprechung die Verfassung verletzt“ wurde, setzt Bedauern ein, daß es „keine Instanz zur Korrektur von Verfassungsgerichtsentscheidungen“ gebe. Und wer sich mit ihnen „nicht abfindet“, verlangt „eine Ergänzung des Grundgesetzes“ „wir respektieren das Karlsruher Urteil, aber wir werden es inhaltlich nicht akzeptieren“ Ministerpräsident Stoiber -inzwischen hatte die Katholische Kirche Bayerns gegen das Kruzifix-Urteil zu einer Großkundgebung aufgerufen, und die vom Episkopat vorformulierten Protestbriefe waren zur Flut angeschwollen -beschwor, verfassungsrechtlich unkonventionell, den Schutz der Mehrheit, „die das Verfassungsgericht nicht mehr verstehe“ bei seinen Beschlüssen zu Kruzifix, Tucholsky-Zitat etc. Den Richtern werden „schwerwiegende Konsequenzen“ für das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern schon im vorhinein angelastet, falls sie Teile des neu formulierten Asylrechts für verfassungswidrig erklären sollten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schließlich bescheinigte, scheinbar wissenschaftlich bestätigt durch die Aliensbacher Demoskopen, das Bundesverfassungsgericht habe einen plötzlichen Ansehensverfall erlitten, die umstrittenen Urteile seien Ursachen für diesen Niedergang
Ungehorsamsparolen und Fäkal-Injurien gab es auch schon 20 Jahre früher Das Urteil zum § 218, das anstelle der Fristenlösung ein Indikationenmodell in Kraft setzte fand schon vor der eigentlichen Verkündung -durch Indiskretionen war das Ergebnis bereits bekannt geworden -heftigen Widerspruch. Die Vize-Präsidentin des Bundestages, Lieselotte Funcke (FDP), äußerte, die Frauen könnten diesen Richterspruch „nicht akzeptieren und nicht respektieren“ Und Bundeskanzler Helmut Schmidt sah das Verfassungsgericht schon auf dem „Pfad“ des „Ersatz-Gesetzgebers“; man werde eingehend erörtern, „nach welchen Gesichtspunkten eigentlich die obersten Richter ausgewählt und bestellt werden“
SPD-Parteijugend und Publizistik beschworen ein restauratives Bündnis, eine „außerparlamentarische Opposition“ der „roten Roben“ mit der „schwarzen Union“ vom „Obergesetzgeber“ und den „Konterkapitänen von Karlsruhe“ ist da die Rede. Die Jungen Demokraten wiederum sahen in dem „Postkarten-Urteil“ einen „auf höchster Ebene legalisierten Verfassungsbruch“ und forderten die ,, Entmythologisierung des Karlsruher Götterrates“
Der hessische Ministerpräsident Holger Börner sorgte sich seinerzeit, ob das Bundesverfassungsgericht sich noch mit der „Rolle eines Hüters der Verfassung“ bescheide oder mit „rechtspolitischen Anweisungen im Stile verbindlicher Muster-Gesetze als Herr der Verfassung und Herrscher der Verfaßten“ hervortrete: „Im steigenden Maße diktiert es in die Entscheidungsgründe ... ein . . . Auslegungskorsett hinein, das den politischen Bewegungsspielraum der Null-Grenze nähert... und drängt... ungehemmt in die politische Macht-konkurrenz.“
Börner, einem Gewerkschaftsmann, tut man gewiß nicht unrecht, wenn man ihm Hintergedanken zum Verfassungsstreit über das damals erst kürzlich verabschiedete Mitbestimmungsgesetz unterstellt. Die Gewerkschaften sahen die inhaltlich weiter reichende Montan-Mitbestimmung durch das von den Arbeitgebern angestrengte Verfassungsbeschwerde-Verfahren gefährdet. Als ihr Versuch mißlang, durch Verlassen der „Konzertierten Aktion“ die Arbeitgeber zur Rücknahme der Karlsruher Beschwerde zu bewegen, drohte der DGB-Vorsitzende Oskar Vetter: Wenn die Verfassungsrichter die Zeichen der Zeit nicht erkennen würden, verwiesen sie die Gewerkschaften auf einen anderen Weg Und der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Friedhelm Fahrtmann (SPD) setzte noch einen drauf: Es müsse einen schlimmen „antiparlamentarischen Effekt“ haben, wenn „beamtete Richter“ sich über den Willen der Mehrheit des Volkes und des Bundestages hinwegsetzten. Ein solches restriktives Urteil aus Karlsruhe werde mehr „schaden als Tausende Extremisten“ Eine Umfrage des INFAS-Institutes signalisierte schon damals ein angeblich gesunkenes Vertrauen der Bevölkerung in das Bundesverfassungsgericht. Verschiedene Anlässe, ähnliche Argumente, z. T. bis in die Formulierungen hinein identische Reizwörter -vor allem immer wieder der Vorwurf fehlender Legitimität. Die Verfassungsrichter trieben -von der Mehrheitsmeinung nicht gedeckte -(Partei) -Politik, den authentischen Verfassungsinterpreten in Karlsruhe wird gar Verfassungsbruch bescheinigt und für den Fall mißliebiger Entscheidungen in laufenden Verfahren mit Volkes Zorn gedroht. Mehr oder weniger offen werden Eingriffe in die künftige personelle Zusammensetzung und Einschränkungen der bisherigen Kompetenzfülle angedeutet. Die Vorwürfe werden regelmäßig gekrönt mit angeblich sinkenden Werten der Demoskopie für die Karlsruher Verfassungsinstitution.
Mehrheitsprinzip und Verfassungsgerichtsbarkeit
Die Schärfe der Auseinandersetzungen verdeutlicht die Provokation, die die Verfassungsgerichtsbarkeit für jede verfaßte Demokratie darstellt. Das demokratische Mehrheitsprinzip wird hier ja institutionell konterkariert. Gerade die politische Opposition bzw. meinungsstarke Minderheiten, gelegentlich auch als querulatorisch empfundene einzelne Bürger kommen manches Mal zum Zuge. Aber so sieht es die Verfassung ausdrücklich vor. Das Grundgesetz bindet die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung unmittelbar an Gesetz und (auch überpositives) Recht und stellt zur Durchsetzung dieser Rechte eine eigene Staatsinstitution zur Verfügung. Selbst gegen überwältigende Mehrheiten in Parlament und Volk sollen grundgesetzlich verankerte Individualrechte mit Hilfe des langen Karlsruher Hebels durchgesetzt werden. Das Modell der drei reinlich geteilten Staatsgewalten ist hier kompliziert verschränkt und subtil ausbalanciert. In Politik und Medien wird dieses System der Funktionenbalancierung im bundesdeutschen Staatswesen zu wenig reflektiert. Zu wenig bedacht wird auch die Eigenart dieser Verfassungsinstitution. Sie kann nicht von sich aus, sondern nur auf Beschwerden und Anträge hin tätig werden. Und hierfür gelten bestimmte Zulässigkeitsvoraussetzungen und Verfahrensarten, die zugleich die Grenze der Gewaltenteilung markieren. Zum anderen -und das macht sich die Politik gelegentlich zunutze Das Gericht hat die Pflicht, zu entscheiden. Es kann nicht aus Gründen der Opportunität sich aus politisch heiß umkämpften Streitgegenständen , richterlich heraushalten, wie manches Mal die Forderung aus dem politischen Raum -mit Hinweis auf das anders gestaltete amerikanische Verfassungsprozeßsystem -lautet. Gerade diese Entscheidungspflicht ist -um es paradox zu formulieren -starker Arm und Achillesferse zugleich. Wenn das Gericht urteilt und möglicherweise Gesetze oder Staatsverträge aufhebt oder fachgerichtliche Entscheidungen umwirft, dann hat das öffentliche Brisanz: Der Unterlegene -entweder der politische Gegner oder die demoskopische Mehrheit -sieht sich oft genug als verfassungswidrig abgestempelt. Was in der politischen oder gesellschaftlichen Ebene bislang . Besitzstand war, ist plötzlich , moralisch abgewertet: Denn immer noch verleiht der Karlsruher Spruch die Bescheinigung, den Bestimmungen und Werten des Grundgesetzes entsprochen zu haben, dem , Sieger des Verfahrens die Aura besonderer Grundgesetztugend. Dem , Verlierer bleibt nur die Schande des ertappten , Verfassungsbrechers. Im politischen Geschäft schadet das nicht nur den eigenen Interessen, sondern auch der . Corporate Identity. Das kann durchaus rabiat machen.
Das verspätete Verfassungsorgan
Bewährungsproben hatte das Bundesverfassungsgericht schon in Zeiten zu überstehen, da weder die gesellschaftliche Ordnung noch das Staatsleben stabil waren und das Grundgesetz noch als Provisorium gedacht war. In dieser Zeit bildeten sich Status und Selbstgewißheit der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit heraus. Die Bonn Karlsruher Streitgeschichte begann eigentlich schon vor der Vereidigung der zunächst 24 Richter am 7. September 1951. Das Bundesverfassungsgericht trat also nicht mit der Gründung der Bundesrepublik ins staatliche Leben, war vielmehr ein . verspätetes Verfassungsorgan. Und heftig umstritten war bereits damals die Besetzung des Gerichts. Insbesondere an der Person des späteren Präsidenten Hermann Höpker-Aschoff (FDP), einem ehemaligen Finanzminister in der Weimarer Republik, entzündeten sich interne Konflikte innerhalb des Regierungslagers. Als „preußischer Zentralist“ schien er den einen schädlich für den Föderalismus, als zu liberal galt er andererseits der katholischen Kirche. Prälat Böhler wandte sich am 12. Juli 1951 mit folgenden Worten an Bundeskanzler Adenauer: „In katholischen Kreisen ist eine große Beunruhigung entstanden. Man befürchtet, daß bei der Besetzung des Verfassungsgerichtshofes die Katholiken wieder einmal zurückgesetzt werden ... Wenn es richtig sein sollte, daß einer der beiden Präsidenten aus der Weltanschauung des Liberalismus (Höpker-Aschoff, d. Verf.), der andere aus der Weltanschauung des Sozialismus (Rudolf Katz, d. Verf.) käme, würde im Präsidium eine absolut einseitige Richtung erkennbar sein.“ Böhler bat Adenauer, eine Lösung zu finden, „die auch vom christlichen Volksteil bejaht werden kann“
Adenauer reagierte umgehend und empfahl in einem persönlichen Schreiben Höpker-Aschoff die Ablehnung der Kandidatur, da seine Tätigkeit bei der einstigen Haupttreuhandstelle Ost zu Kriegszeiten in den Medien eine Diskussion hervorrufen könnte, „die recht unangenehm sein wird und die auch Ihre Stellung beeinträchtigen würde“. Die Einzelheiten des Bonner Verwirrspiels beiseite gelassen -Höpker-Aschoff wurde schließlich doch am 4. September 1951 zum ersten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts gewählt zeigt sich schon zu Beginn, wieviel politisches Kalkül die Bonner Politik mit der zukünftigen Rolle und Ausrichtung des Gerichts verband. Und es gehört zu den unvorhersehbaren Wundern der Nachkriegsgeschichte, wie dieses Gericht sich als eigenständiger Faktor im politischen Leben der Bundesrepublik etablierte.
Die Knechte des Rechts
Es verstand von Anfang an seinen hochpolitischen Auftrag, den Bundespräsident Theodor Heuss am 28. September 1951 bei der feierlichen Eröffnung des Gerichts so formulierte: „Wir hatten nun in Deutschland ja den mit falschem Pathos verbrämten und in primitivem Machtsadismus vollkommen realisierten totalitären Staat. Und den im Hintergrund, haben wir in das Grundgesetz erneut gelegt das Bekenntnis zu Menschenrechten und Menschenwürde. Und das ist in diesem Zusammenhang, an dieser Stelle, zu dieser Zeit keine sentimentale Floskel, sondern das Lebensbedürfnis eines Volkes, das die Qual und die Scham als Erfahrung hinter sich hat.“ Bundeskanzler Adenauer formulierte diesen Auftrag so: „Das Bundesverfassungsgericht beginnt seine Tätigkeit in einer Zeit, in der ganz allgemein, besonders aber auch in unserem Volke, der Rechtsgedanke an sich schweren Schaden gelitten hat. In einer Zeit, in der der Rechtsgedanke vielen zu einem überholten, antiquierten Begriff geworden ist. Ihre besondere Aufgabe wird es sein, dem deutschen Volke wieder die Überzeugung zum neuen Leben zu erwecken, daß die festeste, daß die einzige, dauerhafte und entscheidende Grundlage eines Volkes und der menschlichen Gesellschaft überhaupt das Recht ist.“
Die Festgäste in der Residenz des Rechts hatten wenige Tage zuvor erlebt, wie weit dieses neue Kraftzentrum im deutschen Staatsleben auch die Tagespolitik bestimmen kann. Völlig unerwartet für die Öffentlichkeit hatten die Verfassungsrichter mit einer einstweiligen Anordnung entschieden: Die Volksbefragung über die heftig umstrittene Neugliederung des Südwest-Staates, das heutige Baden-Württemberg, wird verschoben.
Hermann Höpker-Aschoff markierte in seiner Antrittsrede das ewig junge Thema: Wo überschneiden sich die Einflußsphären von Politik und Recht, mit einem mittelalterlichen Zitat der Konstitutionen von Melfi aus dem Jahr 1231: „, Der Gesetzgeber -Volk oder Herrscher -ist der Knecht des Gesetzes, wie es gilt. Er ist der Herr des Gesetzes, wenn er neues Recht schafft, aber auch dann noch ist er ein Knecht, denn indem er neues Recht schafft, soll er der Gerechtigkeit dienen. Auch wir Richter des Bundesverfassungsgerichts sind Knechte des Rechts und den Gesetzen Gehorsam schuldig. Und dennoch, das Grundgesetz unterwirft auch den Gesetzgeber unserer Gerichtsbarkeit...“
Der Streit um die Westverträge
Die Nagelprobe kam alsbald. Der Streit um die Westverträge erregte schon wenige Monate nach der Installierung des Verfassungsgerichts die Gemüter. Nach der außenpolitischen Konzeption von Bundeskanzler Adenauer sollte die Beteiligung der Bundesrepublik am Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ihr wieder zur Souveränität verhelfen. Die SPD-Opposition sah aber in der frühen Westbindung Deutschlands ein Hindernis für die deutsche Wiedervereinigung. Mit dem Argument, vor einer Wiederbewaffnung der Bundesrepublik müsse das Grundgesetz geändert werden, erhob sie eine Normenkontrollklage gegen die Vertragswerke. In Bonner Regierungskreisen machte sich nun die Befürchtung breit, der hier zuständige Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, der pauschal als „Roter Senat“ eingeschätzt wurde, könnte der SPD-Opposition recht geben. So brachten sich die Bundestagsfraktionen der Regierungskoalition selbst in Stellung und bestritten ihrerseits mit einer sogenannten Organklage der SPD-Fraktion das Recht auf ihre Normenkontrollklage gegen die Westverträge. Für diese Organklage der Regierungskoalition war aber nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts der Zweite Senat zuständig, dessen Richter nach Bonner Lesart dem „schwarzen Lager“ zugerechnet wurden.
Kaum ein Jahr im Amt, befand sich das höchste deutsche Gericht in einer delikaten Situation, in der die beiden Senate des Gerichts gegeneinander ausgespielt werden sollten. Und alsbald komplizierte ein dritter Prüfauftrag die Lage für das gesamte Verfassungsgericht: Der Bundespräsident bestellte beim Plenum, d. h.der Vollversammlung aller 24 Verfassungsrichter, ein Gutachten zum Thema Westverträge.
Am 8. Dezember 1952 fand das Gericht einen eleganten Ausweg aus der vertrackten Lage und entschied: Beide Senate sind an den künftigen Plenumsbeschluß gebunden. Im Klartext hieß das an die Bonner Adresse: Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren. Und Thomas Dehler, der erste Bundesjustizminister, wurde vom Gericht zur Ordnung gerufen. Er hatte am 21. November 1952 in Bad Ems das Gericht attackiert und sich beklagt über die „Barriere ... für unsere Verträge ... Ich möchte hoffen, daß in dem höchsten deutschen Gericht keine politischen Willensentscheidungen, sondern Rechtsentscheidungen fallen. Ich möchte hoffen, daß sich beim Bundesverfassungsgericht der Geist des Sozialismus nicht auswirkt.“ Solche Provokationen stießen beim Gericht auf Widerstand -das machte der Verfassungsgerichtspräsident Höpker-Aschoff in der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember klar. Er verlas eine vom Plenum mit 20 gegen 2 Stimmen beschlossene Erklärung. „Das Bundesverfassungsgericht hat mit Besorgnis von den herabsetzenden Äußerungen Kenntnis genommen... man hat dem Gericht sogar unterstellt, daß politische und nicht rechtliche Erwägungen seine Entscheidung bestimmen könnten .... Diese Äußerungen, die in anderen Staaten als Contempt of Court (Mißachtung des Gerichts) geahndet werden würden“ betrachte man „als ein bedauerliches Zeichen für die mangelnde Achtung vor dem Eigenwert des Rechts“.
Der Karlsruher Beschluß bedeutete: Das ausstehende Gutachten für den Bundespräsidenten würde bereits die Qualität eines Urteils im Verfahren um die Westverträge erlangen. Die Regierung Adenauer fürchtete nun ein vorzeitiges Karlsruher Veto und trat an den Bundespräsidenten heran. Theodor Heuss zog seinen Gutachten-Auftrag zurück. Nicht zuletzt diese Erfahrung sorgte dafür, daß später aus dem Aufgabenkatalog des Gerichts Rechtsgutachten für den Bundespräsidenten gestrichen worden sind.
Theodor Heuss’ Parteifreund, Justizminister Thomas Dehler, sah sich durch dieses Karlsruher Machtwort seinerseits über die Maßen provoziert und empörte sich, die Entscheidung des Gerichts sei ein „Nullum“. Das Gericht nehme die Rolle eines „Vorgesetzten des Parlaments“ ein: Wegen „eines solchen Gremiums“ könne man „Deutsch-land nicht vor die Hunde gehen lassen“ Und in einem der Presse übergebenen Schreiben an besorgte Bürger formulierte Dehler schließlich: „Das Bundesverfassungsgericht ist in einer erschütternden Weise von dem Wege des Rechts abgewichen und hat dadurch eine ernste Krise geschaffen.“
Dehler verfiel schließlich auch im Bundestag dem Wortrausch. Am 4. März 1953 erklärte er: „Das ist die eine, nach meiner Meinung sehr gefährliche Auffassung, daß das Bundesverfassungsgericht seinem Wesen nach eine politische Funktion besitze, daß es gewissermaßen der Schiedsrichter im Streite sei, daß es der oberste verfassungsmäßige Träger der Staatsgewalt sei. Diese Meinung geht dahin, daß das Bundesverfassungsgericht eine Überregierung, ein Überparlament sei. Dann kommt die große Frage, die ja bei jeder Verfassungsgerichtsbarkeit auftaucht, wenn man Wächter der Verfassung einsetzt: Quis custodiet custodes ipsos -wer bewacht am Ende die Wächter des Staates?“
Dehlers Auffassung, er als Justizminister sei der berufene Wächter über die Wächter, wurde in Karlsruhe heftig widersprochen. Hermann Höpker-Aschoff kritisierte den Bundesjustizminister öffentlich: „Ich sehe eine schwere Gefahr für den Gedanken des Rechtsstaates darin, daß ein Minister solche Kritik in der vom Bundesjustizminister gebrauchten Form übt... die Rechtsprechung der Gerichte zu überwachen, ein erschreckendes Wort! Nein, auch der Justizminister hat die Entscheidungen der Gerichte zu achten .. . auch wenn er (sie) für falsch hält. Niemals hätte (er) eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als ein Nullum bezeichnen dürfen, denn er steht nicht über dem Gericht.“
Verfassungsrecht und Politik
Aus dieser historischen Bewährungsprobe erwuchs das spezielle Karlsruher Selbstbewußtsein, das seinen theoretischen Niederschlag im berühmten Statusbericht des Gerichts fand Dort verwies man darauf, daß verfassungsrechtliche Entscheidungen oft mit „außerordentlich weitreichenden politischen Folgen“ verbunden seien, sie also „politische Wirkkraft“ entfalten. Und solche politischen Fragen, die geeignet seien, „sich zur Machtfrage auszuwachsen“, machen auch inhaltlich „das Politische selbst ... zum Gegenstand rechtlicher Normierung“. „Verfassungsrecht ist im spezifischen Sinn des Wortes politisches Recht.“ Eine Schlußfolgerung, die bis heute mancher Politiker nicht nachvollzogen hat. Die argumentative Höhe der Verfassungsrichter der ersten Stunde belegt schließlich die Beschreibung des latenten Konflikts „zwischen dem in ständiger Bewegung befindlichen Politischen und dem vorzugsweise in Ruhe verharrenden Recht“. Die Wertungen, die jeder Richter etwa bei der Auslegung privatrechtlicher oder strafrechtlicher Normen einzuschalten habe, unterscheiden sich „von denen eines Verfassungsrichters dadurch, daß die letzteren gegenständlich an den in der Verfassung enthaltenen politischen Entscheidungen orientiert und daher zwangsläufig politischer Natur sind“. Und weitsichtig formulierte man weiter: „Diese inhaltliche Verschiedenheit der durch den Richter einzuschaltenden Wertungen“ dürfe nicht zur „rechtsstaatlich-destruktiven“ Methode führen, „politisches Recht und Politik miteinander zu identifizieren“.
Diese Antwort des Gerichts an die Kritiker von gestern und heute muß zumindest zur Kenntnis genommen werden, wenn aufgebrachte Politiker oder frustrierte Fachrichter dem Verfassungsgericht Wildern in fremden Revieren vorwerfen. Klar ist: Das Verfassungsgericht befindet sich in der Beschreibung seiner Rolle durchaus in Übereinstimmung mit der . herrschenden Meinung'in der Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre.
Grundwertestreit
Die Allensbach-Demoskopin Renate Köcher knüpft an diese , ewige Debatte 1 über die Rolle des Verfassungsgerichts an, wenn sie überraschend offen die eigentlichen Motive so harscher, bisweilen gar nötigender Kritik von Politik und Medien benennt. Sie bewertet die jüngsten Diskussionen über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als nur „vordergründigen Streit“ um das Kreuz, um die Grenzen der Meinungsfreiheit oder die Einschätzung der Gefahren von Drogen“. Dahinter stehe die „Auseinandersetzung um die Macht, über die Werteordnung des Grundgesetzes und die Beibehaltung der Gewaltenteilung, in der das Bundesverfassungsgericht Hüter, nicht Herrscher der Verfassung ist“ 15 Jahre zuvor griff Wolfgang Zeidler, damals Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, exakt diesen „Grundwertestreit“ auf und verdeutlichte ein fundamentales Mißverständnis verfassungsrichterlicher Arbeitsweise: Als „Joker“ im „Pokerspiel . . . stets als Trumpfkarte verfügbar, nach Bedarf in jede Sequenz und Farbe passend“, würden von den Verfassungsrichtern die Begriffe Wertordnung und Grundwerte eingesetzt. Das Verfassungsrecht erschiene den Kritikern in Medien und Politik als zweistufiges Gebilde: Über dem positiven Grundgesetz eine „apokryphe ranghöhere Ordnung, die als Geist frei über den Wassern schwebende ... Grundwertordnung“, die für manche eine „Art ferngesteuerter Selbstfahrlafette (sei) im Dienst restaurativer Machtgelüste zur Niederwalzung aller Elemente und Resultate auf dem Weg der Menschheit in bessere und freiere Zustände“. Der , Interpretationsabsolutismus als moderne Herrschaftsform -darin finde eines „der den politischen Alltag belebenden Feindbilder seine Erklärung: die Roten Roben in Karlsruhe als Groß-Tyrann des Verfassungsstaates“ Zeidler benennt hier mit der ihm eigenen Wortlust das ewige Dilemma aller Verfassungsgerichtsbarkeit, zumal einer so ausgreifenden Verfassungsjudikatur wie in Deutschland. Die formende Kraft des Grundgesetzes für Politik und Gesellschaft, potenziert durch den Zugriff intellektuell oft beschlagener Verfassungsrechtsexperten im Richteramt, wirkt vor allem für die jeweiligen . Verlierer irregulär. Die entspannt formulierte These „the Constitution is what the judges say it is“ setzt möglicherweise den Pragmatismus voraus, der sich nach 200 Jahren Verfassungsstaatsleben in Nordamerika durchgesetzt haben mag. Auch dort ist bekanntlich von aufregenden Fehden zwischen politischer Führung und dem Supreme Court zu berichten. Präsident Roosevelt war ja drauf und dran, mit seiner Court Packing Bill den , Widerstand‘ der Richter gegen seine dirigistischen Wirtschafts-und Sozialreformen des New Deal zu brechen. Der Supreme Court sah darin unzulässige interventionistische Eingriffe in Eigentums-und Wirtschaftsrechte; mit fünf zu vier Stimmen blockierte er Roosevelts Gesetzes-pläne. Die daraufhin ventilierte Einführung einer Altersgrenze von 70 Jahren für die neun obersten Richter hätte Roosevelt die Nominierung von sechs -ihm politisch zugeneigten -Nachfolgern erlaubt. Der Konflikt löste sich schließlich undramatisch, als das Gericht seine Rechtsprechung -trotz oder wegen der Druckkulisse? -änderte und Roosevelts Gesetzen seine Zustimmung gab: „Switch in time that saved nine.“ Das Gericht blieb schließlich unangetastet, weil ein Richter seinen Standpunkt revidierte und die liberalistisch gesonnene Senatsriege um ihre Mehrheit brachte.
Wolfgang Zeidler würde für seine Gedanken zum Grundwertestreit auch heute noch die Zustimmung seiner Nachfolger finden, wenn er auf die besonderen, von politisch-parlamentarischer Willensbildung abweichenden Expertenregeln für das Bundesverfassungsgericht hinweist. Entgegen mancher verbreiteten Annahme handele es sich bei den vom Gericht verwendeten Begriffen zu „Wertordnung“, „Grundentscheidung der Verfassung“ oder „Grundwert“ nicht um einen „Werte-himmel subjektiver Beliebigkeit, in dem die Juristen mit Interpretationsherrschaft, je nach dem Inhalt ihrer politischen und weltanschaulichen Vorurteile, ins Blaue fabulieren können, sondern um Rechtsgehalte, deren Substanz mit Methoden der Rechtsfindung festgestellt wird“.
Die Grundwerteordnung überwölbe nicht als „freischwebendes amorphes Gebilde die positive Rechtsordnung“, sondern gehöre „als deren Bestandteil zu ihr“. Zeidler verwies auf die Formulierung, die klarstellt, daß das Gericht keine Wert-ordnung vor oder gar über der Verfassung erfunden habe, sondern eine „Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung vornehme“. Zeidler sagte das mit gutem Gewissen -klar ist allerdings auch, welche dogmatischen Spielräume sich bei solchen Auslegungsregeln ergeben, auch wenn man nicht die Politikziele definiert, sondern über die verfassungsrechtlich vorgegebenen Instrumente urteilt.
Anders als die Politik ist der -früher zeitweise lebenslang, heute für zwölf Jahre gewählte -Verfassungsrichter auch geistig freier, sich unpopuläre Entscheidungen zuzutrauen. Ließ etwa die Regierungspolitik in den ersten Jahrzehnten die Grundgesetzpostulate der Frauen-Gleichberechtigung und der Gleichstellung der nichtehelichen Kinder eher unbeachtet -Wählerstimmen waren damit augenscheinlich nicht zu gewinnen -, so setzte das Verfassungsgericht konsequent diese unmittelbaren Aufforderungen des Grundgesetzes durch. Ein weiteres Beispiel aus den Anfangstagen, das belegt, wie unbequeme Nachhilfe gegeben werden mußte: Der opportunistische Umgang der Politik mit sogenannten „verdrängten“ Beamten -bekanntlich waren darunter viele NS-Belastete -fand beim Verfassungsgericht keine Gnade.
Das Bundesverfassungsgericht traute sich -in krassem Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) -schonungslosen Realismus in der Darstellung der Beamtenwirklichkeit während der NS-Zeit zu. Auf die Verfassungsbeschwerde eines ehemaligen Kriminalassistenten, der seine Beamtenlaufbahn bei der Gestapo begonnen und deshalb von der Wiederverwendung nach dem „ 131er Gesetz“ ausgeschlossen war, antwortete der Erste Senat mit klaren Worten: „Das Wunschbild Hitlers, alle Beamten sollten überzeugte Nationalsozialisten sein, ist in der Tat Wunschbild geblieben ... Die Absicht aber, die Institution des Beamtentums gesetzlich und effektiv an den Staat in seiner Verschränkung mit dem Nationalsozialismus zu binden, hat Hitler durchgesetzt. Danach aber muß sich das Schicksal der Institution nach dem Zusammenbruch des Systems bemessen.“ Die antitotalitäre Ausrichtung des Grundgesetzes gab das Verbot der rechts-wie linkstotalitären Parteien SRP (Sozialistische Reichspartei) und KPD ebenso zwingend vor, stand aber gewiß auch atmosphärisch Pate bei einer der folgenreichsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die seit den fünfziger Jahren die Expansion und Dynamisierung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts auslöste: dem Lüth-Urteil
Ein Markstein
Erich Lüth, ein Hamburger Journalist und Pressesprecher in hansestädtischen Diensten, nahm am 27. Oktober 1950 seinen Kampf um die Meinungs freiheit gegen einen der schlimmsten Hetzer der Nazizeit auf. Er war empört, daß ausgerechnet Veit Harlan, der Regisseur des Films „Jud Süß“, jetzt auch im Nachkriegsdeutschland wieder reüssieren konnte. Als Harlans Film „Unsterbliche Geliebte“ präsentiert wurde, verfaßte Lüth einen offenen Brief, mit dem er zum Boykott des Filmes aufrief, Doch die Filmgesellschaft reagierte nicht etwa schamvoll, sondern mit einer Klage gegen Erich Lüth; sie wollte ihn für die ausbleibenden Einnahmen finanziell haftbar machen. Und tatsächlich, Lüth verlor vor den Hamburgischen Gerichten. Nur mit Hilfe eines Freundeskreises, der ihn mit Spenden über Wasser hielt, konnte er seinen Kampf durchhalten. Am 15. Januar 1958 gab das Verfassungsgericht Erich Lüth recht: Es bestehe ein entscheidendes Interesse daran, daß die Welt gewiß sein könne, das deutsche Volk habe sich von der nationalsozialistischen Geisteshaltung inzwischen abgewandt, und deshalb sei sein Boykott-Aufruf eine verständliche Abwehr, die Geschäftsinteressen der Filmfirma gingen nicht diesem Recht auf entschiedenen Meinungskampf vor.
Verfassungsjuristisch war das eine Sensation. Der Freiheitsschutz der Bürger wurde hier umfassend gesehen, gleichgültig, ob die Gefahr vom Staat oder von privater Stelle ausgehe. Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte war damit eingeführt. Das Gericht sieht die Grundrechte seitdem nicht mehr nur als Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat, sondern als ein Wertsystem, das die gesamte Rechtsordnung -auch das Privatrecht -beeinflußt, prägt, durchdringt. Diese Ausstrahlungswirkung der Grundrechte zieht eine entsprechende verfassungsgerichtliche Verarbeitungstiefe nach sich. Damals etablierte das Gericht auch seine Anschauung von der „grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede“, namentlich im öffentlichen Leben.
Ungleichzeitigkeit von Verfassungsrecht und Politik
Das Lüth-Urteil und die darin entwickelte, lange Zeit hochgelobte Rechtsprechung von der Dritt-wirkung der Grundrechte führt übrigens direkt zu den so umstrittenen „Soldaten-Mörder-Beschlüssen“ des Gerichts. Und daran ist ein weiterer, selten bedachter Effekt verfassungsrechtlicher Entscheidungen zu studieren: Sie gelten sozusagen ewig, werden zitatweise oft Jahrzehnte lang tradiert, es sei denn, eine Rechsprechungslinie wird ausdrücklich aufgegeben. Das fördert einerseits eine gewisse Bedächtigkeit und damit Berechenbarkeit bei der Rechtsprechung; andererseits entsteht hier ein Effekt künstlicher Gleichzeitigkeit. Nur den Experten sind die geschichtlichen Judikate geläufig, das Magazin der Argumente füllt sich immer weiter auf. Deshalb war es kein Zufall, sondern zeigt eher das , gute Gewissen'der dreiköpfigen Kammer des Gerichts, daß sie den ersten „Soldaten-Mörder-Beschluß“ als bereits verfassungsrechtlich geklärtes Problem behandelte. Erst die Politik schreckte die Öffentlichkeit -kurz vor der Bundestagswahl -mit schrillen Tönen auf.
An diesem Beispiel zeigt sich: Der Kurzzeitrhythmus der Politik kollidiert mit dem Langzeit-rhythmus der Richter. Das Gericht, nicht auf Wahlergebnisse hin orientiert, zieht mit seiner Grundrechtsdogmatik Rechtsprechungslinien weit aus, neigt nicht zu kurzfristiger Taktik. Und ob man es als wissenschaftstheoretischen Mythos betrachtet oder zumindest als Arbeitshypothese gelten läßt: Der Auftrag des Gerichts ist, rationale, objektivierbare Kriterien im Grundrechtssystem zu finden und auf den zu entscheidenden Streit anzuwenden. Der emotionale Jargon der Betroffenheit ist hier verpönt.
Man ist als Verfassungsrichter auch ein -oft glühend beneidetes -Mitglied einer Expertengemeinde, d. h. hier geht es um Wissen, gar um Wahrheit; die entpersönlichte Urteilssprache vermittelt Selbstgewißheit bei der Darstellung unausweichlicher Ergebnisse. Hier wird , klargestellt', »Grundsätze verlangen'bestimmte Schlußfolgerungen, , es ist geboten, daß ..
Dieses Expertentum der Langzeitpolitiker in der Karlsruher Verfassungsinstitution stärkt durchaus das Selbstbewußtsein. Und es ist nicht notwendig antiparlamentarisch gedacht, wenn Wolfgang Zeidler einmal darauf hinwies, wie wenig Zeit dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages für solide Sacharbeit bleibt. Ein erheblicher Teil werde verbraucht für die sogenannte „große“ Politik, „also oft genug bei nüchterner Betrachtung nur die dekorative Ausschmückung von Gemein-plätzen ... Es bleibt danach nur ein begrenzter zeitlicher Rahmen, der nicht entfernt ausreicht, um den Bedarf des Gemeinwesens nach Richtliniengebung zu erfüllen ... So gerät insbesondere die Dritte Gewalt fast unausweichlich in die Rolle des Lückenbüßers.“
Versäumnisse der Politik
Das hier mitschwingende Elite-Bewußtsein bzw. die Vermutung eines gewissen Nachhilfebedarfs wird gelegentlich durchaus gestärkt durch das Verhalten von Parlament und Exekutive selbst. Man lese nur einmal Bundestagsdebatten nach, in denen sich juristisch mehr oder weniger beschlagene Parlamentarier gegenseitig Urteilszitate an den Kopf werfen, um die Notwendigkeit oder Unmöglichkeit politischer Reformpläne zu belegen. Und wenn nach jahrzehntelanger Untätigkeit des Gesetzgebers Gerechtigkeitspostulate unerfüllt bleiben, sieht sich das Gericht zum Handeln gezwungen. Urteile wie die zur Erbschafts-und Vermögensteuer oder zum Ausgleich der Familienlasten setzen dann Standards und Zieldaten für die Politik. Man kann durchaus, etwa mit Verfassungsrichter Böckenförde darüber hadern, daß das Parlament aus seiner Verpflichtung zu politischer Kreativität entlassen wird, aber der Sache der Bürger dienen solche Entlastungsurteile gewiß.
Und häufig genug ersetzen Verfassungsgerichtsentscheidungen auch den oft beklagten Mangel an plebiszitären Möglichkeiten, sorgen für ein aggiornamento des historischen Grundgesetztextes. Vorkehrungen gegen Demokratie-Gefahren der modernen Datenverarbeitung etwa sind erst im Zusammenspiel engagierter Bürger und technikkundiger Verfassungsrichter beim Urteil zur Volkszählung 1983 unter dem Topos informationelle Selbstbestimmung grundrechtsverbindlich geworden.
Selbst in ureigenen politischen Materien wurde und wird die Entscheidung oft genug am Karlsruher Richtertisch gesucht. Jüngstes Beispiel: die Auseinandersetzungen über die Rolle der Bundeswehr und die Verpachtungen der Republik zu militärischen Einsätzen im Rahmen von UNO und NATO. Ein -zumindest politisch unmöglicher -Antrag der FDP-Bundestagsfraktion im Somalia-Streit gegen die von ihr mitgetragene Bundesregierung nötigte die Verfassungsrichter dazu, der Politik zu erklären, wozu sie sich 1973 mit dem Beitritt zur UNO verpflichtet hatte.
Das Gericht mußte hier aus den verstreuten Bestimmungen des Grundgesetzes erstmalig eine verbindliche Streitkräfte-Philosophie entwickeln, die heute weitgehend Konsens im Bundestag geworden ist. Das Urteil hat bewußt mit der Kreation des „Parlamentsheeres“ die Legislative gestärkt und ausdrücklich gesagt, daß das Grundgesetz die Bundesrepublik verpflichte, für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen. In diesem Falle hatten sich die Außenpolitiker aller Parteien -gewiß auch wegen der beschränkten Bewegungsfähigkeit der Bonner Republik bis ins Jahr der Wende hinein -auf immer drängendere Fragen der UNO nach Beteiligung deutscher Soldaten hinter dem ebenso bequemen, wie falschen Argument verschanzt, die bundesdeutsche Verfassung erlaube den militärischen Einsatz out ofarea nicht. Lieber ließ man -verfassungsrechtlich weit bedenklicher -bewaffnete Bundesgrenzschützer -also letztlich Polizisten -in Namibia bürgerkriegsbedrohte Regionen sichern.
Und die Verfassungsrichter denken auch erheblich grundsätzlicher über die Themen Demokratie und Nation nach als der eine oder andere Politiker, der seine historische Rolle zu " bestätigen sucht. Mit dem Maastricht-Beschluß, des Verfassungsgerichts, der die -die Öffentlichkeit überraschende -Vision einer Europäischen Währungsunion auf den Boden des Grundgesetzes stellte, sicherte das Gericht, daß die Garantien des Grundgesetzes auch im Rahmen der europäischen Integration nicht berührt werden dürfen, daß nicht durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages auf europäische Organe die bundesdeutsche Staatsgewalt so entleert werden könnte, daß das demokratische Prinzip in seinem unantastbaren Kernbestand verletzt würde.
An diesen von der Politik provozierten Karlsruher Urteilen wird das -seit Jahrzehnten eingespielte -Beziehungsgeflecht zwischen Bonn und Karlsruhe deutlich.
Wenn die Gefahr eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates beschworen wird, ist gewiß auch der Eigenanteil der Politik an dieser Entwicklung zu bedenken. Und mit Schrecken wehrte man sich seitens des Gerichts erst kürzlich gegen noch weitere Befugnisse, die mit opulent formulierten Staatszielen das Gericht noch tiefer in die politische Tagesdiskussion gezogen hätten. Es fehlte nicht viel, daß dem Grundgesetz gar der Satz eingefügt werden sollte: „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen.“ Was zuviel ist, ist von Übel, kommentierte Verfassungsrichter Dieter Grimm
Wer von einer Hypertrophie der Verfassungsgerichtsbarkeit spricht, müßte also zugleich auch den politischen Betrieb der Bundesrepublik insgesamt in den Blick nehmen. Man kann und muß die Methoden der Rechtsgewinnung des Gerichts grundsätzlich diskutieren. Man muß gewiß die Frage stellen, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht heutzutage eine inzwischen am Grundgesetz geschulte Fachgerichtsbarkeit weniger , anleiten'müßte als früher, kann also Korrekturen Vorschlägen. Die ostentative Mißachtung von mißliebigen Verfassungsgerichtsentscheidungen, das Bestreiten ihrer Legitimität aber sollte in einem Verfassungsstaat unterbleiben. Wie wollte denn auch künftig die Politik oder die Verwaltung von den Bürgern verlangen; unangenehme Gesetzespflichten zu erfüllen?
Ob und wo allzu üppige Wucherungen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu stutzen sind, ist eine immer offene Frage, die sein Präsident Böckenförde in seiner Abschiedsrede mit einem Kant-Wort beantwortete: „Aus so krummem Holze, als aus welchem der Mensch gemacht ist, kann nie etwas ganz Gerades gezimmert werden.“