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Die Institutionalisierung der politischen Opposition in den deutschsprachigen Ländern: Deutschland, Österreich und die Schweiz im Vergleich | APuZ 14/1997 | bpb.de

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APuZ 14/1997 Vier Wege zur unmittelbaren Bürgerbeteiligung Probleme und Perspektiven direkter Demokratie in Deutschland Die Institutionalisierung der politischen Opposition in den deutschsprachigen Ländern: Deutschland, Österreich und die Schweiz im Vergleich

Die Institutionalisierung der politischen Opposition in den deutschsprachigen Ländern: Deutschland, Österreich und die Schweiz im Vergleich

Ludger Helms

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag ist der vergleichenden Analyse der institutioneilen Einrichtungen für die Ausübung von politischer Opposition in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz gewidmet. Die Institutionalisierung von Oppositionsrechten bildet ein zentrales Merkmal des demokratischen Verfassungsstaates. Als Oppositionsrechte können sowohl respräsentativdemokratische als auch direktdemokratische Einrichtungen angesehen werden. Der Vergleich zeigt am Beispiel der drei deutschsprachigen Länder unterschiedliche Modelle der Institutionalisierung von politischer Opposition auf. Diese sind einander nicht prinzipiell über-oder unterlegen, sondern reflektieren die unterschiedlichen Funktionslogiken und historischen Entwicklungsbedingungen des deutschen, österreichischen und schweizerischen Regierungssystems.

Das Recht auf Opposition gilt als das vornehmste Merkmal der freiheitlich-pluralistischen Demokratie Zur Grundausstattung konsolidierter liberal-demokratischer Systeme zählt dabei nicht nur das Recht auf oppositionelles Verhalten, sondern insbesondere die Institutionalisierung der Opposition Diese kann höchst unterschiedliche Formen annehmen. Direktdemokratische Instrumente, mit Hilfe derer Bürger direkt in das politische Willensbildungs-und Entscheidungsverfahren eingreifen können, zählen ebenso dazu wie die in der übergroßen Mehrzahl westlicher Länder dominante repräsentativdemokratische und heute üblicherweise parteienvermittelte Variante der parlamentarischen Opposition. Ihnen ist gemein, daß sie -jeweils spezifische -Möglichkeiten eröffnen, alternative Positionen zur Regierungspolitik zu formulieren und unter Umständen deren Umsetzung in allgemeinverbindliche Entscheidungen mit einem Veto zu belegen.

Der vorliegende Beitrag ist den institutionalisierten Ausprägungen von politischer Opposition in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz gewidmet, wobei sich die vergleichende Betrachtung ausschließlich auf die jeweilige Bundesebene beschränkt. Während im Rahmen des sogenannten „Families of Nations“ -Ansatzes gerade auf die zahlreichen Ähnlichkeiten in der politisch-materiellen Dimension der deutschsprachigen Länder hingewiesen wurde überwiegen im hier interessierenden Bereich eindeutig die Unterschiede. Diese im weiteren Kontext der politischen Sy­ steme vergleichend zu erfassen ist das Anliegen der folgenden Ausführungen.

I. Die parlamentarische Opposition in den deutschsprachigen Ländern

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Einrichtung der parlamentarischen Opposition in den drei Ländern. Dabei gilt: Wer von der Opposition spricht, darf von der Regierung nicht schweigen. Schließlich ist die Rolle der parlamentarischen Opposition das, was für die anderen im Parlament vertretenen Gruppen nach der Regierungsbildung übrigbleibt.

1. Regierungs-und Oppositionsformierung in den deutschsprachigen Ländern

Die Formierung von Regierung und Opposition in den deutschsprachigen Ländern folgt sowohl in der Verfassungstheorie als auch in der Verfassungspraxis unterschiedlichen Regeln. In den parlamentarischen Regierungssystemen der Bundesrepublik und Österreichs kommt die Regierungsbildung in aller Regel auf der Grundlage von Koalitionsaussagen vor den Wahlen und anschließender Koalitionsbildungen zwischen Parteien zustande, die sich im Besitz einer parlamentarischen Mehrheit befinden. Dabei ist die „Koalitionsfähigkeit“ der einzelnen Akteure des Parteien-systems von ähnlich zentraler Bedeutung wie die Stimmenstärke einzelner Parteien. Die Variationsbreite unterschiedlicher Regierungsformen (Allparteienregierung, kleine Koalition, große Koalition, Einparteienregierung) war in Österreich nach 1945 deutlich größer als in der Bundesrepublik, wo -von kurzen Ausnahmephasen abgesehen -stets unterschiedlich zusammengesetzte kleine Koalitionen regierten. Im nichtparlamentarischen System der Schweiz hat sich demgegenüber ein grundlegend anderes System der Regierungsformierung herausgebildet, das zwar ebenfalls einen Bezug zum Wahlergebnis der einzelnen Parteien aufweist, jedoch weder durch Koalitionsbildungen noch durch alleinregierende Parteien gekennzeichnet ist. Vielmehr wird die von vornherein auf sieben Mitglieder begrenzte Anzahl an Positionen in der Schweizer Regierung (dem Bundesrat) genau proportional zu der Mandatsstärke der einzelnen Parteien in der Bundesversammlung (den beiden Kammern des eidgenössischen Parlaments) vergeben Die Ermittlung der einzelnen Bundesratsmitglieder erfolgt dabei durch mehrere separate Wahlakte der Bundesversammlung, womit bei der Regierungsbildung selbst ein quasi-gewaltenverschränkendes Moment wirksam wird. Die so ins Amt gelangte Regierung kann dann allerdings bis zum Ende der vier Jahre währenden Legislaturperiode nicht aus politischen Gründen abberufen werden, womit der Bundesrat im Anschluß an seine Einsetzung eine strukturell vergleichbare Stellung besitzt wie die Regierung eines präsidentiellen Systems. In der Verfassungspraxis führte das schweizerische Proporzsystem dazu, daß sich eine für freiheitlich-pluralistische Demokratien einmalige Regierungsstabilität herausbildete. So teilen sich seit 1959 die drei bürgerlich-konservativen Parteien (FDP, CVP, SVP) gemeinsam mit der Sozialdemokratischen Partei (SPS) jeweils eine feste Anzahl von Regierungspositionen

Bemerkenswert im Hinblick auf die Regierungszusammensetzung in den drei Ländern ist jedoch nicht nur die unterschiedliche Variationsbreite und Stabilität der Regierungsformen in den drei Ländern, sondern insbesondere auch die parlamentarische Mehrheitsbasis der einzelnen Regierungen oder anders ausgedrückt, der jeweilige Inklusionsgrad auf der Regierungsebene. Drastisch „überdimensionierte“ Regierungen, die über mehr als zwei Drittel der parlamentarischen Mandate verfügten, gab es in Bonn seit 1949 nur ein einziges Mal während der Zeit der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD (1966-1969). In Österreich amtierten dagegen im Anschluß an den Zerfall der Allparteienregierungen der frühen Nachkriegszeit mit Unterbrechungen für rund 30 Jahre lang Große Koalitionen aus SPÖ und ÖVP (1947-1966 und seit 1987). In der Schweiz gar bildeten Regierungen, bei denen die beteiligten Parteien zum Teil weit über 80 Prozent der Mandate auf sich vereinigten, den Normalfall, von dem nach 1945 nur für wenige Jahre (1953-1959) abgewichen wurde.

Spiegelbildlich zu der Struktur der Regierungen variierte die parlamentarische Repräsentationsbasis der oppositionellen Parteien in den drei Ländern unterschiedlich stark. Die größten diesbezüglichen Schwankungen gab es in Österreich. Nachdem in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Herbst 1947 wegen der Bildung einer Allparteienregierung vorübergehend überhaupt keine parlamentarische Opposition im Nationalrat existierte, stand der SPÖ-Minderheitsregierung (1970-1971) für eineinhalb Jahre eine majoritäre ÖVP-FPÖ-Opposition mit 50, 9 Prozent der Mandate gegenüber. Die Repräsentationsstärke der Opposition in der Bundesrepublik war insgesamt deutlich konstanter. Hier fiel die Mandatsquote der Opposition nur einmal -zur Zeit der Großen Koalition (1966-1969) -weit unter die 30-Prozent-Marke. Nach den Wahlen von 1994 zog die Opposition im Besitz von 49, 3 Prozent der Mandate in den Bundestag ein -das bislang beste Ergebnis einer parlamentarischen Minderheit seit Bestehen der Bundesrepublik Ein ganz anderes Bild wiederum zeigt sich für die Schweiz. Dort verfügten die zahlreichen Oppositionsparteien im Nationalrat nur zweimal -von 1953 bis 1959 und nach den Wahlen von 1991 -vorübergehend über mehr als ein Drittel bzw. ein Viertel aller Mandate der ersten Kammer des schweizerischen Parlaments. Ansonsten pendelte deren Anteil zwischen rund zwölf und 21 Prozent der Mandate.

Auch die Anzahl der parlamentarisch repräsentierten Oppositionsparteien variierte im Drei-Länder-Vergleich beträchtlich. In der Bundesrepublik und in Österreich war sie fast den gesamten Zeitraum über deutlich geringer als in der Schweiz, wo stets mindestens fünf unterschiedliche Parteien im Nationalrat vertreten waren. Eine Ausnahme für die Bundesrepublik markiert die erste Wahlperiode des Bundestages, während derer Repräsentanten von sieben unterschiedlich großen oppositionellen Gruppierungen zuzüglich dreier formal unabhängiger Volksvertreter die Opposition zum ersten Kabinett Adenauer bildeten. Seit den fünf-ziger Jahren bis zur ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 saßen hingegen nie mehr als zwei Opposition-parteien im Bundestag. Ein ganz ähnlicher Befund zeigt sich für Österreich, wo die Opposition im Nationalrat bereits seit 1947 bis zur Abspaltung des Liberalen Forums von der FPÖ kurz vor den Wahlen von 1994 lediglich aus jeweils höchstens zwei unterschiedlichen Parteien bestand. Die jüngere Tendenz zur Ausdifferenzierung des oppositionellen Lagers kennzeichnet jedoch alle drei Systeme. Am mit Abstand weitesten fortgeschritten ist diese Entwicklung im Schweizer Nationalrat, in dem sich die Opposition seit 1983 stets aus Vertretern von mindestens zehn Parteien zusammensetzt, obwohl sich diese Zahl im Anschluß an Wahlen jeweils durch Fraktionsbildungen zwischen mehreren Kleinstgruppen mehr oder minder deutlich reduzierte.

2. Die institutionelle Chancenstruktur der parlamentarischen Opposition

Die recht kurzfristig veränderbare Anzahl und Mandatsstärke der parlamentarisch repräsentierten Oppositionsparteien allein sagt noch verhältnismäßig wenig über die Stellung der Opposition in einem System insgesamt aus. In institutioneller Hinsicht entscheidend für die Position der Opposition innerhalb eines Systems ist deren Ausstattung mit institutionalisierten Minderheitenrechten. Dabei läßt sich analytisch unterscheiden zwischen „bloßen“ Kontrollrechten (zu denen etwa das Fragerecht zählt) einerseits und konkreten Mitwirkungs-und Vetorechten andererseits Von einer für die Opposition günstigen institutionellen Chancenstruktur kann insbesondere dann gesprochen werden, wenn diese über möglichst zahlreiche Mitwirkungs-bzw. Vetorechte verfügt. Zu den diesbezüglich wichtigsten Komponenten können zusammenfassend die folgenden Aspekte gezählt werden: -auf der Ebene des Parlamentsplenums eine formale Beteiligung der Minderheit bei der Aufstellung der parlamentarischen Tagesordnung, das uneingeschränkte Recht zur Gesetzesinitiative und ein Minderheitenveto in Form eines Zweidrittelmehrheits-Erfordernisses bei der Verabschiedung verfassungsändernder Gesetze; -auf der Ausschußebene die Ressortorientierung der für die Gesetzesberatung vorgesehenen Ausschüsse und eine proportional zu ihrer Mandatsstärke im Plenum bemessene Berücksichtigung der Opposition bei der Vergabe von Ausschußvorsitzen -eine Vetomöglichkeit der Opposition über die Zweite Kammer des Parlaments oder funktional vergleichbare Körperschaften wie Gliedstaatenkammern; -eine Vetochance der Opposition gegen Mehrheitsentscheidungen über die Verfassungsgerichtsbarkei Bezieht man diesen Kriterienkatalog auf die Situation in den drei deutschsprachigen Ländern, so läßt sich feststellen, daß die günstigsten institutioneilen Voraussetzungen parlamentarischer Opposition in der Bundesrepublik bestehen. Hier verfügt die Opposition über sämtliche der genannten Mitwirkungs-und Vetoinstrumente. Sie besitzt ein uneingeschränktes Recht zur Gesetzesinitiative, wirkt über den Ältestenrat bei der Aufstellung der Tagesordnung des Plenums mit und kann die Verabschiedung verfassungsändernder Gesetze im Bundestag wirkungsvoll verhindern, solange nicht -was bislang nur einmal (1966-1969) der Fall war -die Regierungsmehrheit allein über eine Zweidrittelmehrheit der Mandate verfügt. Sie hat ferner -notfalls über das sogenannte Zugriffsverfahren -Anspruch auf einen proportional zu ihrer Mandatsstärke im Plenum bemessenen Anteil an den Vorsitzendenpositionen in den Ständigen Ausschüssen, welche seit den späten sechziger Jahren im übrigen auch exakt ressortorientiert sind. Des weiteren besitzt die Opposition (sofern sie über mindestens ein Drittel der Mandate im Bundestag verfügt) in Form der abstrakten Normenkontrollklage die Möglichkeit, die Verfassungskonformität von parlamentarisch beschlossenen Maßnahmen vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen. Schließlich kann eine oppositionelle Minderheit im Bundestag im Falle entsprechender Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat sämtliche „zustimmungspflichtigen“ Gesetzesbeschlüsse des Bundestages dauerhaft blockieren. Sogenannte „Einspruchsgesetze“, die vom Bundesrat mit zwei Drittel seiner Mitglieder mit Einspruch belegt wurden, können überdies vom Bundestag nur mit einer Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden zurückgewiesen werden.

Institutionell etwas schlechter gestellt ist die parlamentarische Opposition in Österreich. Dies hat vor allem etwas mit der im Vergleich zum deutschen Bundesrat deutlich geringeren Macht der österreichischen Länderkammer zu tun, in der (zumindest in der Verfassungspraxis) Entscheidungen ebenfalls weitgehend nach parteipolitischen Gesichtspunkten gefällt werden. Anders als in der Bundesrepublik, wo mittlerweile deutlich mehr als die Hälfte aller Gesetzesbeschlüsse des Bundestages in die Kategorie der sogenannten „Zustimmungsgesetze“ fallen, die der ausdrücklichen Zustimmung des Bundesrates bedürfen, gibt es in Österreich nur eine sehr geringe Anzahl „zustimmungspflichtiger“ gesetzgeberischer Materien. Auch existiert in Österreich, im Gegensatz zur Bundesrepublik, keine Verfassungsregel, die besagt, daß Einsprüche des Bundesrates bei soge-nannten „Einspruchsgesetzen“, die mit Zweidrittelmehrheit der Bundesratsmitglieder gefaßt wurden, nur mit einer ebensolchen Mehrheit der Ersten Kammer zurückgewiesen werden können. Hinzu kommen eine Reihe weniger zentraler Aspekte wie der in Österreich nicht geschäftsordnungsrechtlich garantierte Anspruch der Opposition auf eine ihrer Repräsentationsstärke im Plenum entsprechende Berücksichtigung bei der Vergabe von Ausschußvorsitzendenpositionen und die nicht immer ganz exakte Ressortorientierung der Ständigen Ausschüsse im Nationalrat. Ferner gilt für Gesetzesinitiativen „aus der Mitte des Hauses“, die vor allem für die Opposition von Belang sind, daß diese -anders als nach der Geschäftsordnung des Bundestages, die den dazu bevollmächtigten Initiatoren keinerlei inhaltliche Auflagen macht -mit einem Kostendeckungsvorschlag versehen sein müssen, über dessen Angemessenheit der beratende Fachausschuß entscheiden muß.

Noch etwas lückenhafter ist das Arsenal an institutionalisierten Mitwirkungs-und Vetorechten der parlamentarischen Opposition in der Schweiz beschaffen. Im Nationalrat sind als wichtige oppositionelle Mitwirkungsrechte vor allem die Mitwirkung bei der Aufstellung der parlamentarischen Tagesordnung sowie das uneingeschränkte Recht (sogar einzelner Abgeordneter) zur Gesetzesinitiative zu nennen. Bemerkenswert ist darüber hinaus das große Gewicht der Zweiten Kammer des schweizerischen Parlaments -des Ständerates -, der dem Nationalrat hinsichtlich seiner Kompetenzen im parlamentarischen Entscheidungsverfahren absolut gleichberechtigt gegenübersteht. Im Vergleich zu der Situation in der Bundesrepublik und Österreich fehlt jedoch die Institution des Minderheitenvetos bei verfassungsändernden Gesetzen in Form eines Zweidrittelmehrheits-Erfordernisses. Ferner gibt es ebenso wie in Österreich keine ausdrückliche geschäftsordnungsrechtliche Regelung, die der Opposition eine proportional zu ihrer Mandatsstärke im Plenum bemessene Berücksichtigung bei der Vergabe von Ausschußvorsitzendenstellen garantieren würde. Anders als die Bundesrepublik und Österreich kennt die Schweiz schließlich auch keine generelle abstrakte Normenkontrolle, auf deren Grundlage eine qualifizierte parlamentarische Minderheit vor dem Bundesgericht (das in der Schweiz zugleich die Funktion eines Verfassungsgerichts besitzt) gegen vom Parlament beschlossene bundesrechtliche Maßnahmen klagen könnte.

3. Vergleichende Bewertung

Ein Vergleich der Stellung der parlamentarischen Opposition in den drei deutschsprachigen Ländern vermittelt einen ambivalenten Eindruck. Auf der gouvernementalen Ebene im engeren Sinne fällt zunächst auf, daß die Bereitschaft, die Regierungsmacht stärker zu teilen als notwendig, in den drei Ländern sehr unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Sie ist ausgesprochen typisch für die Schweiz, vergleichsweise seltener in Österreich und an Ausnahmesituationen gebunden in der Bundesrepublik. Diese deutlich voneinander abweichenden Logiken der Regierungsbildung haben ihren wichtigsten Grund in den unterschiedlichen politisch-kulturellen Voraussetzungen der drei Länder Obwohl die Bundesrepublik im Vergleich etwa zur politischen Kultur Großbritanniens ebenfalls noch immer durch ein auffallend hohes Maß an „Harmoniebedürftigkeit“ geprägt ist reicht dieses Bedürfnis -anders als in der Schweiz und in Österreich -nicht so weit, daß die permanente formale Einbeziehung der größten Oppositionspartei(en) in die Regierung zur maßgeblichen Handlungsnorm erhoben würde.

Die unterschiedlichen Regierungsbildungsmuster haben unvermeidliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Oppositionsrolle innerhalb der gouvernemental-parlamentarischen Arena: Die Besonderheit der parlamentarischen Opposition im schweizerischen Regierungssystem besteht vor allem darin, daß ihr jeglicher Anspruch einer „Alternativregierung“ fehlt. Ein Machtwechsel durch Wahlen oder zumindest durch von bestimmten Wahlerwartungen beeinflußte Veränderungen in der Koalitionsneigung einzelner Akteure ist wegen der schweizerischen Proporzregel praktisch ausgeschlossen. Statt dessen wird im Gegensatz zum deutschen Fall, wo die formale Teilung in ein Regierungs-und ein Oppositionslager zugleich den Strukturrahmen für die Wahrnehmung einer Regierungs-und Oppositionsfunktion konstituiert, ein wesentlicher Teil der Oppositionsfunktion in der Schweiz -und in Phasen Großer Koalitionen auch in Österreich -von jenen Parteien wahrgenommen, die selbst zugleich formal an der Regierung beteiligt sind.

Mit Blick auf Österreich hat man bereits vor Jahrzehnten von einer sogenannten „Bereichsopposition“ (Kirchheimer) gesprochen, um jene Praxis österreichischer Regierungsorganisation terminologisch zu erfassen, in der einem ÖVP-Ressortchef ein SPÖ-Staatssekretär beigeordnet wurde und umgekehrt In der Schweiz, wo überdimensionierte Regierungen traditionell nicht aus den Vertretern von lediglich zwei, sondern vier Parteien gebildet werden, etablierte sich ein weniger schematisches Modell einer „built-in Opposition“ (Kirchheimer), in dem sich alle Regierungsparteien mehr oder minder frei fühlten, im Bedarfsfall auch solche politischen Standpunkte zu formulieren, die sich nicht exakt mit der Regierungspolitik deckten, und im Parlament sogar gegen Regierungsvorlagen zu votieren Als besonders typisch gilt eine solche Rolle für die Schweizer Sozialde­ mokraten, die -historisch betrachtet -als letzte in den Kreis der regierenden Parteien auf der eidgenössischen Ebene stießen und bis heute ein ausgeprägtes Selbstverständnis als „oppositionelle Regierungspartei“ bzw. gar „regierende Oppositionspartei“ beibehalten haben

Umgekehrt proportional zum jeweiligen Inklusionsgrad auf der Regierungsebene fällt die parlamentarische Repräsentationsstärke jener Parteien, die nicht Bestandteil der Regierung sind, je nach System sehr unterschiedlich groß aus. Auch hinsichtlich der Fraktionalisierung der parlamentarischen Opposition zeigen sich signifikante Unterschiede. Diese lassen sich nicht nur mit der ungleichen Anzahl parteibegründender Konfliktlinien erklären, sondern auch mit den Wirkungen der landesspezifischen Wahlsysteme, welche kleineren, insbesondere regional begrenzten Parteien sehr unterschiedlich gute Erfolgschancen einräumen. Die Schweiz ist nicht nur das Land mit der im längerfristigen Durchschnitt mandatsmäßig schwächsten und am stärksten zersplitterten parlamentarischen Opposition. Zugleich sind dort auch die formalen Mitwirkungs-und Vetorechte, derer sich jene Gruppen bedienen können, die keinen Teil der Regierung bilden, etwas schwächer ausgeprägt als in den beiden anderen deutschsprachigen Ländern.

Vor dem Hintergrund der typischen Charakterisierung der Schweiz als „Konkordanzdemokratie“ erscheint dies zumindest auf den ersten Blick als ein Widerspruch. Dieser wird jedoch auflösbar, wenn man berücksichtigt, daß die Kontrolle der Regierungspolitik bzw.deren Korrektur im schweizerischen Regierungssystem nicht ausschließlich -ja nicht einmal primär -durch die ihrem Charakter nach repräsentativdemokratische Einrichtung der parlamentarischen Opposition wahrgenommen wird. Wie der folgende Abschnitt zeigt, läßt sich mit Blick auf die drei hier interessierenden Länder dahingehend generalisieren, daß die Mitwirkungs-und Vetorechte der parlamentarischen Opposition jeweils um so stärker ausgeprägt sind, je weniger diese durch zusätzliche direktdemokratische Oppositionsrechte ergänzt werden.

II. Direktdemokratische Einrichtungen politischer Opposition in den deutschsprachigen Ländern

Der Oppositionscharakter von direktdemokratischen Einrichtungen variiert beträchtlich. Am stärksten entwickelt ist er in solchen plebiszitären Instrumenten, die der Bevölkerung nicht nur das Recht zur Artikulation oppositioneller Vorstellungen in Form von Initiativen oder Anregungen zu staatlichem Handeln geben, sondern diese mit konkreter Entscheidungsgewalt ausstatten. Die reinste Ausprägung unmittelbar entscheidungsrelevanter Oppositionsinstrumente bilden direktdemokratische Einrichtungen, mit denen eine vom Parlament getroffene Entscheidung im nachhinein mit einem plebiszitären Veto belegt werden kann. Allerdings können auch Volksentscheide, die nicht im Anschluß an einen Parlamentsbeschluß, sondern im Gefolge einer Volksinitiative stattfinden, einen dezidierten Oppositionscharakter aufweisen, da sie nicht selten solche Maßnahmen betreffen, die von der Mehrheit der parlamentarischen Elite bewußt nicht getroffen wurden. Ein weiteres entscheidendes Kriterium für das Gewicht direktdemokratischer Oppositionsrechte in einem System bildet die Frage nach dem Initiativrecht für den Gebrauch plebiszitärer Einrichtungen, das entweder beim Volk, bei der Mehrheit oder aber bei einer qualifizierten Minderheit der repräsentativ-demokratisch legitimierten Elite liegen kann.

In der „super-repräsentativen Verfassung“ der Bundesrepublik -dem Grundgesetz -sind, anders als in den Länderverfassungen, keinerlei direktdemokratische Oppositionsrechte enthalten, durch die die umfangreichen Mitwirkungs-und Vetorechte der parlamentarischen Opposition ergänzt würden. Einige Gegner plebiszitärer Einrichtungen haben für die Bundesrepublik gerade den noch weiter gehenden strukturellen Machtzuwachs der Opposition durch Gesetzesreferenden, die dieser die Möglichkeit gäben, außerparlamentarische Unterstützung für ihre im Parlament unterlegene Position zu mobilisieren und damit möglicherweise das parlamentarische Entscheidungsverfahren zu konterkarieren, zum Ansatzpunkt ihrer Kritik gemacht In der Verfassungsreformdiskussion 1992-1994 konnten sich Vertreter, die eine Einfügung direktdemokratischer Elemente in das Grundgesetz befürworteten, nicht durchsetzen. Statt dessen wurden die Weichen für eine Beibehaltung der ausschließlich repräsentativdemokratischen Struktur des politischen Entscheidungsverfahrens auf Bundesebene gestellt Dem internationalen Trend folgend, hat jedoch zumindest die theoretische Diskussion über direktdemokratische Einrichtungen in den neunziger Jahren auch hierzulande neue Schubkraft erhalten

Anders als die Bundesrepublik kennt die österreichische Verfassungsordnung direktdemokratische Instrumente nicht nur auf Länder-, sondern auch auf Bundesebene Das Volksbegehren österreichischer Prägung -das von mindestens 100 000 Bundesbürgern oder aber von einem Sechstel der wahlberechtigen Bevölkerung dreier Länder unterstützt sein muß -gibt dem Initiator die Möglichkeit, einen bestimmten durch Bundesgesetz zu regelnden Gegenstand entweder unmittelbar als Gesetzentwurf oder aber unter Angabe der wichtigsten Komponenten einer gewünschten Regelung dem Parlament zur Beratung vorzulegen. Das Parlament ist jedoch keineswegs verpflichtet, den Vorschlag aufzugreifen und durch parlamentarische Beschlußfassung tatsächlich in Kraft zu setzen. In der Praxis nach 1945 hatten bislang lediglich drei von sechzehn Volksbegehren eine gesetzgeberische Maßnahme zur Folge. Nachdem das erste österreichische Volksbegehren erst 1964 auf Betreiben von Teilen der parteipolitisch unabhängigen Presse zustande kam, hat sich dieses Instrument nach Meinung kritischer Beobachter in der Folgezeit jedoch mehr als offensives Druckmittel gegenüber der Regierung in den Händen oppositioneller Gruppen etabliert

Die einzige direktdemokratische Einrichtung im Bereich des staatlichen Entscheidungsverfahrens auf der österreichischen Bundesebene, die ohne Vermittlung des Parlaments als verfassungsrechtlich zwingend vorgeschriebene Maßnahme der unmittelbaren Beteiligung der Bevölkerung zur Anwendung gelangt, betrifft den Sonderfall sol-eher gesetzgeberischer Akte, die eine Totalrevision der Bundesverfassung (bzw. einzelner fundamentaler Verfassungsprinzipien) zum Gegenstand haben. Sowohl das fakultative Verfassungsreferendum im Gefolge von Teiländerungen der Bundesverfassung als auch das fakultative Gesetzesreferendum kommen ausschließlich auf parlamentarische Initiative hin zum Einsatz. Während indes die Abhaltung eines fakultativen Gesetzesreferendums einen entsprechenden parlamentarischen Mehrheitsbeschluß voraussetzt -der einige Autoren zu Recht zu dem Urteil veranlaßt, dieses sp „kein Instrument des Volkes oder der Opposition, sei es der parlamentarischen oder der außer-parlamentarischen“, sondern ein „Regierungsinstrument“ -, kommt ein Referendum über Teiländerungen der Bundesverfassung bereits auf Verlangen eines Drittels der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates zustande.

Trotzdem ist auch dieses nur sehr bedingt als praktisch relevantes Oppositionsrecht anzusehen. Entscheidend hierfür ist, daß von der in Art. 44 Abs. 3 BVG niedergelegten Verfassungsbestimmung nur im Zusammenhang mit solchen Gesetzen Gebrauch gemacht werden kann, die unmittelbar zuvor vom Nationalrat und vom Bundesrat mit mindestens Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden beschlossen wurden. Mit Ausnahme des beinahe nur theoretisch relevanten Falles, daß Nationalrat und Bundesrat in einer gegebenen Entscheidungssituation tatsächlich exakt in zwei Drittel Befürworter und ein Drittel Gegner der Maßnahme zerfallen, ist für solche Maßnahmen Konsens zwischen der Regierungsmehrheit und der Opposition bzw. zwischen Vertretern parteipolitisch unterschiedlich dominierter Länder bereits als Grundlage der parlamentarischen Abstimmung herzustellen, bevor die Frage einer nachträglichen Volksabstimmung über eine Maßnahme überhaupt virulent werden kann. Allen anderen denkbaren Szenarien zufolge kpmmt ein Parlamentsbeschluß entweder gar nicht erst zustande oder aber ist die Regierungs-bzw. die Bundesratsmehrheit so stark, daß sie allein über eine ausreichende Stimmenmehrheit verfügt, womit dann auf seiten der Opposition die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme dieses Instrumentes fehlen.

Das schweizerische Aufgebot direktdemokratischer Einrichtungen ist nicht nur im Vergleich mit der institutionellen Ausstattung des deutschen und österreichischen Regierungssystems außerordentlich großzügig bemessen. Zu unterscheiden sind mit Blick auf die nationale Ebene: das obligatorische Verfassungsreferendum für Total-und Teilrevisionen der Verfassung, das fakultative Gesetzes-referendum, die Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung, das Staatsvertragsreferendum nebst dem erweiterten Staatsvertragsreferendum sowie das auflösende Referendum bei dringlichen Bundesbeschlüssen

In bezug auf die hier relevanten institutionellen Unterschiede zwischen den deutschsprachigen Ländern läßt sich feststellen, daß die schweizerischen Volksrechte im Vergleich mit den plebiszitären Einrichtungen in Österreich nicht nur bedeutend zahlreicher sind, sondern ihr Einsatz auch nicht vom Belieben der parlamentarischen Elite, geschweige denn von deren einfacher Mehrheit abhängig ist. Während für sämtliche Total-und Teilrevisionen der Verfassung sowie für bestimmte Staatsverträge die Abhaltung eines Referendums ohnehin verfassungsrechtlich zwingend vorgeschrieben ist, kommt das fakultative Gesetzesreferendum auf Verlangen von 100 000 Stimmberechtigten zustande. Schwächer als in Österreich sind die Rechte des Parlaments auch im Zusammenhang mit der Volksinitiative schweizerischer Prägung. Nach Verstreichen der für die parlamentarische Prüfung vorgesehenen Fristen muß -sofern nicht die Inititiative aus formalen Gründen von der Bundesversammlung für ungültig erklärt wird (was bislang erst zweimal nach 1945 der Fall war) -eine Volksinitiative in jedem Fall einer im Ergebnis verbindlichen Volksabstimmung zugeführt werden, es sei denn, die Mehrheit der Initiativkomitees zieht die betreffende Volksinitiative freiwillig zurück.

Eine Lücke im außergewöhnlich dichtgestrickten Netz direktdemokratischer Institutionen in der Schweiz ist lediglich in bezug auf das Fehlen einer einfachen Gesetzesinitiative, d. h. einer Volksinitiative, mit der nicht ausschließlich Änderungen an der Verfassung verfolgt werden können, zu konstatieren. Die Einführung einer solchen Bestimmung, mittels derer -auf der Grundlage von 100 000 Unterstützungsunterschriften -die Annahme, Änderung oder Aufhebung von Verfassungs-und Gesetzesbestimmungen verlangt werden kann, bildet eine der im Verfassungsentwurf 1996 des Bundesrates vorgesehenen institutioneilen Neubestimmungen, über deren Inkraftsetzung bislang allerdings noch nicht letztverbindlich entschieden wurde. Die ungleich größere Bedeutung direktdemokratischer Oppositionsrechte in der Schweiz zeigt sich indes vor allem in der Verfassungspraxis. Auf den das gesamte politische Entscheidungsverfahren in der Schweiz prägenden Einfluß speziell des fakultativen Gesetzesreferendums ist seit der grundlegenden Studie von Neidhart immer wieder hingewiesen worden Die von der regierenden Elite als „Damoklesschwert“ perzipierte Referendumsdrohung oppositioneller Minderheiten führt demnach dazu, daß unter Einbeziehung aller entscheidungsrelevanten Gruppen über eine Maßnahme so lange verhandelt wird, bis eine Vorlage als „referendumsfest“ gelten kann Der genuine Oppositionscharakter des Gesetzesreferendums kommt auch in den Ergebnissen jüngerer Umfragestudien zum Ausdruck. Im Rahmen einer Befragung aus dem Jahre 1990 erklärten 63 Prozent der antwort-bereiten Bundesparlamentarier, sie würden mit der Initiierung eines Gesetzesreferendums drohen, falls ein von ihnen mißbilligtes Gesetz kurz vor der parlamentarischen Verabschiedung stünde; aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion gaben gar sämtliche 100 Prozent der Antwortenden diese Auskunft

Ungeachtet der großen Bedeutung der bloßen Referendumsdrohung ist der tatsächliche Einsatz des fakultativen Gesetzesreferendums in der Schweiz jedoch keineswegs signifikant rückläufig Während es in den ersten Nachkriegsjahr-zehnten vor allem unterschiedliche Gruppen der konservativen Opposition waren, die den Einsatz des Gesetzesreferendums mit dem Ziel, den Status quo zu erhalten, forcierten, hat sich das Gesetzes-referendum seit den siebziger Jahren eher zu einem bevorzugten Instrument linksoppositioneller und alternativer Kräfte entwickelt Als mög-liebes Erklärungsmotiv für diesen Umkehrtrend wurde auf den zunehmenden Konservatismus des Parlaments verwiesen

In Anknüpfung an die Diskussion der Chancen-struktur der parlamentarisch repräsentierten Oppositionsparteien in Abschnitt I ist abschließend darauf hinzuweisen, daß die im Vergleich zu der Situation in der, Bundesrepublik und in Österreich ungleich stärker ausgebauten direktdemokratischen Einrichtungen in der Schweiz zwar zusätzliche institutionalisierte Oppositionschancen schaffen, diese jedoch kaum direkt der parlamentarischen Opposition zugute kommen. Für erfolgreiche Mobilisierungskampagnen im Zusammenhang mit Referenden und Volksinitiativen fehlen den allesamt kleinen Oppositionsparteien in der Bundesversammlung schlicht die notwendigen finanziellen Mittel. Als Herr des direktdemokratischen Verfahrens gelten weder die Oppositionsnoch die Regierungsparteien, sondern vielmehr die finanzkräftigen Interessenverbände Den üblichen Abstimmungsparolen der schweizerischen Parteien -welche im übrigen keineswegs immer entlang einer scharfen Trennlinie von Regierungs-und Oppositionsparteien verlaufen -kommt im allgemeinen nur eine begrenzte Bedeutung für die Entscheidung der Stimmberechtigten zu. Detailstudien zum Abstimmungsverhalten konnten zudem zeigen, daß die Folgebereitschaft bei Anhängern kleinerer Parteien noch deutlich geringer ausfällt als bei den Wählern der größeren etablierten Parteien

III. Ausblick

Das Ziel der vorstehenden Ausführungen bestand darin, einen vergleichenden Überblick über die sehr unterschiedlichen institutioneilen Antworten der drei deutschsprachigen Länder auf die normative und praktische Herausforderung der Ermöglichung von politischer Opposition zu geben. Für die beiden parlamentarischen Regierungssysteme der Bundesrepublik und Österreichs erweist sich deren übliche Charakterisierung als „Parteien-Staaten“ auch hinsichtlich der organisatorischen Trägerschaft von Opposition als zutreffend. Für die Schweiz läßt sich hingegen eher von einer „Unschärfe in der Lokalisierung der Opposition“ sprechen, die sich sowohl auf der Ebene des Parteiensystems und des Parlaments als auch außerhalb der parteipolitisch-parlamentarisch definierten Arena zeigt. Anders als in der Bundesrepublik und in Österreich dient dort die formale Trennung in Regierungs-und Oppositionsparteien kaum als zentrale Verhaltensdeterminante und werden zudem zahlreiche Oppositionsfunktionen ohnehin nur zu einem geringen Teil von den Parteien selbst ausgeübt. Während in der Bundesrepublik und in Österreich für das Gros der Bürger die Wahlentscheidung die wichtigste systemkonforme Oppositionsäußerung bleibt, besitzen in der Schweiz punktuelle Oppositionsäußerungen bei Volksabstimmungen größere Bedeutung.

Die sehr unterschiedlichen Modelle der Institutionalisierung der Opposition in der Bundesrepublik und in Österreich einerseits und der Schweiz andererseits lassen sich vor allem historisch erklären. Eine Konzentration der Oppositionsmacht in den Händen der parlamentarisch repräsentierten Oppositionsparteien schied für die Schweiz als Entwicklungspfad schon deshalb aus, da sich das Grundgerüst der heutigen Volksrechte (zuerst auf der kantonalen Ebene) früher herausbildete als die politischen Parteien. Die schweizerischen Parteien sind entstehungsgeschichtlich betrachtet in erster Linie „Kinder der Volksrechte“ Der weitere Ausbau direktdemokratischer Oppositionsrechte in der Schweiz war auch deshalb notwendig, um aus der fortschreitenden Inklusion ursprünglicher Oppositionsparteien in die Regierung kein demokratisch unverantwortliches Elitenregime entstehen zu lassen.

Im Rahmen eines spezielleren Vergleichs zwischen Österreich und der Schweiz ist festzustellen, daß den durch die Bildung eines Elitenkartells erhöhten Anforderungen an die Möglichkeiten der Opposition im eidgenössischen System besser Rechnung getragen worden zu sein scheint als in Österreich. Diesen Eindruck vermittelten sowohl die Ergebnisse eines Vergleichs der Demokratie-zufriedenheit in den Alpenrepubliken als auch die unterschiedlichen Entwicklungstendenzen der Parteienlandschaften beider Länder. In der Schweiz sorgte nicht zuletzt die „Ventilfunktion“ der direktdemokratischen Institutionen dafür, daß sich eine kohärente Protestopposition kaum dauerhaft behaupten konnte. Demgegenüber gelang in Österreich in Gestalt der FPÖ die Etablierung einer starken Opposition, die alle Anzeichen eines Protestakteurs aufweist und zugleich wesentliche Bestandteile der liberal-demokratischen Ordnung in Frage stellt

Was den momentanen qualitativen Zustand der politischen Opposition in der Bundesrepublik betrifft, so ist zunächst darauf hinzuweisen, daß mit der PDS am linksextreme/! Spektrum in den neunziger Jahren erstmals seit dem Niedergang der KPD eine Partei im Bundestag vertreten ist, die zahlreiche Ansatzpunkte für eine Klassifizierung als systemfeindliche Gruppierung bietet. Für einige Autoren ist die PDS speziell wegen ihrer eingeschränkten „Koalitionsfähigkeit“ gar „nur bedingt dem Oppositionslager zuzurechnen“ Die jüngsten Kapitel in der Geschichte des Verhältnisses zwischen Regierung und Opposition in der Bundesrepublik waren allerdings weniger durch die Wahlerfolge systemoppositioneller Gruppen bestimmt als durch das stimmen-und mandatsbezogene Kräfteverhältnis zwischen den regierenden Parteien und der ganz überwiegend „staatstragenden“ Opposition auf der Bundes-und auf der Länderebene. Die „Blockademacht“ der Opposition über den Bundesrat ist in den neunziger Jahren (erneut) zum wichtigsten Bestimmungsfaktor der Struktur des Entscheidungsprozesses auf der Bundesebene geworden. Das bedeutet nicht, daß es seit der Vereinigung beider deutscher Staaten keine wichtigen Entscheidungen gegeben hätte, die über intensive Kooperations-und Tauschgeschäfte zwischen Regierung und Opposition zustande kamen Die jüngsten Entwicklungen in der Bundesrepublik verdeutlichen vielmehr, daß die Institutionen politischer Systeme das Handeln von Akteuren zwar nachhaltig prägen können, aber keineswegs determinieren und auch nicht zur Verfestigung von Handlungsmustern führen müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert A. Dahl, Political Oppositions in Western Democracies, New Haven-London 1966, S. XVIII.

  2. Vgl. Wolfgang Jäger, Opposition, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 493 f.

  3. Vgl. Francis G. Castles (Hrsg.), Families of Nations. Patterns of Public Policy in Western Democracies, Aldershot 1993.

  4. Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich sind in der Schweiz nur rund 65 Prozent der Bevölkerung deutschsprachig.

  5. Vgl. Manfred G. Schmidt u. a., Lander-Familien. Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und der Schweiz im OECD-Ländervergleich. Abschlußbericht zum DFG-Forschungsprojekt „Staatstätigkeitsforschung in kulturell verwandten Nationen“, Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg, Februar 1992.

  6. Eine solche Regelung gibt es in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik weder auf Bundes-noch auf Landes-ebene, in Österreich immerhin in sieben von neun Bundesländern.

  7. In dieser auch als „Zauberformel“ bezeichneten Viererkoalition verfügen die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP), die Christlich-demokratische Volkspartei (CVP) und die SPS jeweils über zwei Sitze, die Schweizerische Volkspartei (SVP) über einen Sitz. Eine solche Viererkoalition formierte sich erstmals 1943, jedoch verfügten die Freisinnig-Demokraten innerhalb dieser zunächst noch über drei Sitze, die Sozialdemokraten nur über einen Sitz. Historisch nahm das Proporzmodell seinen Ausgang von einem ausschließlich von den Liberalen dominierten Regierungsgremium. Dieses wurde 1891 zunächst durch die Einbeziehung d^s katholischen Zweiges der damaligen konservativen Opposition erweitert; seit 1929 zählt auch die SVP zu den ständigen Bundesratsparteien.

  8. Unberücksichtigt dabei bleiben die im Zuge von Regierungskrisen kurzfristig zustande gekommenen Mandats-mehrheiten der Opposition gegenüber Einparteien-Minderheitsregierungen. Zu diesen kam es -jeweils für die Dauer weniger Wochen -1962, 1966 und 1982.

  9. Vgl. Ludger Helms, Wettbewerb und Kooperation. Zum Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Österreich, Opladen 1997 (i. E.), S. 64ff.

  10. Die Ressortorientierung der Ständigen Ausschüsse -wie in der Bundesrepublik üblicherweise gepaart mit einer hohen Kontinuität in der personellen Zusammensetzung dieser Gremien und entsprechender Fachspezialisierung der Ausschußmitglieder, ist für die Opposition deshalb von Bedeutung, weil diese ein Verhandlungsklima zwischen Spezialisten konstituieren, das eine Berücksichtigung oppositioneller Vorstellungen in den Ausschußberatungen strukturell begünstigt.

  11. Die in diesem Zusammenhang ebenfalls relevanten Vetochancen der Opposition gegen Mehrheitsentscheidungen in Form plebiszitärer Elemente werden weiter unten gesondert behandelt (vgl. Abschnitt II).

  12. In bezug auf die österreichische Neigung zur Bildung Großer Koalitionen wurde ferner auf den Mangel an akzeptablen Alternativen der Mehrheitsbildung -konkret die mangelnde „Koalitionsfähigkeit“ der FPÖ als der lange Zeit einzigen weiteren Partei im Nationalrat -verwiesen. Vgl. Anton Pelinka, Die Kleine Koalition, SPÖ-FPÖ 1983-1986, Wien u. a. 1993, S. 11 f.

  13. Vgl. etwa Claus Leggewie, Bloß kein Streit. Über deutsche Sehnsucht nach Harmonie und die anhaltenden Schwierigkeiten demokratischer Streitkultur, in: Ulrich Sarcinelli (Hrsg.), Demokratische Streitkultur. Theoretische Grund-positionen und Handlungsaltemativen in Politikfeldern, Bonn 1990, S. 52-62.

  14. Während in der Schweiz der traditionelle Regierungsproporz ohnehin nicht zur Disposition steht, bildete eine Große Koalition aus SPÖ und ÖVP auch in der Mitte der neunziger Jahre die in der Bevölkerung am stärksten präferierte Koalitionsform auf Bundesebene. Vgl. Peter Ulram/Wolfgang C. Müller, Die Ausgangslage für die Nationalrats-wahl 1994: Indikatoren und Trends, in: Wolfgang C. Müller u. a. (Hrsg.), Wählerverhalten und Parteienwettbewerb. Analysen zur Nationalratswahl 1994, Wien 1995, S. 28.

  15. Die zweitgenannte Variante stellt bekanntlich den bislang einzigen Weg dar, über den Machtwechsel in der Bundesrepublik zustandegekommen sind. Vgl. Ludger Helms, „Machtwechsel“ in der Bundesrepublik Deutschland. Eine vergleichende empirische Analyse der Regierungswechsel von 1966, 1969 und 1982, in: Jahrbuch für Politik, 4 (1994), S. 225-248.

  16. Vgl. Frederick C. Engelmann, Austria: The Pooling of Opposition, in: Robert A. Dahl (Hrsg.), Political Opposition in Western Democracies, New Haven-London 1966, S. 260283.

  17. Vgl. Henry H. Kerr, Die Struktur der Opposition in der schweizerischen Bundesversammlung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 17 (1977), S. 357; Ruth Lüthi/Luzius Meyer/Hans Hirter, Fraktionsdisziplin und die Vertretung von Partikulärinteressen im Nationalrat, in: Madeleine Bovey Lechner/Martin Graf/Annemarie Huber-Hotz (Red.), Das Parlament. „Oberste Gewalt des Bundes“?, Bern 1991, S. 53-71.

  18. Vgl. Ruedi Brassel/Bernhard Degen/Andreas Gross/Jakob Tanner (Hrsg.), Zauberformel: Fauler Zauber? SP Bundesratsbeteiligung und Opposition in der Schweiz, Basel 1984; Bernhard Degen, Sozialdemokratie: Gegenmacht?, Opposition?, Bundesratspartei? Die Geschichte der Regierungsbeteiligung der schweizerischen Sozialdemokraten, Zürich 1993.

  19. Vgl. Heidrun Abromeit, Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz, Opladen 1993, S. 177 ff.

  20. Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien (1958), Frankfurt/M. 1991, S. 202.

  21. Vgl. Hans H. Klein, Wider das Plebiszit, in: Die politische Meinung, 37 (1992) 267, S. 11 f.

  22. Vgl. Helge-Lothar Batt, Die Grundgesetzreform nach der deutschen Einheit, Opladen 1996, S. 138 ff.; Andreas Klages/Petra Paulus, Direkte Demokratie in Deutschland. Impulse aus der deutschen Einheit, Marburg 1996, S. 21 ff.

  23. Vgl. als Überblick über den Diskussions-und Forschungsstand Wolfgang Luthardt, Direkte Demokratie. Ein Vergleich in Westeuropa, Baden-Baden 1994, S. 99 ff.; Otmar Jung, Direkte Demokratie: Forschungsstand und Forschungsaufgaben 1995, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 26 (1995), S. 658-677.

  24. Vgl. Friedrich Koja, Instruments of Direct Democracy in the Austrian Federal State and in its Länder, in: Austrian Journal of Public and International Law, 45 (1993), S. 33-45.

  25. Vgl. Anton Pelinka/Sylvia Greiderer, Austria: The Referendum as an Instrument of Internationalisation, in: Michael Gallagher/Pier Vincenzo Uleri (Hrsg.), The Referendum Experience in Europe, London 1996, S. 21.

  26. Manfried Welan, Regierungssystem und direkte Demokratie in Österreich, in: Friedrich Koja/Gerald Stourzh (Hrsg.), Schweiz-Österreich. Ähnlichkeiten und Kontraste, Wien u. a. 1986, S. 191.

  27. Vgl. Silvano Möckli, Direkte Demokratie in der Schweiz. Ein Mittel zur Behebung von Funktionsmängeln der repräsentativen Demokratie?, in: Winfried Steffani/Uwe Thaysen (Hrsg.), Demokratie in Europa: Zur Rolle der Parlamente (Zeitschrift für Parlamentsfragen. Sonderband zum 25jährigen Bestehen), Opladen 1995, S. 290.

  28. Leonhard Neidhart, Plebiszit und pluralitäre Demokratie, Bern 1970.

  29. Es gibt einige Autoren, die der Verfassungsinitiative eine ähnliche Funktion für die Konsensprägung des politischen Entscheidungsprozesses zuweisen wie dem Gesetzes-referendum. Vgl. mit weiteren Nachweisen W. Luthardt (Anm. 23), S. 46.

  30. Eine ähnliche -freilich schwächer ausgeprägte -Präventivwirkung wird der Drohung mit einer abstrakten Normenkontrollklage durch die Opposition in der Bundesrepublik und in Österreich nachgesagt. Mit Blick auf die Bundesrepublik wurde von einer „Antizipation eines verfassungsrechtlichen Risikos“ (Landfried) auf seiten der Regierungsmehrheit bzw. gar von einer „eingebauten Handlungsbremse“ (Abromeit) gesprochen.

  31. Vgl. Kris W. Köbach, The Referendum: Direct Democracy in Switzerland, Aldershot 1993, S. 161.

  32. Vgl. Alexander H. Trechsel/Hanspeter Kriesi, Switzerland: The Referendum and Initiative as a Centrepiece of the Political System, in: M. Gallagher/P. V. Uleri (Anm. 25), S. 185-208, Tabelle 12. 2.

  33. Vgl. Hanspeter Kriesi, Direkte Demokratie in der Schweiz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/91, S. 4454, Tabelle 2.

  34. Vgl. A. H. Trechsel/H. Kriesi (Anm. 32), S. 203.

  35. So schon Jürg Steiner, Proporzdemokratie und Opposition: Die schweizerische Referendumsdemokratie, in: Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parlamentarische Opposition. Ein internationaler Vergleich, Hamburg 1975, S. 128-150, insbes. S. 139; vgl. neuerdings mit weiteren Hinweisen Wolf Linder, Swiss Democracy. Possible Solutions to Conflict in Multicultural Societies, London 1994, S. 126 ff.

  36. Vgl Simon Hug. Mobilisation et loyaute au sein de l’electorat, in: Yannis Papadopoulos (Hrsg.), Elites politiques et peuple en Suisse: analyse des votations föderales 19701987, Lausanne 1994, S. 161-201.

  37. Vgl. Ludger Helms, Parteienregierung im Parteienstaat. Voraussetzungen und Charakteristika der Parteienregierung in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich (1949 bis 1992), in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 24 (1993), S. 635-654.

  38. J. Steiner (Anm. 35), S. 140.

  39. Erich Grüner, Die Parteien in der Schweiz, Bern 1969, S. 25 f.

  40. Vgl. Fritz Plasser/Peter Ulram, Politischer Kulturvergleich: Deutschland, Österreich und die Schweiz, in: dies. (Hrsg.), Staatsbürger oder Untertanen? Politischer Kulturvergleich Deutschlands, Österreichs und der Schweiz im Vergleich, Frankfurt/Main u. a. 1991, S. 32.

  41. Vgl. Ludger Helms, Rechtspopulismus in Österreich und der Schweiz im Vergleich, in: Journal für Sozialforschung, 36 (1996), S. 23-42; ders., Right-Wing Populist Parties in Austria and Switzerland: A Comparative Analysis of Electoral Support and Conditions of Success, in: West European Politics, 20 (1997) (i. E.).

  42. Karlheinz Niclauß, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn u. a. 1996, S. 50.

  43. Vgl. Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opladen 1997 (i. E.).

Weitere Inhalte

Ludger Helms, geb. 1967; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Veröffentlichungen: Wettbewerb und Kooperation. Zum Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Österreich, Opladen 1997 (i. E.); zahlreiche Beiträge in Sammelbänden und Fachzeitschriften vor allem zu institutionellen Aspekten deutscher und westeuropäischer Politik.