I. Einleitung
Die direkte Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen ist eine der wenigen Verfassungsfragen, die auch außerhalb des engen Kreises der Staatsrechtler und Politikwissenschaftler mit großem Interesse verfolgt wird. Nach Umfrageergebnissen befürworteten 1993 nahezu zwei Drittel der Bundesbürger die Gesetzgebung durch das Volk. Gleichzeitig verloren die Parteien an Vertrauen in der Bevölkerung, und ihre Mitgliederzahlen sind, mit Ausnahme der „Grünen“, rückläufig Die unmittelbare Demokratie bietet sich in dieser Situation scheinbar als Alternative oder zumindest zur Linderung der Defizite des „Parteienstaats“ an. Das Thema hat auch eine zeitgeschichtliche Dimension, denn der Parlamentarische Rat diskutierte bereits in den Jahren 1948/49 über die Aufnahme von Volksbegehren und Volksabstimmungen in das Grundgesetz, entschied sich aber für eine repräsentative Form der politischen Willensbildung. Plebiszitäre Elemente werden lediglich bei der Länderneugliederung (Art. 29 GG), in der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 GG) sowie mit der unverbindlichen Feststellung angedeutet, die Staatsgewalt werde vom Volk „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt (Art. 20 GG).
Bei der Gestaltung des Präsidentenamts kamen die Vorbehalte des Parlamentarischen Rates gegenüber unmittelbaren Entscheidungen noch deutlicher zum Ausdruck: Da der vom Volk gewählte Reichspräsident Hindenburg maßgeblichen Anteil am Untergang der Weimarer Republik hatte, legte man im Grundgesetz die Wahl des Bundespräsidenten durch eine Repräsentantenversammlung fest. Die Bundesrepublik sollte nach den Vorstellungen der Verfassungsmütter und Verfassungsväter „in der Obhut des Parlaments und der Parteien heranwachsen“ (Karsten Bugiel).
Inwieweit für diese Option grundsätzliche Überlegungen oder der Blick auf die politische und moralische Situation der Nachkriegsdeutschen ausschlaggebend war, ist in der Verfassungsgeschichte umstritten. Deutlich erkennbar ist jedoch, daß der Parlamentarische Rat hiermit auf zwei Varianten des unmittelbaren Bürgervotums verzichtete, die in anderen politischen Systemen durchaus üblich sind: erstens auf den politischen Sachentscheid in Form der Volksgesetzgebung oder eines Referendums gegen Parlamentsbeschlüsse und Verwaltungsentscheidungen, zweitens auf die Direktwahl in politische Führungspositionen, welche z. B. in Präsidialsystemen wie den USA und Frankreich, aber auch bei der unmittelbaren Wahl der Regierungsmitglieder in den Kantonen der Schweiz praktiziert wird. In der deutschen Diskussion über Volksbegehren und Volksentscheid wird aber übersehen, daß die Bürger in modernen Demokratien die Entscheidungen auch auf anderen Wegen unmittelbar beeinflussen können. Neben den bereits erwähnten Direkt-wahlen in politische Ämter sind für die Reform des „Parteienstaats“ Bundesrepublik zwei weitere Varianten der unmittelbaren Bürgerbeteiligung von besonderem Interesse: Zunächst wäre eine Über-prüfung des deutschen Wahlrechts auf Bundes-und Landesebene sinnvoll, und zwar nicht im Sinne der vereinfachenden Alternative von Mehrheits-oder Verhältniswahlrecht. Unter Berücksichtigung der Wahlverfahren in anderen Demokratien sollte man vielmehr die Frage stellen, wie dem Wähler ein weiter gehendes Mitspracherecht bei der Auswahl der Parlamentarier eingeräumt werden kann als bisher. Zweitens müßten die Mitwirkungsmöglichkeiten in den politischen Parteien erweitert werden. Ein Vergleich mit dem Ausland zeigt, daß die deutschen Parteien in dieser Hinsicht zurückhaltend sind und dem Votum der Delegierten mehr vertrauen als dem direkten Mitgliederentscheid. Insgesamt stehen also vier Wege zur Verfügung, um die Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen zu erweitern: unmittelbare Sachentscheide (Volksbegehren und Volksentscheid), direkte Personalentscheidungen, Änderungen im Wahlrecht und der Ausbau der innerparteilichen Demokratie.
II. Sachentscheid und Direktwahl in der politischen Diskussion
Die Diskussion über Volksentscheide und Volks-befragungen war mit der Verabschiedung des Grundgesetzes keineswegs abgeschlossen, sondern lebte bereits zu Beginn der fünfziger Jahre wieder auf. Der Anlaß hierzu war die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik: Die Forderung nach einer Volksabstimmung über diese grundsätzliche Frage wurde von der neutralistischen Opposition sowie ab Ende 1954 auch von der Paulskirchenbewegung mit Unterstützung der SPD und des DGB erhoben. In den Jahren 1957/58 schlug die sozialdemokratische Opposition angesichts der Pläne zur Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Träger-waffen erneut eine Volksbefragung vor Auch der Gedanke an eine Volkswahl des Bundespräsidenten tauchte wieder in der politischen Diskussion auf: Der Staatsrechtler Werner Weber bedauerte 1957/58 in seinen Publikationen den Verzicht auf die plebiszitäre Bestellung des Staatsoberhaupts. Nur ein vom Volk gewählter Präsident könne den Einfluß der Parteien begrenzen und der Beamtenschaft als „Patron“ dienen. Karl Jaspers bezeichnete 1966 in seiner Streitschrift „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ den unmittelbar gewählten Präsidenten ebenfalls als mögliches Gegengewicht zum Parteiensystem
Unter dem Eindruck der politischen Kontroversen verfestigten sich zu dieser Zeit auch die Positionen der Verfassungsinterpreten: Vorherrschende Meinung war, daß das Grundgesetz sich für die repräsentative Form der Demokratie entschieden habe und die direkte Mitwirkung der Bevölkerung lediglich bei der Änderung der Ländergrenzen vorsehe. Ihre Vertreter griffen außerdem auf die von Carl Schmitt in seiner „Verfassungslehre“ aufgestellte These zurück, plebiszitäre und repräsentative Demokratie seien unter der gleichen Verfassungsordnung prinzipiell unvereinbar. Eine vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission kam dementsprechend 1976 zu der Auffassung, Volksbegehren und Volksentscheide seien nicht geeignet, die „Legitimation und Handlungsfähigkeit der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie zu verstärken“
Mit Beginn der achtziger Jahre wurde in der Öffentlichkeit erneut die Forderung nach Volksbefragungen und Volksentscheiden erhoben. Aus-lösende Themen waren die Kernenergieproblematik, große Verkehrsprojekte und vor allem der NATO-Nachrüstungsbeschluß. Ihre organisatorische Grundlage hatten diese Bestrebungen in den zahlreichen Bürgerbewegungen und in der neuen Partei „Die Grünen“, deren Bundestagsfraktion 1983 einen Gesetzentwurf zur Durchführung einer Volksbefragung über die Nachrüstung einbrachte. Gleichzeitig bemühten sich Historiker und Verfassungsrechtler um eine Revision der Bewertung von Volksbegehren und Volksentscheid in der Weimarer Reichsverfassung, denen nach vorherrschender Meinung eine Mitverantwortung für das Scheitern der Republik zugeschrieben wurde Sie versuchten außerdem nachzuweisen, daß der Parlamentarische Rat 1948/49 vor allem durch die akute Ost-West-Konfrontation veranlaßt wurde, auf plebiszitäre Elemente zu verzichten. Schließlich verwiesen sie auf die Verfassungen der Bundesländer: Dort hatte man weder vor noch unmittelbar nach Verabschiedung des Grundgesetzes Bedenken gegen die Aufnahme von Volksbegehren und Volksentscheid in die Verfassungstexte
Die revolutionären Veränderungen des Jahres 1989 in Ost-und Mitteleuropa verstärkten die ohnehin bereits vorhandenen Forderungen nach einer „unmittelbareren“ Demokratie. Die oppositionelle Bürgerbewegung in der DDR z. B. entwickelte Verfassungsvorstellungen, welche Volksbegehren, Volksentscheide und Verfassungsreferenden vorsahen In Westdeutschland erblickten einzelne Autoren in der Einrichtung von direktdemokratischen Verfahrensweisen sogar eine „Grundentscheidung zur öffentlichen Freiheit und zur Rationalität“. Mit dieser Frage verbinde sich die Wahl zwischen dem „etatistisch-obrigkeitsstaatlichen“ und dem „freiheitlich-republikanischen“ Verständnis der Volks-souveränität Auf Bundesebene erreichte die Diskussion über unmittelbare Demokratie mit der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission in den Jahren 1992/93 ihren Höhepunkt. Die Kommission bestand aus je 32 Mitgliedern des Bundestags sowie des Bundesrats und beriet über die nach der Wiedervereinigung notwendigen Änderungen des Grundgesetzes. Ihre Beratungen über die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid stießen nach dem Bericht der Kommission auf ein „außerordentliches öffentliches Interesse“. Zu diesem Thema erhielt die Kommission mehr als 260 000 Eingaben und führte eine öffentliche Anhörung durch. Sie konnte sich aber nicht entschließen, eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetzes zu empfehlen.
Etwa zur gleichen Zeit beschlossen mehrere Bundesländer neue Kommunalverfassungen, die eine stärkere unmittelbare Mitwirkung der Bürger vorsahen. Die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte war bis dahin lediglich in Baden-Württemberg und in Bayern üblich. Sie wurde zunächst in allen neuen Bundesländern, später auch in Hessen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen eingeführt. Außerdem nahmen nahezu alle Länder den Bürgerentscheid in ihre Kommunal-verfassungen auf, der ursprünglich nur in Baden-Württemberg möglich war. Zuletzt fand in Bayern im Februar 1995 ein Volksentscheid über die Form des kommunalen Bürgerentscheids statt, bei dem sich die weitergehende Variante einer Bürgerinitiative gegen den Entwurf der CSU durchsetzte
In zahlreichen Bundesländern besteht seit Beginn der Bundesrepublik die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid auf Landesebene. Schleswig-Holstein änderte im Anschluß an die Barschel-Affäre seine Verfassung und führte noch vor der deutschen Einigung das Volksbegehren und den Volksentscheid ein. Nach der deutschen Einigung nahmen auch die neuen Bundesländer die entsprechenden Instrumente der unmittelbaren Demokratie in ihre Verfassungen auf. Niedersachsen, Berlin und Hamburg zogen nach, so daß inzwischen in allen Bundesländern ein Repräsentativsystem mit plebiszitären Elementen besteht. In der politischen Praxis werden diese Bestimmungen auf Landesebene seltener angewandt als in den Kommunen. Dies ist auf die hohen Unterschriftenquoten für das Volksbegehren und auf die geringen Gesetzgebungskompetenzen der Länder zurückzuführen. Außerdem sind nach deutschem Verfassungsverständnis Volksbegehren über „Finanzfragen, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen“ (so der Wortlaut in Nordrhein-Westfalen) nicht zulässig. Eine unmittelbare Wahl der Länder-Ministerpräsidenten wurde zwar in der Literatur vorgeschlagen, von den Politikern jedoch noch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen Während die direkte Mitwirkung der Bürger in den letzten Jahren auf kommunaler Ebene und auf Länderebene erweitert wurde, blieb das rein repräsentative Grundgesetz unverändert. Diese unterschiedliche Entwicklung hat die deutsche Mitwirkungsdiskussion in eine bestimmte Richtung gelenkt. Sie konzentriert sich zunehmend auf die Frage, ob der unmittelbare politische Sachentscheid auch auf Bundesebene eingeführt werden soll, indem man Volksbegehren und Volksentscheide zur Gesetzgebung und zu Verwaltungsentscheidungen des Bundes in das Grundgesetz aufnimmt. Ein Beispiel für die Stoßrichtung des Reformimpulses bietet der Verein „Mehr Demokratie e. V“. Nach seinem erfolgreichen Volksbegehren zum kommunalen Bürgerentscheid in Bayern strebt er nunmehr die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene an.
Die Forderung nach unmittelbaren Personalentscheidungen, d. h. nach Direktwahlen bei der Besetzung öffentlicher Ämter, spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Der Vorschlag, den Bundespräsidenten vom Volk wählen zu lassen, wurde zwar mehrfach wiederholt, stößt aber auf grundsätzliche Bedenken, weil er in der Regel mit einer Erweiterung der Kompetenzen des Staatsoberhauptes verbunden ist. Nach der deutschen Einigung sprach sich z. B.der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Glotz gegen das „Hindenburg-Syndrom“ in der deutschen Politik und für einen vom Volk gewählten Präsidenten nach österreichischem Vorbild aus
Angesichts des Diskussionsverlaufs muß man die Frage stellen, ob die Konzentration auf die unmittelbare Mitwirkung durch Volksbegehren und Volksentscheide nicht zur Einengung des Blickfelds führt. Die deutsche Diskussion lebt vom Vergleich mit der Weimarer Republik und ist in hohem Maße „germanozentrisch“. Die Erfahrungen in der Schweiz und im US-Staat Kalifornien finden kaum Beachtung. Die Rolle von modernen Kommunikationsmitteln bei der Unterschriften-sammlung und im Abstimmungskampf wird ebenso vernachlässigt wie die Einflußmöglichkeit gut organisierter Interessengruppen und potenter Geldgeber. Wenn Volksbegehren und Volksentscheide auf bundespolitischer Ebene eingeführt würden, müßten die Verfahrensregeln unter Einbeziehung der Erfahrungen in anderen Abstimmungsdemokratien besonders sorgfältig gestaltet werden.
III. Änderungen im Wahlrecht
Die Wahlrechtsdiskussion im Parlamentarischen Rat und in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik wurde durch zwei unterschiedliche Vorstellungen bestimmt: Einerseits wollte man das reine Listenwahlrecht der Weimarer Republik durch eine „personale“ Komponente ergänzen, ohne es in seinen Grundzügen zu ändern; andererseits gab es Bestrebungen, ein Mehrheitswahlrecht einzuführen, welches auf Parteilisten verzichtet. Das Wahlrecht der Bundesrepublik ist ein modifiziertes Verhältniswahlrecht und folgte damit der zuerst genannten Konzeption. Es sieht seit 1953 die doppelte Stimmabgabe des Wählers vor: Mit der sogenannten Erststimme wählt der Wähler den Abgeordneten seines Wahlkreises. Seine Stimme wird hierbei entsprechend dem britischen relativen Mehrheitswahlrecht gewertet, d. h., der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt den Abgeordnetensitz, und es findet keine Stichwahl statt. Mit der sogenannten Zweitstimme optiert der Wähler für eine der von den Parteien vorgelegten Landes-listen, auf welchen der größte Teil der Direkt-kandidaten abgesichert ist. Da die erfolgreichen Wahlkreiskandidaten bei der Verteilung der Bundestagssitze auf die Parteilisten angerechnet werden, entscheidet die als Zweitstimme bezeichnete Listenstimme über die politische Zusammensetzung des Parlaments.
Die dem Wähler angebotenen Parteilisten sind im deutschen Wahlsystem „starr“. Eine Veränderung der Reihenfolge oder das Herausstreichen bestimmter Kandidaten ist nicht möglich. Der Wähler hat nur die Wahl zwischen verschiedenen „packages“, die von den Parteien vor der Wahl sorgfältig geschnürt wurden. Dieses Verfahren wird inzwischen heftig kritisiert: H. H. v. Arnim spricht ihm die Eigenschaft der vom Grundgesetz geforderten unmittelbaren Wahl ab. Der Wähler habe in Wirklichkeit nur noch ein mittelbares Wahlrecht, denn über die Nominierung der Kandidaten und ihre Reihenfolge auf den Listen entschieden Parteifunktionäre als vorgeschaltete Wahlmänner. Die Schlußfolgerung von Arnims, dieses Wahlverfahren sei verfassungswidrig, ist allerdings sehr weitgehend. Die deutsche Wahlpraxis, dem Wähler starre Parteilisten vorzulegen, hat vielmehr Tradition und läßt sich bis in die Weimarer Republik zurückverfolgen. Diese Tradition reflektiert allerdings ein sehr „mittelbares“ Demokratieverständnis und erweist sich im internationalen Vergleich als wenig zeitgemäß
Starre Listen begrenzen aber nicht nur den Entscheidungsspielraum der Wähler, sondern führen auch innerhalb der Parteien zu Absprachen und „Kungeleien“ zwischen den unterschiedlichen Flügeln und Interessen. Ute und Erwin K. Scheuch zeigten am Beispiel der Kölner Kommunalpolitik, daß diese Absprachen auch über die Parteigrenzen hinweg erfolgen. Mandate können in die Kalkulation aber nur einbezogen werden, weil es auf den starren Listen sichere Listenplätze gibt Gerade das Kommunalwahlrecht bietet inzwischen dem Bürger in zahlreichen Bundesländern Gelegenheit, in die Listenvorschläge der Parteien einzugreifen. In Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz besteht die Möglichkeit, bis zu drei Stimmen für einen Kandidaten abzugeben (kumulieren). Außerdem kann der Wähler Kandidaten aus mehreren Parteilisten wählen (panaschieren), oder auch einzelne Kandidaten streichen. Bei den Landtagswahlen verfügt der Wähler schon nicht mehr über diese Eingriffsmöglichkeiten. Hier wird bereits mit starren Listen gewählt. Lediglich in Bayern und Baden-Württemberg erfolgt die Verteilung der Restmandate, die nicht in direkter Wahl erobert wurden, an die Bewerber mit der höchsten Stimmenzahl.
In anderen politischen Systemen wird auch auf nationaler Ebene mit flexiblen Listen gewählt. In Österreich z. B. kann der Wähler nach der Wahlrechtsreform von 1992 an je einen Kandidaten der Regional-und der Landesliste eine zusätzliche Stimme vergeben. Die Wirkung dieser Vorzugsstimme ist allerdings begrenzt, da bei der Nationalratswahl von 1994 alle auf diese Weise geförderten Kandidaten ohnehin auf den Partei-listen in den Nationalrat gekommen wären. In den Regionalwahlkreisen machte jeder vierte österreichische Wähler vom Recht der Vorzugsstimme Gebrauch Einen wesentlich größeren Spielraum bei der Auswahl der Parlamentarier im Wahlverfahren besitzen die Bürger der Schweiz und Luxemburgs. Der schweizerische Nationalrat wird nach einem Verhältniswahlrecht mit freien Kantonslisten gewählt. Die Wähler können mehrere Kandidaten zweimal auf die Liste setzen, Kandidaten streichen und gegebenenfalls durch Bewerber von anderen Parteilisten ersetzen. Darüber hinaus steht ihnen ein leerer amtlicher Wahlzettel zur Verfügung, auf dem sie nach eigenen Vorstellungen eine Liste ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit der Kandidaten zusammenstellen können. Die Benannten müssen allerdings im betreffenden Wahlkreis (Kanton) kandidieren. Bei den jüngsten Nationalratswahlen vom Oktober 1995 veränderten 71 Prozent der Wähler ihre Liste In Luxemburg hat der Wähler bei der Stimmabgabe die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten wie in der Schweiz. Das Land ist in vier Wahlkreise (circonscriptions) aufgeteilt, die zwischen sieben und 23 Abgeordnete entsenden. Der Wähler besitzt ebenso viele Stimmen, wie Abgeordnete in seinem Wahlkreis zu wählen sind. Er kann diese unter allen Kandidaten seines Wahlkreises frei verteilen und hierbei zwei Stimmen pro Kandidat kumulieren. Bei den Wahlen in Luxemburg im Jahre 1994 machten 40 Prozent der Wähler von der Möglichkeit Gebrauch, die vorgelegten Parteilisten zu verändern
Was die Variationsmöglichkeiten durch den Wähler betrifft, haben die Schweiz und Luxemburg sicher das „demokratischste“ Wahlrecht der Welt. Nach ihrem Vorbild können alle Verhältniswahl-systeme zugunsten des direkten Wählereinflusses verändert werden. Das deutsche Wahlverfahren in Bund und Ländern würde durch die Auflösung der starren Parteilisten einen direktdemokratischen Charakter erhalten. Die eigentliche Bedeutung von „offenen Listen“ liegt jedoch in ihrer Rückwirkung auf die Kandidatenauswahl der Parteien und auf die Rekrutierung des politischen Personals. Da es in diesem Wahlsystem keine sicheren Listenplätze gibt, kann ein Mandat nicht mehr ausschließlich über innerparteiliche Arbeit erreicht werden. Die potentiellen Kandidaten müssen sich vielmehr frühzeitig um Wählerunterstützung im gesamten Bundesland bemühen. Die Möglichkeit des Panaschierens und Kumulierens führt deshalb zu einer Personalisierung des Verhältniswahl-rechts, die bei den bisher auf Landes-und Bundesebene praktizierten Verfahren kaum spürbar ist. In Verbindung mit den dringend notwendigen neuen Regeln der innerparteilichen Kandidatenauslese würden sich auf diese Weise auch größere Chancen für sogenannte Seiteneinsteiger ergeben. Gleichzeitig verliert das informelle, für Parteimitglieder und Wähler unkontrollierbare Aushandeln der Listenplätze seine Bedeutung.
Beim internationalen Vergleich stößt man auf weitere Einflußmöglichkeiten des Wählers im Bereich des Wahlverfahrens. So können die Wähler z. B. beim französischen Mehrheitswahlrecht mit ihrer Stimmabgabe im ersten Durchgang deutlich machen, wer von den Kandidaten des bürgerlichen Lagers oder der Linken die größten Aussichten beim zweiten Wahlgang besitzt. In den USA besteht die Praxis der Vorwahlen (Primaries) für die Nominierung der Kandidaten. Aufgrund der flexiblen Parteistrukturen in den USA, wo eine Parteimitgliedschaft im europäischen Sinne fehlt, kann man diese Vorwahlen mit einer Vorauswahl der Kandidaten durch die Wähler gleichsetzen. Da die deutschen Parteien über eingetragene Mitglieder verfügen, sind die amerikanischen Primaries kaum übertragbar. Die Einführung offener Listen bietet sich deshalb hier als realistische Möglichkeit für ein „unmittelbareres“ Wahlveffahren an.
IV. Innerparteiliche Demokratie
Bei der deutschen Diskussion über direkte Demokratie wird oft übersehen, daß man die demokratische Willensbildung auch durch Veränderungen innerhalb der Parteien unmittelbarer gestalten kann. Ernst Fraenkel wies bereits 1964 in seinem vielzitierten Aufsatz über „Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“ auf diesen Zusammenhang hin. Der Ausgleich zwischen den plebiszitären und repräsentativen Elementen sei in erster Linie ein Problem der „Parteiverfassungen“ und nicht der Staatsverfassung. Der Bestand der Demokratie im Staat -so lautet das Resultat seiner Überlegungen -hänge von der „Pflege der Demokratie in den Parteien“ ab. Nur wenn die „plebiszitären Kräfte“ innerhalb der Parteien und Verbände ausreichend Spielraum haben, könne sich eine repräsentative Verfassung entfalten
Der vierte Weg zu einer „unmittelbareren“ Demokratie verläuft deshalb durch die Parteien und verlangt ein größeres Maß innerparteilicher Mitwirkung als gegenwärtig üblich. Dies kann z. B. durch ein Mitgliedervotum zu politischen Sachfragen oder zur Programmatik geschehen. Wichtiger ist jedoch die Direktwahl von Parteifunktionären und Kandidaten durch die Mitglieder der Partei. Die innere Struktur der deutschen Parteien steht diesen Vorstellungen entgegen, weil sie nach dem Delegiertenprinzip aufgebaut sind. Die Mitglieder wählen dementsprechend in den Ortsverbänden die Delegierten für den Kreisparteitag. Dieser wählt die Delegierten zum Bezirks-oder Landesparteitag, wo wiederum die Delegierten des Bundesparteitags gewählt werden. Ausnahmen von dieser Regel gibt es bei den Grünen, wo die Direktwahl der Delegierten für die Bundesversammlung im Kreisverband möglich ist, oder bei der SPD, wo die Delegierten des Bundesparteitags auch auf Unterbezirksebene gewählt werden können. Insgesamt präsentiert sich die Parteiorganisation jedoch als ein mehrstöckiges Gebäude, dessen obere Etagen für das einfache Mitglied kaum erreichbar sind.
In den letzten Jahren können wir bei den Parteien erste Ansätze feststellen, das Delegiertensystem aufzulockern und durch unmittelbare Mitglieder-entscheidungen zu ergänzen. Die Grünen führten bereits bei ihrer Konstituierung als Bundespartei im Jahre 1980 den Mitgliederentscheid zu „allen Fragen der Politik“ ein. Er kann von fünf Prozent der Mitglieder, von einem Zehntel der Kreisverbände, von drei Landesverbänden sowie vom Länderrat sowie von der Bundesversammlung der Grünen eingeleitet werden. Den ersten konkreten Schritt in diese Richtung unternahm allerdings die SPD mit ihrer in den Statuten nicht vorgesehenen Mitgliederbefragung zur Person des zukünftigen Parteivorsitzenden am 13. Juni 1993. Bei dieser Abstimmung erreichte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Scharping 40, 3 Prozent und lag damit vor seinen Konkurrenten Gerhard Schröder (33, 2 Prozent) und Heidemarie Wieczorek-Zeul (26, 5 Prozent).
Unter dem Eindruck der starken Mitgliederbeteiligung an dieser Abstimmung beschloß die SPD auf ihrem Wiesbadener Parteitag im November des gleichen Jahres zwei wichtige Ergänzungen ihres Organisationsstatuts: Sie führte den Mitgliederentscheid durch Urabstimmung ein, der sowohl „von unten“ durch zehn Prozent der Mitglieder als auch „von oben“, d. h. von einer Dreiviertelmehrheit des Parteivorstands, vom Parteitag oder von zwei Fünfteln der Bezirksvorstände eingeleitet werden kann. Außerdem nahm die SPD die Urwahl des Kanzlerkandidaten in ihre Satzung auf. Diese ist jedoch nicht obligatorisch, sondern muß nach den gleichen Regeln wie der Mitgliederentscheid beantragt werden (zehn Prozent der Mitglieder, Parteitag, drei Viertel des Vorstandes oder zwei Fünftel der Bezirksvorstände).
Die Änderungen des SPD-Statuts vom November 1993 ermächtigen die regionalen Gliederungen der Partei bis hinunter zum Ortsverein, ebenfalls den Mitgliederentscheid und die Direktwahl des Spitzenkandidaten einzuführen. Dies hat bisher auf lokaler Ebene zu zahlreichen Abstimmungen über sozialdemokratische Bürgermeisterkandidaten geführt. In Hamburg wurde im April 1994 der SPD-Landesvorsitzende aufgrund einer Mitgliederbefragung gewählt, desgleichen der neue Landesvorsitzende der SPD Thüringens im Frühjahr 1996. Die Bremer SPD führte im Juni 1995 eine doppelte Befragung ihrer Mitglieder durch, bei der es um die Person des zukünftigen Ersten Bürgermeisters (Ministerpräsidenten) und um die zukünftige Regierungskoalition ging. Die Berliner SPD bestimmte im Februar 1995 ihre Spitzenkandidatin für das Amt des Regierenden Bürgermeisters durch einen Mitgliederentscheid.
Die CDU zeigte sich auf ihrem Karlsruher Parteitag im Oktober 1995 in Sachen Mitglieder-entscheid zurückhaltend und führte lediglich die Mitgliederbefragung in Personalangelegenheiten durch den Bundesvorstand ein. Auf Landesebene und in den Kommunen bietet die CDU aber ein differenzierteres Bild: In Nordrhein-Westfalen z. B. wählte die Partei im Mai 1994 ihren Spitzen-kandidaten aufgrund einer Mitgliederbefragung. Außerdem beschlossen mehrere Orts-und Kreis-verbände dieses CDU-Landesverbandes, das Delegiertensystem aufzugeben. Vorstände und Wahlkandidaten werden hier von der Mitgliederversammlung gewählt. Die FDP. führte im Dezember 1995 einen Mitgliederentscheid zum „großen Lauschangriff“ durch. Das Verfahren des Mitgliederentscheids wurde hier nicht durch eine Satzungsänderung, sondern durch einen Beschluß des Bundesvorstands vom 25. September 1995 geregelt. Demnach kann der Vorstand sowohl auf eigene Initiative als auch auf Antrag von fünf Landesverbänden, einem Drittel der Kreisverbände und von fünf Prozent der Mitglieder einen Mitgliederentscheid beschließen. Er formuliert in allen Fällen den Text der Abstimmungsvorlage und setzt den Abstimmungszeitraum fest. Die Abstimmung erfolgt auf dem Wege der Briefwahl, an der sich mindestens ein Viertel der F. D. P. -Mitglieder beteiligen muß. Eine Bewertung der Mitgliederbefragungen und Urabstimmungen kann sich nur auf die bekannten Beispiele der Bundes-und Landesebene stützen. Hierbei ist zunächst die überraschend hohe Beteiligung bemerkenswert: Während bei Parteiveranstaltungen in der Regel kaum mehr als zehn Prozent der Mitglieder zu mobilisieren sind, stimmten am 13. Juni 1993 56, 7 Prozent der SPD-Mitglieder über ihren zukünftigen Vorsitzenden ab. In Bremen nahmen am 11. Juni 1995 nahezu 54 Prozent der SPD-Mitglieder an der Doppelabstimmung teil, obwohl die Abstimmungslokale nur für vier Stunden geöffnet waren. Bei der FD P. stimmten 43 Prozent der Mitglieder über den sogenannten Lauschangriff ab. An der CDU-Mitgliederbefragung zum Spitzenkandidaten in Nordrhein-Westfalen beteiligten sich 44, 6 Prozent der ca. 210 000 Mitglieder.
In diesen Zahlen kommt ein starkes Bedürfnis nach konkreter politischer Mitentscheidung zum Ausdruck, welches Soziologen auf den inzwischen erfolgten „Wertewandel“ zurückführen. Das politische Engagement des „vom Wertewandel geprägten Menschen“ entspreche zwar dem Idealbild des mündigen Bürgers; die neue Form der Mündigkeit sei jedoch nicht von der Art, wie sie sich „Parteifunktionäre erträumen“ Der Wunsch nach Mitwirkung wird in einer repräsentativen Untersuchung der CDU-Mitglieder aus den Jahren 1992/93 bestätigt: Zwei Drittel der Befragten sprachen sich dafür aus, die Parteivorstände auf allen Ebenen durch die Mitglieder direkt statt durch eine Delegiertenversammlung wählen zu lassen. Die Studie spricht von einem „neuen Typ“ von Mitgliedern, dem es weniger um „soziale Einbindung“ als um Mitgestaltung gehe. Je jünger die Mitglieder, desto wichtiger sei für sie das Ziel, „Politik mitzubestimmen“
Wie die konkreten Beispiele zeigen, führten die Personalabstimmungen in allen Fällen zu einem klaren Resultat. Dies gilt auch für die Bremer Doppelbefragung vom 11. Juni 1995, bei der sich 64, 5 Prozent der Abstimmenden für Henning Scherf als zukünftigen Regierungschef aussprachen. Die Ergebnisse der Sachabstimmungen dagegen sind nicht immer eindeutig. Zur zukünftigen Koalition gaben die Bremer „Genossen“ keine klare Antwort: 49, 6 Prozent befürworteten „rot-grün“, 50, 4 Prozent „rot-schwarz“ und damit die Große Koalition. Mit Recht wird auch die Frage gestellt, ob ein Mitgliedervotum über die zu bildende Koalition nicht die Verhandlungsposition der Parteien bei den Koalitionsverhandlungen selbst untergrabe Der sogenannte Sachentscheid der Parteimitglieder wirft aber auch grundsätzliche Probleme auf: Ähnlich wie bei Volksbegehren auf staatlicher Ebene wird bei dieser Gelegenheit eine bestimmte Frage aus dem Gesamtzusammenhang der Politik gelöst. Die Kosten und Konsequenzen des Mitgliederentscheides bleiben hierbei weitgehend unberücksichtigt. Er bietet sich deshalb in erster Linie für autonome Politikprobleme an, deren Lösung keine weiteren politischen Entscheidungen nach sich zieht. Ein Mitgliedervotum über Wahl-und Grundsatzprogramme der Parteien ist aber durchaus sinnvoll, weil diese Dokumente einen umfassenden Entwurf zukünftiger Politik anstreben.
Der Sachentscheid würde auch mit dem „freien Mandat“ der Parlamentarier kollidieren, weil diese nach dem Grundgesetz und den Länderverfassungen nicht verpflichtet sind, dem Mitglieder-entscheid ihrer Partei zu entsprechen. Die Frage, wie ein Mitgliederentscheid revidiert werden kann, wenn er mit den inzwischen geänderten politischen Rahmenbedingungen nicht mehr übereinstimmt, ist allerdings im SPD-Statut beantwortet: Der Parteitag kann das Mitgliedervotum innerhalb von zwei Jahren mit Zweidrittelmehrheit und anschließend mit einfacher Mehrheit aufheben. Der weitaus größte Teil der Entscheidungen in den Parteien wird aufgrund dieser Überlegungen auch in Zukunft von Repräsentanten (Vorständen und Delegierten) getroffen werden. Um so wichtiger ist deshalb die Besetzung dieser Positionen durch unmittelbare innerparteiliche Wahlen.
Zu den Personalentscheidungen der Parteien fanden bisher nur formell unverbindliche Mitglieder-befragungen statt, deren Resultat jeweils anschließend von Parteitagen bestätigt wurde. Die Durchführung dieser Mitgliederbefragungen, etwa bei der Wahl von Vorsitzenden oder Vorstandsmitgliedern, ist nicht obligatorisch. In diesem Zusammenhang erweist sich Paragraph 9 des Parteien-gesetzes als „Demokratisierungshindernis“: Der Vorstand und die Delegierten für höhere Organisationsebenen müssen danach vom Parteitag oder von der Mitgliederversammlung gewählt werden. Da eine Versammlung der Mitglieder oft schon auf Kreisebene wegen der großen Zahl der Einzuladenen nicht mehr möglich ist, wird mit dieser Vorschrift das Delegiertensystem für die politisch entscheidenden Parteiebenen festgeschrieben. Das Parteiengesetz fördert in seiner gegenwärtigen Fassung oligarchische Strukturen und trägt zum Mitwirkungsdefizit in den Parteien bei. Der Ausweg kann nur in einer entsprechenden Deregulierung bestehen: Neben den Vorständen sollten auch die Delegierten der Parteitage bis hinauf zur Bundesebene von den Mitgliedern unmittelbar gewählt werden. Hierbei muß man allerdings die Wahlurne zur Hilfe nehmen und auf Antrag die Briefwahl zulassen.
Zum Bereich der innerparteilichen Demokratie gehört auch das Verfahren bei der Aufstellung von Kandidaten für allgemeine Wahlen. In demokratischen Regierungssystemen wird man hierin die wichtigste Aufgabe der politischen Parteien sehen. Das Bundeswahlgesetz räumt zwar die Möglich keit ein, die Parlamentskandidaten von der Mitgliederversammlung einer Partei wählen zu lassen. Dieses Verfahren stößt aber wegen der hohen Mitgliederzahlen bereits bei der Nominierung der Direktkandidaten im Wahlkreis auf Schwierigkeiten. Die CDU Nordrhein-Westfalens bestimmte vor der Bundestagswahl 1994 mehrere Direktkandidaten durch eine Vollversammlung ihrer Mitglieder im betreffenden Bundestagswahlkreis. Der Preis für dieses Verfahren bestand allerdings darin, daß nur 15 bis 20 Prozent der Mitglieder teilnahmen. So wurde der CDU-Kandidat für den Wahlkreis 64 mit 441 von 650 Stimmen gewählt. Die insgesamt 3 569 CDU-Mitglieder dieses Wahlkreises hätten im Saal, der Aula einer Realschule, keinen Platz gefunden. Zur Kandidatenwahl im Wahlkreis 65 wurden in der vollbesetzten Godesberger Stadthalle 814 Stimmen abgegeben; die Zahl der wahlberechtigten CDU-Mitglieder belief sich in diesem Bundestagswahlkreis auf 4 953
Anhand dieser Zahlen zeigt sich, daß das Bundes-wahlgesetz in ähnlicher Weise als „Demokratisierungsbremse“ wirkt wie Paragraph 9 des Parteiengesetzes: Da eine Urnen-oder Briefwahl der Kandidaten nicht zulässig ist, stellt es die Parteien vor die Wahl zwischen einer Delegierten-oder einer Mitgliederversammlung, die leicht zur Farce werden kann. Bei der Aufstellung der Landeslisten zeigt sich das Dilemma noch deutlicher: Sie kann nach der bestehenden Regelung nur durch Landesdelegierten-Konferenzen erfolgen. Vor diesen Konferenzen findet ein kompliziertes Aushandlungsverfahren zwischen den Gruppen und Regionalverbänden der Partei statt, von dem die Mitglieder praktisch ausgeschlossen sind. Das Bundeswahlgesetz fördert diese wenig transparente Praxis, weil es auch für die Landeslisten weder Urnenwahl noch Briefwahl durch die Parteimitglieder zuläßt.
Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Ansätze für eine direkte Mitgliederbeteiligung in den Parteien nicht nur wegen der etablierten Interessen von Amts-und Mandatsinhabern, sondern auch aufgrund rechtlicher Schranken unverbindlich geblieben sind. Die bisherigen Mitgliederbefragungen erfolgten auf Initiative der Parteiführung. Eine Direktwahl der Führungsgremien gab es bisher weder an der Spitze noch auf Landes-und Kreisebene. Die Wahl Lafontaines zum Nachfolger Scharpings ohne Mitgliederbeteiligung durch den Mannheimer Parteitag im November 1995 war ein Rückschlag für entsprechende Reformbemühungen, welcher allerdings durch die
Ambitionen des abgewählten Vorsitzenden auf eine erneute Kanzlerkandidatur provoziert wurde.
Gleichzeitig vergrößert sich der Abstand zwischen der innerparteilichen Willensbildung in Deutschland und in den vergleichbaren europäischen Ländern. Dort haben viele Parteien in den letzten Jahren Organisationsreformen durchgeführt, die dem verstärkten Mitwirkungsbedürfnis ihrer Mitglieder Rechnung tragen. Die britische Labour Party z. B. reformierte ab 1981 das Wahlverfahren ihres „Leaders“ und führte hierbei das individuelle Stimmrecht ihrer Mitglieder sowie der Mitglieder der angeschlossenen Organisationen (Gewerkschaften, Socialist Societies) ein. Die Partei wählt ihren Leader, der gleichzeitig in Personalunion Oppositionsführer im Unterhaus oder Premierminister ist, über ein sogenanntes Electoral College. Gewählt wird nach dem Grundsatz „one member, one vote“ in drei Sektionen, welche erstens aus den Unterhausabgeordneten und Europaparlamentariern, zweitens aus den direkten Mitgliedern der Partei sowie drittens aus den indirekten Mitgliedern bestehen. Die Ergebnisse in den Sektionen werden bei der Ermittlung des Resultats jeweils zu einem Drittel angerechnet. Diese Lösung wurde ursprünglich von der Parteilinken um Benn favorisiert, um die Macht der Unterhaus-fraktion zu begrenzen, die bis dahin allein für die Wahl des Leaders zuständig war. Inzwischen zeigt sich, daß die Mitgliederwahl die Position des Parteiführers erheblich gestärkt hat.
Die Labour-Kandidaten für das britische Unterhaus werden von den Parteimitgliedern des Wahlkreises gewählt. Hierbei ist auf Antrag Briefwahl möglich. Für den „sitting MP“, d. h.den amtierenden Unterhausabgeordneten, gelten allerdings Vorzugsbedingungen, und das Nationale Exekutiv Komitee (NEC) muß alle Nominierungen bestätigen. Bei den britischen Konservativen entscheiden ebenfalls die Mitglieder der Wahlkreisorganisation über die Nominierung
In Österreich führen die beiden großen Regierungsparteien seit der Nationalratswahl von 1994 Vorwahlen durch. Während bei der SPÖ nur die Parteimitglieder stimmberechtigt sind, beschloß die ÖVP „offene“ Vorwahlen, an denen auch interessierte Nichtmitglieder teilnehmen können. In der französischen Sozialistischen Partei (Parti Socialiste) bestimmen die Mitglieder im Wahlkreis durch Urnenwahl den Wahlkreiskandidaten. Die Wahlbeteiligung liegt hier teilweise bei 80 Prozent. Der PS-Kandidat für das französische Präsidenten amt wurde im Februar 1995 von allen Mitgliedern der Partei gewählt. Bei einer Wahlbeteiligung von nahezu 75 Prozent sprachen sich 65, 8 Prozent für Jospin und 34, 2 Prozent für Emmanuelli aus. In Belgien, wo nach Verhältniswahlrecht gewählt wird, entscheiden die Parteimitglieder in soge-nannten Polls über die Reihenfolge auf den Listen. Bei den flämischen Christdemokraten galt dies für mehr als 80 Prozent der Kandidaten, beim wallonischen PS (Parti Socialiste) für 78, 8 Prozent. Der Vorstand der Christdemokraten legt allerdings eine ausgehandelte Liste vor, die nur selten verändert wird. Ein ähnliches Verfahren praktiziert die niederländische Partei „Demokraten ’ 66“
Der internationale Vergleich zeigt, daß im deutschen Parteiensystem die Möglichkeiten der Mitgliederbeteiligung bei Personalentscheidungen keineswegs ausgeschöpft sind. Eine Direktwahl der Vorstände auf allen Organisationsebenen ist durchaus praktikabel. Entsprechendes gilt für das Delegiertenwesen, denn es gibt keinen plausiblen Grund, der gegen die unmittelbare Wahl der Delegierten zu den Landes-und Bundesparteitagen spricht. Besonders deutlich wird der Rückstand der deutschen Parteien bei der Kandidatenaufstellung. Dieser „Secret Garden of Politics“ (Gallagher/Marsh) muß grundlegend gelichtet und durchlüftet werden. Die Parteimitglieder sollten die Direkt-kandidaten und die Kandidaten auf den Landeslisten in unmittelbarer Wahl bestimmen. Hierzu ist allerdings der „Dritte Weg“ der Urnen-und Brief-wahl erforderlich, so daß die entsprechenden Bestimmungen der Wahlgesetze geändert werden müssen. Ob dieses Verfahren der Kandidatenaufstellung mit den US-amerikanischen Vorwahlen vergleichbar ist, erscheint angesichts der unterschiedlichen Parteistrukturen fraglich. In europäischen Parteisystemen werden „Vorwahlen“ in der Regel unter den fest eingeschriebenen Mitgliedern stattfinden. Eine unmittelbare Wahl von Vorstandsmitgliedern, Delegierten und Wahlkandidaten würde die innere Struktur der deutschen Parteien erheblich verändern. Die Ortsverbände könnten zur Bühne für die Kandidaten auf Landes-und Bundesebene werden und verlören ihren Charakter als Spezialvereine für Kommunalpolitik.
V. Zusammenfassung
Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, zu zeigen, daß eine unmittelbare Mitwirkung der Bürger in modernen Demokratien auf mehreren Wegen erreicht werden kann. Bei der Konzentration auf einen Weg, wie z. B. auf Volksbegehren und Volksentscheid, werden zwar die Reformenergien gebündelt; gleichzeitig läßt aber die Aufmerksamkeit für die Vor-und Nachteile der betreffenden Verfahren nach. Die hier vorgestellten vier Möglichkeiten ergeben sich aus dem internationalen Vergleich. Sie können nur aufgrund der gegenwärtigen Praxis in den jeweiligen politischen Systemen beurteilt werden. Das Zurückhorchen in die deutsche Geschichte reicht zu ihrer Bewertung nicht aus, obgleich die Rolle des Reichspräsidenten der Weimarer Republik als nach wie vor gültige Erfahrung anzusehen ist.
Obwohl in modernen Demokratien mehrere Möglichkeiten zur unmittelbaren Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen bestehen, muß man die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den hier vorgestellten vier Wegen beachten: Volksbegehren und Volksentscheid können in ein Spannungsverhältnis zur repräsentativen Willensbildung geraten. Ob dieser Fall eintritt, hängt von den Verfassungsbestimmungen im einzelnen ab, insbesondere von den Bedingungen für ein erfolgreiches Abstimmungsbegehren. Im Prinzip besteht aber immer die Möglichkeit, daß der Volksentscheid anders ausfällt als die Entscheidung des Parlaments und der dort vertretenen politischen Parteien. In Abstimmungsdemokratien wie der Schweiz hat im Konfliktfall der Volksentscheid Priorität, was gegebenenfalls (etwa in der Europapolitik) auch zur Verzögerung politischer Entscheidungen führen kann.
Das gleiche Spannungsverhältnis droht bei Direkt-wahlen für Exekutivfunktionen: Ein vom Volk gewählter Präsident kann konträr zur Volksvertretung stehen oder gar -wie in der Endphase der Weimarer Republik -in Versuchung kommen, das Parlament zu manipulieren. In Frankreich muß der Präsident gegebenenfalls bereit sein, mit der Regierung einer anders gelagerten Parlamentsmehrheit zu kooperieren. Obgleich sich die unmittelbare Bürgermeisterwahl in mehreren Bundesländern bewährt hat, wird man deshalb dieses Modell nicht ohne weiteres auf die Landes-und Bundesebene übertragen. Hier würde die Volkswahl des Regierungschefs oder des Präsidenten auf die Errichtung eines Präsidialsystems nach US-amerikanischem Muster hinauslaufen. Die Rolle des Parlaments und der Parteien müßte in diesem Fall neu bestimmt werden. Das gemeinsame Kennzeichen von Abstimmungsdemokratien und Präsidialsystemen ist jedenfalls die Ermittlung des Wählerwillens durch zwei unterschiedliche Verfahren. Bei den beiden zuletzt genannten Wegen zur unmittelbaren Mitwirkung besteht diese Kollisionsgefahr nicht. Die innerparteiliche Demokratie und die vorgeschlagenen Wahlrechtsänderungen vermeiden die politische Willensbildung durch unterschiedliche und voneinander unabhängige Verfahren. Sie sind deshalb auf jeden Fall mit dem parlamentarischen Regierungssystem und mit der Parteiendemokratie der Bundesrepublik kompatibel. Der „Volkswille“ würde bei der Durchsetzung entsprechender Reformen nach wie vor auf dem Weg über Parteien, Wahlen und Parlamente gebildet. Ein Widerspruch zwischen parlamentarischen und außerparlamentarischen Entscheidungen (Volksabstimmungen, Direktwahlen) kann deshalb bei den Wegen drei und vier nicht auftreten.
Die verschiedenen Vorstellungen zur erweiterten Mitwirkung der Wählerschaft verbinden sich bei vielen Autoren mit unterschiedlichen Reaktionen auf die Entwicklung des deutschen „Parteien-staats“. Die Forderung nach Volksentscheiden und Direktwahlen entspricht in der Regel der Absicht, den Parteieinfluß zu begrenzen. Die Wege eins und zwei zu einer stärkeren Bürgerbeteiligung sollen demnach eine parteifreie politische Willensbildung ermöglichen und auf diese Weise in Konkurrenz zu den von Parteien besetzten Parlamenten treten. Man erhofft sich eine neue Form der Gewaltenteilung, in der sich die Stimmbürger, unmittelbar gewählte Amtsinhaber, unabhängige Instanzen und die Parteien durch „checks and balances“ gegenseitig in Schach halten. Die neuen Wege drei und vier (Wahlrechtsänderungen und innerparteiliche Demokratie) streben demgegenüber eine innere Reform des Parteiensystems sowie des Bundes-und Länderparlamentarismus an, in deren Mittelpunkt die Personalauswahl von Kandidaten und Repräsentanten steht. Bei allen Überlegungen zur unmittelbaren Demokratie sollte man aber von einer idealistischen und einer realistischen Prämisse ausgehen: Die idealistische Prämisse entspricht dem Hauptargument, welches John Stuart Mill gegen die Regierung des „guten Despoten“ erhob: Eine Volksregierung müsse im Unterschied zum despotischen System bei den Bürgern auch die „Forderung nach Selbstbestimmung ihres Handelns“ wecken und vor allem die „Entwicklung des Volkes selbst“ anstreben. Politik sollte demnach für Menschen gemacht werden, „wie sie sind oder wie sie bald werden könnten“ Das Ziel einer so verstandenen unmittelbaren Demokratie besteht darin, das politische Engagement und die Urteilsfähigkeit der Bürger zu fördern.
Die realistische Prämisse besagt, daß die repräsentativen Systeme der modernen Demokratien bestehen bleiben und keineswegs durch eine (utopische) direkte Demokratie ersetzt werden. Es handelt sich bei den ernstzunehmenden Reformvorschlägen lediglich um die Einführung direkt-demokratischer Elemente in das Repräsentativ-system. Auch in den beiden herausragenden praktischen Beispielen für Volksbegehren und Volksentscheide, in der Schweiz und in Kalifornien, erfolgt der weitaus größte Teil der politischen Entscheidungen auf parlamentarischem und administrativem Wege. Die Unterscheidung zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie mag zwar analytisch sinnvoll sein; man darf jedoch beide Formen der Willensbildung nicht als sich gegenseitig ausschließende Prinzipien interpretieren. Selbst Jean-Jacques Rousseau, ein prinzipieller Gegner jeder Repräsentation, mußte konzedieren, daß die unter einer Repräsentativ-verfassung lebenden Engländer zumindest am Wahltag „frei“ sind 2%