Psychische Befindlichkeiten in Ost-und Westdeutschland im siebten Jahr nach der Wende. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung | APuZ 13/1997 | bpb.de
Nach einem kurzen Abriß über die Entwicklung seelischer Befindlichkeiten in Ost und West nach der Wende werden die Ergebnisse einer neuen bevölkerungsrepräsentativen Befragung von 1 034 Ost-und 1 013 Westdeutschen referiert. Dabei werden Resultate zum seelischen Befinden und zum Körpererleben in Ost und West vorgestellt, die mittels des Leipziger Stimmungsfragebogens und des Fragebogens zur Beurteilung des eigenen Körpers erhoben wurden. Bezogen auf ihre gefühlsmäßige Lage beschreiben sich Ostdeutsche stärker als Westdeutsche mit bürgerlichen Attributen wie Fleiß, Mitmenschlichkeit, Gefühlsstärke, Friedfertigkeit und Engagement. Die Gruppe der ostdeutschen Jugendlichen fiel im Vergleich zu den gleichaltrigen Westdeutschen durch die höhere Selbsteinschätzung bezüglich der Ausprägung der eigenen Aggressivität, Apathie und Erschöpfung und durch die geringere Ausprägung von Tatkraft und -verglichen mit den Älteren -auch durch eine geringere Ausprägung von Gefühlen des Glücks auf. Diese Ergebnisse verdeutlichen die Verunsicherung eines Teiles der ostdeutschen Jugendlichen. Bezogen auf das eigene Körpererleben beschreiben Westdeutsche eine stärkere Regulation des eigenen Selbstwertgefühls über den Körper. Ostdeutsche geben einen eher unbefangeneren und genußvolleren Umgang mit ihrem Körper und ihrer Sexualität an und erscheinen mit ihrer Körperlichkeit zufriedener.
I. Vorbemerkungen
In einer Untersuchung fünf Jahre nach dem Mauerfall hatten wir konstatiert, daß die materiellen Verhältnisse und die subjektiven Befindlichkeiten in Ost-und Westdeutschland noch sehr unterschiedlich sind und diese Kluft durch zahlreiche Daten für jedermann sichtbar ist Daran hat sich offensichtlich auch nach weiteren zwei Jahren nichts Wesentliches geändert. Wir hatten damals auch festgestellt, daß die psychische Entfremdung zwischen den Menschen beider Landesteile noch lange nicht überwunden sein wird. Hier scheint sich in den letzten beiden Jahren die Situation eher noch verschlechtert zu haben. Autoren wie Tobias Dürr sprechen sogar vom „Abschied von der inneren Einheit“ Dabei sind die Differenzen zwischen Ost und West keineswegs statisch und nicht allein in ihrer Quantität zu sehen, denn betrachtet man die Befindlichkeiten der Menschen in beiden Teilen Deutschlands in ihrem zeitlichen Ablauf, so werden sensible Veränderungen im Seibsterleben der Ost-und Westdeutschen deutlich.
Abbildung 8
Abbildung 5: Beurteilung der Zufriedenheit mit und des Stolzes auf den eigenen Körper durch Ost-und Westdeutsche
Abbildung 5: Beurteilung der Zufriedenheit mit und des Stolzes auf den eigenen Körper durch Ost-und Westdeutsche
Unmittelbar vor und nach der Wende herrschte eine Art Euphorie vor. Ost-und Westdeutsche befanden sich in einem Zustand der Verklärung des anderen. Man betonte die Gleichheit der Menschen in Ost und West und sah sich als „Brüder und Schwestern“. Doch mit der unvermeidlichen Wahrnehmung der unterschiedlichen und damit fremden Kultur kam es allerdings auf beiden Seiten schnell zu einem Zustand der Verunsicherung und Irritation, der sich mit dem Terminus „Kulturschock“ beschreiben läßt Man stellte fest, daß man sich weniger verstand, als man gedacht hatte. Mißverständnisse auf beiden Seiten erschwerten die gegenseitige Annäherung. Polarisierung -hier der überlegene Westdeutsche, dort der jammernde Ostdeutsche oder (aus ostdeutscher Sicht) hier der „bescheidene Ossi“, dort der „arrogante Wessi“ -war die Folge.
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Abbildung 6: Beurteilung des körperlichen Selbstvertrauens durch Ost-und Westdeutsche
Abbildung 6: Beurteilung des körperlichen Selbstvertrauens durch Ost-und Westdeutsche
Das Bild eines zurückgebliebenen, faulen, passiven, primitiv-gierigen, anpaßlerisch-feigen, jammernden „Ossis“, eines „häßlichen Ostdeutschen“, der seine Unzulänglichkeiten auch noch „voller Selbstverachtung und mit Wollust“ ausbreitete, geisterte durch die westliche Landschaft Selbst einige Sozialwissenschaftler aus den alten Ländern waren (und sind) der Ansicht, daß mit einer Bevölkerung, die sich nach vier Jahrzehnten SED-Diktatur in einer nicht heilbaren posttraumatischen Situation befindet, kein Staat zu machen sei Die Westdeutschen realisierten in Überidentifikation mit der westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft ein Überlegenheitsgefühl und eine damit verbundene Steigerung ihres Selbstwerterlebens. Schwererträgliche Inhalte psychischen Erlebens (z. B. mangelnde Möglichkeiten gesellschaftlicher Einflußnahme), die sich mit der idealen Vorstellung von der eigenen Person nicht vereinbaren ließen, wurden auf die Ostdeutschen verschoben und bei diesen verurteilt und bekämpft.
Abbildung 10
Abbildung 7: Beurteilung der Bedeutung der Körperpflege durch Ost-und Westdeutsche
Abbildung 7: Beurteilung der Bedeutung der Körperpflege durch Ost-und Westdeutsche
In Ostdeutschland kristallisierten sich zwei Tendenzen heraus. Zum einen wurde über kritikgeminderte Überidentifikation mit der neuen Gesellschaft versucht, auch die letzten Erinnerungen an die Residuen der DDR zu tilgen. Es entstand der Typus des „Neu-Wessis“, der zwar ein Ostdeutscher ist, sich aber „westdeutscher als jeder Westdeutsche“ verhält und an seinen „giftigen Schmähungen und apodiktischen Urteilen über alles Ostdeutsche“ zu erkennen ist Zum anderen bildete sich -jetzt durch kritikgeminderte Überidentifikation mit dem DDR-System -eine gewisse „Ostalgie“, eine Art Verklärung der Vergangenheit, ein krampfhaftes Festhalten am „guten Kern“ der DDR heraus. Dürr spricht von einer „Erinnerungsgemeinschaft DDR“, in der sich die Ostalgie zu einem vielfältig vernetzten und institutionell abgestimmten kommunikativen Koordinationssystem verfestigt habe. Zur Beschreibung dieses Phänomens kreierte Tobias Dürr den Begriff der „Ostigkeit“ Tatsächlich haben Sozialwissenschaftler in den neuen Ländern eine zunehmend bessere Beurteilung der Lebensverhältnisse in der früheren DDR im Vergleich zu den Verhältnissen nach der Wende konstatiert
Das Seibsterleben in Ost und West ist in zahlreichen psychologischen Studien beschrieben worden. Wir haben in den letzten Jahren selbst einige empirische Untersuchungen in Ost-und Westdeutschland durchgeführt, um verschiedene Aspekte der Befindlichkeiten zu erfassen. Dabei waren die Ost-West-Unterschiede jedoch nur Nebenprodukt, denn das Hauptinteresse unserer Befragungen liegt in der Erprobung von psychodiagnostischen Testinstrumenten. Um hier korrekte Ergebnisse zu erhalten, sind Kontrollen von Einflußvariablen wie Geschlecht, Alter, Wohnort und Bildungsgrad notwendig. Dabei stellte sich immer wieder heraus, daß die Ost-West-Unterschiede die anderen Einflüsse in vielen Bereichen übertreffen, weswegen sie der gesellschaftlichen Berücksichtigung bedürfen. So konnten wir noch Ende 1994 in einer bevölkerungsrepräsentativen Befragung ermitteln, daß sich Ostdeutsche häufiger Selbstvorwürfe machen und mit der eigenen Wesensart weniger zufrieden sind als Westdeutsche. Gleichzeitig wurde vom „weicheren“ Ostdeutschen berichtet, der sich im Vergleich zum „härteren“ Westdeutschen beispielsweise grüblerischer und bedrückter erlebt. Die Werte des „sozial offeneren Ostdeutschen“ -mehr Nähe zu anderen Menschen, bessere Erinnerungen an die Herkunftsfamilie, höhere Zufriedenheit mit den sozialen Lebensbedingungen -hatten damals offensichtlich noch keinen ausreichenden Einfluß auf das Selbstwerterleben In einer zweiten Erhebung hatten wir nach sozialen Befindlichkeiten gefragt Hier zeigte sich in Übereinstimmung mit der ersten Untersuchung ein größeres Ausmaß von zwischenmenschlicher Unterstützung im Osten.
Bei der Bewertung sozialer Beziehungen erlebten sich die Ostdeutschen warmherziger, liebevoller und interessierter als die Westdeutschen. Dennoch ließ sich in der damaligen Untersuchung eine Trendwende ausmachen: Es zeigte sich, daß sich die Ostdeutschen nun auch selbständiger, entschiedener und sicherer fühlten als die Westdeutschen. Dieses neue Selbstbewußtsein wurde im Laufe des Jahres 1996 dann auch durch die Ergebnisse anderer Untersuchungen bestätigt
Im Folgenden wollen wir über eine neue Untersuchung vom November 1996 berichten, in der es unter anderem um Stimmungslagen und das Verhältnis zum eigenen Körper geht.
II. Die Untersuchung
Abbildung 4
Abbildung 1: Charakteristische Selbstzuschreibungen Ostdeutscher im November 1996 (Skalenmittelwerte) Quelle: Eigene Untersuchungen der Autoren.
Abbildung 1: Charakteristische Selbstzuschreibungen Ostdeutscher im November 1996 (Skalenmittelwerte) Quelle: Eigene Untersuchungen der Autoren.
Im November 1996 wurden 1 034 Ostdeutsche und 1 013 Westdeutsche im Alter von 14 bis 92 Jahren vergleichend befragt. Die Erhebung wurde im Auftrag der Universität Leipzig vom Meinungsforschungsinstitut USUMA (Unabhängiger Service für Umfragen, Methoden und Analysen) durchgeführt. Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Untersuchungspopulation.
Beim Vergleich der soziodemographischen Daten sind folgende Unterschiede zwischen den Teil-stichproben aus Ost und West auffallend: 1. Beim Schulabschluß zeigt sich das höhere Ausbildungsniveau der Ostdeutschen, die viel häufiger als die Westdeutschen eine mindestens zehnjährige Schulausbildung absolviert haben.
Aus den Angaben zum Schulabschluß (Polytechnische Oberschule) wird auch deutlich, daß unter den westdeutschen Befragten Personen sind, die ursprünglich aus der DDR kommen.
Absolut fällt dieser Prozentsatz nicht sehr stark ins Gewicht. Er dürfte weit unter 10 Prozent liegen.
2. Bei der Berufstätigkeit fällt auf, daß es im Westen prozentual etwa siebenmal mehr Hausfrauen gibt als im Osten. Arbeitslose Frauen bezeichnen sich im Westen offensichtlich vielfach als Hausfrauen, im Osten als Arbeitslose.
Auffällig ist auch der sehr hohe Prozentsatz der Personen im Renten-und Vorruhestand im Osten (33, 5 Prozent gegenüber 24, 6 Prozent).
Inzwischen sind dort sehr viel weniger Menschen berufstätig als im Westen (39, 1 Prozent gegenüber 48, 2 Prozent). Dies bedeutet, daß es in den neuen Ländern eine relevante verdeckte Arbeitslosigkeit gibt. Das Haushaltseinkommen ist erwartungsgemäß im Osten viel niedriger als im Westen.
Den Untersuchungspersonen wurde unter anderem der Leipziger Stimmungsfragebogen und der Fragebogen zur Beurteilung des eigenen Körpers vorgelegt Der Leipziger Stimmungsfragebogen ist von uns in Anlehnung an Peter Becker und Karl-Gerhard Hecheltjen/Frank Mertesdorf neu entwickelt worden. Er enthält 50 Adjektive, die unterschiedliche Gefühlszustände beschreiben (z. B. glücklich, aggressiv, froh). Die Bewertung des Zutreffens erfolgt fünfstufig zwischen „überhaupt nicht“ und „sehr“. Der Fragebogen zur Beurteilung des eigenen Körpers von Bernhard Strauß und Hertha Richter-Appelt umfaßt 52 Items -Elemente eines Fragebogens oder einer Skala -, die folgende Bereiche abdecken: „Körperliche Attraktivität und Selbstvertrauen“, „Akzentuierung des körperlichen Erscheinungsbildes“, „Unsicherheiten und Besorgnisse im Zusammenhang mit dem Äußeren“ und „Körperliche Reaktionen und körperlich-sexuelles Mißempfinden“. Der Fragebogen wird häufig im klinischen/psychosomatischen Bereich sowie bei sexualwissenschaftlichen Fragestellungen eingesetzt und kann von Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen beantwortet werden. Dabei wird ein dichotomes Antwortmodell („stimmt“ oder „stimmt nicht“) verwendet
Es wurden Berechnungen unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Geschlecht, Alter und Wohnsitz (Ost/West) durchgeführt.
III. Psychische Befindlichkeiten in Ost und West
Abbildung 5
Abbildung 2: Unterschiede in den Gefühlszuständen Ostdeutscher und Westdeutscher im November 1996 (Skalenmittelwerte) Quelle: Eigene Untersuchung der Autoren.
Abbildung 2: Unterschiede in den Gefühlszuständen Ostdeutscher und Westdeutscher im November 1996 (Skalenmittelwerte) Quelle: Eigene Untersuchung der Autoren.
Die psychische Befindlichkeit wurde mittels des Leipziger Stimmungsfragebogens erfaßt. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, lassen sich bezüglich des emotionalen Befindens nach wie vor wesentliche Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen ermitteln. Für Ostdeutsche können dabei fünf charakteristische Selbstzuschreibungen formuliert werden:
-„Dersoziale Ostdeutsche“:
Ostdeutsche gehen stärker als Westdeutsche auf andere Menschen ein und verhalten sich sozial unterstützender.
-„Der gefühlsstarke Ostdeutsche“:
Ostdeutsche beschreiben im gefühlsmäßigen Erleben eine stärkere Schwingungsfähigkeit zwischen den Polen „Glücklichsein“ und „Sorgenvollsein“.
-„Derfleißige Ostdeutsche“:
Ostdeutsche schildern sich fleißiger und arbeitsamer. -„Derfriedfertige Ostdeutsche“:
Ostdeutsche beschreiben sich weniger aggressiv.
-„Der engagierte Ostdeutsche“:
Ostdeutsche erleben sich engagierter und interessierter. Die genannten ostdeutschen Selbstzuschreibungen mit Betonung von Mitmenschlichkeit, Fleiß, Friedfertigkeit, Interessiertheit und gefühlsmäßiger Beweglichkeit lassen sich als Ausprägung verinnerlichter bürgerlicher Werte und Normen interpretieren, die für die Westdeutschen offenbar nicht mehr so bedeutsam sind. Michael Geyer spricht in diesem Zusammenhang von einem „zivilisatorischen Vorsprung“ der Westdeutschen, der sie gesetzmäßig in Richtung einer „spätkapitalistischen Erlebnisgesellschaft“ führt, in der -im Kontrast zum materiellen Wohlstand -Mangelerscheinungen wie Leidenschaftslosigkeit, Freudlosigkeit, diffuse Ängste und Überlastungsgefühle zu beobachten sind
Nimmt man eine altersmäßige Aufteilung der Stichprobe vor, so fällt besonders die Gruppe der unter 25jährigen auf. Hier finden sich bei zahlreichen erfragten Gefühlszuständen gravierende Ost-/Westunterschiede, die den o. g. Angaben zur Gesamtstichprobe entgegengesetzt sind. Abbildung 2 zeigt einige ausgewählte Items bzw. Merkmale, die diese Unterschiede deutlich machen. Demnach spüren ostdeutsche Jugendliche weniger Tatkraft und mehr Apathie und Teilnahmslosigkeit sowie Aggressivität als die gleichaltrigen Westdeutschen. Bei den über 25jährigen sind die Verhältnisse genau umgekehrt. Hier sind es die Ostdeutschen, die sich tatkräftiger, beteiligter und weniger aggressiv erleben. Bei den Items, die Gefühle der Freude und des Glücklichseins erfassen (Beispiel-Item „glücklich“) findet sich zwar kein signifikanter Unterschied zwischen den ost-und westdeutschen Jugendlichen, doch hebt sich der bei den Älteren vorhandene „Glücksvor-sprung“ der Ostdeutschen bei den Jugendlichen auf. Des weiteren fühlen sich die ostdeutschen Jugendlichen stärker müde und erschöpft (Beispiel-Item „müde“). Im Vergleich zu den gleichaltrigen Westdeutschen bildet sich damit ein bedeutsamer Unterschied ab, der bei den Älteren nicht nachweisbar ist.
In ihrer Gesamtheit verdeutlichen diese Differenzen die immense Belastung ostdeutscher Jugendlicher, die seit der Wende mit Anforderungen und Konfliktbereichen konfrontiert werden, denen sie teilweise hilflos und irritiert gegenüberstehen, da sie im Umgang mit diesen Problemen kein ausreichendes Bewältigungsrepertoire zur Verfügung haben. So sind beispielsweise in Anbetracht von Fragen der beruflichen Findung (z. B. Lehrstellen-mangel, Arbeitslosigkeit) nach der Wende ganz andere Strategien gefragt, als sie in der berufs-und arbeitsversorgenden DDR mit einem ständigen Arbeitskräftedefizit erforderlich waren. Auch Themen der Identitätsfindung als Mann, Frau, Erwachsener oder Elternteil wurden im Westen ganz anders behandelt als im Osten. Im Osten bekam man beispielsweise schon mit Anfang 2das erste Kind (ab25 galt eine Frau als „Spätgebärende“), im Westen zirka sechs Jahre später Im Osten erfolgte eine Orientierung auf die Familie, im Westen auf Karriere und Erfolg. Während die westdeutschen Eltern selbst durch die „Schule der westlichen Welt“ gegangen sind und ihren Kindern entsprechende Bewältigungsformen im Umgang mit den spezifischen Anforderungen der Adoleszenz innerhalb dieses Systems vermitteln konnten, waren die ostdeutschen Eltern bisher diesen Anforderungen nicht ausgesetzt. Sie konnten folglich auch keine entsprechenden Handlungsmuster entwickeln, an denen sich die Kinder jetzt hätten orientieren können. Hinzu kommt sicher auch, daß die Eltern und Lehrer selbst infolge der Wende noch stark verunsichert waren und ihre Kraft in die Bewältigung ihrer eigenen Sinnkrise stecken mußten. Daraus resultiert bei einem Teil der ostdeutschen Jugendlichen ein Mangel an Orientierungs-und Identifikationsmustern, der zur Verunsicherung und Irritation führt und mit einer höheren Gefahr sozialer und psychischer Dekompensationen korreliert.
IV. Körpererleben in Ost und West
Abbildung 6
Abbildung 3: Ich schaue häufig in den Spiegel Quelle: Eigene Untersuchungen der Autoren.
Abbildung 3: Ich schaue häufig in den Spiegel Quelle: Eigene Untersuchungen der Autoren.
Zur Erfassung des Körpererlebens wurde der Fragebogen zur Beurteilung des eigenen Körpers von Strauß und Richter-Appelt eingesetzt In zwei Bereichen des Körpererlebens zeigen sich zwischen Ost-und Westdeutschen hochsignifikante Unterschiede. 1.Westdeutsche sind bezüglich ihrer Körperlichkeit narzißtischer Eine Reihe von Items bestätigen diese Aussage. So zeigt Abbildung3, daß Westdeutsche stärker als Ostdeutsche dem Item „Ich schaue häufiger in den Spiegel"' zustimmen.
Demnach sind Westdeutsche stärker auf Bestätigung von außen (Blick in den Spiegel) angewiesen, um den eigenen Selbstwert zu stabilisieren. Ein verläßliches, sicheres Gefühl dem eigenen Selbst gegenüber ist bei ihnen jedoch schwächer ausgeprägt als bei den Ostdeutschen. Tatsächlich finden sich bezüglich der Aussage „Auf meine Körper-signale kann ich mich verlassen" deutliche Unterschiede in den Einschätzungen Ost-und Westdeutscher. Westdeutsche können sich weniger als Ostdeutsche auf die eigenen Körpersignale verlassen. Diese Differenzen lassen sich mit unterschiedlichen Ausprägungen narzißtischer Züge in Ost und West interpretieren.
Diese Tendenz zur Beschreibung eines vergleichsweise narzißtischeren Westdeutschen findet sich auch in anderen Untersuchungen. So berichtet Horst-Eberhard Richter in seiner Studie zu Selbstportraits und psychologischen Unterschieden zwischen Russen und Deutschen: .. und da scheinen die Russen zweifellos gemüthafter, wärmer, ausdrucksfähiger und weniger narzißtisch“ Brähler und Richter ermittelten 1989 in einer bevölkerungsrepräsentativen Untersuchung mittels des Gießen-Tests zu Selbst-und Fremdbildern für die Befragten der alten Bundesländer einen Trend hin zu mehr „egoistischer Unbekümmertheit“. Die Autoren charakterisierten das von egozentrischen Zügen geprägte Selbstbild als „modernen Narzißmus“. Sie beobachteten ein Streben nach Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung, verbunden mit einem Rückgang an sozialer Anteilnahme Die vorliegende Studie spiegelt für den westlichen Teil Deutschlands die Fortsetzung dieses Trends wider. 2. Ostdeutsche sind mit ihrem eigenen Körper stärker identifiziert Die stärkere Annahme der eigenen Körperlichkeit durch die Ostdeutschen läßt sich durch zwei Aspekte belegen: -Ostdeutsche sind weniger sexuell gehemmt als Westdeutsche. -Ostdeutsche fühlen sich in ihrem Körper wohler.
Bezüglich der sexuellen Genußfähigkeit beschreiben sich die Ostdeutschen insgesamt weniger gehemmt als die Westdeutschen. Sie erleben sich in ihrer Sexualität weniger häufig „wie blockiert“ und berichten von einer höheren Zufriedenheit mit dem sexuellen Empfinden (vgl. Abbildung 4).
Diese Differenzen lassen sich am ehesten mit der stärkeren gefühlsmäßigen Kontrolle und der höheren Leistungsorientierung der Westdeutschen erklären. Sexuelle Impulse sind -wie Gefühle überhaupt -stärker beherrscht und ein hoher Anspruch an die eigene (sexuelle) Leistungsfähigkeit und Attraktivität wirkt einer erfüllten Sexualität eher entgegen. Unter diesen Bedingungen entstand im Westen ein stärker repressiver und aufgesetzter Umgang mit Sexualität, während sich im Osten ein gelösteres Sexualverhalten entwikkelte, das teilweise sogar politische Positionen „unterwandern“ konnte. So zeigt der Film „Paul und Paula“ „... zur genüßlichen Befriedigung vieler Zuschauer einen staats-und parteitreuen Ehemann, der sich unter Vortäuschung einer Kampfgruppenübung mit voller Kriegsausrüstung aus der ehelichen Neubauwohnung schleicht, um in eben dieser lächerlichen Montur ins romantisch kerzenbeschienene Bett seiner Geliebten zu fallen“
Das bei Ostdeutschen stärker als bei Westdeutschen ausgeprägte Empfinden, sich im eigenen
Körper wohlzufühlen, läßt sich durch eine Reihe von Aussagen belegen. So fühlen sich Ostdeutsche stärker als Westdeutsche in ihrem Körper zu Hause. Auch die höhere Beurteilung der Zufriedenheit mit dem eigenen Körper und der Stolz auf den eigenen Körper unterstreicht diese Beobachtung (vgl. Abbildung 5).
Ostdeutsche zeigen damit mehr körperliches Selbstvertrauen und weniger Unsicherheiten und Besorgnisse im Zusammenhang mit ihrem Äußeren. Auch die Vorstellung, andere sähen sie nackt, bereitet den Ostlern weniger Unbehagen als den Westlern (vgl. Abbildung 6).
Ausdruck dafür mag auch die FKK-Bewegung sein, die sich im Laufe der DDR-Geschichte entwickelt hatte. Kurt Dressen schreibt in der Geschichte des Naturismus im Osten: „Es war einmal ein ach so verklemmter DDR-Staat. Da gab es eine Freiheit -FKK! Die ganze Küste lang. Nicht offiziell, nicht organisiert, aber überall geduldet . . ." Des weiteren nehmen sich Ostdeutsche mehr Zeit für die Körperpflege und verbinden denAkt der Körperreinigung auch stärker mit Aspekten des Genusses (vgl. Abbildung 7).
Insgesamt verdeutlichen diese Unterschiede die höhere Zufriedenheit der Ostdeutschen mit ihrem Körper. Die Körperlichkeit wird lust-und genußvoller erlebt und unterliegt offenbar weniger Aspekten der Konkurrenz und Leistung.
IV. Ausblick
Abbildung 7
Abbildung 4: Zufriedenheit Ost-und Westdeutscher mit dem sexuellen Empfinden Quelle: Eigene Untersuchung der Autoren.
Abbildung 4: Zufriedenheit Ost-und Westdeutscher mit dem sexuellen Empfinden Quelle: Eigene Untersuchung der Autoren.
Wir befinden uns nach wie vor in einer Phase großer gesellschaftlicher Veränderungen und auch im siebten Nachwendejahr lassen sich deutlich psychische Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen konstatieren. Mit der Erfassung solcher Differenzen sollten dabei keineswegs die Gräben zwischen Ost und West vertieft oder neue Polarisierungen geschaffen werden. Eine solche Gefahrbesteht unseres Erachtens eher, wenn solche Verschiedenheiten verleugnet werden oder ein unreflektiertes Verharren auf der eigenen Position erfolgt, denn es ist gerade die Wahrnehmung des anderen, die den Weg zu wirklicher Annäherung und gemeinsamer Entwicklung freimacht. Kritisch benannt werden muß in diesem Zusammenhang der in den alten Ländern mittlerweile verbreitete Unwillen über das Nichtendenwollen der Debatten um Ost-West-Probleme, der am ehesten der Erwartung entspringt, daß sich die Ostdeutschen endlich den Westdeutschen angleichen sollen und sich die Probleme dann von selbst erledigen.
Anzumerken bleibt, daß die erfaßten psychischen Phänomene Momentaufnahmen darstellen, da sie auch noch anderen Einflußfaktoren unterliegen und sich weiter verändern und entwickeln werden. Die vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf statistische Berechnungen, so daß beim einzelnen Menschen ganz andere Aspekte von Bedeutung sein können. Auch unterliegen die erfaßten Selbstzuschreibungen in gewissem Ausmaß den unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen in Ost und West, so daß aus diesen Selbstbeurteilungen nicht unbedingt auf das reale Verhalten geschlossen werden kann.
Aike Hessel, Dr. med., geb. 1964; Ärztin an der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universität Leipzig; wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet epidemiologischer Erhebungen zu medizin-psychologischen und psychosomatischen Zusammenhängen in Deutschland. Michael Geyer, Prof. Dr. med., geb. 1943; Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universität Leipzig; wissenschaftliche Arbeiten zur Psychosomatik, Epidemiologie und zum psychotherapeutischen Prozeß. Veröffentlichungen u. a.: Das ärztliche Gespräch, Berlin 19892; Methodik des psychotherapeutischen Einzelgesprächs, Leipzig 19902; (zus. mit Reinhard Hirsch) Ärztliche psychotherapeutische Weiterbildung in Deutschland, Leipzig 1995. Julia Würz, Dipl. -Psych., geb. 1968; Mitarbeiterin an der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig; Tätigkeit in Forschung und Lehre. Elmar Brähler, Prof. Dr., geb. 1946; seit 1991 Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Jörn W. Scheer) Der Gießener Beschwerdebogen, Bern 1995; (Hrsg. zus. mit Hans-Jürgen Wirth) Entsolidarisierung. Die Westdeutschen am Vorabend der Wende und danach, Opladen 1995; (Hrsg.) Körpererleben -ein subjektiver Ausdruck von Leib und Seele, Berlin 1996.