Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Der Wandel der Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostdeutschland
Detlef Pollack
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Zusammenfassung
Im Beitrag wird versucht zu erklären, warum trotz des steigenden Lebensstandards in den neuen Bundesländern die Akzeptanz des westlichen Institutionensystems (Demokratie. Marktwirtschaft) rückläufig ist. Die Erklärung relativiert die gebräuchliche Sozialisationshypothese, der zufolge die jetzigen Akzeptanzverluste der Marktwirtschaft und der politischen Institutionen darauf zurückzuführen sind, daß es den ehemaligen DDR-Bürgern aufgrund der in der DDR erfahrenen Prägungen schwerfällt, sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen. Statt dessen wird auf Erfahrungen im Transformationprozeß als Erklärungshintergrund zurückgegriffen. Das rückläufige Vertrauen in das westliche Institutionensystem ist danach vor allem auf Erfahrungen sozialer Ungleichheit (soziale Unterschichtung) sowie auf Probleme der mangelnden Anerkennung der Ostdeutschen als Bevölkerungsgruppe zurückzuführen. Wenn die Ostdeutschen heute mehrheitlich der Marktwirtschaft und Demokratie skeptischer gegenüberstehen als noch vor sieben Jahren, dann reagieren sie damit auf die im Wiedervereinigungsprozeß erfahrene Abwertung ihrer Vergangenheit. Gleichwohl kann die Ost-West-Differenz von den Ostdeutschen als Instrument zur Durchsetzung sozialer und politischer Interessen eingesetzt werden.
I. Ein gebräuchlicher Interpretationstypus
Als ein wichtiges Problem der gegenwärtig ablaufenden Transformationsprozesse in Ostdeutschland wird in der sozialwissenschaftlichen Literatur immer wieder die Frage herausgestellt, ob das westdeutsche Institutionensystem in der völlig anders geprägten soziokulturellen Umwelt Ostdeutschlands Fuß zu fassen vermag bzw. zu welchen Abstoßungs-und Verwerfungsreaktionen es kommt. Der Austausch der Institutionen mag in vielerlei Hinsicht vielleicht schnell und gründlich vollzogen worden sein; was aber geschah mit den Gesinnungen, Gewohnheiten, Einstellungen und Mentalitäten, die durch das alte DDR-System geprägt wurden? Konnten sie sich ebenfalls so schnell wandeln wie die sozialen Strukturen, unter denen sie sich herausbildeten
Die politische Kulturforschung geht davon aus, daß Institutionen und formale Organisationen kollektiven Handelns der mentalen Einbettung bedürfen und nach einem informellen soziokulturellen Unterbau verlangen, ohne den sie nicht zu funktionieren vermögen. Struktur (Institutionen und Rollen) und Kultur (Orientierungen gegenüber den Institutionen) müssen, so heißt es dekkungsgleich sein. Nur dann könnten die politischen und wirtschaftlichen Institutionen und Systeme Stabilität und Dauerhaftigkeit gewinnen. Wenn das westliche Institutionensystem im Osten eingeführt werde, ohne daß sich die aus der alten DDR überkommenen Einstellungen, Verhaltensweisen, Routinen und Befindlichkeiten änderten, bleibe das neue Institutionensystem ohne Verwurzelung im soziokulturellen Boden Ostdeutschlands und stehe das neue politische und wirtschaftliche System ständig in der Gefahr, in Funktionsunfähigkeit oder gar Chaos und Anomie zu versinken
Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang immer wieder auf die demokratische Entwicklung der alten Bundesrepublik nach 1945: Auch damals sei die neue demokratische Ordnung zunächst ohne breitere aktive Unterstützung in der Mehrheit der Bevölkerung geblieben. In dem Maße, wie der wirtschaftliche Aufschwung vorankam, habe sich zwar die passive Hinnahme der Demokratie in deren engagierte Befürwortung verwandelt. Bevor jedoch die demokratischen Institutionen ihre erzieherische Wirkung entfalten konnten, mußten einige Jahre vergehen. Erst in den sechziger Jahren, als der größte Teil der Bürger zwischen dem Status als Staatsbürger und dem Status als Wirtschaftsbürger zu unterscheiden gelernt hatte und die Legitimation der politischen Ordnung nicht mehr in erster Linie an die Effektivität des wirtschaftlichen Systems gebunden war, war die mentale Einbettung der Bonner Republik erreicht. Nun konnte sie auch wirtschaftliche und politische Krisen wie etwa die Studentenbewegung oder das Wiedererstarken des Rechtsradikalismus verkraften, ohne daß die Stabilität der politischen Ordnung darüber ins Wanken geriet
Der gleiche Zusammenhang, so wird argumentiert, gelte nun auch für die Entwicklung des Verhältnisses der neuen Bundesbürger zu Marktwirtschaft und Demokratie. Auch bei ihnen, so nimmt man an, wird sich eine breite und aktive Unterstützung des neuen politischen und ökonomischen Systems erst nach einer längeren Phase der Gewöhnung durchsetzen. Die Wirkung von zwei deutschen Diktaturen sei nicht innerhalb weniger Jahre aufzuheben. Man müsse damit rechnen, daß es noch längere Zeit dauern werde, ehe die Prinzipien der westlichen Demokratie von der Mehrheit der Ostdeutschen verinnerlicht sein würden, ehe die Ostdeutschen nicht mehr einem an materialen Entscheidungsfolgen orientierten Politikverständnis, sondern einem Verständnis von Politik als formaler Verfahrensrationalität folgten, ehe sie sich politisch und sozial nicht mehr an Konsens und Gemeinschaft, sondern an Konflikt und streitbarer Auseinandersetzung orientierten und die Verbesserung der eigenen sozialen Lage von den eigenen Aktivitäten anstatt vom Handeln kollektiver Akteure, insbesondere vom Staat, erwarteten. Angesichts der durchgreifenden Sozialisationsfolgen des DDR-Regimes sei es nicht verwunderlich, daß die Mehrheit der Ostdeutschen noch immer sozialistischen Idealen anhinge und Werte wie Gleichheit, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit über die bürgerlichen Werte der Freiheit und der Demokratie stelle.
Die Argumentation, derer sich viele Sozialwissenschaftler bedienen -etwa M. Rainer Lepsius, Claus Offe, Sigrid Meuschel, Helmut Wiesenthal oder Renate Köcher -, ist folgende: 1. Die DDR sei ein autoritäres Regime gewesen, das jedes eigenständige, kreative Potential und damit die Voraussetzung zur Schaffung einer vom System unabhängigen Zivilgesellschaft vernichtet habe. Selbst die schwach ausgebildete Opposition sei in ihren sozialistischen Idealen dem System verpflichtet gewesen. Die Intellektuellen seien in der DDR mit dem System so stark verbunden gewesen wie nirgends sonst in Osteuropa. Wenn die Ostdeutschen heute mehrheitlich Anpassungsprobleme an die Funktionsprinzipien der parlamentarischen Demokratie hätten, dann sei das zurückzuführen auf die undemokratischen Verhältnisse in der DDR, unter denen sich demokratische Tugenden und Einstellungen nicht hätten herausbilden können. 2. Die DDR sei ein paternalistischer Sozialstaat gewesen, der die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Sozialleistungen sichergestellt, leistungsunabhängige Einkommen garantiert und fast unbegrenzten Kündigungsschutz gewährt habe. Der einzelne habe sich bei der Wahrnehmung von Arbeits-und Anwesenheitspflichten allerlei Freiheiten leisten können. Versorgungsansprüche und Klagen über Versorgungsmängel seien in diesem Sozialstaat an die Stelle von Erwerbsorientierung und Eigeninitiative getreten; ebenso habe der einzelne keinerlei Selbstverantwortung übernehmen müssen. Wenn sich die Ostdeutschen heute mehrheitlich für umfassende Eingriffe des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft auf Kosten der Freiheit des Individuums aussprächen, wenn sie zur Behebung von sozialen Ungleichheiten Staatsinterventionen befürworteten, so drücke sich darin eine aus der DDR-Zeit vererbte Haltung aus, die noch immer alles vom Staat erwartet. Mit anderen Worten, sowohl die Prinzipien der Demokratie als auch die der Marktwirtschaft hätten die Ostdeutschen in ihrer Mehrheit bislang noch nicht begriffen. Sie seien durch Erfahrungen mit einem autoritären und paternalistischen Repressionssystem geprägt, die sie nicht abzustreifen vermögen, und durch die Verhaltensanforderungen der neuen Zeit überfordert: Einmal ein Ossi, immer ein Ossi -das scheint die Lehre dieses Interpretationstyps zu sein
Dabei sieht es so aus, als ob die verfügbaren Ergebnisse repräsentativer Umfragen diesem Interpretationstyp recht geben würden. Die Werte zur Demokratieakzeptanz liegen im Osten Deutschlands deutlich unter denen im Westen. Das Vertrauen in demokratische Institutionen ist in Ostdeutschland weitaus geringer als in Westdeutschland Und auch vom Staat erwarten die Ostdeutschen mehr als die Westdeutschen: Arbeitsplatzgarantie, Kontrolle der Preise, Abbau von Einkommensunterschieden, Sicherung des Wachstums Die leistungsabhängige Entlohnung ist in Ostdeutschland weniger bejaht als in anderen ost-und mitteleuropäischen Staaten
II. Widerspruch: Die Voraussetzungen sind falsch
Abbildung 2
Tabelle 2: Entwicklung wirtschaftspolitischer Wertorientierungen (Mittelwerte) Quelle: Studie „Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik“, durchgeführt im Auftrag des Bundesministeriums vom IPOS-Institut in Mannheim.
Tabelle 2: Entwicklung wirtschaftspolitischer Wertorientierungen (Mittelwerte) Quelle: Studie „Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik“, durchgeführt im Auftrag des Bundesministeriums vom IPOS-Institut in Mannheim.
Ich möchte diesem weit verbreiteten Interpretationsansatz hier widersprechen, da er von zwei Voraussetzungen ausgeht, die ich nicht teile. Erstens wird unterstellt, daß die DDR eine homogene Gesellschaft war, in welcher sich die Herrschaftspraktiken und Ideen der führenden Partei in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung unmittelbar abbildeten. Ich nenne dies die Deformationsthese. Zweitens wird behauptet, daß einmal erworbene Einstellungen und Verhaltensweisen langlebig und zäh sind. Dies möchte ich die Persistenzannahme nennen. Beide Voraussetzungen halte ich für stark differenzierungsbedürftig. 1. Deformationsthese Die DDR war keine homogene Gesellschaft. Bis 1961 war dies unübersehbar. Von 1949 bis 1961 verließen 2, 7 Millionen Flüchtlinge das Land -eine Zahl, die eindrücklich zeigt, wie hoch die politische und wirtschaftliche Unzufriedenheit mit dem östlichen System damals war. In den Jahren nach 1961 kam es zwar zu einer leichten Annäherung zwischen Führung und Bevölkerung, diese war aber stets eine erzwungene. Auch wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR nach dem Bau der Berliner Mauer schrittweise konsolidierten, nahm seit Mitte der siebziger Jahre die Diskrepanz zwischen Struktur und Kultur in der DDR-Gesellschaft wieder zu. Während sich die rigiden Organisationsstrukturen im Laufe der DDR-Geschichte kaum lockerten, vollzog sich im alltagsweltlichen Bereich eine unübersehbare Ausweitung der Spielräume, eine Liberalisierung der Verhältnisse, ja teilweise eine beachtliche Modernisierung, die partiell bis zu einer Angleichung an westliche Lebensstile -angefangen von den Präferenzen in Unterhaltungsmusik und Kleidung bis hin zur Parteienpräferenz -gehen konnte. Angesichts dieser zunehmenden Diskrepanz zwischen Struktur und Kultur ist es unmöglich, von der autoritären Herrschaftsform, wie sie sich in der DDR durchgesetzt hatte, auf den angeblich autoritären Charakter der Ostdeutschen zu schließen, vom staatlichen Paternalismus auf die Leistungsschwäche der Individuen oder von der inhaltlichen Orientierung der Politik der SED an sozialistischen Idealen auf Vorbehalte gegenüber formalen politischen Verfahren in der Bevölkerung. Das heißt nicht, daß der DDR-Staat ohne Einfluß auf seine Bürger geblieben ist, daß die Ostdeutschen durch das repressive Regime hindurchgegangen sind, ohne von ihm berührt worden zu sein, und die Prägungen, die sie durch die DDR-Gesellschaft empfangen haben, wie einen leichten Mantel wieder abstreifen können, nachdem das System untergegangen ist.
Natürlich übte das System einen Einfluß auf seine Bürger aus. Aber man muß sehr genau danach fragen, welche der Merkmale der DDR-Gesellschaft prägend gewirkt haben und welche nicht. Fraglich erscheint jedenfalls eine Argumentation, die davon ausgeht, daß die Bevormundung durch den SED-Staat zu Obrigkeitshörigkeit geführt hat und der Allzuständigkeitsanspruch des Staates zu einer Versorgungsmentalität. Könnte es nicht vielmehr umgekehrt sein, daß undemokratische Zustände die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie befördert haben, daß aus der Erfahrung ökonomischer Ineffizienz der Wunsch nach wirtschaftlichem Wachstum und Leistung resultierte und daß die paternalistische Bevormundung durch den Staat den indivudellen Willen zur Selbständigkeit und Autonomie verstärkt hat? Akzeptierte Werte müssen die gegebenen sozialstrukturellen Verhältnisse nicht abbilden; sie können auch Ausdruck der Probleme und Schwachstellen einer Gesellschaft sein
Hinter dem Interesse an Gerechtigkeit und Gleichheit, an staatlicher Intervention und Versorgung muß nicht eine diesen Werten entsprechende Erfahrung stehen. Vielmehr kann sich in diesen Wertorientierungen auch gerade die Erfahrung einer Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit ausdrücken. Demgegenüber kann die Erfahrung von Bespitzelung und Überwachung durchaus mit dem Bedürfnis nach Vertrauen und Offenheit einhergehen oder die Erfahrung von Unterdrückung mit dem Wunsch nach Freiheit und die Erfahrung des Versorgtwerdens mit dem Anspruch auf Emanzipation. Ja, das Leben in der DDR schloß noch nicht einmal aus, daß man in ihr die Erfahrung von Vertrauen, Freiheit und Autonomie machen konnte. Dies hängt damit zusammen, daß keine Gesellschaft so einheitlich strukturiert ist, daß man in ihr nur eine oder nur eine ganz bestimmte Erfahrung machen kann. Gerade die DDR-Gesellschaft war in einem so hohen Maße fragmentarisiert und gespalten, daß es, um herauszufinden, welche Systemeigenschaften sich mental und kognitiv niedergeschlagen haben, erforderlich ist, zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagen, unterschiedlichen sozialmoralischen Milieus, unterschiedlichen Generationenund unterschiedlichen Graden der Staatsnähe zu unterscheiden. Ein linksliberaler Protestant nimmt aus der DDR-Geschichte ganz andere Erfahrungen mit als ein traditionsbewußter Arbeiter und ein konservativer Katholik wieder ganz andere als ein dem System innerlich verpflichteter Aufsteiger oder ein sich apolitisch verstehender Wissenschaftler, Arzt oder Ingenieur. 2. Zur Persistenzannahme Ein auffälliger Fehler, den die angeführten Interpretationsansätze enthalten, besteht darin, daß sie zur Bestätigung der Annahme einer sich durchhaltenden ostdeutschen Kultur auf Daten zurückgreifen, die erst in den letzten Jahren, 1993-1996, gewonnen wurden. Damit aber gehen sie über die enormen Veränderungen, die sich im Umbruchsprozeß unmittelbar nach 1989 vollzogen haben, hinweg. Eine starke Irritation für die Vertreter der Persistenzannahme müßten bereits die Massendemonstrationen vom Herbst 1989 in der DDR darstellen. Diese hätte es ihrer Ansicht nach strenggenommen gar nicht geben dürfen. Die Frage lautet, wie es dennoch zu ihnen hat kommen können. Vor 1989 konnte man von außen durchaus den Eindruck gewinnen, daß es sich bei der DDR um ein erstarrtes Land handelt, in welchem sich die Herrschenden ohne Schwierigkeiten gegen ihre Untertanen durchzusetzen vermögen. Gesellschaftsintern waren die grundlegenden Spannungen, die die Gesellschaft durchzogen, freilich immer spürbar. Mit den Massendemonstrationen aber wurde für jedermann offenbar, daß die DDR wohl doch nicht ein ganz so homogenes System war, wie es jahrzehntelang schien.
Selbstverständlich ist es möglich, den Umbruch als reine Exit-Revolution zu bezeichnen, wie das Claus Offe tut oder das Verlangen nach einem radikalen Systemwechsel auf die Unfähigkeit der SED zurückzuführen, die wohlfeilen Wohlfahrts-und Partizipationsversprechungen einzulösen, wie Helmut Wiesenthal argumentiert oder den Umbruch als bloße Konsumrevolution zu diskreditieren In keinem Fall wird man damit den Motiven, die die Demonstranten bewogen haben, auf die Straße zu gehen, gerecht. Karl-Dieter Opp und Peter Voß haben gezeigt, daß hinter der Beteiligung an den Massendemonstrationen nicht eine ökonomische, sondern eine politische Unzufriedenheit stand. Der politische Wille zur demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft war das Hauptmotiv zur Beteiligung an den Demonstrationen. Zwar ging es bis zum 9. November 1989 um eine Demokratisierung des Sozialismus. Das Ziel des revolutionären Aufbegehrens richtete sich in der Zeit danach aber auf eine Infragestellung des Sozialismus überhaupt. „Nie mehr Sozialismus!“ -mit diesem Slogan zog die CDU im März 1990 in den Wahlkampf, und sie gewann diese Wahl, weil sie diejenige Partei war, die am klarsten und deutlichsten eine Alternative zur SED-PDS formulierte. Mit der Wahl der CDU sagte die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung im März 1990 zugleich auch ja zu Marktwirtschaft und Demokratie sowie zu Wohlstand und zur Einheit der Nation, aber natürlich eben auch nein zu einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus.
Alle Befragungen aus dieser Zeit zeigen, daß die Akzeptanz von Demokratie und Marktwirtschaft im Frühjahr 1990 sehr hoch war und diese Akzeptanz erst in der Zeit danach zurückging. Dabei vollzog sich innerhalb kürzester Frist eine dramatische Entwicklung. 1990 gaben noch 77 Prozent der deutschen Bevölkerung an, eine gute Meinung von der Marktwirtschaft zu haben. Zwei Jahre später waren es noch knapp 50 Prozent. Inzwischen ist der Anteil derer, die das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik positiv beurteilen, auf ein Drittel gefallen 1990 sprach sich noch eine Mehrheit der Ostdeutschen für die Übernahme des bundesdeutschen Institutionensystems aus. Seitdem ist das Institutionenvertrauen deutlich rückläufig. Insbesondere die regierungspolitischen Institutionen (Parteien, Parlament, Regierung) haben an Akzeptanz verloren, während das Vertrauen in die politische Ordnung als Ganzes noch immer relativ hoch ist Etwa Dreiviertel der Ostdeutschen sagen, daß sie sich durch das bundesdeutsche Recht nicht geschützt fühlten, daß die Bürger vor dem Gesetz nicht gleich seien, 53 Prozent finden das bundesdeutsche System nicht gerecht
Gleichzeitig erscheint die DDR heute in einem besseren Licht als noch vor fünf oder sechs Jahren. 1990 wurde die DDR nur auf drei von neun angegebenen Gebieten gegenüber der Bundesrepublik als überlegen eingestuft. 1995 ist die Zahl derjenigen Bereiche, in denen die DDR als überlegen angesehen wird, auf sieben gestiegen Auch erhöhte sich hier die Akzeptanz sozialistischer Ideen. Die Sympathiewerte für den Kommunismus stiegen von 7 auf 24 Prozent Im ganzen läßt sich sagen, daß vor der Vereinigung das Demokratiemodell Westdeutschlands von der überwiegenden Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung akzeptiert und als vorbildlich angesehen wurde. Damals ließen sich nur etwa fünf bis sechs Prozent in der ostdeutschen Bevölkerung identifizieren, die möglicherweise ein alternatives Demokratiemodell oder eine grundsätzlich andere Staatsform bevorzugt hätten
Vor sechs Jahren waren die Ostdeutschen auch deutlich konfliktfreudiger als heute. Damals bejahten sie Konflikte als Form der Austragung politischer Interessengegensätze sogar häufiger als die Westdeutschen (vgl. Tabelle 1). Unmittelbar nach der Wiedervereinigung war der statistische Zusammenhang zwischen Demokratiezufriedenheit und der Einschätzung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage im Osten geringer als im Westen, d. h., zu dieser Zeit vermochten die Ostdeutschen bereits zwischen der Performanz und der Legitimität der politischen Ordnung zu unterscheiden. Allerdings war der Zusammenhang zwischen der Demokratiezufriedenheit und der Einschätzung der zukünftigen allgemeinen Wirtschaftslage im Osten stärker als im Westen, was angesichts der Tatsache, daß man damals noch mit einer baldigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage rechnete, nicht verwundert Auch die Marktwirtschaft wurde 1990 stark bejaht (vgl. Tabelle 2). Die entsprechenden Werte gingen, wie man an der Einschätzung der leistungsabhängigen Entlohnung und an dem Verhältnis zur Planwirtschaft ersehen kann, erst im Laufe der nächsten Jahre zurück und lagen 1995 dann deutlich unter dem westdeutschen Niveau.
Die hohe Akzeptanz, derer sich das politische und wirtschaftliche System des Westens im Jahre 1990 in der ostdeutschen Bevölkerung erfreute, bedeutet nicht, daß die Mehrheit der Bevölkerung die Funktionsprinzipien dieses Systems vollständig begriffen hätte, und auch nicht, daß sie den Verhaltensanforderungen dieses Systems gewachsen wäre. Was mit den hier vorgestellten Befragungen gemessen wird, ist lediglich die Wertorientierung und Bedürfnislage, nicht die Handlungskompetenz Wenn es richtig ist, daß Demokratie und Marktwirtschaft einschließlich ihrer leistungsabhängigen sozialen Unterschiede 1990 von der Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung akzeptiert waren und ein Verfall dieser Zustimmung erst nach und nach einsetzte, dann heißt das, daß man die heutigen Vorbehalte der ostdeutschen Bevölkerung gegenüber dem westlichen Institutionensystem und seinen Funktionsprinzipien vorrangig nicht auf ein Erbe des DDR-Sozialismus zurückführen kann.
Die Persistenzthese steht, betrachtet man die hier vorgestellten hohen Zustimmungswerte zur Demokratie und Marktwirtschaft von Anfang 1990, auf schwachen Füßen.
Letztendlich drückt sich sowohl in der Deformations-als auch in der Persistenzthese ein bestimmter Kulturbegriff aus -ein Begriff, der Kultur als ein zähflüssiges und schwer wandelbares Gebilde, als einen homogenen, in sich geschlossenen und nach außen abgegrenzten Sinnzusammenhang faßt und zwischen Kultur und Struktur ein hohes Maß an Übereinstimmung sieht. In einer solchen integrationistischen Betrachtungsweise wird nicht erkannt, daß innerhalb einer Kultur mannigfache Variationen auftreten können, daß jede Kultur, sogar die primitivste, durch Reflexivität gekennzeichnet ist und daß zu jeder Kultur so etwas wie Möglichkeitssinn gehört. In der Kultur einer Gesellschaft liegen die Sinn-und Bedeutungszusammenhänge eben nicht bereits fix und fertig vor und warten nur darauf, entdeckt zu werden. Kultur ist vielmehr ein Produkt, das von Menschen gemacht wird. Man setzt sich zu ihr aktiv in Beziehung und formt sie selbst dann noch um, wenn man sie rezipiert
Aus dem homogenisierten, ganzheitlichen Kultur-begriff erklärt sich auch, warum die hier kritisierten Persistenz-und Deformationsansätze nicht in der Lage sind, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel zu erklären. Der Umbruch in der DDR steht für die Vertreter der Deformations-und Persistenzthese da wie ein unbegriffenes Mirakel, das man allenfalls auf äußere Faktoren zurückführen, für das man aber keinerlei innere Ursachen angeben kann.
III. Erfahrung und Kompensation
Wenn das zunehmende Mißtrauen der Ostdeutschen gegenüber dem neuen demokratischen und marktwirtschaftlichen System vorrangig nicht auf die DDR-Sozialisation zurückgeführt werden kann, dann hat es seinen Grund also in den gegenwärtig ablaufenden Transformationsprozessen, dann muß es vor allem begriffen werden als eine Reaktion auf die prekären Folgen der Wiedervereinigung Zwei Thesen werden in der Transformationsliteratur verhandelt: die Erfahrungshypothese und die Kompensationshypothese
Die Erfahrungshypothese behauptet, daß die Bejahung des westlichen Systems deshalb zurückgeht, weil die Ostdeutschen schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht hätten: Erfahrungen mit der Bürokratie, die sich als ebenso umständlich und undurchsichtig erweise wie die der DDR, Erfahrungen mit den Grenzen der Redefreiheit, die zwar gegenüber allen politischen Instanzen gegeben sei, aber ihre Grenze finde, sobald man im Betrieb seine eigene Meinung sagen wolle, Erfahrungen mit steigender Kriminalität und Arbeitslosigkeit sowie mit einem Mangel an sozialer Sicherheit. Das relativ geringe Systemvertrauen wird hier also zurückgeführt auf die Unzufriedenheit mit den Lebensverhältnissen.
Zweifellos kommt der Erfahrungsthese ein gewisses Recht zu. Zu bedenken ist allerdings, daß die Ostdeutschen heute mehrheitlich angeben, daß es ihnen persönlich gegenwärtig besser geht als vor 1989 Die Unzufriedenheit mit dem heutigen System scheint also, wenn man sich die privaten Lebensverhältnisse ansieht, gar nicht so hoch zu sein, und gewöhnlich besteht zwischen der Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Lage und der Systemakzeptanz ein hoher statistischer Zusammenhang. Was allerdings auffällt, ist, daß zwischen der Einschätzung der eigenen und der allgemeinen Lage eine große Kluft besteht. Die meisten schätzen die allgemeine wirtschaftliche Lage deutlich schlechter ein als ihre persönliche Situation Auch hinsichtlich der Situation von jungen Familien behauptet die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung, daß sich diese aufgrund der Wiedervereinigung verschlechtert habe. Fragt man aber die jungen Familien selbst, so berichtet nur eine Minderheit von einer tatsächlichen Verschlechterung ihrer Situation Offenbar -so könnte man schlußfolgern -besteht ein breites Bedürfnis, die allgemeine Lage schlechter zu finden, als man sie selbst erlebt. Dies deutet darauf hin, daß neben den möglicherweise schlechten Erfahrungen mit dem neuen wirtschaftlichen und politischen System auch noch andere Gründe für die sich verstärkende Ablehnung des westlichen Rechts-, Politik-und Wirtschaftssystems verantwortlich zu machen sind. Diese Gründe könnten darin liegen, daß sich die Ostdeutschen als soziale Gruppe selbst als abgelehnt und abgewertet empfinden. Es scheint, daß hinter dem zurückgehenden Systemvertrauen ein Bedürfnis nach Selbstbehauptung steht. Die Mehrheit der Ostdeutschen beurteilt das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik offenbar deshalb heute schlechter als noch vor fünf oder sechs Jahren, weil sie auf diese Weise die erfahrene Abwertung der DDR-Vergangenheit kompensieren will. Sie erlebt die westdeutsche Sicht auf die ehemalige DDR und ihre Bürger als eine Form der Geringschätzung. Noch immer fühlen sich die Bürger der ehemaligen DDR im vereinigten Deutschland mehrheitlich als Bürger zweiter Klasse. Der Prozentsatz, der so fühlt, hat in den letzten sechs Jahren kaum abgenommen Damit ist die Kompensationshypothese ins Spiel gebracht.
Hinter diesem Gefühl des Mißachtetwerdens stehen natürlich handfeste Devaluierungsprozesse: Prozesse der Entwertung der in der DDR erworbenen Ausbildung, der Bildungsabschlüsse und Qualifikationen, der in der DDR abgeleisteten Berufsjahre, der in der DDR gemachten Erfahrungen und des gelebten Lebens in der DDR. Auf einmal soll das alles nicht mehr gültig sein und die einzige Aufgabe der Ostdeutschen darin bestehen, umzulernen. Der Systemaustausch machte die DDR-Bürger zu Fremden im eigenen Land, die noch einmal ganz von vorne anzufangen hatten. Nicht sie bestimmten die Rollen und Normen, die jetzt zu gelten hätten, sondern die, die von außen ins Land kamen. Daraus resultiert ein Gefühl der Unterlegenheit, das nur schwer zu verkraften ist. Dieses Unterlegenheitsgefühl ist zunächst einmal strukturell bedingt. Das Urteil, man könne aus der DDR nichts übernehmen, mag als Abwertung empfunden worden und vielleicht sogar so gemeint gewesen sein. Es ist unabhängig davon wahr, denn die Erfahrungen, die man in der DDR gemacht hatte, waren von heute auf morgen unbrauchbar geworden und konnten auf das neue System nicht übertragen werden.
Das Gefühl der Mißachtung hängt aber nicht nur mit den objektiven Gegebenheiten des Systemwechsels zusammen, sondern auch mit der Art und Weise, wie die Kommunikation zwischen Ost-und Westdeutschen in den letzten Jahren gelaufen ist. Mit einem Schlage standen die DDR-Bürger einem in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild von sich selbst gegenüber, das sie mit ihrem Selbstverständnis nur schwer vereinbaren konnten: dem Bild des obrigkeitlich orientierten, demokratieunfähigen, autoritären, unselbständigen und unterindividualisierten Ostdeutschen, der erst einmal lernen muß, zu arbeiten. Die Ostdeutschen sahen sich einem umfassenden Verdacht ausgesetzt, dem Verdacht, daß sie genauso undemokratisch denken, wie das System undemokratisch war, genauso ineffizient arbeiten, wie die Wirtschaft der DDR ineffizient war, und sich ebenso unselbständig verhalten würden, wie das System Unselbständigkeit forderte.
Die meisten Ostdeutschen definierten sich aber gerade in Distanz zum System: Das System war korrupt, so behaupteten sie, und die es tragenden Politiker ebenfalls, sie selbst aber hätten stets versucht, das Beste aus den schlechten Verhältnissen zu machen Wenn die Wirtschaft ineffizient war, dann lag dies an den unfähigen Führungskadern. Sie selbst hätten stets gut gearbeitet. Sie verstanden sich als Künstler des Informellen, die selbst in einer Mangelwirtschaft noch exportierbare Waren zu produzieren verstanden, die sich den politischen Erwartungen des Systems zu entziehen und sie zu unterlaufen vermocht hätten und das Überlebenstraining im Dschungel der Willkürlichkeiten des administrativen Sozialismus siegreich überstanden hätten. Kein anderer Unterschied ist den Ostdeutschen so wichtig wie derjenige zwischen dem kommunistischen Staat, von dem die meisten wenig hielten, und ihrem eigenen Leben.
Daß die Westdeutschen die heutige Situation definieren, mag eine Mehrheit der Ostdeutschen vielleicht noch akzeptieren. Daß sie aber auch definieren, wie die eigene Vergangenheit ausgesehen hat und wie sie hätte aussehen sollen, können sie nicht nachvollziehen. Hier fühlen sich die Ostdeutschen kompetent. Das Gefühl des Mißachtetwerdens hat sehr viel mit der Art und Weise zu tun, wie öffentlich über die DDR-Vergangenheit geredet wird. Viele der Ostdeutschen, die meisten von ihnen, fühlen sich mißverstanden und unterschätzt. 97 Prozent sagen, daß das Leben in der DDR nur verstehen und beurteilen könne, wer selbst dort gelebt habe Dies macht noch einmal deutlich, wie tief sich die Ostdeutschen mißverstanden und mißachtet fühlen und wie gering inzwischen die Hoffnung geworden ist, daß es jemals zu einem angemessenen Verständnis zwischen Ost-und Westdeutschen kommen könnte.
Wenn die Ostdeutschen die politische und wirtschaftliche Ordnung Westdeutschlands heute schlechter beurteilen als noch vor sechs Jahren, dann hat das zu einem großen Teil damit zu tun, daß sie auf diese Weise die erfahrene Abwertung ihrer Herkunft kompensieren wollen. Nicht zufällig ist die schlechtere Bewertung bundesdeutscher Institutionen mit einer Aufwertung des DDR-Systems verbunden. Während, wie bereits erwähnt, 1990 die Ostdeutschen Westdeutschland in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens für überlegen hielten, schätzen sie jetzt die DDR in vielen Bereichen als überlegen ein: in der Schulbildung, in der Berufsausbildung, in der Versorgung mit Wohnungen, im Gesundheitswesen und im Bereich von sozialer Sicherheit und Arbeitssicherheit. Auch sich selbst halten die Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen mittlerweile nicht mehr so stark für unterlegen wie noch vor sechs Jahren Man wertet die Westdeutschen und Westdeutschland ab, um sich selbst besser darzustellen.
IV. Worum es den Ostdeutschen geht
Es geht nicht um Nostalgie. Nostalgie heißt sehnsüchtiges Verlangen nach einer vergangenen Zeit. Kaum einer indes will zurück in die alte DDR. Weniger als 15 Prozent der Befragten wünschen die Wiederherstellung alter Zustände Die Wiedervereinigung ist noch immer breit akzeptiert. Auch wenn eine Mehrheit heute dem Satz zustimmt, daß die Idee des Sozialismus im Grunde eine gute Idee war, die nur schlecht ausgeführt wurde so steht dahinter nicht eine Wiederkehr sozialistischer Überzeugungen oder gar ihre Persistenz. Vielmehr handelt es sich hier um eine Form der Verteidigung der eigenen Vergangenheit: Es war nicht alles so schlecht, wie es heute dargestellt wird -das ist die Botschaft, die die Ostdeutschen übermitteln wollen. Dies zeigt, worum es geht. Es geht um die Aufrechterhaltung der eigenen Selbst-achtung, die Verteidigung des eigenen Stolzes und der eigenen Würde angesichts ihrer Infragestellung im Prozeß der Wiedervereinigung Deutsch-lands. John Rawls sagt, daß die Selbstachtung vielleicht das wichtigste ethische Grundgut der Menschheit sei Die Ostdeutschen bemühen sich, die eingetretene Entwertung des eigenen Lebens rückgängig zu machen. Sie müssen mit der materiellen und kulturellen Überlegenheit des westlichen Systems fertigwerden und wollen angesichts des Gefühls der eigenen Unterlegenheit ihr Selbstwertgefühl bewahren. Das ist der Grund, warum sie die Bereitschaft aufkündigen, die Hochschätzung des westlichen Institutionensystems mit den Westdeutschen länger zu teilen.
Angesichts dieses Gefühls der Nichtanerkennung liegt es nahe, sich nun selber vom Westen abzugrenzen. Heute identifizieren sich mehr der Ostdeutschen mit Ostdeutschland als noch vor sechs Jahren. 1990 gaben 61 Prozent der Ostdeutschen an, sich eher als Deutsche denn als Ostdeutsche zu fühlen. 1994 waren es 34 Prozent, die sich mehr als Deutsche, und 60 Prozent, die sich mehr als Ostdeutsche fühlten Zweidrittel der Ostdeutschen meinen, daß die Mauer in den Köpfen wachse
Die sogenannte ostdeutsche Identität ist nicht gekennzeichnet durch eine bestimmte Wertorientierung oder durch bestimmte nachweisbare Inhalte. Sie ist definiert durch die Abgrenzung vom Westen. Daher kann sie sich formieren, auch wenn es viele inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den Ost-und den Westdeutschen gibt, und sie kann sich sogar behaupten trotz der teilweise weitreichenden politischen und kulturellen Differenzen zwischen den Ostdeutschen selbst Bei der ostdeutschen Identität handelt es sich um ein zugeschriebenes Merkmal. Daß es sie gibt, ist das Produkt einer Zumutung. Letztendlich hat sie sich nur aufgrund des Blicks der Westdeutschen auf die Ostdeutschen herausgebildet. Dieser Blick war aufgrund des Systemwechsels mit einem Schlage so dominant, daß man darauf irgendwie reagieren mußte. Man konnte darauf reagieren durch eilfertige Anpassung, durch Verteidigungs-und Rechtfertigungsversuche, durch Verweigerung und Trotz oder auch durch Rückzug. Aber man konnte diesem Blick nicht entgehen. Aufgrund des Systemwechsels war es zu einer asymmetrischen Kommunikationssituation zwischen Ost-und Westdeutschen gekommen. Die Ostdeutschen waren gezwungen, über sich selbst nachzudenken, zu lernen, andere zu werden, als sie waren, zu fragen, wer sie selbst sind und warum sie vielleicht gar nicht anders werden wollen. Die Westdeutschen mußten nie über sich selbst nachdenken, sondern konnten die Ostdeutschen nur immer unverständlich, komisch und provinziell finden. Diese asymmetrische Kommunikationssituation hat jetzt für den Westen selbst kontraproduktive Folgen. Nun überlegen viele der Ostdeutschen, ob sie das westdeutsche System, dessen Überlegenheit sie bislang unreflektiert anerkannt haben, überhaupt wollen. Die zunehmende Kritik an den westlichen Institutionen der Demokratie und der Marktwirtschaft könnte insofern auch ein Ausdruck gewachsener Selbständigkeit und Mündigkeit sein
Schließlich hat das Mißachtungs-und Unterlegenheitsgefühl der Ostdeutschen auch damit zu tun, daß sie sich als sozial schlechtergestellt wahrnehmen. Fragt man die Ostdeutschen nach ihrer subjektiven Selbsteinstufung hinsichtlich ihrer sozialen Lage, dann kann man feststellen, daß sie sich mehrheitlich als unterprivilegiert einschätzen 40. Wolfgang Schluchter spricht in diesem Zusammenhang von einer subjektiven Unterschichtung 41. Bezüglich der wahrgenommenen Verteilungsgerechtigkeit sagen weita Bezüglich der wahrgenommenen Verteilungsgerechtigkeit sagen weitaus mehr Ostdeutsche als Westdeutsche, daß nur die jeweils anderen gerecht behandelt würden Hinter dem Gefühl, daß das System ungerecht sei, muß also nicht in jedem Falle ein in der DDR erworbenes Gerechtigkeitsideal stehen, vielmehr kann dieses Gefühl auch Ausdruck von realen Benachteiligungserfahrungen sein
Dabei gingen die Ostdeutschen mit hohen Erwartungen in den Prozeß der deutschen Vereinigung hinein. Nach 1989 erwarteten viele DDR-Bürger, daß es ihnen bald sehr viel besser gehen würde. Sie meinten, daß sie 40 Jahre lang auf der Schattenseite des Lebens gestanden hätten und daß esdaher nur gerecht sei, wenn der Westen von seinem Überfluß abgeben würde. Die Lasten des Zweiten Weltkrieges hätten vor allem die Ostdeutschen zu tragen gehabt. Über Jahrzehnte hinweg wären sie gegenüber den Westdeutschen benachteiligt gewesen. Das Bild des westdeutschen Wirtschaftswunders der fünfziger und sechziger Jahre vor Augen, meinten nach 1989 nicht wenige der Ostdeutschen, daß nun sie an der Reihe seien und daß im Sinne einer aüsgleichenden Gerechtigkeit ihnen nun das zustehe, was sie über Jahre hinweg entbehrt hätten.
V. Abgrenzung als Folge von Ausgrenzung
Angesichts des Ausbleibens dieser ausgleichenden Gerechtigkeit nehmen nun viele Ostdeutsche die Haltung des ewigen Verlierers ein: „Die SED hat uns betrogen, heute sind wir wieder angeschmiert, man kann niemandem vertrauen.“ Die Abwertung der westlichen Institutionen wäre dann also eine unmittelbare Folge des Gefühls, benachteiligt und ungerecht behandelt zu werden
Diese Haltung kann man pflegen. Immer wieder kann man darauf hinweisen, daß man ungleich behandelt wird, daß es einem schlechter als anderen geht, daß man etwas anderes von der deutschen Einheit erwartet hat, daß es keine Gerechtigkeit auf Erden gibt. Auf diese Weise lassen sich Ansprüche einklagen. Die Behauptung, daß das westdeutsche System ungerecht sei, hat vielfach instrumenteilen Charakter. Sie dient dazu, soziale Forderungen durchzusetzen und bedient sich dazu der Differenz zwischen Ost und West. Die Behauptung einer ostdeutschen Identität ist also keineswegs einfach nur Ausdruck überkommener Prägungen und Werthaltungen, sondern auch Ausdruck von Interessen. In die Kultur spielen Macht-fragen hinein. Kultur ist nicht ein homogenes, kompaktes, in sich geschlossenes, selbstidentisches Gebilde, sondern ein Repertoire, aus dem man schöpfen kann, dessen man sich bedienen kann, aus dem man auswählt. Damit bestimmte kulturelle Werte und Normen aktualisiert werden, muß es aktuelle Anreize geben, die es verlockend erscheinen lassen, sich ihrer zu bedienen. Neulich wurde im Fernsehen von einem Streik der Werkzeughersteller in Chemnitz berichtet. Der Betrieb, in dem die Arbeiter arbeiten, sollte geschlossen werden, denn es handelte sich um eine Tochterunternehmung eines großen westdeutschen Werks, das bereits in Konkurs gegangen war. Der Kommentar der Arbeiter: „Die da drüben denken, mit uns können sie es ja machen. “ Die Ost-West-Differenz ist ein Instrument, auf dem sich trefflich spielen läßt. In diese Differenz lassen sich Irritationen einordnen und so zum Verschwinden bringen Diese Differenz kann man benutzen, um zu erklären, warum die Welt so ist, wie sie ist. Man kann sie aber auch einsetzen, damit sie anders wird, als sie ist.
Es scheint, als würde kulturellen Ideen diese multifunktionelle Anwendbarkeit prinzipiell eignen. Auch die Idee des Sozialismus läßt sich ganz verschieden benutzen oder die Idee des Nationalismus, des Friedens oder der Gewaltlosigkeit. Daß auch die Ostdeutschen in der Benutzung kultureller Ideen das erforderliche Maß an Flexibilität aufzubringen vermögen, haben sie längst bewiesen. Solange es ihnen geschadet hätte, gegen das DDR-System zu opponieren, haben sie geschwiegen und sich in die private Nische zurückgezogen. Als es auf einmal möglich schien, das System durch öffentliche Proteste zu verändern, sind sie zu Tausenden auf die Straßen gegangen, aber auch da wußten sie noch genau, was sie taten. Sie riefen „ Wir bleiben hier!“ und deuteten damit an, daß sie nicht zu jenen „Verrätern“ gehören würden, die das eigene Land verlassen wollen, obschon sie zugleich auch zu verstehen gaben, daß man in Zukunft mit ihnen zu rechnen habe. Oder sie riefen „Keine Gewalt!“, womit sie klarmachten, daß sie nicht zu den Rowdies gehören, als die man sie offiziell verdächtigte. Auch die Idee der Loyalität oder der Gewaltlosigkeit läßt sich instrumentell einsetzen.
Bis zum 9. November sah es so aus, als ob die Mehrheit der Ostdeutschen sich für einen demokratischen Sozialismus einsetzen würde. Danach kippte die Volksmeinung, und viele befürchteten, daß man mit einem neuen deutschen Nationalismus rechnen müsse. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Aber auch die Ideen des Sozialismus und des Nationalismus waren nur Mittel zur Durchsetzung handfester sozialer und politischer Interessen. Man sollte sich davor hüten, in einer Zeit, die so stark wie die heutige durch soziale Spannungen und politische Gegensätze gekennzeichnet ist, kulturelle Ideen zu substantialisieren. Auch wenn heute von vielen Ostdeutschen das westliche Institutionensystem abgewertet und kritisiert wird, sollte man dies nicht nur als einen Ausdruck bestimmter Werthaltungen nehmen, sondern danach fragen, welche Interessendahinterstehen. Das westliche System mit Demokratie, Marktwirtschaft und Wohlstandsgesellschaft ist als gesellschaftliche Ordnung im Osten Deutschlands nach wie vor breit akzeptiert Bereits in den letzten 40 oder 50Jahren wurden die Werte des westlichen Systems tief verinnerlicht. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Kraft besitzt das westliche System aber auch heute noch eine hohe Fähigkeit zur sozialen Integration. Jedem, der sich in ihm zu bewähren vermag, zeigt es, wie sehr es sich lohnt, mit dabei zu sein.
Wenn die Ostdeutschen heute mehrheitlich das westliche System abwerten, dann ist diese Haltung in höchstem Maße ambivalent, denn eigentlich will man dazugehören, eigentlich hatte man große Hoffnungen in dieses System investiert, eigentlich war es und ist es für die meisten der Maßstab für ein normales und gelungenes Leben. Wenn man freilich die Erfahrung machen muß, nicht als gleichberechtigt anerkannt zu sein, mit seinen eigenen Erfahrungen nicht ernst genommen zu werden und als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, dann entsteht ein Bedürfnis nach Ausgleich und Veränderung, dann grenzt man sich von denen, die einen ausgrenzen, selbst ab und versucht, die, die einen abwerten, ebenfalls abzuwerten, und sei es, indem man mit moralischen Invektiven arbeitet und die, die sich überlegen fühlen, als „Besserwessis“ disqualifiziert. Worum es geht, das ist der Versuch, die asymmetrische Kommunikationssituation in die Symmetrie zu bringen.
Heißt das nun, daß von der DDR in den Köpfen ihrer ehemaligen Bürger nichts geblieben ist, daß die 40jährige Diktatur des SED-Regimes mentalitätsgeschichtlich ohne Folgen blieb? Nein, aber man wird sehr genau danach fragen müssen, was in den Köpfen geblieben ist. Ausgeschlossen scheint es zu sein, von dem obrigkeitlichen Charakter des DDR-Regimes auf die Obrigkeitshörigkeit ihrer einstigen Bewohner zu schließen oder von dem materialen Politikverständnis der SED auf das Unverständnis der Ostdeutschen gegenüber den Funktionsprinzipien einer formalen Demokratie. Sehr wohl aber scheint es möglich zu sein, von dem widersprüchlichen Charakter der DDR-Gesellschaft auf Widersprüche in der ostdeutschen Mentalität zu schließen. Drei Punkte seien herausgegriffen: 1. Es scheint mir, daß viele Bürger der DDR aufgrund der Überpolitisierung der Verhältnisse zu einer tief verinnerlichten Institutionenskepsis erzogen wurden Diese Institutionenskepsis wurde bei vielen durch ein positives Gegen-bild der funktionierenden Demokratie und Marktwirtschaft des Westens gestützt. Möglicherweise kehrt sie aber heute, da mancher das Gefühl hat, an den Segnungen des westlichen Wohlstands nicht in gleichberechtigtem Maße teilhaben zu können, wieder. 2. Eine weitere Folge der DDR-Sozialisation sehe ich darin, daß es vielen Ostdeutschen noch immer schwerfällt, öffentlich aufzutreten. Das heißt nicht, daß sich unter den Bedingungen des autoritären Sozialismus nicht Prozesse der Individualisierung vollzogen hätten Zu solchen Prozessen kam es allerdings unter DDR-Verhältnissen mehr im informellen und privat-familiären Raum als in der Öffentlichkeit. In der Öffentlichkeit hat man sich, sofern man sich individuell gab, selbst isoliert. Die kollektiven Netzwerke -so wichtig sie für die Entlastung des individuellen Handelns waren -
übten ein hohes Maß an sozialer Kontrolle aus Vielen fällt es daher nach wie vor schwer, sich aus den Bindungen in die sozialen und privaten Netzwerke zu lösen und öffentlich hervorzutreten 3. Ich gehe nicht davon aus, daß der Kollektivismus des DDR-Systems zu einer besonders starken Kollektivorientierung geführt hat. Im Gegenteil. Auf Kosten des Allgemeinwohls konnte man in der DDR vielfach relativ ungehindert seinen Privatinteressen nachgehen.
Nicht die ausgeprägte Gemeinschaftsorientie-rung, die es den Ostdeutschen so schwer macht, ihre eigenen Interessen zu vertreten und die Gesellschaft als konflikthaft zu begreifen, ist das Problem vieler Ostdeutscher. Vielmehr fällt es vielen von ihnen schwer, Ich-und Kol-lektivorientierung, das Bestehen auf persönlicher Autonomie und die Anerkennung von sozialen Normen, Individualität und soziale Einbindung in eine ausgewogene Balance zu bringen.
Detlef Pollack, Dr. theol., geb. 1955; Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadriana Frankfurt/Oder; derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Hagen Findeis und Manuel Schilling) Die Entzauberung des Politischen. Was ist aus den politisch alternativen Gruppen der DDR geworden?, Berlin 1994; Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart 1994; Was ist aus den Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen der DDR geworden?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/95.
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