I. Einführung
Das häufig in den Medien verbreitete Bild der Kurden ist das des Opfers und des Fremden im eigenen Land. Ein jüngstes Beispiel ist der Bericht von Jonathan Rugman im Zeit-Magazin mit bedrückenden Bildern von Kurden in der Türkei von Flüchtlingen aus dem Irak im Jahr 1991, von den „Verfluchten“ -den „zwischen allen Fronten“ geratenen Kurden, von Frauen und Männern, die von „den überforderten türkischen Soldaten“ als „potentielle Terroristen“ angesehen werden, von den „Fremden im eigenen Land“ und von dem „Krieg den Hütten“ mit niedergebrannten Dorf-häusern. Das Leiden der Kurden scheint bekannt zu sein, jedoch sind dessen genaue soziale Ursachen und komplexe Entwicklung vielen unverständlich oder werden nur verschleiert wiedergegeben. Die Kurden gehören zu den alteingesessenen Völkern des Nahen Ostens, die sich einerseits mit anderen Völkern gemischt, andererseits aber immer eine „eigene Identität“ behauptet haben. Was diese Identität bedeutet, wen sie heute bezeichnet und zu welchen Konsequenzen das Bemühen um die Behauptung ihrer Identität führt, ist das Thema dieses Beitrags.
Heute zählt man zwischen 24 und 27 Millionen Kurden im Nahen Osten. Fast die Hälfte davon lebt in der Türkei, die übrigen verteilt auf fünf Länder: Irak, Iran, Syrien, Armenien und Aserbaidschan. Zahlen über die Kurden sind jedoch oft Ausdruck politisch motivierter Einschätzungen, da es keine genaue Volkszählung über die ethnische Zugehörigkeit gab und gibt. Zudem ist die kurdische Identität wie auch andere Identitäten anfechtbar und wandelbar; auch die Menschen selbst sind mobil und leben gezwungenermaßen oder freiwillig als Migranten oder Flüchtlinge in verschiedenen Ländern des Nahen Ostens, Europas und in den USA.
Die am häufigsten genannten Kriterien kurdischer Identität sind die kurdische Sprache (mit drei Hauptsprachgruppen/Dialekten) die Religion (die große Mehrheit gehört dem Islam -sunnitischer, shiitischer sowie alevitischer Richtung -an; es gibt aber auch eine christliche Minderheit) und das Siedlungsgebiet. Letzteres ist Kurdistan (das Land der Kurden), dessen historisch-geographische mit den politischen Grenzen nicht übereinstimmen und das heute nur im irakischen Teil -als Folge des Golfkrieges 1991 -einen politisch begrenzt anerkannten Status hat. Die Kurden in der Türkei leben in letzter Zeit nicht mehr überwiegend in den traditionellen kurdischen Gebieten; sie sind durch erzwungene oder wirtschaftlich veranlaßte Binnenmigration in westliche Großstädte der Türkei umgezogen. Das wichtigste Kriterium für die kurdische Identität ist das „Selbstbekenntnis“ zum Kurdentum wie dieses Bekenntnis und seine öffentliche sowie soziopolitische Entfaltung sich in der Geschichte der Türkischen Republik entwickelt hat, wird ebenfalls weiter unten erläutert.
II. Historischer Überblick
1. Kurden im Osmanischen Reich Der Name Kurde wurde laut historischen Quellen zuerst im 7. Jahrhundert genannt. Es war die Bezeichnung für die in den Bergen im Südosten der Türkei, im heutigen Nordirak und Westiranlebenden und von den Arabern unterworfenen Stämme. Danach galten die Kurden immer als ein wichtiges Volkselement in verschiedenen islamischen Reichen des Nahen Ostens. Sie bildeten Führerdynastien sowie Mitläufer-und Vasallen-gruppen anderer Dynastien, die unter unterschiedlichen ethnischen Führergruppen standen. Über die Kurden und die anderen Volksgruppen in diesem Gebiet kann man aber nicht als eine „unverändert und überhistorisch“ gegebene Entität sprechen sondern als eine kategoriale Bezeichnung, die wohl an bestimmte sozio-historische Kontexte gebunden war und noch ist und nicht unbedingt immer mit dem Begriff der „nationalen Identität“ des 20. Jahrhunderts übereinstimmt.
Bis zur Eingliederung kurdischer Fürstentümer in das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert gab es viele große und kleinere Dynastien. Anfang des 16. Jahrhunderts ist es dem Osmanischen Reich durch militärischen Erfolg und diplomatische Geschicklichkeit gelungen, die Loyalität kurdischer Führer (mir) dieser Fürstentümer zu gewinnen und den größten Teil Kurdistans zu inkorporieren Dies führte zu einer Stabilisierung der Grenze zwischen dem Osmanischen und dem Persischen Reich bis zum 19. Jahrhundert. Laut Sharafname erreichte ein kurdischer Diplomat des Osmanischen Sultans Selim, daß mehr als 20 sunnitische kurdische mirs auf Seiten der Osmanen in militärische Feldzüge gegen die shiitische Safaviden-Dynastie in Iran eintraten. Für diese Unterstützung bekamen diese Fürstentümer eine Art „Halbautonomie“, besonders was das Erbrecht der Fürstentümer (hereditary governers of districts) und die Souveränität in inneren Angelegenheiten betraf In der heutigen nationalistischen Geschichtsschreibung wird dieses Ereignis als der Beginn der „Kolonisierung“ Kurdistans festgelegt Inwieweit diese Geschichte der Eroberung und der Einflußnahme der Osmanen zu einer ethnischen Teilung zwischen Herrschern und Untertanen führte, kann nur aus dem historischen Zusammenhang beantwortet werden. Wie Bruinessen ausführlich darlegt waren die ethnischen Grenzen zwischen verschiedenen nomadisch/tribalen, seßhaft/bäuerlichen und herrschend/militärischen Gruppen in Kurdistan komplex und durchlässig. Sie können daher nicht anhand heutiger Kategorien bewertet werden.
Das politische Gleichgewicht zwischen dem Osmanischen Staatszentrum und der kurdischen Fürsten-Peripherie im 16. Jahrhundert kann wie folgt beschrieben werden: „. .. (D) ie Zentralgewalt (war) trotz ihrer Stärke nicht in der Lage, die Peripherie gänzlich zu beschneiden. .. . (D) ie Osmanen hatten die überlegene Kraft, in kurzen Schlägen Aufsässigkeit zu bestrafen und punktuell Fügsamkeit zu erzwingen -nicht aber dauerhaft die einheimische Machtelite in Kurdistan zu ersetzen.“
Mit der Schwächung und dem Zerfall des Osmanischen Reiches, die ab dem 17. Jahrhundert zunehmend fortschritten, wurde das Gleichgewicht zwischen Zentrum und Peripherie auch in Kurdistan verschoben. Besonders erwähnenswert sind die Entwicklungen im 19. Jahrhundert, als erste Zentralisierungs-und Modernisierungmaßnahmen des Staates durchgeführt wurden. Zudem begannen sich nationalistische Strömungen unter den Viel-völkern des Osmanischen Reiches bemerkbar zu machen. Dies ist auch die Epoche der ersten kurdischen Aufstände. Verschiedene Gründe wie der Zugriff des Zentralstaates in den Herrschaftsbereich der kurdischen Fürstentümer, die Erneuerung des Staatsverwaltungssystems, die Einmischung von europäischen Großmächten in die Angelegenheiten von christlichen Minderheiten, die aufgrund der neueingeführter Minderheiten-rechte ein neues Selbstbewußtsein und teilweise religiös-nationale Aspirationen entwickelt hatten, können hier genannt werden. Obwohl die kurdische nationalistische Geschichtsschreibung die Aufstände des 19. Jahrhunderts als kurdische proto-oder nationalistische Erhebungen bezeichnet gibt es auch Studien, die dies anders bewerten Ende des 19. Jahrhunderts konnten die kurdischen Fürsten sich weniger gegen die Macht des Osmanischen Zentralstaates behaupten, da die semi-autonomen Emirate aufgelöst und kleinere Häuptlingstümer durch die indirect rule an die Verwaltung gebunden waren. Bruinessen bezeichnet diesen Prozeß als eine „social evolution ... in descending order“ nämlich vom Proto-Staat zum Häuptlingstum und dann zum Stamm. Da gleichzeitig der Osmanische Staat in einem Prozeß des Untergangs und der Schrumpfung begriffen war, konnte die Machtlücke nicht mehr von mächtigen Fürsten gefüllt werden, sondern sie wurde von religiösen Führern außerhalb des Stammessystems geschlossen. Diese Führer waren auch die politischen Kräfte, die in der Gründungszeit der türkischen Republik eine sehr wichtige Rolle gespielt haben. 2. Die Lage der Kurden im 20. Jahrhundert Die ersten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts zeugen von dramatischen und entscheidenden Ereignissen für das Zusammenleben von Türken und Kurden. In Kurdistan gab es einerseits ein Machtvakuum aufgrund der Schwächung des Osmanischen Staates, andererseits gab es Bestrebungen verschiedener Gruppierungen, dieses im eigenen Interesse zu nutzen. Nach den Balkankriegen 1910-1913 und dem Ersten Weltkrieg mußte das Osmanische Reich die Konsequenzen der Niederlage hinnehmen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen an der Ostgrenze führten zu erheblichen Zerstörungen besonders in Kurdistan 1918 wurde in Mudros der Waffenstillstand geschlossen, wobei Teile des Staatsgebiets von den Entente-mächten besetzt wurden. Im darauffolgenden Jahr begannen sich die oppositionellen Kräfte um Mustafa Kemal zu sammeln, um einerseits Widerstand gegen die Alliierten zu organisieren und sich andererseits der aufgezwungenen Kapitulation zu widersetzen. Gleichzeitig gab es sowohl kurdische nationalistische Intellektuelle und Elitenvereinigungen -insbesondere in Istanbul -, die einen unabhängigen Staat für Kurden anstrebten, als auch Stammes-und religiöse Führer, wie die Sheikhs von mystischen Orden im Osten, die den türkischen Befreiungskrieg unterstützen.
Die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Sevres im Jahre 1920 kann als kritischer Moment in der Geschichte der Kurden angesehen werden, da sich die Kurden davon die Errichtung eines unabhängigen Staates versprochen hatten. Gleichzeitig schritt die militärische Mobilisierung und die Bewegung Mustafa Kemals in Anatolien weiter fort. Der Vertrag von Sevres war der erste Anlaß einer Internationalisierung des Kurdenproblems im Nahen Osten. In dem Vertrag, der nie vollständig in Kraft trat, war hauptsächlich die Errichtung eines armenischen Staates vorgesehen, dessen Grenzen teilweise die von den Kurden beanspruchten Gebiete überschritten. Was den kurdischen Staat betrifft, bemerkt Behrendt wurde nur der Rahmen für weitere Verhandlungen gesteckt. 3. Die Kurden in der Türkischen Republik Die neue Türkische Republik, die 1923 nach dem Befreiungskrieg gegründet wurde, erbte zwar die Reste des multiethnischen Osmanischen Reiches, war aber gleichzeitig in vielerlei Hinsicht dem Osmanischen Staatssystem entgegengesetzt. In dem Friedensvertrag von Lausanne 1923 wurden die Rechte von nichtmuslimischen Minderheiten (d. h. orthodoxen Griechen, Armeniern und Juden) angesprochen, aber nicht die von Kurden Damit wurde der Begriff „Minderheit“ politisch-historisch festgelegt ein Problem, das ich noch erläutern werde.Die politisch-organisatorischen Ansätze der neuen Republik bezogen sich nicht nur auf die Minderheiten, sondern auch auf die religiösen Fundamente des alten Regimes. Das Kalifat wurde 1924 abgeschafft, damit wurde einer der politischen Legitimationsfaktoren gegenüber den Muslimen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit aufgehoben. In den ersten 15 Jahren der Republik wurden offiziell insgesamt 18 größere Aufstände registriert von denen einige religiös motiviert zu sein schienen. In der Mehrzahl waren es kurdische Aufstände, die aber auch partiell religiöse Motive hatten. Besonders die Aufstände von Sheikh Seid im Jahr 1925 sowie der Aufstand von Dersim/Tunceli von 1938 werden als wichtigste und blutigste Aufstände in Erinnerung behalten und aus der Sicht der heutigen nationalistischen Geschichtsschreibung als „reine kurdische nationalistische“ oder „blutigste türkische Repression von Kurden und unschuldigen Menschen“ beschrieben Mit deren Ablauf, Details über die Teilnahme sowie Nichtteilnahme an diesen Aufständen werden heute noch politische Ausgrenzung sowie Annäherungsstrategien unter den verschiedenen kurdischen Gruppierungen durchgeführt Diese Aufstände spielen gleichzeitig eine sehr wichtige Rolle für die populäre Geschichtswahrnehmung unter der türkischen Bevölkerung, so daß die Kurden im Osten der Türkei oft als potentielle Verräter angesehen werden
Die Epoche bis 1945 wird oft als die der Etablierung und der Nationbildung des türkischen Staates unter der autoritären Führung von Mustafa Kemal Atatürk und die des Einparteiensystems dargestellt. Inwieweit die revolutionären Änderungen wie die Abschaffung des Kalifats, des arabischen Alphabets, des religiösen Rechtssystems und der religiösen Orden und Sekten wirklich die Unterstützung des Volkes hatten und dieses an inwieweit den politischen Entscheidungen teilnehmen konnte, ist umstritten Es wird jedoch fast einstimmig berichtet, daß die Einführung des Mehrparteiensystems im Jahre 1945 zu einer Öffnung und Demokratisierung des politischen Systems führte
Die letzten fünfzig Jahre der soziopolitischen Entwicklungen in der Türkischen Republik können hier nicht ausführlich behandelt werden. Nur stichwortartig möchte ich auf einige Ereignisse und Prozesse sowie deren Auswirkungen auf die Situation der Kurden in der Türkei hinweisen. Die Modernisierungsprozesse, insbesondere im Agrarsektor und in der Bildung, können, als einige wichtige Entwicklungen im Kurdengebiet bezeichnet werden. Jedoch führten die staatlichen Investitionsprogramme wie auch private Investitionen in Infrastruktur und Industrie im Osten seit fünf Jahrzehnten nicht zu einer erfolgreichen Überwindung des türkischen West-Ost-Gefälles
Eine der wichtigsten Entwicklungen für die gesamte Türkei war sicherlich die rapide Verstädterung und die Binnen-sowie Auslandsmigration. In der politischen Entwicklung der Türkei kann man in dieser Epoche nicht mehr von großen kurdischen Aufständen sprechen; jedoch waren die militärischen Interventionen in die türkische parlamentarische Demokratie in den Jahren 1960, 1971 und 1980 eng mit den radikal-polarisierten und gewalttätigen Auseinandersetzungen, die das politische System nicht mehr kontrollieren konnte, verknüpft. Die Kurden waren Akteure in linken und konservativen politischen Parteien und Orga-nisationen Die kurdischen politischen und kulturellen Aktivitäten wurden 1960 teilweise positiv, in den späteren Interventionen aber zunehmend negativ beeinflußt Im nächsten Abschnitt möchte ich auf einige Thesen eingehen, die die Lage der Kurden in der Türkischen Republik umrahmen und verschiedene Aspekte des Kernproblems beleuchten.
III. Thesen zur Entwicklung der kurdischen Identität in der Türkischen Republik
Es ist weitgehend bekannt, daß das Verhältnis zu den Kurden in der Türkei ein Problem darstellt. Besonders in Deutschland gibt es reges Interesse an den Entwicklungen bezüglich der Kurden in der Türkei, da schätzungsweise ein Viertel der türkischen Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik kurdischer Abstammung sind. Darüber hinaus sind die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland sehr vielfältig und intensiv. Eine Eskalation der politischen Gewalt dort hat entsprechende Wirkung in Deutschland.
In diesem Beitrag ist es mir nicht möglich aufzuzeigen, welchem Unrecht und welchen Repressionen die Kurden in der Türkei ausgesetzt sind, vielmehr möchte ich einige Thesen zur Interpretation der Kurdenproblematik in der Türkei formulieren.
Die erste These: Die Kurden waren ein wichtiges Element bei der Gründung der Türkischen Republik; sie nahmen in der Mehrheit an den politischen und militärischen Kämpfen der Anfangszeit teil. Sie waren ein „Brudervolk“ wurden aber später ausgegrenzt und nicht als Teil einer gleichberechtigten „ Schicksalsgemeinschaft“ behandelt.
Die Art und Zeit der Inkorporation von Kurden in das türkische System ist zentral für diese These. Danach waren die Kurden am Anfang der Republik nicht nur begrenzt an den politischen Prozessen beteiligt, sondern auch die anfängliche Zusammenarbeit war eine überzeugte und vorwiegend freiwillige Unterstützung von kurdischer Seite. Hier werden besonders die Rolle und Teilnahme von „einfachen“ Kurden sowie der ländlichen und traditionellen Eliten betont. Der entscheidende Punkt ist, daß die Zusammenarbeit im Kampf gegen die „Ungläubigen“ und die Armenier während des Ersten Weltkrieges und anschließend gegen die besetzenden Großmächte beruhte. Die Kurden wurden daher von den Führungskadern der türkischen nationalistischen Bewegung als ein „Brudervolk“ anerkannt, da sie zusammen das Kalifat retten wollten. Der „Verrat“ wiederum kam von der türkischen Seite, denn nachdem die Republik gegründet war, wurden die kulturellen und politischen Rechte der Kurden nicht berücksichtigt
Die erste These, daß der türkische Staat sogleich nach seiner Gründung einen vulgären ethno-nationalistischen Charakter angenommen habe, stellte kürzlich Ümit C. Sakalhoglu grundlegend in Frage: Angesichts der neueren Studien zum Nationalismus stelle man fest, daß Dualismus zwischen den ethnischen und staatsbürgerlichen (civic) Elementen in jedem Nationalismus vorhanden sei Sakalhoglu betont, daß der türkische Nationalismus von Anfang an zwei gegensätzliche Dimensionen -eine ethnokulturelle und eine modern staatsbürgerliche -beinhaltete. Das Problem lag, ihrer Meinung nach, nicht in der Frage, ob die Kurden als Staatsbürger anzuerkennen seien, sondern in deren Zwang, sich als Türken zu sehen Diese Spannung zwischen den beiden Komponenten des Nationalismus zu berücksichtigen ist unentbehrlich, wenn man nicht den Mythos eines Staates, der sich nur auf demokratische Prinzipien stützt und nationale Identität und Kultur ignoriert, aufrechterhalten möchte
Eine weitere These lautet: Die Kurden wollten überwiegend nicht bei der Gründung der Republik mitmachen.Als Beweis für diese Behauptung werden hauptsächlich die Aktivitäten der kurdischen Organisationen in der Diaspora, aber auch derjenigen in türkischen Großstädten erwähnt; zudem wird auf die Aufstände hingewiesen. Der Mißerfolg dernationalistischen Bewegung in dieser entscheidenden Epoche wird mit geopolitischen und konjunkturellen Faktoren wie der Diskrepanz zwischen den Führern und dem „Volk“, der Unfähigkeit der führenden „Bourgeoisie“, der internationalen Abhängigkeit der Kurden und der Gleichgültigkeit der Großmächte ihnen gegenüber erklärt.
Die Schwäche dieser These liegt zum einen in schwer belegbaren Fakten, zum anderen in der unangemessenen Verwendung von Kategorien wie „Bourgeoisie“ und „nationale Führungskader“. Darüber hinaus hat der Historiker Abbas Vali vor kurzem überzeugend argumentiert, daß in der nationalistischen kurdischen Geschichtsschreibung die Idee einer unabhängigen kurdischen Nation von einigen Vordenkern als eine „ahistorische Kategorie“ behandelt wird, deren Ursprünge im 16. Jahrhundert lägen Diese Idee, daß „nationale Solidarität und Bewußtsein“ schon immer vorhanden gewesen seien war auch die Leitidee eines anderen kurdischen Historikers, Muhammad Amin Zaki. Vali findet bei Zaki aber eine differenziertere Betrachtung des „nationalen Erwachens“: „Da sie beide (Türken und Kurden, L. Y.) nicht kolonisiert waren“, teile Zaki „das ideologische Werk sowie die Vorgeschichte der Osmanen mit den türkischen Nationalisten. Beide waren Osmanische Reformisten mit einer säkularen Aussicht.“
Andererseits bemerkt Vali, daß der Historiker Zaki, „wie die Kolonisierten ...seine Identität entdeckte, ... wenn ethnische Differenzen zur Konstitution des Andersseins führen sollen“ So war, laut Vali, das ideologische Werk der Staatsformation in der Türkei von Anfang an von einer Differenzierung des Ethnischen gekennzeichnet. Mit anderen Worten, Valis Kritik richtet sich auch gegen die erste These: Die Ausgrenzung der Kurden fand nicht später statt, sondern war von Anfang an vorhanden.
Die dritte These beruht auf Ausführungen von Sakalhoglu. Diese lautet, daß die Wechselwirkung zwischen den unterschiedlichen Phasen des türkischen Nationalismus und der kurdischen Entwicklung berücksichtigt werden muß. Die Kurden wurden früher in der offiziellen türkischen Staats-ideologie zwar nicht als Entität anerkannt, sie eine wurden aber als eine soziokulturelle Realität wahrgenommen. Nach 1980, trotz -oder wegen -der Liberalisierung in Wirtschaft und Politik, bildete sich eine neue türkisch-nationale Identität heraus, eine, die dem staatlichen Islam eine zentrale Rolle gab und die türkische ethnische Identität damit koppelte Sakalhoglu stellt die Probleme, die der türkische Staat mit den Kurden hat, wie folgt dar: Der türkische Staat hat einen eigenen Begriff der Demokratie und der Legitimation. Der Staat konzipiert sich nicht als ein „limited state“; darüber hinaus sucht er seine politische Legitimation in dem Begriff der „populären Souveränität“, der sich auf die Herrschaft der Mehrheit (majority rule) stützt. Obwohl mit dem Mehrparteiensystem in den letzten fünf Jahrzehnten die kurdische Bevölkerung eine breitere Repräsentanz -durch die Wahl ihrer eigenen traditionellen Führer -besaß, unterstützte sie daher paradoxerweise auch den Status quo, da die traditionellen Führer ihre Rolle als Vermittler zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bevölkerung für ihre eigene Interessen teilweise weiter ausnutzen konnten Im Endeffekt bedeutete dies für die Bevölkerung eine eingeschränkte Repräsentation. Die wichtigsten Argumente, die Sakalhoglu anbringt, betonen die Wechselwirkung und den Dynamismus der Kurdenproblematik in der Türkei. Die kurdische Identität, besonders ihre nationale Version, entwickelt und besinnt sich nicht nur auf eine Ursprungsidentität. Es gab Phasen von und Gründe für diese Entwicklung, spezifisch sowohl zu der kurdischen Gesellschaft als auch zur Geschichte und der Entwicklung des türkischen Nationalstaates.
Als letzte These kann man mit Blick aufdie Folgen der Modernisierung untersuchen, ob die gegenwärtige Besinnung auf kurdische nationale Identität als eine Reaktion auf die Moderne verstanden werden kann Sakalhoglu führt aus, daß die gegenwärtige kurdische Identität insoweit selbst modern ist, als sie sich hauptsächlich in der Ost-West-Migration sowohl innerhalb der Türkei wie in der Migration nach Europa entwickelt und verschiedene partikularistische Differenzierungen sowie universalistische -„andere“ Kurden inkorporierende -Bezüge gewonnen hat