I. Akzentverschiebungen in Ankaras Außenpolitik
Nur langsam beginnt man sich unter den westlichen Partnern der Türkei darüber klarzuwerden, welch tiefgreifender Wandlungsprozeß sich in und mit der Türkei vollzieht. Nur wenige Länder sind von dem weltpolitischen Umbruch der beginnenden neunziger Jahre so nachhaltig betroffen wie dieses Land Das trifft sowohl für seine innere Verfaßtheit als auch für die außenpolitischen Beziehungen zu, innerhalb derer Ankara nunmehr einen neuen Platz in der Region wie in der internationalen Politik insgesamt sucht.
Symptomatisch dafür, daß es in Ankara starke Kräfte gibt, die dagegen aufbegehren, die ausgetretenen Pfade der türkischen Außenpolitik weiter zu beschreiten, sind die Akzente der ersten Monate der Regierungsausübung durch Ministerpräsident Necmettin Erbakan. Die Ziele seiner beiden Auslandsreisen und die Initiative zur Gründung der Gruppe der D 8 als einer Parallel-, ja Gegenorganisation zu den G 7 sind signifikant Dahinter steht noch kein fertiges neues außenpolitisches Konzept; auch ist die Politik nicht ohne innere Widersprüche. Und man wird darin die Ungeduld eines Mannes erkennen können, der sich seit nahezu drei Jahrzehnten mit erheblichem Engagement in der türkischen Politik betätigt, aber aus dem -bestenfalls -zweiten Glied nicht herausgetreten ist Jahrelang von der kemalistisehen Staatselite und den laizistischen Intellektuellen als der „hoca" belächelt, scheint er es nunmehr eilig zu haben, Zeichen zu setzen, daß er Veränderung will.
Aber es wäre verkehrt und griffe zu kurz, diese Signale mit Blick auf den Ministerpräsidenten zu personalisieren oder sie nur als Ausdruck islamistischer Marotten zu werten. Der Wunsch nach neuen außenpolitischen Akzenten hat heute breite Kreise der politischen Klasse, des akademischen und politikwissenschaftlichen Establishments sowie der Intellektuellen der Türkei ergriffen. Sie sind zum Teil vage und lassen sich mit gegebenen Realitäten kaum vereinbaren. Sie entspringen auch unterschiedlichen Gefühlen, die von der Enttäuschung über den so lange versuchten Weg nach Europa über gekränkten Stolz und islamistische Drittweltromantik bis zu chauvinistischer Kraftmeierei (wir Türken sind endlich wer!) reichen. Aber die Rechtfertigung dazu entspringt dem deutlichen Gefühl, daß die weltpolitischen Wandlungen der letzten Jahre die politische Bühne, auf der die Türkei ihren Part zu spielen hatte, gründlich umgestaltet haben und das Land mithin auch seine Rolle, wenn nicht sogar das Stück, zu verändern hat, das auf ihr gespielt wird.
Seit langem jedenfalls ist nicht mehr so nachdrücklich und systematisch über Außenpolitik diskutiert worden. Man muß in die siebziger Jahre zurückblicken, um eine vergleichbare Diskussion um die Außen-und Sicherheitspolitik der Türkei wahrzunehmen. Im Klima eines verbreiteten Antiamerikanismus suchten damals vor allem sozialdemokratisch orientierte Sicherheitspolitiker eine Alternative zur gegebenen Sicherheitsstruktur, die vor allem durch die Zugehörigkeit der Türkei zur NATO gekennzeichnet war, zu ermitteln. Die Diskussion war, wie heute, unter anderem durch äußere Impulse angestoßen -damals durch das von den USA Anfang 1975 verhängte Waffenembargo, über das Druck auf Ankara ausgeübt werden sollte, seine im Sommer 1974 auf Zypern besetzten militärischen Positionen wieder aufzugeben. War das bestehende System der Sicherheit überhaupt noch mit den „nationalen Interessen“der Türkei vereinbar? Welche Alternative zur NATO-Mitgliedschaft gab es? Den systematischsten Versuch, ein tragfähiges Konzept einer Alternative zu formulieren, stellte seinerzeit das „nationale Sicherheitskonzept“ (Ulusal Güvenlik Kavrami) dar. Im Mittelpunkt stand die Verwirklichung eines in sich starken und gesellschaftlich gesunden Staates als eines tragenden Konzepts der türkischen Sicherheitspolitik. Es sei überholt, die Sicherheit eines Staates nur in den politischen und militärischen Kategorien der Verteidigung der Grenzen zu sehen. Das Sicherheitskonzept dürfe nicht nur durch die militärische Rüstung sowie außen-und sicherheitspolitische Arrangements bestimmt werden; vielmehr bildeten die „Möglichkeiten“ des Landes, die durch eine optimale Abstimmung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und innenpolitischen Faktoren bestimmt würden, eine wesentliche Komponente. Andere Faktoren, wie eine starke Wirtschaft mit eigener Rüstungsindustrie und die Verbesserung der Mobilisierungsfähigkeit aller Bürger zur lokalen und regionalen Verteidigung, sollten das neue Sicherheitssystem ergänzen. So werde es möglich, strategische Prioritäten nach nationalen und den Gegebenheiten des Landes entsprechenden Kriterien in größerer Unabhängigkeit von den Erfordernissen eines Bündnisses zu setzen
Vieles an dieser Diskussion mutet reichlich platonisch an. Auch blieb sie angesichts der Realitäten der internationalen Politik, die noch immer durch den Ost-West-Konflikt bestimmt waren, weitgehend folgenlos. Im Gegenzug zur Verhängung des Embargos schloß die Türkei 26 amerikanische Militäreinrichtungen; und nach seiner Aufhebung (1978) gestalteten sich die Verhandlungen über die jeweiligen türkisch-amerikanischen Militärabkommen schwieriger. In der Substanz aber hatte sich an der Außen-und Sicherheitspolitik der Türkei nichts Wesentliches geändert.
Vieles spricht dafür, daß mit Blick auf die nächsten Jahre in der türkischen Außenpolitik nachhaltige Akzentverschiebungen zu erwarten sind -vielleicht sogar mehr als das: ein signifikantes revirement des alliances oder zumindest eine Schwerpunktverlagerung türkischer Außenpolitik. Damit dürfte sich dann auch das Verhältnis der Türken vor allem gegenüber ihrer unmittelbaren Nachbarschaft verändern. Jedenfalls sind die Handlungsspielräume zur Wahrnehmung außenpolitischer Alternativen heute und in Zukunft weiter als in den siebziger Jahren.
II, Neues Gewicht der Regionalpolitik
Nahezu umgehend reagierte die türkische Außenpolitik auf die weltpolitischen Veränderungen 1989/90: den Fall der Berliner Mauer, den Prozeß der deutschen Wiedervereinigung und die sich beschleunigende Desintegration der Sowjetunion, d. h. auf das definitive Ende des Kalten Krieges. Die Sequenz der Ereignisse spricht für sich: Noch im Dezember 1989 mußte Ankara die Absage Brüssels auf den 1987 gestellten Antrag auf Voll-mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft hinnehmen. Wie plausibel auch immer die Rechtfertigungsgründe der Absage gewesen sein mögen -für jene politischen Kräfte, die die Bestimmung der türkischen Geschichte der letzten Jahrzehnte in der Integration in Europa gesehen haben, war dies -im Rückblick -ein entscheidender Rückschlag. Er sollte einen langen Schatten über die Ereignisse der nächsten Jahre werfen.
Schon Ende Januar 1990 begann der tiefgreifende Umbruch sichtbar zu werden, als Truppen des sowjetischen Innenministeriums versuchten, nationalistische Unruhen in Baku gewaltsam zu unterdrücken. Das Blutbad läutete das Ende der Sowjetunion ein. Nach kurzem Schwanken wurde Präsident Turgut Özal zum Vorkämpfer eines umfassenden türkischen Engagements in Zentral-asien. Als mit der Besetzung Kuwaits durch irakische Truppen am 2. August 1990 ein neuer internationaler Konflikt am Golf ausbrach, schlug sich der türkische Präsident entschlossen auf die Seite der Alliierten. Nach der Entwicklung der türkisch-irakischen Beziehungen in den vorangegangenen Jahren war dies keineswegs selbstverständlich gewesen. Auch hatte es Ankara bis dahin entschlossen vermieden, sich in die Konflikte im Nahen Osten hineinziehen zu lassen Was Turgut Özal bewegte, war keineswegs nur die Verbundenheit des türkischen Präsidenten mit den USA, für die er Bewunderung hegte. Vielmehr ließ Ankara dahinter den Anspruch erkennen, eine „regionale Rolle“ zu spielen. So wird man im Rückblick 1990 als einen neuerlichen Wendepunkt in der Geschichte der Außenpolitik der Türkei erkennen können. Ein solcher war bereits mit der Truman-Doktrin vom März 1947 verbunden gewesen: Mit ihr wurde augenfällig, daß die Türkei dabei war, ihren vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk verordneten Kurs der „vollständigen Ungebundenheit“ aufzugeben und sich in das entstehende westliche Sicherheitssystem einzuordnen. Die politischen Handlungsspielräume waren klein und wurden im wesentlichen durch die übergeordneten Interessen des Bündnisses insgesamt abgesteckt. Weiter reichende eigenständige Entscheidungen mit Blick auf das geographisch-politische Umfeld wurden eigentlich nur mit Blick auf Zypern gefällt. Die Militäraktion vom Juli/August 1974 war der Höhepunkt. Die Entwicklungen seit 1990 haben zu einer grundlegend veränderten Situation geführt. Die Auflösung der Sowjetunion und das Ende der globalen Konfrontation haben der Türkei ein Umfeld von äußerster Komplexität zuwachsen lassen. Damit ist das Land außenpolitisch herausgefordert. Ankara kann sich weder auf die splendid Isolation („vollständige Ungebundenheit“) des Staatsgründers zurückziehen, noch bieten internationale Bündnis-und Sicherheitsstrukturen einen Rahmen, innerhalb dessen die außen-, wirtschaftsund sicherheitspolitischen Belange und Interessen des Landes hinreichend wahrgenommen werden können. Ja, die Türkei ist zunehmend ein regionaler Akteur geworden, der diese Interessen eigenständig zu vertreten hat.
Die Möglichkeit, regionale Interessen wahrzunehmen, bestimmt in wachsendem Maße den Stellenwert der Einbindung der Türkei in supranationale Strukturen. Das gilt für die NATO, deren Rolle und Bedeutung (mit der Erweiterung) auch für die Türkei neu zu definieren sein wird. Das gilt aber auch für die Europäische Union und das Entstehen einer europäischen Sicherheitsarchitektur. Was die Sicherheit des Landes betrifft, so hat z. B. die Bekämpfung des Terrors -den die türkische Staatsführung und namentlich die Armee bislang mit der PKK identifiziert hat -im Inneren des Landes und gegenüber den Nachbarn überwältigende Priorität. Ankara hat seit 1991 klargemacht, daß es zur Wahrnehmung dieses Sicherheitsinteresses auch den Einsatz von Waffen, die im Rahmen von NATO-Abmachungen geliefert wurden, für legitim hält
Die EU ist weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt türkischer Außenpolitik. So sind türkische Politiker aus dem Mitte-links-und Mitte-rechts-Lager nicht müde geworden, gerade die „neue Rolle“ der Türkei (vor allem in Zentralasien) als ein gewichtiges Argument mit Blick auf den Anspruch Ankaras auf Vollmitgliedschaft in der EU erscheinen zu lassen. Und das Ziel der Zollunion wurde mit unübersehbarem Nachdruck in Ankara verfolgt. Andererseits aber ist die Frustration über Europa weithin spürbar. Der rasche Zuwachs der Stimmen für die Heilspartei, die sich im Verlauf der Jahre europakritisch gezeigt hat, hat auch -wenn auch natürlich nicht ausschließlich -damit zu tun. Ex-Ministerpräsidentin Tansu filier, die sich noch im Herbst 1995 beim Lobbying für die Zollunion als Garantin für eine laizistische und auf Europa orientierte Türkei hervortat, hat wenige Monate später dem Führer der Wohlfahrtspartei, Necmettin Erbakan, an die Macht verhülfen. Und dieser hat durch eine Reihe außenpolitischer Signale keinen Zweifel daran gelassen, daß es ihm zuvorderst um ein eigenständiges regionalpolitisches Profil der Türkei geht -was immer man in Washington oder in europäischen Hauptstädten davon halten mag.
III. Konzeptualisierung der Außenpolitik
Selbstbewußt hat Ankara den Radius seines politischen Engagements ausgeweitet. Die „neue Rolle“ wurde vor allem mit Blick auf Zentralasien geprobt. Sie hatte politische, wirtschaftliche und kulturpolitische Facetten Aber auch auf dem Balkan wurde ein Netz wirtschaftlicher und politischer Beziehungen mit Kroatien, Bulgarien, Rumänien, Mazedonien und Albanien geknüpft. Zu letzteren entwickelten sich nahezu ausgeprägte Sonderbeziehungen. Und in der Bosnien-Frage engagierte sich Ankara mit der Forderung nach der Aufhebung des Embargos Zugleich folgte es aber der Linie, die von der internationalen Gemeinschaft vorgegeben war. (Die Sanktionen gegen Bosnien wurden nur insoweit unterlaufen, als dies international akzeptiert wurde.) Im Mai 1994 entsandte die türkische Regierung Blauhelmsoldaten nach Zenica.
Dieses zunächst pragmatische Ausgreifen der türkischen Außenpolitik wurde zunehmend begleitet von Bemühungen um Konzeptualisierung. Das außenpolitische Establishment realisierte bald, daß es mit Blick auf die Zukunft des Landes nicht mehr darum geht, nur weitere Politikbereiche vor der Haustür an herkömmliche anzulagern. Vielmehr ist man sich im klaren darüber, daß es erforderlich ist, ein neues, in sich stimmiges Konzept der Außenpolitik zu entwerfen, in dem sich auf-tuende lose Enden der Außenbeziehungen und Interessen mit klassischen Politikbereichen, vor allem der Mitgliedschaft in der NATO und der Ausrichtung auf Europa mit dem Ziel einer Voll-mitgliedschaft, verknüpft sind. Eine anhaltende innere Krise, das Erstarken alternativer weltanschaulicher und politischer Kräfte, vor allem der Islamisten, und die fortschreitende De-facto-Zerrüttung des europäisch-türkischen Verhältnisses wirken als Katalysator dieser umfassenden Standortbestimmung. An der Diskussion beteiligen sich neben Politikern Wissenschaftler, Diplomaten, Journalisten, Vertreter der Wirtschaft, aber auch hochrangige Ex-Offiziere.
Vor diesem Hintergrund sind die außenpolitischen Zeichensetzungen von Ministerpräsident Erbakan weniger überraschend. Wenn sie auch keineswegs auf einem Konsens der wichtigsten außenpolitischen Experten beruhen so signalisieren sie doch das neue Selbstbewußtsein, das man in Ankara mit Blick auf gewachsene außenpolitische Handlungsspielräume hegt; eine Haltung, die durch die Analyse durchweg aller Teilnehmer an der Diskussion bekräftigt wird.
Zwei Begriffe werden gleichsam zu Ausgangspunkten dieser Diskussion: Geopolitisch habe sich die Lage der Türkei verändert. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hätten sich die Koordinaten verändert, innerhalb derer die Außen-und Sicherheitspolitik des Landes zu sehen seien. Das neue „geopolitische“ Denken entdeckt die eurasische Dimension als den Raum, innerhalb dessen die Türkei neu zu verorten ist Sehr vage klingt das so: „Die Türkei öffnet den Norden zum Süden, den Süden zum Norden, den Osten zum Westen, den Westen zum Osten.“ Ein wenig aussagekräftiger heißt es: „Die geopolitische Lage der Türkei liegt am Berührungspunkt der Interessen der USA, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der Europäischen Union und des Mittleren Ostens.“ Damit klingt etwas an, was sich nahezu in jedem Beitrag vernehmen läßt, der sich zu Fragen der türkischen Außen-und Sicherheitspolitik äußert: ein enorm gesteigertes Selbstbewußtsein. Präziser hat Umut Arik, zeitweilig Chef der Turkish Agency for Economic Development am Außenministerium, die politische Ausstrahlung der Türkei definiert: Es gehe darum, „Gleichgewicht und Stabilität herzustellen auf dem Balkan, in der Schwarzmeer-Region, im Kaukasus, im östlichen Mittelmeer, im Mittleren Osten und in Zentralasien“
Die zentrale Achse türkischer Außenpolitik weist noch immer nach Europa. Freilich war noch bis weit in die neunziger Jahre hinein die „neue Rolle“ der Türkei gleichsam ein zusätzliches Argument dafür, die Aufnahme des Landes in die EU konstruktiv zu überdenken und zu beschleunigen. War 1995 noch die Intensität, mit der Ankara den Beitritt zur Zollunion mit der EU betrieb, Ausdruck der Entschlossenheit der Mehrheit der politischen Klasse, dem lange angestrebten Ziel einer Vollmitgliedschaft näherzukommen (zugleich sollte sie auch der Profilierung der kemalistischen Staatselite angesichts des Heraufziehens der islamistischen Alternative dienen), so hat sich heute Ernüchterung breitgemacht und wird der Orientierungspunkt Europa zu anderen Schwerpunkten türkischer Außen-und Sicherheitspolitik in Bezug gesetzt und zugleich relativiert.
So heißt es noch immer in den meisten außenpolitischen Analysen, daß sich die Türkei als einen europäischen Staat betrachte Gerade jüngere Aussagen lassen erkennen, wie sehr auch hartnäkkige Verfechter der europäischen Berufung zweifeln, daß die europäische Priorität Ankaras gewährleistet, daß das Land seinen angemessenen Platz in der neuen globalen Struktur erhalten wird. Das Spektrum der Reaktionen reicht von kaum verhohlener Ratlosigkeit über Wunschdenken bis zu trotziger Attitüde: Man könne auch ohne Europa auskommen Der gegenwärtige Status gegenüber Europa wird vielmehr ungeschminkt negativ eingeschätzt, worin die Gefahr einer Marginalisierung der Türkei gesehen wird. Dies lasse nicht nur der Katalog der in die EU aufzunehmenden Staaten erkennen, auf dem die Türkei kaum noch vorkomme, was mit Bitterkeit wahrgenommen wird. Die Europäisierung der Sicherheitsstruktur durch einen möglichen Ausbau der Westeuropäischen Union (WEU) würde eine solche Tendenz verschärfen. Eine sich herausbildende Identität von EU und WEU könnte für die Türkei, im Falle sie nicht Mitglied in ersterer würde, eine spürbare Beeinträchtigung ihrer Sicherheit bedeuten. Könnte sie doch von Entscheidungen, an deren Entstehung sie nicht beteiligt wäre, betroffen sein
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird gerade von hartnäckigen Vertretern einer europaorientierten Politik Kritik an dem Abkommen über die Zollunion geübt: „Wir waren . irregeführt durch unseren Optimismus, uns der EU anschließen zu können“, stellt bitter Seyfi Tahan, der Direktor des Foreign Policy Institute (D Politika Enstitüsü) in einem Interview fest Alles, was Europa von der Türkei gewollt habe, habe es nahezu zum Nulltarif erhalten; nichts hätte es dafür zurückgegeben. Die Liste der Vorwürfe ist lang. Die Mißstimmung wird durch das Gefühl akzentuiert, daß namentlich das Europäische Parlament die Zollunion als Knüppel nehme, um in Sachen Menschenrechte Druck auf die Türkei auszuüben
Die perzipierte Marginalisierung im europäischen Kontext läßt Ankara die Aufmerksamkeit verstärkt auf die NATO richten. Hier tritt die Türkei als Gleicher unter Gleichen auf. Die NATO-Frage freilich konzentriert sich auf die Perspektive der Osterweiterung; und dazu sind die Meinungen geteilt. Mag man es auch begrüßen, daß die EU-Mitglieder ihre Mittel in ein Bündnis investieren, in dem die Türkei Mitglied ist so sind die Risiken nicht zu übersehen, die diese Entwicklung für die Türkei mit sich bringen kann. Sie werden vor allem in der Haltung Rußlands gesehen: Nur im Falle der Zustimmung Moskaus liege die Erweiterung auch im türkischen Interesse. Im anderen Falle wird nicht nur befürchtet, daß Spaltungen im Bündnis auftreten könnten. Vielmehr könnte die NATO verführt sein, Zugeständnisse an Rußland zu machen, die zu Lasten der türkischen Sicherheit gingen. Dabei handele es sich vor allem um die Erfüllung russischer Forderungen, die im Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) festgelegten Zahlen neu zu verhandeln und im Interesse Rußlands zu verändern Für diesen Fall werden Kompensationen für die Türkei gefordert.
Bündelt man die verschiedenen Argumente, so ist insgesamt der Türkei an einer raschen Erweiterung des Bündnisses nicht gelegen. Die Drohung Ankaras, man könne ein Veto einlegen, wenn die Türkei nicht als Vollmitglied in die EU aufgenommen werde, reflektiert eine Mischung aus Verunsicherung und Selbstüberschätzung, die die Berechenbarkeit der türkischen Außenpolitik belastet. Die Drohung sollte freilich nicht nur als Erpressungsversuch gewertet werden (obwohl Ankara versucht sein könnte, in diesem Punkt Griechenland nachzuahmen). An dem laufenden Diskussionsprozeß sind vielmehr sowohl das Außenministerium als auch die Armee beteiligt
Die anhaltende Bedeutung der NATO als Rahmen für die Wahrnehmung türkischer Sicherheitsinteressen führt einige Analytiker näher an Washington heran. Tatsächlich ist es die strategische Gemeinsamkeit mit den USA, die der Türkei ihr Gewicht gegenüber der EU einerseits und Rußland andererseits verleiht. Neben einer Reihe weiterer gemeinsamer Interessen sehen beide -nach türkischer Einschätzung -in der NATO den wirkungsvollsten kollektiven Rahmen, Sicherheit und Stabilität in Europa zu gewährleisten. Mit Blick auf die amerikanischen Interessen im Mittleren Osten mag schließlich das Interesse an der Türkei als politischem Partner in Washington größer sein als in europäischen Hauptstädten
Einen breiten Raum in der außenpolitischen Diskussion nehmen die Beziehungen zu Rußland ein. Die Überlegungen sind hier bestimmt durch das doppelte Gefühl der Rivalität um wirtschaftlichen und politischen Einfluß in Zentralasien (und gegebenenfalls auf dem Balkan) einerseits und einer Bedrohung andererseits; letzteres vor allem aus den genannten Gründen. Ob in Europa oder auf dem Balkan, am Schwarzen Meer, im Kaukasus oder in Zentralasien -an allen Punkten berühren sich oder widerstreiten türkische und russische Interessen. Allgemein wird Rußland unterstellt, den Versuch zu machen, seinen alten Status als Supermacht wiederherzustellen. Die Auseinandersetzung um die Rohstoffe Zentralasiens und ihre Exportrouten, in der Moskau alle ihm zur Verfügung stehenden Register gezogen hat, wird in diesem Zusammenhang als einschlägiges Beispiel zitiert
Das trotz aller ungelösten Probleme enorme außenpolitische Selbstbewußtsein und der bei allen unterschiedlichen Akzentsetzungen bestehende Konsens wird durch Umut Arik auf den Punkt gebracht: „Turkey has moved on from its marginal position of merely being a Southern flank country of NATO to become a common centre and platform where what we can briefly call rings of Eurasian regional security are emerging. Central and Eastern Europe, the Balkans, the Black Sea region and the Caucasus, Eastern Mediterranean, the Middle East and Central Asia, all of these circles of security are clamped together and intersect where Turkey is located." Tatsächlich erstreckt sich die Debatte auch auf alle benachbarten Regionen. Mit Bezug auf Zentralasien wird zwar die Vorstellung einer politischen Union der turksprachigen Staaten als unrealistisch, ja kontraproduktiv verworfen; Aufbau und Stärkung einer politischen Solidarität aber werden angestrebt Im Mittleren Osten eröffnet der Friedensprozeß Möglichkeiten einer breiten türkisch-israelischen Zusammenarbeit, ohne die Beziehungen zu den Arabern, die freilich nach 1990 durch eine Reihe von Faktoren getrübt waren, weiter zu belasten Mit Blick auf die Sicherheitspolitik im Mittelmeer fordert die Türkei als Mitglied der NATO und assoziierter Partner der WEU eine gleichberechtigte Rolle Und auf dem Balkan sieht sich Ankara in der besonderen Verantwortung für die Stabilität in der Region sowie für den Schutz der dort lebenden Türken und Muslime. Die guten Beziehungen, die die Türkei zu den meisten Balkanstaaten aufgebaut hat, werden als gute Voraussetzung dafür gesehen
Parallel zu der skizzierten Diskussion unter professionellen Außenpolitikern hat in islamistischen Kreisen ein eigenständiges Nachdenken über die Standortbestimmung der Türkei eingesetzt. Anders als bei den Laizisten, die die „Interessen“ und die konkrete internationale Konstellation in den Mittelpunkt stellen, ist die islamistische Argumentation vom Rückgriff auf die Tradition bestimmt. Ausgangspunkt ist die wieder zutage tretende Eigentümlich-und Eigenständigkeit der Türkei. Mit dem Ende des Osmanischen Reiches, das die islamisch-türkische Tradition verkörpert habe, habe sich die Türkei dem Westen ausgeliefert. Sie wurde so politisch, wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und kulturell ein Anhängsel desselben; eines Westens, den sie niemals erreichen konnte und der sie niemals ehrlich an-und aufnahm. So fällt der verklärende Blick wieder auf das Osmanische Reich zurück. Nicht als eine imperiale Größe, aus der sich unbedingt eine außenpolitische Verpflichtung ergäbe, türkischen Einfluß wieder erwachsen zu lassen, wo die Osmanen weiland herrschten. (Andeutungen dazu finden sich freilich gelegentlich.) Vielmehr geht es um die Wiederaneignung einer eigenständigen Identität im Lichte von Tradition und Religion. „Neo-osmanisches“ Denken impliziert auch die Forderung, jede Form von außenpolitischer Fremdbestimmung abzustreifen und eine eigenständige Rolle in dem Umfeld wahrzunehmen, innerhalb dessen sich die Türken seit ihrer Landnahme in Kleinasien hineingestellt gesehen hätten.
IV. Die Türkei vor einer außen-politischen Kehrtwende?
Was die Diskussion, die hier nur angedeutet werden konnte, reflektiert, ist das zentrale Anliegen, das der Gestaltung der Außenpolitik eines Landes zukommt, das sich insgesamt am Beginn eines tief-greifenden Auf-und Umbruchs weiß und dabei ist, seine Rolle und seinen Standort neu zu bestimmen. Unvermeidlich stellt sich dabei die Frage nach Anspruch und Wirklichkeit. Wird die türkische Staatsführung eine berechenbare Politik im Sinne der angedachten Konzepte verfolgen? Und wird die Türkei die Rolle eines stabilisierenden Moderators spielen, die ihr die außenpolitische Elite beimißt? Oder wird sie nicht im anderen Falle Teil der Probleme, Spannungen, Krisen und Konflikte werden, von denen sie umgeben ist? Was sind gleichsam die Bedingungen für die Berechenbarkeit, die die türkische Außenpolitik über Jahrzehnte ausgezeichnet hat -jetzt mit Blick auf die Zukunft angesichts der Wandlungen innerhalb des internationalen Systems? Voraussetzung einer Außenpolitik, die sich an den Interessen des Landes orientiert, konzeptuell abgestützt ist, den internationalen Realitäten entspricht und zugleich durchsetzungsfähig ist, ist die Herstellung stabiler Regierungsverhältnisse und die Lösung einer Reihe von grundlegenden Problemen, die in den neunziger Jahren immer deutlicher hervorgetreten sind. Mit dem Tod von Präsident Turgut Özal (April 1993) tat sich ein dramatischer Widerspruch zwischen den zu bewältigenden neuen Herausforderungen an die Politik des Landes im Inneren und nach außen und der Führungsschwäche des Zentrums, d. h.der türkischen Regierung, auf Die Demokratisierung des Landes, Grundvoraussetzung einer stabilen Partnerschaft mit dem Westen, wurde nur eben so weit vorangetrieben, um die Mitglieder des Europäischen Parlaments dazu zu bringen, ihre Bedenken gegen eine Zollunion der EU mit der Türkei zu überwinden. In der kurdischen Frage konnten sich die jeweiligen Regierungen nicht gegen die Auffassung des Militärs durchsetzen, es handle sich dabei nur darum, den Terror der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) mit Gewalt zu bekämpfen. So kam es auch nicht zu Ansätzen einer politischen Lösung. Daneben schließlich begann, spätestens mit den Ereignissen von Sivas im Juli 1993, eine weitere Verwerfungslinie im Inneren der Türkei zutage zu treten: die wachsende Spannung zwischen konservativen, chauvinistischen und sunnitisch-islamischen Kreisen auf der einen und der religiösen Minderheit der Aleviten, einer aus dem schiitischen Islam hervorgegangenen Sekte, deren Anhänger politisch eher links zu stehen pflegten, auf der anderen Seite. Letztere müssen befürchten, wieder in jenen Status politischer und gesellschaftlicher Marginalität zurückgedrängt zu werden, aus dem sie erst durch die Einführung des Laizismus befreit worden waren
Stagnation und Verfall in der türkischen Innenpolitik haben negativ auf die Außenpolitik zurückgewirkt. Sie haben die Beziehungen zu Europa (aber auch zu den USA) in wachsendem Maße belastet. Eine Türkei, die in Sachen Demokratie, Menschenrechte und Behandlung von Minderheiten unübersehbare Defizite hatte, war kaum als politisches Modell zu vermitteln. Das Kurdenproblem hat die Stellung der Türkei insbesondere auch gegenüber jenen Mächten in der Region geschwächt, die ein Interesse an der Destabilisierung des Landes haben.
Die Orientierungslosigkeit türkischer Administrationen seit 1993 hat Populismus an die Stelle von Politik treten lassen. Dies gilt insbesondere -wenn auch nicht ausschließlich -für Tansu iller, die von 1993 bis 1995 an der Spitze der türkischen Regierung stand. Ob der Konflikt in Bosnien, das Verhältnis zu Athen, die Spannungen mit Syrien wegen der Verteilung des Euphrat-Wassers oder die Probleme auf Zypern -kaum eines der sensiblen außenpolitischen Themen wurde ausgespart, zu innenpolitischen Zwecken mißbraucht zu werden. Das gilt auch für die Beziehungen zur EU. Für diese Art der „Politik“ hier nur ein Beispiel: Am Abend des 12. März 1995 überfielen unbekannte Bewaffnete im Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpaa vier Teehäuser und eröffneten das Feuer. Zwei Menschen alevitischen Glaubens (der Stadtteil ist stark von Aleviten bewohnt) wurden tödlich getroffen. Irn Anschluß daran kam es zu tagelangen Demonstrationen in Istanbul und Ankara. Etwa dreißig Menschen verloren dabei ihr Leben. An den ins Kraut schießenden Spekulationen über die Tater und ihre Motive beteiligte sich auch die Ministerpräsidentin: Sie beschuldigte Griechenland, hinter den Anschlägen zu stehen.
Populistische außenpolitische Rhetorik hat das Verhältnis mit Griechenland besonders beschädigt. Nicht, daß die Schuld für die teilweise dramatische Verschlechterung der Beziehungen allein Ankara anzulasten wäre! Auch die griechische Seite hat es an provozierenden Gesten und Verlautbarungen nicht fehlen lassen. Anders aber als früher hat Ankara nicht die Zurückhaltung geübt, die sonst dort angeraten zu sein schien. Daß die Türkei die Auseinandersetzung um den Status kleiner und kleinster Eilande vor der türkischen Küste wieder aufgenommen hat, war politisch überflüssig und wesentlich mit deren Propagandawert für politische Rhetorik -nicht nur der Regierung -zu erklären. Auch die Auseinandersetzung um Zypern ist vor diesem Hintergrund zu sehen: Wenn der Beschluß der zyperngriechischen Regierung, russische Luftabwehrraketen vom Typ S 300 auf der Insel zu stationieren, als solcher provokatorisch wirken mußte, so hat die Bemerkung des Sprechers des amerikanischen Außenministeriums, der die „wilden und dramatischen“ Äußerungen in Ankara, die „von keinem vernünftigen Mitglied der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden“, bedauerte, den Nagel auf den Kopf getroffen Die Reaktion Ankaras hatte ohne Zweifel eine populistische Einfärbung. Die Spannungen mit Griechenland -wiewohl von Ankara nicht allein verschuldet -haben die außen-politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Türkei spürbar eingeschränkt. Nicht nur geriet man seit 1993 einige Male hart an den Rand einer militärischen Konfrontation; und nicht nur hat es Ankara nicht vermocht, die bei der EU bestehenden Frustrationen über die Verweigerungspolitik Athens gegenüber der Türkei im eigenen Interesse umzumünzen. Im Gegenteil, die Politik Athens hat den Graben zwischen der EU und der Türkei nur weiter vertieft: Die Verärgerung der Türken über die destruktive Haltung der EU der Türkei gegenüber hat die ohnehin einsetzende Kritik an den Modalitäten der Zollunion nur noch zugespitzt und so die Forderung nach einer grundlegenden Revision derselben weiter verschärft. Daß damit auch Wasser auf die Mühlen derer geleitet wird, die eine Alternative zur Ausrichtung auf Europa suchen, ist unübersehbar.
Als die EU sich durch griechischen Druck abringen ließ, sechs Monate nach Abschluß der Folge-konferenz von Maastricht mit Zypern -und das heißt für Ankara nur mit der zyperngriechischen Administration -Verhandlungen über einen Beitritt zur EU zu führen, steigerte sich die Enttäuschung zur Erbitterung. Die Drohung, für diesen Fall werde man den türkischen Teil der Insel mit dem „Mutterland“ vereinigen, sollte ernst genommen werden. Ein solcher Schritt aber wäre nicht nur ein tiefer Einschnitt in die Beziehungen der Türkei zu Europa; er wäre möglicherweise ein Wendepunkt der türkischen Außenpolitik insgesamt. Die Warnung vor Populismus in der türkischen Außenpolitik schließt auch die Warnung vor der Versuchung ein, überkommenen „Pan“ -Konzepten größeren Raum einzuräumen. Pan-Türkismus und Pan-Islamismus waren schon im Schwange, als die türkische Elite über Alternativen zu dem wankenden Osmanischen Reich nachdachte Nüchtern und mit historischem Erfolg konzentrierten sich demgegenüber die Gründer der Türkischen Republik um Mustafa Kemal Atatürk auf die Schaffung des türkischen Nationalstaates in den heutigen Grenzen. Darauf, daß Konzepte wie Osmanismus bzw. ein engeres Zusammenrücken der turksprachigen Staaten erörtert werden, ist schon hingewiesen worden. Hinter den Kulissen haben weitreichende Vorstellungen aber durchaus ihre Verfechter; in türkisch-nationalistischen und islamistischen Kreisen des türkischen Parteienspektrums finden ein engerer Zusammenschluß der „türkischen Welt“ und die Wiedervereinigung der „islamischen Gemeinschaft“ (türkisch: ümmet) bis hin zur Wiedererrichtung des Kalifats durchaus ihre Verfechter. Indizien für pantürkische und panislamistische Aktivitäten sind im Kaukasus (Tschetschenien) und Zentralasien, aber auch auf dem Balkan sichtbar. Und das öffentlich vorgetragene Argument, die Türkei müsse den Norden des Irak (wo die türkische Armee ohnehin nahezu permanent operiert) unter anderem deswegen annektieren, da dort zwei Millionen (eine bewußt grob aufgeblähte Zahl) Turkmenen lebten, läßt andeutungsweise erkennen, was eine populistische Politik auf der Grundlage von „Pan“ -Ideologien anrichten könnte.
Nicht zuletzt auch die Problematik des Wassers von Euphrat und Tigris gehört in diesen Zusammenhang. Der häufig gezogene Vergleich des Wassers mit dem Erdöl wird zwar in der türkischen Öffentlichkeit gern gehört, ruft aber auf arabischer Seite Empörung hervor In dem Maße, in dem die Tatsache des steigenden Wasserbedarfs der Türkei, Syriens und des Irak mit den politischen Problemen der Beteiligten untereinander (insbesondere Syriens und der Türkei) vermengt wird, entsteht ein politischer Sprengstoff, der einen bewaffneten Konflikt nicht ausgeschlossen erscheinen läßt. Daß das 1996 geschlossene türkisch-israelische Abkommen über Zusammenarbeit im militärischen Bereich die Spannungen in der Region eher hat anwachsen lassen, bedarf kaum einer Begründung
V. An den Beziehungen arbeiten!
Eine Politik Ankaras, die sich verstärkt um Ausgleich und Zusammenarbeit im islamischen Kontext bemüht, sollte im Westen mit behutsamem Abwarten begleitet werden. Waren es doch westliche Politiker selbst, die immer wieder von der Brückenfunktion der Türkei zur islamischen Welt gesprochen haben. Wenn nun der türkische Ministerpräsident Erbakan und diejenigen Kräfte, für die seine ersten außenpolitischen Schritte stehen, erst einmal versuchen, den Brückenpfeiler in der islamischen Welt zu stärken, so liegt das in der Logik des Bildes. Die mit Blick auf die Zukunft freilich entscheidende Frage ist: Wird diese islamische Wendung der Türkei als Ergänzung zur herkömmlichen Orientierung auf den Westen und Europa verstanden, oder läuft sie letztlich auf eine Abkehr hinaus; wäre sie somit der Beginn eines Ausstiegs?
Letzteres ist eher unwahrscheinlich; und sei es nicht zuletzt auch deshalb, weil sowohl das Militär als auch die türkische Wirtschaft über ein großes Gewicht verfügen, das die Außenpolitik auf Westkurs zu halten bemüht sein wird. Auch das Außenministerium selbst mit seiner tief verwurzelten Europa zugewandten Tradition dürfte weiterhin einen zentralen Faktor bei der Gestaltung der Grundorientierung der türkischen Außenpolitik darstellen.
Das größte Problem ist, daß Europa und die Türkei in eine Vertrauenskrise geraten sind, die auf beiden Seiten über jene Kreise hinausgeht, die seit eh und je der anderen Seite kritisch bis ablehnend gegenübergestanden haben. Europa verengt seine Politik gegenüber der Türkei auf deren Defizite, was Menschenrechte, Demokratie und die Kurdenfrage betrifft. Die politische Elite der Türkei (getragen von einer immer breiteren Öffentlichkeit) läßt sich von dem Gefühl treiben, von Europa nur noch herumgestoßen zu werden. Beide Seiten haben weder eine langfristige Vision über ihre Beziehungen, noch sind sie bemüht, einander mit aufrichtigem Verständnis zu begegnen. Die türkische Elite müßte sich darüber im klaren sein, daß eine wie immer geartete Alternative zu Europa eine gefährliche Option ist. In einer Region gelegen, die die türkische Außenpolitik zu einem „Alptraum von 360 Grad“ macht liefe das Land Gefahr, sich einer Moderatorenrolle zu begeben und Teil der Probleme dieser Region zu werden -mit kaum absehbaren Verwicklungen auf dem Balkan, im Kaukasus (einschließlich Spannungen mit Rußland) und mit den arabischen Nachbarn. Europa muß sich eben dieser Tatsache bewußt sein, daß eine solche Türkei zu einem Risiko für die regionale Stabilität und damit für die Sicherheit Europas würde. Daß die Türkei versuchen könnte, die USA als eine Art Gegengewicht zu Europa aufzubauen, ist oben angedeutet worden. Bei Licht besehen, erscheint dies eher unrealistisch; nicht zuletzt auch deshalb, da sich Washington in der letzten Zeit der kritischen Einschätzung Europas, was die Türkei betrifft, eher angenähert zu haben scheint. (Gerade das freilich könnte Washington dazu bringen, den Wunsch Ankaras, Vollmitglied in der EU zu werden, nachdrücklicher zu unterstützen als in der Vergangenheit
Von diesen grundlegenden Einsichten sollten starke Impulse ausgehen, den Schwierigkeiten in den türkisch-europäischen Beziehungen endlich ein Ende zu setzen. Dabei muß Deutschland aus vielerlei Gründen für die europäische Seite eine Art Leitfunktion übernehmen. Und sei es nur deshalb, weil es mit der Türkei durch über zwei Millionen von dort stammender Mitbürger unauflöslich verbunden ist. Die Türkei zu verlieren würde bedeuten, auch einen Teil von ihnen zu verlieren -wenn nicht physisch (denn sie werden hierzulande bleiben), so doch gesellschaftlich und kulturell. Einer abdriftenden Türkei würde eine Verstärkung der Abgrenzungstendenzen eines Teils der türkischen Bevölkerung hierzulande entsprechen.
So gilt es, eine Plattform für einen umfassenden deutsch(europäisch) -türkischen Dialog zu schaffen. Was mit anderen europäischen Staaten und den USA über viele Jahre systematisch gepflegt wurde, muß nun auch gegenüber der Türkei praktiziert werden. Der geschichtliche Umbruch hat es mit sich gebracht, daß die Türkei heute den gleichen Stellenwert hat, den andere Länder in unserer nächsten, näheren und weiteren Umgebung haben. Eine umfassende Bestandsaufnahme und ein umfassender Austausch über all das, mit dem wir, die Europäer und die Türken, uns im 21. Jahrhundert gemeinsam konfrontiert sehen, wären das Anliegen. Daraus müßten Handlungsperspektiven erwachsen, die zukunftsorientiert sind. Es wäre, wie es der Direktor des Foreign Policy Institute in Ankara genannt hat, ein „Bosporos bargain“