Die gegenwärtige politische Lage in der Türkei unter der neuen Regierung
Faruk Sen
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Zusammenfassung
Der Amtsantritt einer islamistischen Regierung stellt einen historischen Wendepunkt in der türkischen Politik dar. In der 73jährigen Geschichte des Landes kam mit Erbakan ein Politiker an die Macht, der die Westorientierung der Türkei grundsätzlich ablehnt, eine enge Zusammenarbeit mit der islamischen Welt anstrebt und die Wirtschaft nach einer islamischen Ordnung ausrichten will. Die Intention des türkischen Ministerpräsidenten richtet sich in erster Linie auf die Neustrukturierung des Staatsapparates. Auf diese Weise ist es seiner Partei zum ersten Male möglich, eine weitgehende Kaderbildung der Refah Partisi (RP; Wohlfahrtspartei) in Ministerien und öffentlichen Einrichtungen zu erreichen. Dazu wurde ein Gesetz erlassen, das der Regierung die alleinige Kompetenz einräumt, ohne jede parlamentarische Kontrolle die Regelungen für den öffentlichen Dienst zu verändern. Mit den ersten Umstrukturierungen und Neubesetzungen hat Erbakan bereits begonnen. Wirtschaftspolitisch zeichnet sich in der Türkei unter der neuen Koalitionsregierung ein deutlicher Wandel ab. Während die bisherigen Regierungen stets die Großunternehmen begünstigten, unterstützt die Koalition aus RP und DYP (Dogruyol Partisi; Partei des Rechten Weges) nunmehr die mittleren und kleinen Unternehmen, die überwiegend die Wählerschicht der RP bilden. Eine an den islamischen Staaten orientierte Außen-und Wirtschaftspolitik demonstrierte Erbakan durch offizielle Staatsbesuche in islamischen Staaten, von denen insbesondere die Reise nach Libyen in einem politischen Skandal endete und heftige Kritik in der Türkei auslöste. In bezug auf die Lösung des Kurdenproblems ist auch von der neuen Regierung keine Änderung der Politik zu erhoffen. Auch 1997 wird die Türkei den Kampf gegen die PKK mit allen Mitteln weiterführen. In dieser Hinsicht hat sich die Wohlfahrtspartei, auch wenn sie unter den in der Türkei existierenden Parteien am ehesten zu einer politischen Lösung tendiert, unter dem Einfluß der Militärs teilweise auch an der von Frau filier seit Jahren betriebenen Politik einer militärischen Lösung orientiert, was für die Türkei sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich größere Probleme mit sich bringen wird. Derzeit kann die Koalitionsregierung von Erbakan und filier durchaus als stabil bezeichnet werden. Die beiden Parteivorsitzenden, die den jeweiligen Koalitionspartner nur aus opportunistischen Gründen akzeptieren und dulden, wissen, daß sie mit einer anderen Partei kaum Chancen haben, an der Macht zu bleiben. So dulden sich DYP und RP trotz ihrer unterschiedlichen Haltung -nicht zuletzt in der türkischen Außenpolitik -gegenseitig. Zudem wird die Stärke der Koalitionsregierung derzeit durch die Schwäche der Opposition unterstützt, da diese keine ernstzunehmende Alternative darstellt.
L Erbakan als Ministerpräsident der Türkei
Anfang Juli 1996 wurde mit Necmettin Erbakan zum ersten Mal ein islamisch-fundamentalistischer Parteivorsitzender in der Geschichte der Türkischen Republik Ministerpräsident einer Koalitionsregierung. Erbakans Partei, die Refah Partisi (RP; Wohlfahrtspartei) erhielt bei den Wahlen am 24. Dezember 1995 21 Prozent der Stimmen. Dies kann man als einen historischen Wendepunkt in der türkischen Politik bezeichnen.
Die Regierungskoalition Erbakans ist am 8. Juli mit der Partei des Rechten Weges (DYP) geschlossen worden. Die Vorsitzende der DYP, Tansu iller, machte die Koalitionsbeteiligung ihrer Partei von der Abstimmung über die Einrichtung eines Ausschusses zur Untersuchung der gegen sie gerichteten Vorwürfe des Amtsmißbrauchs und der Veruntreuung von 500 Mrd. TL abhängig Die Wohlfahrtspartei stimmte am 19. Juni im Parlament zugunsten illers und gegen den ursprünglich von der RP selbst gestellten Mißtrauensantrag. Daraufhin zeigte sich Tansu iller zur Bildung einer Koalitionsregierung mit Erbakan bereit, also mit dem Vorsitzenden jener Partei, die sie selbst stets als Feind des Laizismus und des Staates bezeichnet hatte, illers Vorwürfe gegen die Wohlfahrtspartei waren seinerzeit so weit gegangen, daß sie dieser Partei Heroinhandel unterstellte. Sie war die Politikerin gewesen, die sich selbst vor der Abstimmung über die Zollunion mit der EU zum Garanten gegen den Fundamentalismus in der Türkei erklärt hatte. Ihre Entscheidung, eine Koalition mit der religiösen Wohlfahrtspartei einzugehen, löste sowohl innerhalb der eigenen Partei als auch in allen übrigen Kreisen tiefe Empörung und heftige Reaktionen aus.
iller wurde vorgeworfen, die Türkei den Fundamentalisten ausgeliefert zu haben, um sich selbst der Verantwortung vor dem Untersuchungsausschuß zu entziehen, und dies auf Kosten ihrer eigenen Partei und der laizistischen Verfassung der Türkei.
Die türkischen Zeitungen berichten, daß zwischen Erbakan und iller geheime Absprachen getroffen worden seien, die in dem Koalitionsprotokoll, das am 4. Juli bekanntgegeben wurde, keine Erwähnung fanden. Demnach sollen die beiden Parteivorsitzenden sich insbesondere über folgende Punkte verständigt haben -Keine der beiden Parteien soll gegen die andere Partei gerichtete Untersuchungsanträge einreichen.
Die Untersuchungen gegen iller und Mercümek sollen eingestellt werden (Süleyman Mercümek gilt als Verwalter der Gelder der Wohlfahrtspartei). Gegen Mercümek läuft derzeit ein Prozeß; er soll Spendengelder in Höhe von ca. 28 Mio. DM, die im Ausland für Bosnien gesammelt wurden, für andere Zwecke verwendet haben. Es wird vermutet, daß diese Spendengelder 1994 zur Finanzierung der Wahlkampagne der Wohlfahrtspartei eingesetzt worden sind. Diese bestreitet jedoch offiziell die Verbindungen zu ihm. Im Parlament ist ein Untersuchungsausschuß eingerichtet worden, der damit beauftragt ist, die Verbindungen zwischen Mercümek und der Wohlfahrtspartei aufzuklären.
-Weiterhin soll abgesprochen worden sein, daß bei zukünftigen Untersuchungsausschüssen gemeinsam vorgegangen werden soll, womit künftige Untersuchungsausschüsse gegen Erbakan und iller verhindert würden. Diese Vermutungen der Zeitungen haben sich insofern als richtig erwiesen, als der mit der Über-prüfung des Amtsmißbrauchs durch Tansu iller beauftragte Untersuchungsausschuß am 25. November 1996 für die Entlastung illers stimmte. Der 15köpfige Ausschuß setzte sich aus fünf Abgeordneten der Wohlfahrtspartei, drei Abgeordneten der DYP (der Partei üihers) und sieben Abgeordneten der Oppositionsparteien zusammen. Mit acht gegen sieben Stimmen wurde die Weiterleitung der Akten an höhere Instanzen verhindert. Die Einrichtung dieses Untersuchungsausschusses geht ursprünglich auf einen Antrag der Wohlfahrtspartei zurück, als diese noch in der Opposition war. Sie stimmte somit gegen den eigenen Antrag. In gleicher Weise gingen RP und DYP vor, als sie am 15. Januar 1997 die Arbeit des Untersuchungsausschusses zur Überprüfung des verdächtig hohen Vermögens der Familie iller in der Türkei und in den USA, das sich in den letzten Jahren mehrfach erhöht hat, ebenfalls mit acht gegen sieben Stimmen einstellten.
Die Konformität der Koalitionspartner und die derzeitige Stabilität der Regierung basieren somit keineswegs auf einem Konsens über politische Grundprinzipien, sondern auf der persönlichen Abhängigkeit und Erpreßbarkeit illers. Sowohl innerhalb der Wohlfahrtspartei als auch innerhalb der Partei des Rechten Weges ist die Zahl der Gegner dieser Koalition nicht gering. Der radikale, stark fundamentalistische Flügel der Wohlfahrtspartei und die liberal-laizistischen Mitglieder der DYP befürchten eine stärkere Abweichung von den Parteiprinzipien zugunsten des Koalitionspartners und letztlich dadurch den Verlust von Wählerstimmen.
II. Die Einflußnahme auf den Staatsapparat und die Neubesetzung von Stellen
Abbildung 2
Tabelle 2: Ausgewählte Statistiken über die D-8-Staaten (1994) Quelle: Aksiyon, 11-17. Januar 1997, Jg. 110, S.45 BIP = Bruttoinlandsprodukt
Tabelle 2: Ausgewählte Statistiken über die D-8-Staaten (1994) Quelle: Aksiyon, 11-17. Januar 1997, Jg. 110, S.45 BIP = Bruttoinlandsprodukt
Die DYP/RP-Koalition unter dem Vorsitzenden der Wohlfahrtspartei, Necmettin Erbakan, als Ministerpräsidenten ist nunmehr seit dem 8. Juli 1996 im Amt. Die Aktivitäten und die erreichten Ziele der DYP/RP-Koalition können seit der Regierungsübernahme unter folgenden Aspekten betrachtet werden: die Einflußnahme auf den Staatsapparat und die Neubesetzung von Stellen, die Beziehungen der Regierung zum Militär, die Einstellung der Koalitionsregierung gegenüber den Wirtschaftsverbänden und ökonomischen Fragen, die Wohlfahrtspartei und ihre Einstellung gegenüber dem laizistischen Prinzip, die neue Außenpolitik Erbakans als Bestandteil seiner Innenpolitik, die Kurdenpolitik sowie das Verhältnis der Koalitionsregierung zur Presse.
Die Intention des türkischen Ministerpräsidenten richtete sich in erster Linie auf die Neustrukturierung des Staatsapparates. Der türkische Staatsdienst war während der 73jährigen Geschichte der Türkei weitgehend frei von Anhängern islamistischer Gruppierungen gewesen. Zwar hatten in einigen Ministerien Befürworter der Islamisten Fuß gefaßt, aber ihr Anteil an den 1, 2 Mio. Staatsbeamten war bis zum Regierungsantritt der DYP/RP-Koalition gering. Erbakan will dies während seiner Regierungszeit grundlegend ändern. Er beabsichtigt, knapp 250 000 Anhänger der Wohlfahrtspartei im Beamtenapparat unterzubringen. Da dies nicht kurzfristig erreicht werden kann, versucht Erbakan, seinen Plan schrittweise zu realisieren
Die Wohlfahrtspartei erließ zunächst ein Gesetz, das der Regierung die alleinige Kompetenz einräumt, Regelungen über den öffentlichen Dienst zu verändern. Das Parlament wurde so von solchen Entscheidungen ausgeschlossen. Dieses Gesetz, das das Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte, wurde durch Staatspräsident Demirel erwartungsgemäß zurückgewiesen. Trotz der Anwendung seines Vetorechtes legte die Koalitionsregierung das Gesetz dem Parlament vor. Daraufhin wurde im Parlament über das Gesetz ohne Veränderung nochmals abgestimmt, und es trat somit in Kraft. Auf diese Weise kann die Regierung nun Veränderungen im Staatsapparat ohne jede parlamentarische Kontrolle vornehmen. Die ersten Umstrukturierungen und Neubesetzungen veranlaßte der Ministerpräsident zunächst in zwei Ministerien, die der Wohlfahrtspartei unterstellt waren: im Justizministerium und im Arbeitsministerium. Am 15. September 1996 wurden bei den Verwaltungsgerichten 72, den Landessicherheitsgerichten 78 und bei den Zivilgerichten 1 266 Richter und außerdem auch Staatsanwälte versetzt. Die Tatsache, daß von diesen Versetzungen gerade die als liberal, sozialdemokratisch und kemalistisch geltenden Richter und Staatsanwälte betroffen waren, erregte in der Türkei großes Aufsehen. Infolge der genannten Veränderungen ist es der Koalitionsregierung nun eher möglich, den Justiz-apparat im eigenen Interesse zu kontrollieren.
Eine weitere Einflußnahme auf den türkischen Verwaltungsapparat fand kurz nach dem Regierungswechsel im Arbeitsministerium statt. Der Arbeitsminister wollte vor allem bei der Sozialversicherungsanstalt für Angestellte (der größten derartigen Anstalt) Neubesetzungen in die Wege leiten. Nach einer Aufnahmeprüfung für Bewerber wurden 2 500 Stellen neu besetzt. Für die Prüfung bewarben sich 75 000 Personen, die etappenweise selektiert wurden. Die Sichtung der Prüfungsunterlagen innerhalb einer Woche durch eine relativ kleine Prüfungskommission verfestigte den öffentlichen Eindruck, daß die Namen der einzustellenden Beamten vorab bereits festgelegt worden waren und die Prüfung nur durchgeführt wurde, um der Form zu genügen. Die Intention des Arbeitsministers bestand darin, die Unterbringung der eigenen Parteianhänger zu beschleunigen und das Ministerium von Anhängern anderer politischer Richtungen zu säubern.
Weitere Neubesetzungen mit Parteianhängern der RP fanden im Erziehungsministerium statt Zum ersten Male wurden Lehrer (insgesamt 358), die in Ägypten an der El-Azhar-Universität studiert haben, eingestellt. Bis dahin wurde der Abschluß dieser Universität in der Türkei nicht anerkannt. Auch im Kultusministerium gab es zahlreiche Versetzungen und Neueinstellungen auf höherer Ebene.
Größere Änderungen plant Erbakans Regierung auch beim Hochschulrat (YÖK), der seit 1982 sämtliche 61 Hochschulen in der Türkei leitet Die DYP/RP-Koalition plant, den Einfluß des Staats-präsidenten bei der Ernennung der Mitglieder des Hochschulrates einzuschränken. Nach der derzeit geltenden Regelung kann der Staatspräsident 17 der insgesamt 25 Mitglieder des Hochschulrates ernennen. Durch die Reduzierung der Zahl der Mitglieder, die vom Staatspräsidenten ernannt werden, kann die Regierung ihre Kontrolle und ihren Einfluß auf den Hochschulrat verstärken. Auch die Autonomie der TÜBTAK (Türkische Anstalt für technologische Forschung), deren Jahreshaushalt bei 40 Mio. DM liegt und die 1 600 Mitarbeiter hat, versucht der Ministerpräsident einzuschränken. Auf diese Weise möchte Erbakan weitere Anhänger seiner Partei in dieser Institution unterbringen und dadurch eine stärkere Einflußnahme durch seinen Parteiapparat erreichen. Das in der Türkei immer noch verbreitete Klientelsystem, wonach jede Regierung ihre Anhänger auf wichtigen Positionen unterbringt, wird auch von der Wohlfahrtspartei praktiziert. Da weite Teile des Staatsapparates den Anhängern der islamistischen Parteien seit über 20 Jahren verwehrt blieben, strebt die RP nun danach, ihren Anhängern bedeutende Positionen im Staat zu verschaffen. Die ersten Schritte dazu hat sie nach den Kommunalwahlen im März 1994 in die Wege geleitet: In Kommunalverwaltungen, in denen die Wohlfahrtspartei den Oberbürgermeister stellte, wurden zahlreiche Parteimitglieder untergebracht. Ziel der RP ist nun, dies auch innerhalb des öffentlichen Dienstes zu realisieren. Der Unterschied zu anderen Parteien, die ihren Mitgliedern ebenfalls die gleichen Möglichkeiten boten, ist, daß die bislang regierenden Parteien den Grundsätzen der Demokratie und dem Prinzip des Laizismus zustimmten. Mit der Besetzung der Ämter durch die Anhänger der RP haben nun Befürworter eines theokratischen Staates die Möglichkeit, das gegenwärtige System zu unterwandern.
Die einzigen Ministerien, die sich bisher gegen die Einflußnahme und Intervention der Wohlfahrtspartei zur Wehr setzen konnten, sind -aufgrund ihrer Strukturen -das Verteidigungs-und das Außenministerium.
III. Die Beziehungen der Regierung zum Militär
Zum ersten Mal nach 1980, nach der dritten Militärintervention in der Türkei nahmen die Spekulationen in der Presse über die Möglichkeit eines erneuten Eingreifens des Militärs in die Politik zu. Auch wenn das türkische Militär eine solche Intervention heftig zurückwies, sind derzeit sowohl innerhalb der politischen Szene als auch in den Medien zahlreiche Stimmen zu hören, die sich gegen die antilaizistische und proarabische Politik der Wohlfahrtspartei richten und einen Eingriff des Militärs befürworten. Die guten Beziehungen, welche die SHP/DYP-Koalitionsregierung von 1991 bis 1995 zum Generalstab unterhielt, sind nunmehr der Enttäuschung des Militärs über Tansu filier gewichen. (Die SHP-Partei schloß sich 1994 mit der CHP-Partei zusammen und verlor ihre Eigenständigkeit.)
Die Wohlfahrtspartei wiederum versucht seit Mitte der achtziger Jahre, Einfluß innerhalb des Militärs zu gewinnen. Dies versuchte die RP mit der Zulassung der Absolventen der Predigerschulen zu den Militärakademien zu erreichen, was ihr bisher aber nicht gelang. Der Oberste Militärrat hatte bisher zahlreiche Militärangehörige aufgrund von politisch-religiösen Aktivitäten aus dem Militärdienst entlassen, da eine Unterwanderung des Militärs befürchtet wird. Das aktuelle Urteil des Obersten Militärrates zur Entlassung von 69 Offizieren, das der Unterzeichnung des Ministerpräsidenten bedurfte, stellte Erbakan vor eine schwierige politische Prüfung. Denn eine Unterzeichnung würde die Ablehnung seiner bis dahin propagierten politischen Ideale bedeuten und Gegenreaktionen seiner Anhänger auslösen. Die Nichtunterzeichnung dieses Urteils hingegen käme einer Machtprobe mit dem Militär gleich, was das politische Ende Erbakans bedeuten konnte. Er entschied sich für die erste Alternative und wurde dafür selbst durch die parteieigene Zeitung Milli Gazete und andere religiöse Kreise heftig kritisiert. Aufgrund dieses Ereignisses ist durch die islamischen politischen Kreise -auch aus den Reihen der RP -zum ersten Male eine öffentliche Diskussion über die Möglichkeit einer gesetzlichen Anfechtung der Entscheidungen des Obersten Militärrates in voller Schärfe entbrannt.
Um die Beziehungen zum Generalstab zu verbessern, bekennen sich einerseits Ministerpräsident Erbakan und seine Minister in der Öffentlichkeit immer häufiger zu den Reformen Atatürks. Andererseits ist auf unteren Verwaltungsebenen, besonders bei den RP-Oberbürgermeistern in Mittel-anatolien, immer stärkere Kritik und offen demonstrierte Ablehnung gegen die kemalistischen Reformen zu verzeichnen. Auf diese Weise ist es für Erbakan möglich festzustellen, wie das Militär auf die Haltung und Aktivitäten seiner Parteimitglieder reagiert. Die ambivalente Haltung der RP-Mitglieder gegenüber dem Laizismus und der Modernisierung von Staat und Gesellschaft dient der Partei gleichzeitig dazu, sowohl das Militär als auch die fundamentalistischen Wähler zufriedenzustellen.
Im November und Dezember 1996 entwickelte sich in der Türkei eine neue Phase: Während die Koalitionsregierung eine stärker an islamischen Werten und islamischen Staaten orientierte Politik betreibt, sorgt Staatspräsident Süleyman Demirel mit der Hervorhebung der kemalistischen Reformen für ein Gleichgewicht. Das Militär hingegen bekräftigte insbesondere an den drei wichtigen staatlichen Feiertagen der Türkei -dem Jahrestag des Sieges über die Alliierten, dem Tag der Gründung der Republik und dem Todestag von Kemal Atatürk -seine Treue zum laizistischen Staatsprinzip und seine Ablehnung des politischen Islam. An den genannten Tagen fanden in der Türkei -besonders in Ankara -auch große Kundgebungen statt, an denen zahlreiche Personen, die sich mit der Reformpolitik Atatürks identifizieren, teilnahmen. Dies verdeutlicht, daß das Militär mit seinerden Laizismus befürwortenden und gegenüber der RP distanzierten Politik immer mehr Resonanz in der Bevölkerung findet. Nach dem letzten Militärputsch im Jahre 1980 wird die Armee erstmals wieder als die entscheidende politische Kraft gesehen, welche die Türkei vor islamischen Einflüssen retten kann.
IV. Die Einstellung der Regierung gegenüber den Wirtschaftsverbänden und ökonomischen Fragen
Zum ersten Male nach 1980 befindet sich in der Türkei eine Koalitionsregierung an der Macht, die gegenüber den türkischen Großunternehmern und Holdings eine ablehnende Politik betreibt. Der Verband der türkischen Großunternehmer und Industriellen (TÜSIAD) unterhielt zu den bisherigen türkischen Regierungen -ausgenommen die sozialdemokratische Regierung in den Jahren 1978 und 1979 unter Bülent Ecevit -gute Beziehungen und konnte auf diese Weise die Wirtschaftspolitik des Landes entscheidend mit prägen Die derzeitige Koalitionsregierung steht diesem Verband kritisch gegenüber, dies hat zweierlei Gründe:
1. TÜSIAD, dessen Mitglieder in der Türkei einen dominanten Anteil in der türkischen Wirtschaft haben, lehnt die von der Wohlfahrtspartei propagierte islamische Wirtschaftsordnung und die Aktivitäten der RP im Bereich der Wirtschaft ab. Die EU-Orientierung der TÜSIAD und die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit US-Firmen stehen den Zielen Erbakans entgegen.
2. Zu Beginn ihrer politischen Karriere wurde Tansu iller von der TÜSIAD, bei der sie von 1980 bis 1992 als Beraterin in ihrer Eigenschaft als Universitätsprofessorin tätig war, unterstützt. Die Wirtschaftspolitik illers als Ministerpräsidentin wurde hingegen von den TÜSIAD-Mitgliedern als den Problemen nicht angemessen und wenig vertrauenserweckend angesehen und daher abgelehnt. Dies führte zu einer zunehmenden Distanz zwischen iller und TÜSIAD.
Aus den oben dargestellten Gründen unterstützt iller nunmehr, wie die Politiker der RP. zunehmend die mittleren und kleinen Unternehmen in der Türkei, die bisher knapp 30 Prozent des Marktes beherrschen. Während Frau iller enge Beziehungen zur Industrie-und Handelskammer der Türkei knüpfte und dieser Organisation eine hohe Bedeutung in der Wirtschaft beimißt, legt die Wohlfahrtspartei großen Wert auf den islamisch ausgerichteten Verband MÜSIAD (Verband unabhängiger Arbeitgeber und Industrieller). MÜSIAD mit seinen 2 000 Mitgliedern, die hauptsächlich aus mittleren und kleinen Unternehmen aus Mittelanatolien oder aus den Randgebieten der Türkei stammen, zielt darauf ab, einen höheren Anteil an staatlichen Subventionen und staatlichen Aufträgen zu erhalten. Sowohl Tansu filier als auch Necmettin Erbakan planen, bei ihrer Wirtschaftspolitik Änderungen zugunsten des MÜSIAD vorzunehmen. Bis 1994 nahmen die mittelständischen Unternehmen in der Türkei nur vier Prozent der staatlichen Subventionen in Anspruch, nun will man diesen Anteil mit Hilfe zinsgünstiger und langfristiger Kredite erhöhen. Demnach zeichnet sich in der Türkei unter der neuen Koalitionsregierung ein wirtschaftspolitischer Wandel ab. Während die konservativen und liberalen Parteien stets Befürworter der Großunternehmen waren, unterstützt die Partei des Rechten Weges nunmehr die mittleren und kleinen Unternehmen. Dabei stellt sich die Frage, ob die Holdings der DYP und der RP als zu einflußreich erscheinen.
Den Wandel in der türkischen Wirtschaftspolitik verdeutlichen auch die populistischen Maßnahmen, die die Koalitionsregierung unmittelbar nach der Machtübernahme am 8. Juli 1996 beschloß, um breitere Bevölkerungsschichten für sich zu gewinnen. Während sich die Inflationsrate im ersten Halbjahr 1996 um 41 Prozent erhöht hatte, wurde z. B.den Beamten eine Gehaltserhöhung von 50 Prozent gewährt. Mit solchen Wirtschaftsmaßnahmen erweckt die Regierung den Eindruck, daß sie eine sozialere Politik betreibe, als es bisher in der Türkei der Fall war. Für die Zukunft beabsichtigt die RP, bei den Tarifverhandlungen als Partner auf der Arbeitnehmerseite den der Wohlfahrtspartei nahestehenden Gewerkschaftsbund Hak-Is zu begünstigen. Auf diese Weise kann die Hak-I bei den Tarifverhandlungen Kompromisse mit der Regierung eingehen, die gegenüber den Arbeitnehmern als große Erfolge dargestellt werden können. Auch den Begriff „Sozialstaat“ erwähnt Necmettin Erbakan gerne und häufig. In erster Linie betont er, daß die finanzschwachen Bevölkerungsgruppen verstärkt soziale Dienstleistungen des Staates kostenlos in Anspruch nehmen könnten. Dies wird bereits in verschiedenen durch die RP regierten Kommunen praktiziert. Dort werden an die ärme-ren Schichten kostenlos warme Mahlzeiten, Brot und Lebensmittel verteilt.
Nach dem Regierungsantritt hat die DYP/RP-Koalition bisher drei Maßnahmenpakete zur Mittelbeschaffung für den öffentlichen Haushalt angekündigt Aus den beiden ersten Maßnahmenpaketen erhoffte sich der Staat durch Steuereinnahmen und durch die Privatisierung staatlicher Betriebe bis zu 20 Milliarden US-Dollar zusätzlicher Mittel. Realisiert wurden bisher allerdings nur Einnahmen in Höhe von 1, 2 Milliarden US-Dollar.
Hinter den großzügigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen gegenüber breiteren Schichten steckt das einfache politische Kalkül, im Falle vorgezogener Wahlen ein größeres Wählerpotential hinter sich zu haben. Diese Vorgehensweise stieß auf Kritik des Internationalen Währungsfonds. Die Kreditwürdigkeit der Türkei wurde gesenkt: Am 18. Dezember 1996 stufte die europäische Bewertungsagentur IBCA die Kreditnote der Türkei von BB auf B+ -die erste Eingruppierung für Risiko-länder -zurück. Eine Woche zuvor hatten Standart & Poors die Kreditwürdigkeit der Türkei ebenfalls auf B zurückgenommen. Den Anfang einer kritischeren Bewertung hatte im November die japanische Agentur JCR gemacht, die die Türkei auf BB setzte. Alle führenden internationalen Rating-Institute hatten die türkische Regierung bereits im Sommer vor einer Zurückstufung der Kreditwürdigkeit gewarnt, falls die Türkei die dringend notwendige Einführung von Stabilisierungsmaßnahmen unterlasse. Die Koalitionsregierung ignorierte jedoch die Warnungen der verschiedenen internationalen Kreditinstitutionen zugunsten des höheren politischen'Nutzens einer populistischen Politik. Als Gründe für ihre Zurückstufung der Kreditwürdigkeit gab die IBCA an, daß die Politik der türkischen Koalitionsregierung nicht ausreiche, die ernsthaften gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichte zu korrigieren. Zur Konsolidierung des Staatshaushalts bemüht sich die Regierung, die Privatisierung voranzutreben. Auf dem Plan steht insbesondere eine rasche Privatisierung der Banken. Am 29. Dezember 1996 wurden die Verhandlungen über die Privatisierung der türkischen staatlichen Banken -wie der ETI-Bank, der DENIZ-Bank und der ANADOLU-Bank -geführt. Diese Privatisierungsschritte waren der Türkei sowohl vom Internationalen Währungsfonds als auch von Kredit-agenturen vorgeschrieben worden. Deutliche Hinweise auf die Krisensignale der türkischen Wirtschaft unter der gegenwärtigen Regierung erhielt das Land auch von der OECD Nach dem Bericht der OECD von Ende 1996 wird sich die Lage in der Türkei weiterhin verschlechtern. Die Inflationsrate wird nach Schätzungen der OECD auch 1997 bei etwa 80 Prozent liegen.
Auch die Zollunion hat negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Ersten Berichten zufolge mußte die Türkei für das Jahr 1996 Zolleinnahmeverluste in Höhe von 3, 2 Milliarden US-Dollar hinnehmen. Zudem erhöhten sich die Importe der Türkei rapide, während der Anstieg der Exporte langsamer verlief. Der Grund dafür lag darin, daß die Hoffnung der Türkei auf eine starke Exportsteigerung auf dem Textilsektor nach der Zollunion nicht in Erfüllung ging.
Die Ziele der Koalitionsregierung, die Inflationsrate unter Kontrolle zu halten, die Privatisierung zu beschleunigen und eine Steuerreform durchzuführen, sind in den ersten sechs Monaten ihrer Amtsperiode nicht erreicht worden. Das steigende Außenhandelsdefizit, die negativen Auswirkungen der Zollunion und die dadurch hervorgerufene steigende Arbeitslosigkeit in der Türkei werden eine wirtschaftliche Stabilisierung des Landes 1997 besonders erschweren.
Die Wohlfahrtspartei plant insbesondere mit Hilfe der ihrer Partei nahestehenden Europa-Organisation, der Islamischen Gemeinschaft Nationale Sicht (IGMG), neue Devisenquellen für die Türkei zu mobilisieren. Die erwähnten Maßnahmen fanden unter den Auslandstürken, die ihr Vertrauen in die türkische Wirtschaft und Politik seit langem verloren hatten, große Resonanz. Aus diesem Grund plant Erbakan für das Jahr 1997 verschiedene Reisen in die westeuropäischen Staaten, in denen die Auslandstürken leben, um ihr Vertrauen zu gewinnen.
V. Die Wohlfahrtspartei und ihre Einstellung gegenüber dem laizistischen Prinzip
Nach der Regierungsübernahme durch die DYP/RP-Koalition bestehen in der Türkei zwei Auffassungen über die Wohlfahrtspartei: Zum einen wurde die Meinung vertreten, daß die Wohlfahrtspartei -obwohl sie vor den Wahlen extremistisch-islamische Propaganda betrieben und Erbakan seit Anfang der siebziger Jahre in der Türkei für eine antilaizistische Politik geworben hatte -sich immer mehr zu einer Mitte-rechts-Partei entwikkelt und von ihren islamisch-extremistischen Zielen distanziert habe. Somit wäre die RP nunmehr eine „Systempartei“. Vertreter dieser Meinung sowohl in der Presse als auch in einigen Institutionen begründen dies damit, daß sich die Partei zunehmend zu den Reformen Atatürks bekenne und auch der Europäischen Union nicht mehr ablehnend gegenüberstehe.
Zum anderen existiert die Meinung, die Islamisten würden in der ersten Phase ihrer Regierungszeit ihre wahren Absichten nicht offenbaren und sich reformorientiert präsentieren, um ihre fundamentalistischen Ziele langfristig verwirklichen zu können. Nach dieser Auffassung versucht Erbakan alles, um weitere Personen für seine Partei zu mobilisieren, um bei den nächsten Wahlen gegebenenfalls mit absoluter Mehrheit an die Macht zu kommen. Er verfolge eine umsichtige Strategie und erfülle daher keinerlei radikale Wünsche seiner Anhänger. Statt dessen lege er größeren Wert darauf, die unzufriedenen, aber laizistischen Teile des Volkes mit besseren Dienstleistungen und liberalem Verhalten für sich zu gewinnen. Somit investiere er in eine Zukunft, in der seine Partei es aufgrund für sie günstigerer Machtverhältnisse leichter haben werde, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen vorzunehmen. Derzeit sei die gesellschaftliche Opposition sehr stark, so daß er die Grundsätze des türkischen Staates bei den gegebenen Machtverhältnissen nicht verändern könne. Allerdings habe er gute Aussichten, die zukünftige Position seiner Partei in den nächsten Regierungen sicherzustellen.
VI. Die Außenpolitik Erbakans als Bestandteil der Innenpolitik
Es war vorauszusehen, daß Erbakan mit seinen Glaubensbrüdern innerhalb der islamischen Welt enger zusammenarbeiten würde: Besonders der Iran, Syrien und Saudi-Arabien galten als zukünftige Partner der Türkei. Nach der Übernahme der Regierung durch die DYP und RP bemühte sich Erbakan in diesen Ländern, in denen er außenpolitische Aufmerksamkeit genoß, um eine engere Zusammenarbeit.
Tatsächlich stattete Erbakan in seiner erst kurzen Regierungszeit zahlreichen muslimischen Staaten offizielle Besuche ab. Seine erste offizielle Auslandsreise machte er fünf Wochen nach der Amtsübernahme in den Iran -das geistige Zentrum des Fundamentalismus -, es folgten Malaysia, Indonesien und Singapur. Mit dem Iran vereinbarte er entgegen den Warnungen der USA ein 23-Mrd. -US-Dollar-Erdgasgeschäft. Seine diplomatischen Praktiken bei dieser offiziellen Reise wurden durch das Außenministerium und die Presse scharf kritisiert, da er Gespräche unter vier Augen ohne die Beteiligung des Auswärtigen Amtes führte. Er bezeichnete sogar die Informationen des türkischen Geheimdienst (MIT) über die PKK-Unterstützung Irans als falsch.
Die zweite offizielle Reise Erbakans führte ihn in die muslimischen Staaten Ägypten, Tunesien, Nigeria und Libyen. Einen großen Wirbel löste sein offizieller Besuch in Libyen, das international als Terroristenstaat eingestuft wird, aus. Erbakans Besuch dort wurde als eine Art Flaggezeigen gegenüber den USA gewertet. Trotz Warnungen des türkischen Außenministeriums und der USA bestand Erbakan darauf, Gaddafi zu besuchen. Die gemeinsame Pressekonferenz Erbakans und Gaddafis endete mit einem Skandal, als Gaddafi sich nicht scheute, unter Mißachtung der diplomatischen Regeln den türkischen Staat zu beleidigen, wobei er Erbakan und dessen Partei aber ausnahm und lobte. Dieser außenpolitische Skandal hätte beinahe zum Sturz der Regierung geführt, als die Oppositionsparteien einen Mißtrauensantrag stellten. Die Abstimmung über die Durchführung eines Vertrauensvotums endete zugunsten der Koalition (256 Ja-Stimmen/275 Nein-Stimmen), so daß es nicht dazu kam.
Auch Syrien, das seit 1984 zur inneren Instabilität der Türkei durch die Unterstützung der PKK beiträgt, hat mit dem Islamisten Erbakan einen neuen Verbündeten gewonnen. Mit dem Irak pflegt Erbakan gleichfalls gute Beziehungen. Am 14. August schloß eine Regierungsdelegation unter Führung des Justizministers Kazan und des Bildungsministers Saglam in Bagdad ein Erdgas-Pipeline-Abkommen mit dem Irak ab. Daß diese Minister, die von ihren amtlichen Zuständigkeiten her überhaupt nicht dazu befugt sind, eine Reise nach Bagdad machten, wurde durch die Opposition scharf kritisiert. Die stellvertretende Minister-präsidentin (filier, die zugleich das Amt des Außenministers bekleidet, ist mehr mit Regierungsangelegenheiten beschäftigt und kümmert sich kaum um ihre Aufgaben als Außenministerin. Ihr wird vorgeworfen, daß sie die türkische Außenpolitik kaum beeinflusse.
Eine an den islamischen Staaten orientierte Außen-und Wirtschaftspolitik demonstrierte Erbakan kurz nach der Regierungsübernahme während des Treffens am 15. November 1996 von ISE-DAK in Istanbul. Als Vorsitzender der StändigenKommission der islamischen Weltkonferenz für Wirtschaft und Handel verkündete er seine Vorschläge, die er vorrangig im Anschluß an seine Staatsbesuche im Iran, in Pakistan, Malaysia, Singapur und Indonesien entwickelt hatte: Den G-7-Staaten wollte er die sogenannten „Developing-8-Staaten“ entgegensetzen. Nur als Vorsitzender der D-8-Staaten wäre Erbakan bereit, sowohl mit den EU-Staaten als auch mit den G-7-Staaten zu diskutieren. Das nächste Treffen auf der Ebene der Staats-bzw. Ministerpräsidenten soll Anfang Juni 1997 in Istanbul realisiert werden.
Die außenpolitischen Aktivitäten Erbakans fanden nicht nur bei islamischen Fundamentalisten Zuspruch, sondern teilweise auch bei Schichten, die eine antiamerikanische Politik vertreten. Obgleich den Aussagen Erbakans nicht immer ein großer Wert beigemessen wurde, beeinflußten sie dennoch das Bewußtsein vieler Intellektueller im Land, die von der Zollunion und von der Haltung der Europäischen Union zur Türkei stark enttäuscht waren.
Erbakan benutzt die an islamischen Staaten orientierte türkische Außenpolitik dafür, zu propagieren, daß die Türkei wieder eine von den USA und Westeuropa unabhängige Politik betreibe. Mit einer neuen Außenpolitik beabsichtigt Erbakan zudem, von seinen Zugeständnissen gegenüber den USA und der EU abzulenken. Denn obwohl er kurz vor den Parlamentswahlen 1995 kontinuierlich seine negative Einstellung gegenüber der EU und der Zollunion betont hatte, akzeptierte er während seiner bisherigen Regierungszeit die Entwicklungen in bezug auf die Zollunion sowie auf die EU. Auch die von ihm zuvor abgelehnte Zusammenarbeit der bisherigen Regierung mit Israel mußte Erbakan hinnehmen und sogar ein militärisches Abkommen mit dem Land ratifizieren. Diese Politik, die er gegenüber seinen Wählern schwer rechtfertigen konnte, versuchte er mit seiner Annäherung an den Iran und Libyen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Weiterhin trug der von der Wohlfahrtspartei vorgebrachte Vorschlag über die Etablierung der sogenannten „Developing-8-Staaten" zur Stärkung der innenpolitischen Position Erbakans bei. 1. Die Kurdenpolitik Der Aufstand und die terroristischen Aktionen der PKK in Südostanatolien sorgten seit Jahren für größere Militäroperationen in der Türkei, die dem Land viele politische und wirtschaftliche Probleme brachten. Die bisherigen Regierungen gingen stets davon aus, daß die Kurdenfrage militärisch zu lösen sei, entsprechend stiegen die jährlichen Kosten der Militärpräsenz für die türkische Volkswirtschaft stetig. Die Wohlfahrtspartei, die in Südostanatolien nach der prokurdischen Partei HADEP die meisten Stimmen erhalten hat, erkennt die Existenz der kurdischen Ethnie an, findet dies aber zweitrangig, da die Kurden als Muslime der gleichen Religionsgemeinschaft angehören. Erbakan zielte nach der Übernahme derBeteiligung an der Regierung auf eine politische Lösung. Sein Versuch, einen islamischen Schriftsteller als Vermittler bei der Kontaktaufnahme zu Öcalan einzusetzen, rief scharfe Reaktionen hervor. Des weiteren nahm Fethullah Erba, Abgeordneter der Wohlfahrtspartei, einen Dialog mit der PKK auf und besuchte deren Lager in Syrien, um entführte türkische Soldaten zu befreien. Damit verhandelte zum ersten Mal ein Angehöriger einer Regierungspartei mit der PKK. Erbakan gewährte Erba politischen Beistand, als dieser aufgrund seiner Aktion heftig kritisiert wurde. Der Ministerpräsident bezeichnete dies als eine humanitäre Handlung. Gegen Erba will der Staatsanwalt des Nationalen Sicherheitsgerichtes gesetzlich vorgehen. All diese Ereignisse lösten heftige Reaktionen beim Militär aus, so daß Erbakan und seine Parteikollegen solche Vorstöße aufgaben. Somit kam es im Hinblick auf die Kurdenpolitik der Regierung zu keiner grundlegenden Veränderung. Die größten Probleme der Türkei, die im Zusammenhang mit der Kurdenthematik stehen, sind neben den Hindernissen im Demokratisierungsprozeß und den Menschenrechtsfragen die starke Binnenwanderung und die hohe Arbeitslosigkeit. Durch die kriegsbedingte Landflucht werden im Agrarsektor Arbeitskräfte freigesetzt. Gleichzeitig ist es aufgrund der wirtschaftlichen Engpässe nicht möglich, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Während die Regierung die Arbeitslosenquote mit sechs Prozent angegeben hat, liegt diese Quote nach einer Studie der Gewerkschaft PETROL-I§ zur Zeit bei 26 Prozent. Der Studie zufolge rechnet man für das Jahr 1997 mit einer Arbeitslosenzahl von 6 190 000. Neben der Arbeitslosigkeit tragen auch das Wohlstandsgefälle zwischen der Westtürkei und Südostanatolien und die ungerechte Einkommensverteilung zu Lasten der Bezieher niedriger Einkommen -die vor allem in Südostanatolien leben -zur Verschärfung der Situation bei.
Auch 1997 wird die Türkei den Kampf gegen die PKK mit allen Mitteln weiterführen. In dieser Hinsicht orientiert sich die Wohlfahrtspartei, auch wenn sie unter den in der Türkei existierenden Parteien am ehesten zu einer politischen Lösung tendiert, unter dem Einfluß des Militärs teilweise auch an der von Frau iller seit Jahren betriebenen Politik der militärischen Lösung, was für die Türkei sowohl wirtschaftspolitisch als auch gesellschaftspolitisch größere Probleme mit sich bringen wird. Auch das Ansehen der Türkei in der Welt leidet stark unter dieser Politik. 2. Das Verhältnis der Koalitionsregierung zur Presse Die Beziehungen zwischen der Koalitionsregierung und der Presse haben sich in den letzten Monaten sehr negativ entwickelt. Da beide Koalitionsparteien davon ausgehen, daß die Medien eine regierungsfeindliche Politik betreiben, versuchen sie, die Printmedien zu reglementieren. Mit der Einschränkung von Möglichkeiten für Medien im Bereich von Promotionsmaßnahmen soll die finanzielle Situation der Zeitungsverlage geschwächt werden. Gleichzeitig beabsichtigt die Regierung die Einführung einer Geldstrafe für „unpassende“ Berichterstattung. Darunter versteht man u. a. die Berichterstattungen über Anschuldigungen gegen Regierungsangehörige, die gerichtlich bislang nicht bewiesen wurden. Demnach könnte über einen Staatsskandal erst berichtet werden, wenn die Betreffenden durch die Justiz für schuldig befunden wurden. Diese Regelungen werden als starker Eingriff in die Pressefreiheit aufgefaßt. Falls diese Absichten durchgesetzt werden, ist 1997 mit großen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den türkischen Medien zu rechnen.
Der erste Entwurf über die neuen Regelungen bei den Printmedien stieß, als er am 22. November 1996 im türkischen Parlament präsentiert wurde, auf große Ablehnung in der türkischen Öffentlichkeit. Die Vertreter der türkischen Medien überlegen, ob sie die Angelegenheit vor den Europarat in Straßburg bringen sollen. Die meisten Printmedien wie auch die elektronischen Medien stehen derzeit solidarisch zueinander und nehmen eine kritische Haltung gegenüber der Regierung ein
VII. Die Zukunft der gegenwärtigen Regierung
Derzeit kann die Koalitionsregierung von Erbakan und iller als stabil bezeichnet werden. Die beiden Parteivorsitzenden, die jeweils den Koalitionspartner nur aus opportunistischen Gründen akzeptieren und dulden, wissen, daß sie mit einer anderen Partei geringere Chancen hätten, an der Macht zu bleiben. So dulden sich die DYP und RP trotz ihrer unterschiedlichen Haltung -nicht zuletzt in der türkischen Außenpolitik -gegenseitig.
Während sich iller innerhalb ihrer Partei um eine EU-Mitgliedschaft der Türkei bemüht, betont Erbakan, daß er dem keine hohe Bedeutung beimißt. In seiner Argumentation gegen die EU profitiert er besonders von der Tatsache, daß die Zollunion der Türkei bislang keine nennenswerten Vorteile gebracht hat. Die Unstimmigkeiten in der Europäischen Union bzw. im Europäischen Parlament über die Gewährung von Finanzhilfen an die Türkei sowie die durch steigende Außenhandelsdefizite entstehenden wirtschaftlichen Engpässe lassen die Einwände Erbakans gegen eine EU-Mitgliedschaft plausibel erscheinen. Als der Ministerpräsident die Einladung der EU zum Gipfeltreffen in Dublin im Dezember 1996 mit der Begründung ablehnte, er würde nicht für ein Abendessen nach Dublin reisen, wenn er am erweiterten Treffen der elf Regierungschefs der EU-Staaten nicht teilnehmen könne, erntete er in der türkischen Öffentlichkeit breite Zustimmung.
Das Ansehen von Tansu iller hat aufgrund verschiedener Korruptionsaffären stark gelitten. Als nach einem Autounfall am 3. November 1996 ein Parlamentarier der Partei des Rechten Weges verletzt, ein Polizeioberst und ein seit 18 Jahren durch Interpol gesuchter ehemaliger Anhänger der „Grauen Wölfe“ -mit einem auf einen anderen Namen ausgestellten Diplomatenpaß -tot aus einem Auto geborgen wurden, erfuhr die Öffentlichkeit über die Verbindungen der Mafia zu Personen aus dem Staatsapparat. Nach diesem Ereignis berichteten die Medien zusätzlich darüber, daß der Staat die Grauen Wölfe für gewisse Aktionen -u. a. auch im Kampf gegen die PKK -eingesetzt hat. Mit der Aufdeckung dieser Unregelmäßigkeiten nahm unter der DYP/RP-Regierung zum ersten Male in der türkischen Geschichte die Besorgnis über den Staatsapparat deutlich zu. Diese Entwicklungen führten zum Rücktritt des türkischen Innenministers; die Glaubwürdigkeit von Tansu iller sank erheblich. Somit ist sie von der RP abhängig, da sie ohne den Schutz ihres Koalitionspartners keine politische Zukunft hätte. Im Jahre 1997 steht die Türkei vor großen Problemen: Zunächst wird die planlose und auf mögliche Vorwahlen orientierte Wirtschaftspolitik der DYP/RP-Koalition negative Folgen für die ökonomische Lage der Türkei haben. In diesem Zusammenhang ist hier vor allem die erwartete starke Zunahme der Importe und die dadurch bedingte Devisen-knappheit im Jahr 1997 zu nennen. Da ausländische Investoren der gegenwärtigen Regierung wenig Vertrauen entgegenbringen und es der Türkei durch die Herabsetzung ihrer Kreditwürdigkeit nicht möglich ist, günstige Kredite aufzunehmen, ist das Land bei Deviseneinnahmen immer stärker auf Überweisungen und Investitionen der Auslandstürken angewiesen.
Fehlende Bereitschaft zur Erhöhung der Effizienz des Steuererhebungssystems zum Zwecke einer dringenden Mittelbeschaffung sowie das Desinteresse an einer gezielten staatlichen Exportförderung aufgrund der Dissonanzen mit den Großunternehmen prägen die wirtschaftspolitische Haltung der Regierung. 1997 ist die Türkei dazu gezwungen, mit dem Internationalen Währungsfonds ein Stand-by-Abkommen abzuschließen. Auch wenn Necmettin Erbakan noch in der Öffentlichkeit propagiert, daß er nicht auf das Vertrauen des Internationalen Währungsfonds bzw. auf Kredit-Bewerter angewiesen sei und nur auf die Meinung der Bevölkerung Wert lege, wissen seine Berater, daß ohne das Stand-by-Abkommen die Türkei in diesem Jahr unter starken Devisen-Engpässen zu leiden hätte.
Mit der Stärke der Koalitionsregierung geht derzeit eine Schwäche der Opposition einher; diese bietet keine ernstzunehmende Alternative. Eine aktuelle Umfrage in der Türkei weist auf eine „politische Müdigkeit“ der Bevölkerung hin. Demnach erhöhte sich die Zahl der politisch unentschiedenen Personen von 17 Prozent zu Beginn des Jahres 1996 auf 26 Prozent Mitte Dezember 1996. Diese Ergebnisse zeigen, daß sämtliche Parteien, auch die Opposition, das Vertrauen der Bevölkerung weitgehend verloren haben. Im Falle von Neuwahlen würde die Wohlfahrtspartei lediglich 16 Prozent der Stimmen, die Mutterlandspartei 13, die Partei der Demokratischen Linken 10, die Partei von Tansu iller 8, die Nationalistische Bewegungspartei 7, die Sozialdemokratisch-Republikanische Volkspartei 6 und die prokurdische Partei HADEP 3 Prozent der Stimmen erhalten. Diese Umfragen zeigen das Mißtrauen und die Distanz der Bevölkerung gegenüber den politischen Parteien.
Die neuesten politischen Skandale, die negativen wirtschaftlichen Entwicklungen und der seit Jahren andauernde Kampf in Südostanatolien sind die Faktoren, die die Stabilität dieser Regierung in Gefahr bringen könnten. Auf der anderen Seite mangelt es bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament auch an einer Alternative, so daß diese Koalitionsregierung bis zu den nächsten vorgezogenen Parlamentswahlen, die mit größter Wahrscheinlichkeit im Jahre 1998 oder spätestens Anfang 1999 erwartet werden können, weiterhin im Amt bleiben wird.
Faruk § e n, Prof. Dr. rer. pol., geb. 1948; Betriebswirt und Sozialwissenschaftler; Direktor des Zentrums für Türkeistudien und Lehrbeauftragter an der Universität GH Essen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Türkei und zu migrationsbezogenen Themen.
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