I. Einleitung
Nach dem Asylkompromiß wurde 1993 der Aussiedlerzuzug auf den Durchschnitt der Jahre 1991/92 festgeschrieben. Demnach werden jährlich etwa 220 000 Deutschstämmige aus Osteuropa und aus den GUS-Staaten aufgenommen. Heftige politische Diskussionen und Sparpläne der Bundesregierung haben zum merklichen Rückgang der Aussiedlerzahlen geführt: Im ersten Halbjahr 1996 wurden -im Vergleich zum Vorjahr -15 Prozent weniger Zuzüge registriert; aber in Osteuropa leben etwa drei bis vier Millionen Menschen, die sich auf eine deutsche Abstammung berufen können, und etwa 500 000 von ihnen verfügen über einen bestätigten Aufnahmeantrag 40 Prozent der Aussiedler sind jünger als 20 Jahre. Diese Tatsache wird in der Diskussion über die Probleme der Zuwanderung von vielen Politikern als stichhaltiges Argument für die Aussiedler benutzt. Die jungen Leute würden die ungünstige Altersstruktur in Deutschland verbessern und die Sozial-und Rentenkassen entlasten, heißt es. Aber dabei muß man im Auge haben, daß das Alter kein allein entscheidender Faktor ist. Ob sich die jungen Aussiedler nach dem Schulabschluß auf dem Arbeitsmarkt zurechtfinden oder ob man sie auf dem Arbeitsamt unter den Arbeitslosen oder bei der Kriminalpolizei trifft, hängt wesentlich von ihrer Integration in die Schule und in die soziale Umgebung ab.
Neben rein wirtschaftlichen Überlegungen sollte auch folgendes in Betracht gezogen werden: Die Jugendlichen haben die deutsche Staatsangehörigkeit und sind künftige Wähler. Inwieweit ihre Erfahrungen im Umgang mit der westlichen Demokratie auf der Schulebene erfolgreich sein und welche Werte angenommen werden, wird auch den sozialen Frieden in der Bundesrepublik Deutschland entweder stärken oder gefährden. Dies ist nicht zuletzt eine Frage der Integration. Diesem Problem ist die vorliegende Studie gewidmet, die u. a. auf zahlreichen Interviews mit den Betroffenen beruht.
Um zu verstehen, wie sich die Kinder der Aussiedler fühlen, muß man sich einmal ihr Leben vor und unmittelbar nach der Übersiedlung vergegenwärtigen: Sie verlassen im Schulalter ihre Heimat, die Schule, ihre Freunde -die Welt, mit der sie vertraut waren, und kommen in Deutschland an. Die deutsche Wirklichkeit nehmen sie erst einmal vom Gelände eines Übergangsheimes aus wahr. Alles ist fremd: Leute, Sprache, Geschäfte, alles. Dann kommt noch die Schule hinzu. Zu berücksichtigen ist auch, daß die Kinder unterschiedliche Einstellungen zur Übersiedlung haben. Einige freuen sich auf das neue Leben, auf die Herausforderung und wollen ihr gerecht werden. Die anderen fühlen sich einsam, als Mitgenommene, deren Eltern eine bessere Zukunft für sie wollen. Vor allem die zweite Gruppe zeichnet sich durch eine eher geringe Integrationsbereitschaft aus.
Es besteht kein Zweifel daran, daß Sprachkenntnisse, Wissen über den Alltag und die Berufsqualifikationen im Prozeß der Integration unentbehrlich sind. Aber wie sieht es mit den Werten und Normen aus? Die Aussiedler kommen mit ihren eigenen Wertvorstellungen, die sich von denen im heutigen Deutschland in aller Regel unterscheiden. Ausgeprägter Familiensinn und große Familien, althergebrachte Sitten und Bräuche, bewundernswerter Gemeinschaftsgeist stehen auf der einen Seite, geringe Erfahrungen im Umgang mit der westlichen Demokratie und der Marktwirtschaft auf der anderen.
In diesem Beitrag wird oft von der Herausbildung bzw.der Anpassung an die neuen Bedingungen der deutschen Identität die Rede sein. Bei Kindern und Jugendlichen, die aus Mischehen stammen oder durch die Russifizierung nicht nur ihre deutschen Sprachkenntnisse verloren haben, beginnt nach der Übersiedlung meist ein Prozeß der Herausbildung der deutschen Identität; bei jenen, in deren Familien das Deutsche gepflegt wurde, ist vor allem Anpassung nötig, weil das Deutsche hier in Deutschland anders ist.
Es gibt noch ein Problem. Ist hierzulande alles so gut, um gleich übernommen zu werden? Wie kann man vor allem die Jugendlichen vor den „Krankheiten“ dieser Gesellschaft schützen? Ziel kann nur die sinnvolle Integration und nicht die kritiklose Verschmelzung sein, die dazu führen kann, daß Schlechtes übernommen wird und mitgebrachtes Gutes verlorengeht.
II. Die Phasen der Integration
Im Integrationsprozeß der Kinder der Aussiedler zeichnen sich drei Phasen ab: 1. die Bewältigung der Fremdheit; 2.der Aufbau der inneren Bereitschaft zum aktiven Handeln; 3. die eigentliche Integration.
In der ersten Phase gilt es, die Umwelt kennenzulernen. Es müssen Kenntnisse über den Alltag erworben werden, die für die Existenz unter den neuen Bedingungen wichtig sind. Dazu gehören z. B.der Gang zur Post, der Einkauf im Geschäft, die Bedienung der öffentlichen Telefone, das Lesen von Fahrplänen usw. Was uns auf den ersten Blick selbstverständlich zu sein scheint, ist für die Kinder, die nach ihrer Ankunft in Deutschland so gut wie ohne Sprachkenntnisse erste selbständige Schritte in das neue Leben tun, in der neuen Kultur lebenswichtig. In der Regel dauert diese Phase ein bis zwei Monate. Ihr Ergebnis besteht darin, daß der Anpassungsschock überwunden ist. Die Kinder haben „Überlebenstechniken“ entwickelt, die eine Mindestzahl von Aktivitäten ohne Sprachkenntnisse sichern. Falls sie zu dieser Zeit schon eingeschult sind, haben sie in dieser Phase einige Lehrer kennengelernt und sind mit dem Ablauf des Schulalltags im allgemeinen vertraut.
In der zweiten Phase bildet sich allmählich die innere Bereitschaft zum aktiven Handeln heraus. Diese Zeit, die ein bis zwei Jahre umfaßt, ist für den Integrationsprozeß entscheidend, weil dabei die wichtigsten Voraussetzungen zum aktiven Handeln als Subjekt geschaffen werden. Dazu gehören erstens umfassendere Kenntnisse über die Umwelt, zweitens die fachliche Orientierung in der Schule und drittens die Herausbildung bzw. die Anpassung an die neuen Bedingungen der deutschen Identität.
Die eigentliche Integration -die dritte Phase dieses Prozesses -beginnt in der Regel nach zwei bis drei Jahren Aufenthalt in Deutschland. Zu dieser Zeit hat die Familie oft einen festen Wohnsitz, die Kinder kennen sich in der Umgebung gut aus, die inzwischen erworbenen Sprachkenntnisse ermöglichen ihnen den Zugang zu den Medien und die Kommunikation mit den Altersgenossen; in der Schule haben sie schon die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu entfalten, gelegentlich schaffen sie auch den Sprung auf eine höhere Schule; die Abhängigkeit von den Landsleuten, die in den ersten zwei Phasen relativ groß war, läßt deutlich nach. In dieser Phase werden die angeeigneten Kenntnisse und angenommenen Werte überprüft und zum Teil revidiert, weil nicht nur der Einfluß der Eltern und der Landsleute, sondern auch der Lehrer, Mitschüler und Medien eine große Rolle spielt.
III. Die soziale Situation der Kinder der Aussiedler
Bei der Analyse des Integrationsprozesses der Aussiedlerkinder muß unbedingt ihre soziale Situation berücksichtigt werden. Dabei sind folgende Aspekte wichtig:
1. Aussiedlerkinder entstammen in der Regel großen Familien, in denen oft drei Generationen vertreten sind. Das bedeutet, daß sich vor allem kleinere Kinder unter ständiger Aufsicht der Erwachsenen oder älterer Geschwister befinden; die Voraussetzungen für die Kommunikation sind gut. Dabei werden Werte wie zum Beispiel Familiensinn vermittelt, die in Deutschland zumindest teilweise verlorengegangen sind und deshalb zu einer inneren Auseinandersetzung mit der Außenwelt führen.
2. Nach der Übersiedlung geraten alle Familien-mitglieder in eine ähnliche Situation: Die neue Heimat ist ihnen fremd. Für die Kinder ist dies insoweit von Bedeutung, als die Erwachsenen ihrer Rolle der Weitergabe der Erfahrungen an die kommende Generation nur in geringem Maße gerecht werden können. Die physische und psychische Überlastung in den ersten Monaten und die unzureichende Hilfe seitens der Eltern können eine größere Eigenständigkeit, aber auch Verdrossenheit und Generationskonflikte zur Folge haben.Die Lösung findet sich entweder in der intensiven Kommunikation mit den anderen Aussiedlerkindern oder in Gesprächen mit Erwachsenen (Lehrern, Sozialarbeitern usw.), wobei letzteres oft an Sprachschwierigkeiten scheitert. 3.Von enormer Bedeutung für die soziale Situation der Aussiedlerkinder ist die berufliche Situation der Eltern und die finanzielle Lage der Familie. Aussiedler müssen in aller Regel eine Arbeit annehmen, die unter ihrer Qualifikation liegt, und obwohl die materielle Versorgung im Vergleich zu der im Herkunftsland in fast allen Fällen als „wesentlich besser“ bewertet wird, müssen viele Kinder doch den damit verbundenen Statusverlust ihrer Eltern (z. B. vom Lehrer zum Fabrikarbeiter) emotional verkraften. Das kann den Ansporn zu besseren Leistungen in der Schule geben, aber auch zu Hemmungen im Umgang mit den Klassenkameraden und manchmal zu Enttäuschungen über das System führen. 4.Für den Integrationsprozeß der Kinder sind auch schließlich die Wohnverhältnisse von Bedeutung. In den Übergangsheimen sind manchmal bis zu zehn Menschen in einem Zimmer untergebracht. Das über einen längeren Zeitraum gezwungene Zusammensein und die enormen psychischen Belastungen, die mit der Übersiedlung verbunden sind, lösen nicht selten Streß aus. Die notwendige Konzentration der Kinder auf die Hausaufgaben ist unter solchen Bedingungen kaum gewährleistet. Außerdem haben sie wenig Möglichkeiten, mit sich allein zu sein, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. In den Gesprächen wurde auch erwähnt, daß die Übergangsheime oft in entlegenen Orten liegen und die Kinder von der Freizeitgestaltung in Vereinen abgeschnitten und auf sich selbst angewiesen sind, was die Kontakte zur einheimischen Bevölkerung erheblich beeinträchtigt. „Kompaktes Wohnen“, d. h. Wohnen auf engstem Raum mit meist mehreren Familien, setzt sich nicht selten auch nach dem Auszug aus den Übergangsheimen fort. Oft lassen sich mehrere Aussiedlerfamilien am selben Ort nieder. Es gibt Stadtteile oder kleinere Gemeinden, die vorwiegend von Aussiedlern bewohnt werden. Dafür sind folgende Gründe anzuführen: Erstens war unter dem kommunistischen Regime das Leben durch den Kollektivismus geprägt; zweitens hat das Deutschsein in ihren Herkunftsländern, historisch bedingt, zu einem engen Zusammenhalt geführt; drittens sind sie in Deutschland trotz ihrer rechtlichen Lage eine spezifische soziale Gruppe. Nach dem Auszug aus den Übergangsheimen lebt etwa die Hälfte der Aussiedler in Sozialwohnungen was auch vom sozialen Status der Aussiedler zeugt.
In diesem Zusammenhang sei unter anderem auf die Religionszugehörigkeit hingewiesen. Da das Gemeindeleben eine ausgeprägt große Rolle spielt, wird die erbaute Kirche zum Magnet, der immer mehr Aussiedler anzieht. Das „kompakte Wohnen“ ist oft ein ernstes Hindernis für die Integration: Die teils erzwungene, teils frei gewählte räumliche Ausgrenzung fördert das Zusammensein der Insider und beeinträchtigt die Kontakte zur einheimischen Bevölkerung.
IV. Die Sprache als Voraussetzung für die Integration
Die wichtigste Voraussetzung für die erfolgreiche Integration ist die Beherrschung der Sprache, die sowohl für die sozialen Kontakte als auch für den Lernerfolg unerläßlich ist. Die deutsche Sprache ist ausschlaggebend für die Herausbildung der deutschen Identität bzw. die Anpassung an die neuen Bedingungen. Der oft wiederholte Vorwurf, daß die Aussiedler keine Deutschen seien, weil sie unzulänglich Deutsch sprächen, muß zurückgewiesen werden. Gute Sprachkenntnisse sind nicht zu erwarten, unter anderem weil in der Sowjetunion zwischen 1938 und 1941 die letzten deutschen Schulen geschlossen wurden. Über 50 Jahre Russifizierung haben zu einem deutlichen Rückgang der Deutschkenntnisse geführt. Während 1959 noch 75 Prozent der Rußlanddeutschen Deutsch als ihre Muttersprache angaben, waren es 1989 nur mehr 48, 7 Prozent Hierbei handelt es sich vorwiegend um die ältere Generation, die den angestammten Dialekt spricht. Heute dürfte der oben genannte Prozentsatz noch niedriger sein, weil für die Jugendlichen und den größten Teil ihrer Eltern Russisch die eigentliche Muttersprache ist. Viele Jugendliche, die aus den zentralasiatischen GUS-Staaten (Kasachstan, Usbekistan u. a.) kommen, haben zudem eine verwirrende Erfahrung mit dem Sprachunterricht, weil sie z. T. gezwungen waren, neben Russisch die Sprache der Titularnation als neue Staatssprache zu lernen, so daß für Deutsch als eventuelle Fremdsprache im Stundenplan nur ein bis zwei Wochenstunden zur Verfügung standen, die zudem oft noch wegen Lehrermangels ausfielen.
Die Eltern verteidigen sich gegen den Vorwurf, sie hätten mit den Kindern Russisch gesprochen und sie russischsprachig aufwachsen lassen. Mit dem Argument, „es wäre besser, wenn die Kinder gehörig Russisch lernten als überhaupt keine Sprache und russische Identität erwürben als überhaupt keine“. Diese Einstellung, die sicher den Anhängern der „blitzschnellen“ Integration der Aussiedler kaum zusagt, liegt im Interesse der normalen psychischen Entwicklung des Kindes.
Die Analyse der schriftlichen Arbeiten und die Gespräche mit den Aussiedlern zeigen, daß Aussiedlerkinder vergleichbare Probleme mit der Rechtschreibung haben wie ihre einheimischen Mitschüler und daß sie nicht die Hochsprache erlernen, sondern den lokalen Dialekt. Diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung für den Deutschunterricht, weil sie besagt, daß das Erlernen der Sprache nicht aufgrund schriftlicher Texte, sondern im Hörverstehen erfolgt, d . h. auf natürliche Weise. Deshalb sollen vor allem während der Intensivkurse die Arbeitstechniken im Hörverstehen vermittelt werden, um das Gehörte richtig wahrnehmen und es mit einer schriftlichen Vorlage identifizieren zu können, damit der Wortschatz und das Sprachgefühl für Grammatik durch visuelles Gedächtnis gesichert werden.
Die Fortschritte beim Erlernen der Sprache stimmten im allgemeinen mit den drei oben erwähnten Phasen der Integration überein. In der ersten Phase spielt die Sprache noch eine untergeordnete Rolle. Die Äußerungen sind stark situationsbezogen und beschränken sich auf die Verwendung von für den Alltag wichtigen Substantiven.
Die zweite Phase ist entscheidend für den Sprach-erwerb und die sprachliche Integration. Auf diese Zeit (ein bis zwei Jahre) entfallen die meisten Fördermaßnahmen in der Schule. Bis zu einem Jahr nach Schulaufnahme erhalten die Schüler wöchentlich zehn bis zwölf Stunden Förderunterricht. Wenn die Zahl der Schüler oder besondere Umstände es erforderlich machen, können Intensivkurse eingerichtet werden. Das soll gewährleisten, daß die Schüler nach Ablauf eines Jahres in allen Fächern am Unterricht ihrer Klasse teilnehmen können. Im zweiten Jahr werden in allen Schulformen weiterhin bis zu vier Stunden Deutsch angeboten
Die oben erwähnten Maßnahmen sollen die wichtigste Voraussetzung für die Integration schaffen, aber es ergeben sich einige Probleme: Eines ist die geringe Motivation, die deutsche Sprache zu erlernen. Sie ist insbesondere unter den 12-bis 15jährigen anzutreffen. Zwar sehen sie ein, daß die Schwierigkeiten bei der Eingliederung vorwiegend auf ihre ungenügenden Sprachkenntnisse zurückzuführen sind, aber die dringende Notwendigkeit, Deutsch zu lernen, entfällt, weil durch die immer größer werdende Zahl der Aussiedler eine gewisse Kulturautonomie entsteht. Vorsichtig formuliert, könnte man hier Parallelen zu „Chinatown“ ziehen. Demgegenüber sehen sich die integrationsbereiten Schüler mit einem anderen Problem konfrontiert: So bleiben die Inhalte der Förderkurse oft hinter den Bedürfnissen zurück (z. B. Grammatikkenntnisse, altersgemäße Texte), und der Sprachunterricht gerät nicht selten in die Sackgasse, wenn der Lehrer mit der Muttersprache der Kinder nicht vertraut ist. Hinzu kommt, daß der Deutschunterricht nach der Methode des Fremdsprachenunterrichts eine Art Doppelcharakter hat: Erst gibt es bedeutende Fortschritte, dann wird der Unterricht zum Hindernis, weil das Sprachgefühl unterentwickelt bleibt.
In diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß innerhalb der ersten zwei Jahre die geistige Entwicklung der Kinder, soweit sie von der Sprache abhängt, gedämpft ist. Da die Erkenntnis der Welt im abstrakten Bereich vorwiegend vermittels der Sprache erfolgt, befinden sich die Kinder der Aussiedler in einer ungünstiger Situation: Der Wortschatz in ihrer Muttersprache bleibt auf dem vorher erreichten Niveau und nimmt sogar ab, während der deutsche Wortschatz intensiv gelernt wird, aber nach zwei Jahren das Niveau der Muttersprache nicht erreicht. Mit anderen Worten: Die Jugendlichen entwickeln sich in ihrer Muttersprache nicht mehr entsprechend ihrem Alter, weil kein Bedarf besteht, in Deutsch dagegen noch nicht, weil ihre Sprachkenntnisse dies nicht erlauben. Obwohl dieser Zustand sich strenggenommen nicht als Informationsvakuum definieren läßt, weil die Aussiedler mit den Alltagsinformationen überflutet werden, gibt es vor allem auf dem Gebietdes theoretischen Wissens auffallende Lücken. Wenn dieses Informationsvakuum in die Pubertät fällt, in der der Bedarf an Kommunikation weit über alltägliche Probleme hinausgeht, führt es zu Verzögerungen in der Herausbildung der Kritikfähigkeit, in der bewußten Annahme der Werte. In ihrem seelischen Leben sind sie auf sich selbst angewiesen, weil der Vergleich ihrer Gefühle und Einstellungen mit denen der einheimischen Jugendlichen und die Reflexion darüber wegen sprachlicher Probleme (auch in der inneren Rede) kaum zustande kommen können.
Die dritte Phase zeichnet sich dadurch aus, daß nun fast alle schulischen Fördermaßnahmen erschöpft sind. Die Sprachkenntnisse ermöglichen die aktive Teilnahme am Unterricht in der Regel-klasse und werden ohne weiteren Bezug auf Russisch vervollkommnet. Es gibt keine sprachlichen Probleme mehr beim Kontakt zur einheimischen Bevölkerung und beim Zugang zu den Massenmedien. Zum Schluß soll erwähnt werden, daß die Kinder der Aussiedler unterschiedliche Grundvoraussetzungen und Fähigkeiten für das Erlernen der Sprache mitbringen und es daher natürlich Abweichungen von den oben beschriebenen Phasen gibt.
V. Die Kinder der Aussiedler in der Schule
Die Schule hat nicht nur Integrationsfunktion, sondern auch Qualifikationsfunktion: Neben der Werte-und Normenvermittlung muß zugleich der Erwerb der Grundqualifikationen gewährleistet werden, um den Einstieg in das Berufsleben zu ermöglichen. Für die Kinder der Aussiedler bietet sich hier eine Gelegenheit, sich in ihrer neuen Heimat zu behaupten, indem sie ihre schon erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse an die neuen Bedingungen anpassen und so ihre Identität auf dem Gebiet der Bildung finden. Grundsätzlich werden sie in die ihrem bisherigen Schulbesuch entsprechenden Jahrgangsklassen aufgenommen; dies zumeist in der Hauptschule, weil dieser die Vorbereitungsklassen zugeordnet sind, in denen die entsprechenden Fördermaßnahmen ansetzen. Die Eltern -sei es, daß sie selbst eine bessere Bildung bekommen haben, sei es, daß sie ihnen trotz intellektueller Fähigkeiten wegen ihres Deutsch-seins im Herkunftsland verwehrt blieb -, für die diese Entscheidung oft schmerzhaft ist, haben häufig kurze Zeit nach der Übersiedlung keine andere
Wahl. Deshalb besuchen die jungen Aussiedler auf Wunsch der Eltern nicht selten die nächst niedrigere Klasse, vor allem, wenn es um die Förderstufe geht, nach der über den Typ der weiterführenden Schule entschieden wird. Bei der Schulzuweisung sollen zwar vorwiegend allgemeine Fähigkeiten berücksichtigt werden, aber von den sprachlichen Schwierigkeiten ist nicht abzusehen. Die genauen Statistiken über die Verteilung der Kinder der Aussiedler nach Schultypen fehlen, aber in kompakten Siedlungsgebieten zeichnet sich eine gewisse Tendenz ab. In Lippe (NRW) kommen beispielsweise 30 Prozent Hauptschüler aus den Spätaussiedler-oder Aussiedlerfamilien, an den Realschulen sind es 14, 5 Prozent der Schüler, an den Gymnasien 1, 1 Prozent und an den Gesamtschulen 10, 1 Prozent Dabei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: 1. Ein Jahr nach der Schulaufnahme sollen die Schüler am gesamten Unterricht in der Regel-klasse teilnehmen. 2. Die Aussiedlerkinder bringen gewisse fachliche Voraussetzungen aus ihren Herkunftsländern mit, die vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich vergleichsweise besser sein können. Das ist darauf zurückzuführen, daß die Schulprogramme in den ehemaligen Sowjetrepubliken stark polytechnisch ausgerichtet sind, daß die Hochschulreife schon nach zehn Jahren erreicht wird und daher die Lehrpläne für alle Jahrgangsstufen deutlich dichter sind. Das erlaubt die Schlußfolgerung, daß diese Gruppe der Schüler besser auf die Anforderungen der Haupt-bzw. Realschule vorbereitet ist, weil die Defizite in den Geisteswissenschaften, vor allem in den Fremdsprachen, die Eingliederung in das Gymnasium erschweren. 3. Die Haupt-bzw. Realschullehrer dürften bessere pädagogische Voraussetzungen für die Arbeit mit dieser Schülergruppe haben, weil diese Schultypen vom größten Teil der Ausländerkinder besucht werden und die Lehrer Erfahrungen mit der Bewältigung solcher Probleme wie sprachliche Schwierigkeiten, Kulturschock usw. haben. 4. Der Realschulabschluß ist für viele Schüler aus den Aussiedlerfamilien das angestrebte Ziel. Ein wesentlicher Grund dafür ist, daß die Eltern -vor allem in den kinderreichen Familien -drei zusätzliche Schuljahre nicht finanzieren können. Der Realschulabschluß ermöglicht die Ausbildung in mittelständischen Berufen (z. B. zum Industrie-oder Bankkaufmann bzw. zur Kauffrau usw.). ImVordergrund steht bei den Kindern der Wunsch, möglichst schnell finanziell unabhängig zu sein und durch entsprechende Weiterqualifikation beruflich aufzusteigen. Als Alternative zur Lehre wird auch die Möglichkeit zum Besuch eines technischen oder Wirtschaftsgymnasiums gesehen. Diese Alternative wird von denjenigen gewählt, die zum Studium fähig sind und z. B. einen Ingenieurberuf ergreifen wollen, aber aus den oben erwähnten Gründen kein allgemeinbildendes Gymnasium besuchen können.
5. Es läßt sich feststellen, daß der Wunsch nach höherer Bildung mit der Dauer des Aufenthalts in Deutschland größer wird. In den Familien, in denen die Eltern bereits in ihrem Herkunftsland eine Hochschule absolviert haben, sind die Kinder entsprechend motiviert und werden von den Eltern unterstützt. Die Motivation kann jedoch in der ersten Zeit nach der Übersiedlung noch sehr gering sein, was auf die Sehnsucht nach Freunden, den Verlust der vertrauten Umgebung, auf sprachliche Schwierigkeiten, die berufliche Situation der Eltern, oft schlechte Wohnverhältnisse u. v. a. m. zurückzuführen ist. Eine typische Äußerung eines Aussiedlers kann die Frustration verdeutlichen: „Wir brauchen in Deutschland keine gute Bildung. Wir werden sowieso am Fließband oder bei der Müllabfuhr arbeiten.“ Die Motivation hängt zudem vom Milieu ab, in das das Kind integriert ist.
VI. Die Kinder der Aussiedler und das soziale Umfeld
Ein Vorwurf, der den Aussiedlern und ihren Kindern oft gemacht wird, besteht darin, daß sie, die immer zusammenhielten und russisch redeten, sich gar nicht integrieren wollten. Doch dafür gibt es eine Erklärung:
In der Bewältigung der Fremdheit sind die Kinder letztlich auf sich selbst angewiesen. Da die Eltern oft ratlos sind, weil sie kaum ihre eigenen Probleme lösen können, schließen sich die Kinder zusammen. Sie haben einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund und ähnliche Lebensläufe. Für viele stellt dieser Zusammenschluß eine Art Ersatz für ihre ehemalige Heimat dar. Oft siedeln die deutschstämmigen Familien eines Ortes zusammen über, so daß Familienfreundschaften weiter gepflegt werden können. In der neuen Welt brauchen die Kinder Ansprechpartner, mit denen sie Informationen und Erfahrungen austauschen können, die ihre Probleme verstehen. An die Lehrer und Sozialarbeiter können sie sich häufig nicht wenden, weil diese ihre Lage nicht kennen und auch ihre Sprache nicht beherrschen. Da bieten sich die „Leidensgefährten“ an. Wenn dazu noch das Wohnen in der Nachbarschaft kommt, dann ist der enge Zusammenhalt eine Selbstverständlichkeit. Es wäre aber ein Fehler zu glauben, daß die Aussiedlerkinder die Integration nicht anstrebten. Die Interviews mit den Betroffenen verdeutlichen, warum es nicht immer wie gewünscht läuft.
Wenn es darum geht, nach dem Stundenplan zu fragen, dann funktioniert die Kommunikation zwischen den einheimischen und den Aussiedlerkindern. Aber es passiert nicht selten, daß beispielsweise ein einheimisches Mädchen auf eine nicht ganz sauber formulierte Frage antwortet, die Aussiedler sollten doch erst einmal richtig Deutsch lernen und dann fragen. Nach einer solchen Erfahrung ist die Angst der Kinder vor Mißerfolgen groß.
Die Eltern, deren Kinder Grundschulen und weiterführende Schulen besuchen, erzählen, daß die jüngeren wesentlich weniger Probleme mit der Integration haben. Grundschüler haben weniger Vorurteile, gehen leichter auf das Gespräch ein, sind neugierig und an ihren neuen Mitschülern interessiert. Anders die Jugendlichen auf den weiterführenden Schulen: Deren Gesprächsthemen gehen weit über die des Alltags hinaus, und wer die Sprache nicht richtig beherrscht, kann bestenfalls zuhören, aber der passive Zuhörer ist uninteressant. In diesem Alter bilden sich zudem Cliquen heraus, in die sich ein Großteil der Kommunikation verlagert. Das erschwert die Eingliederung zusätzlich, weil die jungen Aussiedler in diese nicht immer aufgenommen werden. Die Folge ist, daß eigene Cliquen gebildet werden. Vor allem dort, wo es in der Schule mehrere Aussiedlerkinder gibt, entsteht oft auch eine Clique, die ihre Interessen gegen eine mögliche Aggression verteidigt. Diese demonstrative Gegenüberstellung und die jeweiligen Machtansprüche können zu Anfeindungen und Zusammenstößen führen, besonders wenn die Gruppe auch außerhalb der Schule aktiv ist. (In dieser Hinsicht geraten die jungen Aussiedler vor allem wegen der Massenschlägereien mit den türkischen Jugendlichen in Schlagzeilen.)
Daß sich die Kinder der Aussiedler kaum an den außerschulischen Freizeitveranstaltungen oder am Vereinsleben beteiligen, läßt sich damit erklären, daß sie schlecht über die entsprechenden Angebote informiert sind. Auch wagen sie es nicht, „einfach so“ zu kommen, und warten auf eine per- sönliche Einladung und die wenigstens vorläufige Betreuung seitens des Einladenden, bis sie sich zurechtfinden. Um Mitglieder von Vereinen zu werden, fehlt häufig auch das Geld.
Diese schwere Zeit geht meist mit den Fortschritten im Erlernen der deutschen Sprache zu Ende. Die anfängliche Abhängigkeit von den Landsleuten wird schwächer, die Akzeptanz seitens der einheimischen Jugendlichen allmählich größer. Nach zwei bis drei Jahren Aufenthalt in Deutschland geben viele junge Aussiedler an, sie hätten einen oder mehrere Freunde unter den einheimischen Jugendlichen.
Ein viel ernsteres Problem ist die sogenannte „ungewünschte Integration“. Orientierungslosigkeit und Probleme zu Hause treiben insbesondere die Jugendlichen auf die Straße, wo sie rasch in schlechte Gesellschaft geraten. Hier können sie ihre Frustration und ihre Aggressionen mit Alkohol und Drogen betäuben oder in Randale umsetzen. Auch die Werbung und der Wohlstand verleiten mitunter -wenn das Wertsystem noch nicht stabil ist -zu kriminellen Handlungen. Vor allem in den Ballungsgebieten drohen solche und andere Integrationsprobleme junger Aussiedler sich zu sozialem Sprengstoff zu entwickeln, wenn nicht ein Handlungsprogramm zur sozialen Eingliederung der jungen Leute aufgelegt wird. Die Sozialarbeit sollte sich dabei nicht nur auf die Beratung beschränken. Viel wichtiger ist zum Beispiel die Organisation der Freizeitveranstaltungen in Stadtteilen, die vorwiegend von Aussiedlern bewohnt werden, und die Hilfe bei der Vermittlung von Jobs (z. B. Zeitungsverteilung), was einerseits junge Leute in ihrer Freizeit sinnvoll beschäftigt und das Taschengeldproblem löst, andererseits wichtige Werte für das künftige Berufsleben vermittelt.
Für einen Teil der Aussiedler spielt das religiöse Leben eine wichtige Rolle. Hierbei handelt es sich vorwiegend um Anhänger der freien evangelischen Kirchen (Baptisten, Mennoniten u. a.). Auch die junge Generation der religiös gebundenen Aussiedler steht fest zur Religion. Die Arbeit in den nach dem Alter gegliederten Gruppen wird zu einem wesentlichen Bestandteil des Alltags; die Jugendlichen verbringen in diesen Gruppen einen erheblichen Teil ihrer Freizeit. Eine gute psychologische Atmosphäre trägt zum schnelleren Erlernen der deutschen Sprache bei. Die religiöse Erziehung erweist sich als erfolgreich bei der Vermittlung von Werten sowie der Vorbeugung von Alkohol-und Drogenproblemen. Auf der anderen Seite ist die Gefahr groß, daß diese jungen Aussiedler unter sich bleiben und eine stärkere Integration nicht anstreben. Am Rande sei bemerkt, daß sie die vollständige Integration in diese Welt aus religiöser Überzeugung ohnehin nicht als Ziel ansehen.
VII. Schlußfolgerungen
Nach zirka sechs bis neun Jahren, in denen über eine Million Aussiedler und Spätaussiedler von der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden, zeichnen sich einige Tendenzen ab: Die Übersiedler lassen sich hauptsächlich in den alten Bundesländern nieder. Es bilden sich „kompakte Wohngebiete“, wodurch die Integration erschwert wird.
In der letzten Zeit kommen Aussiedler besser informiert nach Deutschland; dank eines geregelten Aufnahmeverfahrens haben die Übersiedlungswilligen Zeit, in ihrem Herkunftsland gewisse Vorbereitungen zu treffen, wozu etwa eine kurze Einweisung in die Sprache oder sogar ein Besuch bei einem Verwandten oder Bekannten in Deutschland gehören kann. Der Anpassungsschock ist mithin geringer, als er noch vor sechs bis neun Jahren war.
Für die jungen Aussiedler gewinnt die sogenannte „Subintegration“ als erste Phase der Integration zunehmend an Bedeutung. Das Zusammensein mit den anderen Aussiedlern ist oft entscheidend für die Orientierung in der Schule und der Umgebung, es bewahrt vor der Isolation. Aber es besteht inzwischen die Gefahr, daß der Schritt von der „Subintegration“ zur eigentlichen Integration nicht mehr getan wird.
Die Integration muß wachsen, und die Zeit ist dabei der entscheidende Faktor. Heute gibt es schon gesetzliche Rahmenbedingungen, z. B. auf der Schulebene; Lehrer, Sozialarbeiter und andere haben Erfahrungen mit den Kindern der Aussiedler gesammelt, das Feld wird inzwischen wissenschaftlich erforscht. Vor diesem Hintergrund wird es immer besser möglich, helfend zu begleiten und Fehler zu vermeiden, mit dem Ergebnis einer wirklichen Integration -nicht Assimilation. Unter diesen Voraussetzungen kann die junge Generation der Aussiedler ein Gewinn für alle sein.