Nachholende Mobilisierung Demokratisierung und politischer Protest in postkommunistischen Gesellschaften
Christiane Lemke
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Zusammenfassung
Bereits kurz nach den ersten freien Wahlen im postkommunistischen Ost-und Ostmitteleuropa zeigte sich, daß der gleichzeitig stattfindende Umbau des wirtschaftlichen und des politischen Systems mit erheblichen Konflikten einhergehen würde. Massenproteste gegen Betriebsstillegungen und Entlassungen, Protestaktionen gegen staatliche Maßnahmen der neugewählten Regierungen im sozialen Bereich, restriktivere Abtreibungsgesetze oder ethnische Auseinandersetzungen haben die oppositionellen antikommunistischen Protestbewegungen der Umbruchjahre 1989/90 in den post-kommunistischen Gesellschaften inzwischen abgelöst. Auf der Basis eines internationalen empirischen Forschungsprojektes wird das Protestverhalten in den vier untersuchten Ländern Polen, Ungarn, Slowakei und Ostdeutschland im Zeitraum von 1989 bis 1994 dargestellt und analysiert. Die Proteste -so das Ergebnis -sind eine zentrale Form unkonventioneller politischer Partizipation in postkommunistischen Gesellschaften.
I. Vorbemerkungen
Bereits kurz nach den ersten freien Wahlen in den postkommunistischen Ländern Ost-und Ostmitteleuropas wurde deutlich, daß der gleichzeitig stattfindende Umbau des wirtschaftlichen und des politischen Systems mit erheblichen Konflikten einhergehen würde. Massenproteste gegen Betriebsstillegungen und Entlassungen, Protestaktionen gegen Kürzungen der staatlichen Sozialleistungen, gegen restriktive Abtreibungsregelungen sowie gegen staatliche Maßnahmen der neugewählten Regierungen im Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit haben die antikommunistischen, oppositionellen Protestbewegungen der Umbruchjahre 1989/90 in den postkommunistischen Gesellschaften inzwischen abgelöst. Zugleich zeigt sich, daß nach wie vor erhebliche Legitimations-und Konsolidierungsprobleme für die sich neu etablierenden politischen Institutionen bestehen. Ausdruck dieser Probleme sind beispielsweise labile Regierungen, die zu häufigem Regierungswechsel führen, eine geringe Binde-kraft politischer Parteien sowie politische Apathie bei Teilen der Bevölkerung
Für die politische Transformation der postkommunistischen Gesellschaften stellt sich daher nicht nur die Frage, wie der politisch-rechtliche und personelle Aufbau demokratischer Institutionen gelingt. Vielmehr muß auch danach gefragt werden, welche gesellschaftlichen Entwicklungen die Transformation zur Demokratie befördern bzw. welche Probleme sie behindern. Können die kurz nach der eingeleiteten Transformation einsetzenden politischen Proteste die Demokratisierung ernsthaft in Frage stellen? Oder sind sie nicht vielmehr Zeichen einer „Normalisierung“ -Ausdruck demokratischer Verhältnisse? Entsteht nach den Massenprotesten des revolutionären Umbruchs 1989/90 nun eine neue Protestkultur als „nachholende Mobilisierung“? Oder handelt es sich um diffuse, kurzfristige Proteste, die keine langfristigen Veränderungen der politischen Kultur bewirken? Allgemein formuliert ist politischer Protest eine Möglichkeit, Interessen auch außerhalb der etablierten Institutionen zu artikulieren und auf politische Prozesse einzuwirken. Er kann damit als eine Form unkonventioneller politischer Partizipation verstanden werden In der Transformationsforschung wird Protest als Ausdruck für noch ungelöste politische Konflikte im Institutionen-umbau angesehen, da typischerweise diejenigen Gruppen zum Mittel des Protests greifen, die ihre Interessen nicht oder nur ungenügend im politischen Prozeß repräsentiert sehen. Zugleich kann der Verlauf eines Protestzyklus Aufschluß über die Konsolidierung von demokratischen Willensbildungs-und Konfliktlösungsmechanismen geben
In diesem Beitrag wird davon ausgegangen, daß sich die Bedeutung von politischem Protest entlang dreier Dimensionen definieren läßt. Erstens, da die Protestmobilisierung eine zumindest rudimentäre Bildung von Gruppenidentitäten einschließt, zeigen Proteste an, welche sozialen Gruppen in den Transformationsgesellschaften eigene Identitäten entwickeln.
Neben dieser gruppenspezifisch-sozialen Dimension ist zweitens relevant, welche Konflikte politisch artikuliert werden. Angesichts der zunächst noch offenen Situation institutioneller Entscheidungen als „unstructured opportunities" (Grzegorz Ekiert/Jan Kubik) in Transformationsgesellschaften wirken Proteste nachhaltiger auf den Institutionalisierungsprozeß, als das in den bereits etablierten politischen Demokratien westlicher Länder der Fall ist. Die öffentliche Artikulation von Protest kann nicht nur als Versuch der Beeinflussung von politischen Entscheidungssituationen angesehen werden, sondern auch als Wirkungsfaktor in Institutionalisierungsprozessen. Beispielsweise kann anhaltender Protest zur politischen Abkapselung feiner Gruppe oder zu ihrer dauerhaften Ausgrenzung aus dem institutionalisierten Entscheidungsprozeß führen.
Eine dritte, überaus wichtige Dimension betrifft die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen postkommunistischer Gesellschaften. Da die ehemals kommunistisch regierten Länder in der Regel besonders schwache zivilgesellschaftliche Traditionen aufweisen, kommt es im Prozeß der Demokratisierung darauf an, daß die vom Staat unabhängige gesellschaftliche Sphäre, in der politisch-demokratisches Verhalten praktiziert wird, ausgebaut wird. Durch politische Proteste findet eine Öffnung des politischen Handlungsfeldes statt und in dem Maße, in dem intermediäre Organisationen, Verbände, Vereine, Selbsthilfe-und Bürger-gruppen sich über Proteste politisch artikulieren, kommt es zu einer Ausdifferenzierung in diesem vorstaatlichen Raum.
Die Protestbewegungen in postkommunistischen Gesellschaften, die neben den ehemaligen antitotalitären, bürgerrechtlichen Oppositionsbewegungen auch partikularistische, antidemokratische oder radikale Bewegungen einschließen, sind vielschichtig und ambivalent. Um herausarbeiten zu können, welche Protestgruppen und -bewegungen die zivilgesellschaftliche Transformation befördern, indem sie gesellschaftliche Handlungsfelder öffnen, und welche, beispielsweise durch gewalt-förmige oder dissoziative Protestmobilisierung, den Prozeß der Demokratisierung erschweren oder behindern, ist eine präzise, empirisch fundierte Analyse erforderlich.
II. Theoretischer und methodischer Ansatz der Protest-Erforschung
Politischer Protest als Ausdrucksform unkonventioneller politischer Partizipation in postkommunistischen Gesellschaften ist in der Transformationsforschung bislang kaum systematisch untersucht worden. Um diese Forschungslücke zu schließen, wurde in einem internationalen, vergleichenden Forschungsprojekt eine empirische Untersuchung darüber durchgeführt, welche politischen Proteste im Zeitraum von 1989 bis 1994 auftraten, das heißt in der Phase des Zusammenbruchs kommunistischer Regime und der daran anschließenden Kern-periode der Transformation bis . zu den zweiten regulären, freien Wahlen Die Untersuchung knüpft theoretisch und methodisch an frühere Analysen von Protesten im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche an, wie sie von Charles Tilly und Sidney Tarrow vorgelegt wurden Wie Tilly zeigen konnte, treten Proteste periodisch immer wieder in Umbruchphasen auf und können sich -besonders als gewaltsame Proteste -zu revolutionären Situationen verdichten. Tarrow hat am Beispiel Italiens Protestzyklen in der Demokratisierung des Landes in der Nachkriegsentwicklung nachgezeichnet. Methodisch am ausgereiftesten beeinflußte seine Studie weitere Untersuchungen über westeuropäische Demokratien. Inzwischen hat sich die Protestforschung, vor allem unter dem Eindruck der Entwicklung neuer sozialer Bewe-gungen in Westeuropa, zu einem eigenständigen Forschungsgebiet der vergleichenden Politikwissenschaft entwickelt.
Die methodischen Vorteile der Protestereignisanalyse für die Untersuchung postkommunistischer Transformationsgesellschaften lassen sich wie folgt beschreiben. Erstens sind Proteste klar abgrenzbare Ereignisse, die der empirischen Forschung besonders gut zugänglich sind. Eine präzise Definition des Protestereignisses („protest event") ist dafür erforderlich. Zweitens sind Protestereignisse kontextbezogen, das heißt, sie verweisen auf zugrundeliegende gesellschaftliche und historische Wandlungsprozesse, die sich in kollektiven Aktionen ausdrücken. Im Kontext des Systemwechsels kommt es in den postkommunistischen Gesellschaften zu sehr weitreichenden Veränderungen, wobei für diese Transformation gilt, daß sie durch ein hohes Maß an Unsicherheit -„uncertainty“ -charakterisiert ist. Die Protestanalyse versteht das kollektive Handeln in Form von Protesten als Indikator für Konfliktlinien im kontextualen Zusammenhang der Transformation. Drittens wird über die Analyse des Protestverhaltens ein Zugang zur Untersuchung zivilgesellschaftlicher Strukturen gefunden, der es ermöglicht, die Konturen des vor-staatlichen Raums empirisch zu analysieren Werden die Organisatoren von Protesten detailliert erhoben, dann kann beispielsweise das Mobilisierungspotential von neuen sozialen Bewegungsgruppen ermittelt werden, wodurch es möglich wird, Rückschlüsse auf die Vitalität der Zivilgesellschaft zu ziehen. Auch läßt sich feststellen, inwiefern die Oppositions-und Bürgergruppen der Umbruchzeit in der postrevolutionären Phase noch aktiv sind, selbst wenn sie im Institutionalisierungsprozeß politisch marginalisiert wurden.
Protestformen können zudem Aussagen darüber ermöglichen, inwiefern „zivile“, das heißt gewalt-freie Formen des Widerstandes angewandt werden oder ob nichtzivile Formen des Protestes überwiegen, die das soziale Gewebe der Gesellschaft auf eine Zerreißprobe stellen. Im Rahmen der vergleichenden Studie wurde als . Arbeitsdefinition angenommen, daß die Zivilgesellschaft intermediäre Organisationen, Vereine, Verbände sowie Selbsthilfe-und Bürgergruppen umfaßt.
In die Studie wurden die vier Länder Polen, Ungarn und die Slowakei sowie die DDR bzw. die neuen Bundesländer einbezogen. Damit sind verschiedene, länderspezifische Muster der Transformation berücksichtigt. Neben forschungspraktischen Überlegungen war eine Bedingung für die Auswahl der Länder, daß in allen Fällen während der ersten Jahren nach dem Umbruch grundlegende Entscheidungen zur politisch-institutionellen Umgestaltung und Demokratisierung eingeleitet wurden. Obwohl die ehemalige DDR aufgrund der Vereinigung mit der Bundesrepublik als Sonderfall der Transformation gilt, stellte sich wie in den anderen Transformationsgesellschaften die Frage, wie die Bevölkerung auf den fundamentalen Systemwechsel reagiert und wie Proteste vor dem Hintergrund der Vergangenheit zu interpretieren sind. Als ehemals kommunistisch regierte Länder weisen die vier Fallbeispiele nicht nur einen ähnlichen historisch-politischen Problem-und Erfahrungsschatz auf, sondern sie sahen sich nach 1989 auch vor vergleichbare politische Grundsatzentscheidungen gestellt. Während in Polen und in der ehemaligen DDR sehr rasch weitgehende wirtschaftliche Umstrukturierungen erfolgten -in Polen durch die „Schocktherapie“ nach dem Balczerowicz-Plan, in der DDR durch den Beitritt zur Bundesrepublik -, vollzog sich der wirtschaftliche Umbau in Ungarn eher graduell, und in der Slowakei konnte sich zunächst noch ein größerer Staatssektor erhalten. Jedoch wurden in allen vier Ländern marktwirtschaftliche Strukturen eingeführt.
Der politische Umbau der Institutionen orientierte sich in allen vier Ländern am Modell der parlamentarischen Demokratie, wobei sich in Polen zunächst eine stärkere präsidialdemokratische Komponente durchsetzen konnte. Polen repräsentiert ein Land mit längerer Protest-und Oppositionstradition, während sich in Ungarn erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre Protestgruppen wie beispielsweise im Umweltbereich öffentlich artikulierten. In der DDR und in der Tschechoslowakei war eine plötzlich anschwellende Massenbewegung Ende 1989 für den Systemzusammenbruch charakteristisch, und der politische Wandel vollzog sich in relativ kurzer Zeit. Darüber hinaus veränderte sich für zwei Länder der Untersuchungsgruppe die Staatsform von Grund auf: in der DDR durch die Auflösung des Staates mit dem den Beitritt am 3. Oktober 1990 und in der Slowakei durch die Auflösung der Tschechoslowakei im Jahr 1993. In der Analyse wurde angenommen, daß diese Parameter der Transformation -die historische und politisch-kulturelle Erfahrung mit Protest und Opposition, Tempo und Reichweite der wirtschaftlichen Reformen und die politische Umgestaltung einschließlich der Veränderung der Staatlichkeit -Einfluß auf die Formen und den Verlauf kollektiver Aktionen nach dem demokratischen Umbruch ausübten.
Als Protestereignis wurde in der Studie ein Geschehen definiert, das folgende Kriterien erfüllt: Das Ereignis mußte als kollektive Aktion durchgeführt werden, das heißt, es mußten mindestens drei Personen beteiligt sein; Ausnahmen bilden besonders spektakuläre Aktionen wie Hungerstreiks. Weiterhin mußte das Ereignis durch eine unkonventionelle Aktionsform charakterisiert sein. Dies ist beispielsweise bei Demonstrationen und Betriebsbesetzungen der Fall, aber auch bei offenen Briefen und Aufrufen, die zwar die öffentliche Ordnung nicht unmittelbar stören, aber eine unkonventionelle Form der politischen Beteiligung darstellen. Während der Aktion mußten in der Regel politische Forderungen öffentlich artikuliert werden, die wortgetreu erfaßt und kategorisiert wurden. Allerdings wurden auch Ereignisse ohne explizite verbale Äußerungen aufgenommen, wenn sie eindeutig politischen Charakter trugen, wie ausländerfeindliche, rechtsradikale Aktionen oder Schweigemärsche. Schließlich mußte durch das Ereignis eine Öffentlichkeit hergestellt werden, die dann gegeben war, wenn über die Aktion in mindestens einer Zeitung berichtet wurde. Auf Basis dieser detaillierten Definition wurde eine Inhaltsanalyse von Zeitungen und Zeitschriften durchgeführt, und die Protestereignisse wurden zunächst in einem standardisierten Fragebogen erfaßt und anschließend computergestützt ausgewertet. Die Daten wurden, soweit es möglich war, mit offiziellen Statistiken und Angaben, wie Streikstatistiken der Gewerkschaften und Polizei-bzw. Verfassungsschutzdaten, abgeglichen und durch Hintergrundanalysen ergänzt. Im Ergebnis wurde eine Datenbank mit insgesamt 3 984 Protestereignissen in den vier Ländern im Zeitraum zwischen 1989 bis 1994 erstellt, die für weitere Forschungen zugänglich sein wird.
III. Protestverlauf in der Transformation
Wie sich im Verlauf der Untersuchung zeigte, weisen alle vier Länder eine deutliche Protestaktivität auf, die sich durch alle Jahre seit dem revolutionären Systemwechsel zieht. Allerdings variieren die Protesthäufigkeit und -Intensität länderspezifisch. Eine Frage, die uns zunächst beschäftigte, betraf die Auswirkungen der unterschiedlichen Modi des Regimewechsels auf das Protestverhalten. In der Analyse der postkommunistischen Transformation können zwei Formen der Ablösung des kommunistischen Regimes unterschieden werden: der graduelle und der abrupte Regimewechsel. In die erste Gruppe gehören die Länder, in denen die Ablösung des kommunistischen Regimes entweder durch eine länger andauernde Oppositionsbewegung „von unten“ vorbereitet oder in denen der Wandel „von oben“ durch Positionswechsel innerhalb des kommunistischen Parteiapparats schrittweise eingeleitet worden war Polen und Ungarn können folglich als Repräsentanten eines graduellen Regimewechsels angesehen werden. In den beiden anderen untersuchten Ländern, der ehemaligen DDR und der Tschechoslowakei, vollzog sich der Regimewechsel abrupt und in kürzester Zeit. In der Tschechoslowakei fanden erst im Dezember 1989 Massendemonstrationen statt, denen jedoch binnen weniger Tage die Ablösung des alten Regimes folgte Auch die DDR gilt als „latecomer“ im Regimewechsel, wobei auch in diesem Fall in relativ kurzer Zeit ein fundamentaler Wechsel eingeleitet wurde. Führen die günstigeren Bedingungen für kollektive Aktionen in der graduellen Transformation mit der schrittweisen Öffnung auch mittelfristig zu einer höheren Protestbereitschaft? Weisen also postkommunistische Länder mit längerer Oppositionstradition eine höhere Protestbereitschaft auf als diejenigen, in denen Protestverhalten, zumindest in der jüngerenGeschichte, nicht zum Repertoire politischen Handeins gehörte und die, wie die ehemalige DDR, durch besonders schwache zivilgesellschaftliche Strukturen gekennzeichnet waren Die obige Tabelle gibt Aufschluß über die Häufigkeit von Protestereignissen in den vier untersuchten Ländern.
Zunächst zeigen die Untersuchungsergebnisse, daß in allen vier Ländern auch nach dem Umbruch 1989/90 eine Protestmobilisierung auf beachtlichem Niveau stattfand. Kollektive Aktionen in Form von Protesten spielten nicht nur in der ersten Phase des Regimewechsels -während des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime -eine entscheidende Rolle. Vielmehr zeigt sich, daß die Entscheidungsprozesse in der Demokratisierungsphase nach 1990 von vielfältigen Protestaktionen begleitet waren. Dabei weisen Polen und Ungarn eine recht kontinuierliche Protesthäufigkeit auf. In diesen Ländern hat der graduelle Wechsel günstigere Voraussetzungen für die Öffnung des politischen Raums und die Entwicklung einer relativ profilierten Protestbewegung ermöglicht. Im Fall Polens hatte die Oppositionsbewegung mit der „Solidarnosc“ eine erfahrene, seit 1980 organisatorisch vernetzte politische Vertretung, die auch nach dem Systemwechsel weiter protestaktiv bleibt. Durch die relative politische Offenheit im Falle Ungarns, das schon seit den sechziger Jahren mit verschiedenen Formen der Liberalisierung des Wirtschaftssystems experimentiert und in den vergangenen zwei Dekaden geringere politische Repressionen gegen reform-orientierte Kräfte eingesetzt hatte als beispielsweise die DDR, haben sich ebenfalls günstigere Bedingungen für einer stärkere Protestmobilisierung herausgebildet. Die hohe Zahl der Proteste in der DDR 1989 bezieht sich vor allem auf die friedliche Revolution im Herbst des Jahres.
Im Ergebnis bestätigen die Daten zunächst die Annahme, daß die graduelle, von unten eingeleitete Transformation Protestverhalten im Übergang zur Demokratie besonders befördert. Polen ist das „proteststärkste“ Land mit der höchsten Anzahl von Protesten im gesamten Untersuchungszeitraum. Auch in Ungarn ist die Protestanzahl gemessen an der relativen Größe des Landes noch hoch. In beiden Fällen scheint sich zu bestätigen, daß sich der Raum für kollektive Aktionen aufgrund der relativ frühen Öffnung des politischen Systems gegenüber Veränderungen erweitert bzw. daß sich Protestverhalten im Repertoire politischen Handelns bereits befestigt hat.
Bemerkenswerterweise ist die Anzahl der Proteste in Ostdeutschland, wo der Regimewechsel abrupt erfolgte, nach 1990 ebenfalls überraschend hoch, im Jahr 1993 sogar höher als in Polen. Berücksichtigt man zudem, daß die Einwohnerzahl in den neuen Bundesländern etwa halb so groß ist wie die Polens, dann scheint das Protestpotential sogar höher als in Polen zu sein. Auch in der Slowakei ist ein deutlicher Anstieg von Protestaktionen festzustellen; dies gilt vor allem für die Jahre 1991 und 1992. Trotz der repressiven politischen Struktur vor dem Regimewechsel und der nur marginalen Existenz von Protest-und Oppositionsgruppen in den siebziger und achtziger Jahren ist also schon in relativ kurzer Zeit eine „nachholende Mobilisierung“ im Bereich unkonventioneller politischer Partizipation zu beobachten.
Eine weitere wichtige Frage betrifft die Muster des Protestverhaltens im zeitlichen Verlauf. Wie Sidney Tarrow und andere gezeigt haben, weisen Protestaktionen in westlichen Demokratien im Zeit-verlauf analysiert zyklische Verlaufsmuster auf. Nimmt die Intensität des Protestes in der postkommunistischen Transformation zu oder ab? Beteiligen sich mehr Menschen an den einzelnen Protestaktionen, oder läßt die Kraft der Mobilisierung nach? Nimmt die Aggressivität des Protests zu, oder werden die gewählten Strategien weniger aggressiv?Um die Intensität des Protestes zu messen, wurde zunächst eine gewichtete Analyse durchgeführt, daß heißt, die Anzahl der Proteste im jeweiligen Jahr wurde monatsweise nach der Anzahl der Teilnehmer, der Dauer des Protestes und der Reichweite -lokal, regional oder auf nationaler Ebene -gewichtet. Auf Basis der Daten zeigen sich zumindest in drei Ländern -in Polen, der Slowakei und Ostdeutschland -wellenartige Verlaufsformen des Protestes. Die Protestintensität beginnt in Polen 1989 bereits auf hohem Niveau, nimmt bis 1992 vor allem unter dem Eindruck der drastischen wirtschaftspolitischen Maßnahmen noch deutlich zu und liegt 1993 etwa auf demselben Niveau wie 1989 (das Jahr 1994 wurde noch nicht ausgewertet). Im Fall Ostdeutschlands nimmt die Protestintensität nach 1990 stark zu, das heißt, die Proteste dauern länger und mobilisieren mehr Personen; sie erreicht 1992 ihren Höhepunkt und geht dann bis 1994 zurück. In der Slowakei beginnt Protest auf einem niedrigen Niveau; es erfolgt eine Zunahme der Protestintensität 1991/92, kurz vor der Abtrennung von der Tschechischen Republik, und die Intensität flacht bis 1994 deutlich ab. In Ungarn weist der Verlauf eine eher diffuse Form auf: Die Protestintensität beginnt 1989 auf vergleichsweise hohem Niveau, geht 1990 und 1991 zurück, um dann wieder anzuschwellen, und läßt 1994 deutlich nach. Das heißt, daß die Entscheidungsphase politischer Umstrukturierung in allen vier Ländern von deutlicher, zum Teil zunehmender Protestintensität begleitet wird, und zwar unabhängig davon, auf welchem Niveau die Proteste 1989 begannen.
Die zentralen Konfliktlinien verlaufen in der Transformation entlang wirtschaftlicher und politischer Probleme. Wie die Untersuchung der Forderungen während der Protestaktionen zeigt, variieren die Themen nicht nur länderspezifisch, sondern auch im Zeitverlauf. In Polen konzentrieren sich die Forderungen im gesamten Untersuchungszeitraum auf wirtschaftliche Themen. Im Verlauf der Jahre nehmen dann die politischen Forderungen an Bedeutung zu. Nahezu umgekehrt verlief das Muster im Fall Ostdeutschlands. In der Revolution im Herbst 1989 standen politische Forderungen im Vordergrund. Wirtschaftliche Themen wurden von den Protestierenden damals kaum artikuliert. Nach der Vereinigung 1990 traten die politischen Forderungen nach grundlegenden Reformen dann hinter den wirtschaftlichen Problemen zurück. Wirtschaftliche Forderungen standen vor allem 1991, 1992 und 1993 im Mittelpunkt der Proteste. Zugleich differenzierte sich das Spektrum politischer Forderungen aus, so daß
Anliegen, die im sozialen Bewegungsspektrum (Umwelt, Verkehr, Frieden, Frauenpolitik) liegen, jetzt auch in den neuen Bundesländern einen breiteren Raum einnehmen. Eine deutsche Besonderheit ist die Polarisierung von Protesten um den Rechtsradikalismus und um die Asylrechtsdiskussion. Wirtschaftliche Probleme und politische Anliegen, wie Pressefreiheit, Bürgerrechte, Minderheitenprobleme und soziale Fragen, generieren Proteste in den anderen Ländern. In Ungarn und, deutlich seltener, in der Slowakei werden Minderheiten-und ethnische Probleme in Protesten artikuliert. In allen vier Ländern spielen immer wieder die historische Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und damit verbundene Probleme eine Rolle in den Protestaktionen.
Im Jahr 1994 läßt sich dann zunächst ein Rückgang der Intensität beobachten, mit der protestiert wird (wobei für Polen die Daten noch nicht vorlagen). Ob dieser Rückgang bereits das Ende des „Transformationszyklus“ markiert oder auf zufällige Faktoren zurückzuführen ist, müssen weitere Untersuchungen ergeben. Inwiefern es sich dabei um den Abschwung eines Protestzyklus im Sinne Tarrows handelt, ist insofern schwierig zu beantworten, als der Zeitrahmen der Untersuchung zu kurz ist, um echte Zyklen vergleichend beobachten zu können. Jedoch verweist die wellenförmige Bewegung der Protestintensität darauf, daß das Bedürfnis nach Partizipation in der Phase, in der die Kernentscheidungen über den wirtschaftlichen und den politischen Umbau gefällt wurden, besonders ausgeprägt ist. Mit den zweiten nationalen Wahlen, die in mehreren postkommunistischen Ländern stattfanden, ging jedenfalls die Protestaktivität zunächst zurück. Auch die Aggressivität der Proteste in Form von konfrontativen, die öffentliche Ordnung nachhaltig störenden und teilweise gewaltförmigen Aktionen ließ nach.
IV. Konturen der Protestkultur post-kommunistischer Gesellschaften
In allen postkommunistischen Gesellschaften läßt sich bereits kurz nach dem Regimewechsel eine erhebliche Ausdifferenzierung des Protestmilieus beobachten. In der Vier-Länder-Studie wurden detailliert sowohl diejenigen sozialen und beruflichen Gruppen erhoben, die sich an Protestaktionen beteiligen, als auch die Organisatoren der Proteste, das heißt diejenigen, die die Proteste initiieren oder politisch unterstützen. In der Kategorie derjenigen sozialen Gruppen, die bei Protestaktionen besonders häufig auftreten, fällt zunächst auf, daß Industriearbeiter, die ja von der Umstellung auf die Marktwirtschaft am schärfsten betroffen sind, nur in Polen als eindeutig protestaktivste Gruppe ermittelt wurden. In den anderen Ländern sind es vor allem Beschäftigte im öffentlichen und Staatsdienst, die sich am häufigsten bei Protestaktionen beteiligen; Arbeiter bilden nur die zweitstärkste soziale Gruppe. Landwirte organisieren in allen Ländern vereinzelte Protestaktionen; nur in Polen treten sie bei einer größeren Zahl von Protesten in Erscheinung. Bemerkenswert ist auch die häufige Beteiligung Jugendlicher als sozialstruktureller Gruppe unter den Protestierenden. Besonders in Polen und im Fall der ehemaligen DDR sind Jugendliche deutlich an den Transformationsprotesten beteiligt: In Ostdeutschland waren Jugendliche in 17, 8 Prozent der Proteste, in Polen in 10, 5, in Ungarn in 8, 5 und in der Slowakei in 6, 0 Prozent der Proteste eindeutig als soziale Gruppe auszumachen
Ein weiterer wichtiger Befund ist, daß die Proteste überwiegend nicht „spontan“ stattfanden. Sie waren von bereits bestehenden Organisationen vorbereitet und initiiert worden. Die Protestaktivität geht also auf eine schon vorhandene, mehr oder weniger formalisierte Organisationsstruktur zurück, ist in der Regel zielgerichtet und mit klaren Forderungen verbunden, wobei durchaus auch diffuse Proteste ermittelt wurden. Die hohe „organisatorische Dichte“ der Proteste ist angesichts der kurzen Zeit, in der sich Protestträger nach dem Systemwechsel herausbilden konnten, erstaunlich, insbesondere da in der Literatur immer noch ein Bild vorherrscht, nach dem die Bevölkerung in den postkommunistischen Ländern politisch ungeübt, apathisch und orientierungslos ist. Im Lichte der Befunde über die gerichtete Protestbereitschaft und die organisatorische Umsetzung ist zu fragen, ob das Paradigma der „totalitären“ Gesellschaft, in der Partei und Staat ein Monopol über alle politisch-sozialen Gruppen besaßen, bezogen auf das Sozialverhalten nicht überdacht werden muß. Selbst in den geschlossenen Gesellschaften Ost-und Ostmitteleuropas der achtziger Jahre haben sich Ansätze von Widerstand und Opposition herausgebildet, die in das Repertoire des sozialen Verhaltens der Menschen eingegangen sind und die Protestkultur beeinflussen. Zwar ist ein Bruch zwischen den Oppositions-und Protestbewegungen der achtziger Jahre und postkommunistischem Protest festzustellen, und die Bewegungen verlieren an Einfluß, weil sie rasch abgelöst werden durch eine Vielzahl neuer Gruppierungen. Aber es zeigt sich auch, daß die Wurzeln einiger Protestbewegungen und -gruppen, die in der Transformation aktiv sind, zum Teil in die achtziger Jahre zurückreichen. So hatte in Ungarn die Umweltbewegung schon Mitte der achtziger Jahre Proteste organisiert, in der DDR waren Friedens-, Umwelt-, Frauen-und Menschenrechtsgruppen aktiv, und im slowakischen Teil der Tschechoslowakei existierten Menschenrechts-und Dissidentengruppen.
Zugleich differenziert sich das Feld der Akteure und ihre Strategien in der Transformation erheblich aus. Besonders klar organisiert sind die Arbeitskämpfe. In Polen sind mit Abstand die meisten Proteste von Gewerkschaftsorganisationen initiiert worden; sie treten in nahezu der Hälfte aller Aktionen als Initiatoren oder Unterstützer auf. In den anderen Ländern werden knapp ein Viertel aller Proteste im Untersuchungszeitraum von Gewerkschaften durchgeführt. Zwei Tendenzen sind darüber hinaus hervorzuheben: Erstens zeigt sich, daß sich der zivile Bereich der Gesellschaft deutlich in Protestaktionen profiliert. Die den sozialen Bewegungen zuzurechnenden Gruppen treten als zweitstärkste Initiatoren und Unterstützer von Protestereignissen in Erscheinung. Dies ist besonders im Fall der neuen Bundesländer zu beobachten, wo sich neben den ehemaligen Bürger-und Oppositionsgruppen eine Vielzahl lokaler Gruppen sowie Organisationen der neuen sozialen Bewegung, wie die Umweitoder die Frauenbewegung, aktiv an Protesten beteiligen. Aber auch in Ungarn und in der Slowakei wird eine Ausdifferenzierung der Gruppen der sozialen Bewegungen beobachtet wobei in der Slowakei die Existenz einer Vielzahl nichtstaatlicher Gruppen und Vereine auffällt Zweitens ist es bemerkenswert, wie häufig sich politische Parteien an Protesten beteiligen bzw. sie sogar initiieren. Dies gilt nicht für Polen, wohl aber für Ungarn und die Slowakei mit etwa einem Drittel der Proteste sowie für die neuen Bundesländer mit etwa einem Viertel aller Proteste. Nach bisheriger Erkenntnis gilt die Bereitschaft, sich „unkonventionell“ über Protestaktionen am politischen Geschehen zu beteiligen, besonders für Parteien, die aus der Bürgerbewegung entstanden sind, und für die postkommunistischen Parteien in der Opposition (wie die PDS). Hierfür gibt es im wesentlichen zwei Erklärungen: Zum einen bringen die Parteien häufig ein Politikverständnis mit, das unkonventionelle politische Aktionsformen einschließt. Zum anderen sind die sich neu herausbildenden Parteien zumeist weniger stark in das Institutionensystem und seine Entscheidungsprozesse eingebunden, und Proteste sind ein Weg, politische Entscheidungen in dieser noch „offenen“ Situation zu beeinflussen.
V. Strategien des politischen Protestes und das Gewaltproblem
Demokratische politische Ordnungen zeichnen sich dadurch aus, daß die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, sich auch über Protestaktionen an die Öffentlichkeit zu wenden. Allerdings wird auf der rechtlichen Ebene unterschieden zwischen solchen Protesten, die legal sind, und solchen, die sich nicht im Rahmen der Verfassung und der Gesetzlichkeit bewegen. Eine Grenzlinie bildet dabei in der Regel die Anwendung von Gewalt gegen Personen oder Sachen.
In den postkommunistischen Ländern Mittel-und Osteuropas -ehemals geschlossenen staatssozialistischen Gesellschaften -müssen sich rechtliche Regelungen im Umgang mit Protest und politischhabituelle Verfahrensweisen erst herausbilden. Unter Umständen ist in der Phase der Transformation mit größerer Gewaltbereitschaft zu rechnen, wie es entsprechende Erfahrungen in lateinamerikanischen Ländern und in Südafrika zeigen. Eine zu lange Übergangszeit mit unklaren politischen und rechtlichen Kompetenzverteilungen birgt die Gefahr politischer Instabilität in sich. Unkonventionelles politisches Verhalten in Form von massiven Protesten kann zu einer Radikalisierung führen. Der Institutionalisierungsprozeß kann so erschwert oder behindert werden.
Von den untersuchten Ländern haben Ungarn und die DDR (durch den Beitritt zur Bundesrepublik) rasch eine neue demokratische Verfassungsordnung erhalten, Polen befand sich während des gesamten Untersuchungszeitraums dagegen in einem komplizierten Prozeß der Verfassungsdiskussion. Grundsatzfragen der Machtverteilung und der Legitimität der politischen Verfaßtheit sind im polnischen Fall noch Gegenstand von Machtkämpfen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Abteilungen des Regierungsapparats. Zu fragen ist, welche Auswirkungen diese Unklarheit der „rules" des politischen Prozesses auf das Protestverhalten hat und ob die Unschärfe der Machtverteilung zwischen den politischen Institutionen eine größere Bereitschaft zu konfrontativen oder gar gewaltsamen Mitteln des Protestes nach sich zieht.
Ein Vergleich der verschiedenen Proteststrategien in den vier Ländern zeigt, daß gewaltfreier Protest eindeutig überwog Dieser gewaltfreie Protest fand entweder ohne Störung der öffentlichen Ordnung statt, beispielsweise durch offene Briefe oder Aufrufe, oder er artikulierte sich störend durch Demonstrationen oder Kundgebungen (disruptiver Protest). Unter den gewählten Proteststrategien fällt im Fall Polens das starke Gewicht von Streikaktionen auf, während die Bevölkerung in Ostdeutschland am häufigsten Demonstrationen als Proteststrategie wählte. Hier kam es auch zu symbolischen Manifestationen (Lichter-oder Menschenketten), die während der friedlichen Revolution von 1989 ins Repertoire politischen Handelns aufgenommen worden waren.
Gewaltsame Formen des Protestes kamen häufiger in Deutschland als in Polen und den anderen Ländern vor. Gewaltproteste schließen Sachbeschädigungen durch Protestierende, tätliche Auseinandersetzungen zwischen protestierenden Gruppen und Angriffe auf Personen (bis hin zum Mord) ein. Ursache für das häufigere Auftreten von Gewalt bei Protestaktionen in den neuen Bundesländern sind die rechtsradikalen, ausländerfeindlichen Aktionen, besonders in den Jahren 1991 und 1992. Insgesamt kam in Ostdeutschland Gewalt in rund 13 Prozent der Protestereignisse vor, in Polen dagegen nur in 4, 9 Prozent. In der Slowakei (2, 0 Prozent) und Ungarn (1, 7 Prozent) kam Gewalt noch seltener vor.
Ob eine verfassungsmäßig verankerte neue Ordnung bereits mit dem Systemwechsel eingeführt worden war oder nicht, hat sich -zumindest was die vier untersuchten Länder betrifft -nicht in einem entsprechenden Unterschied beim Ausmaß gewaltförmiger Strategien ausgedrückt. Trotz eines eindeutig verfaßten Regierungssystems im Fall Ostdeutschlands kam Gewalt hier häufiger vor, während die unklare Regelung der Macht-und Kompetenzverteilung im polnischen Regierungssystem keine vermehrte Gewalt bei Protesten zur Folge hatte. Wichtiger als die klare politische Kompetenzverteilung durch neue Verfassungen scheint die politische Perzeption der Transformationsprozesse zu sein. Politisch-kulturelle Unterschiede wie die längere Protesttradition in Polen („Selbstdisziplinierung“) einerseits und die erhöhte Gewaltbereitschaft unter den Verlierern der raschen Modernisierung in Ostdeutschland andererseits sind wichtige Gründe für die unterschiedliche Ausprägung von Gewalt im Transformationsprozeß. Dabei zeigen neuere Forschungsergebnisse, daß politisch-kulturelle Muster wie Autoritarismus und Gewaltbereitschaft bereits vor der Wende existierten. Schon in den achtziger Jahren hatte sich in der DDR eine rechtsextreme Subkultur herausgebildet. Seit Beginn der neunziger Jahre ist die aggressive Gewaltbereitschaft der rechtsextremen Szene sprunghaft angestiegen, auch wenn die Struktur des Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern im Vergleich zu Westdeutschland eher schwach organisiert und wenig formalisiert ist.
Im Unterschied zu der von Gewaltaktionen begleiteten Transformation in Lateinamerika und Südafrika zeichnet sich die „dritte Transformationswelle“ Ost-und Ostmitteleuropas im Revolutionsjahr 1989 durch ihren überwiegend friedlichen Verlauf aus. Jedoch werden die Konflikte des politischen und wirtschaftlichen Umbaus nicht gänzlich gewaltfrei ausgetragen bzw. zeigen einzelne Gruppen eine erhöhte Gewaltbereitschaft. Gewalt als Protestform kann auf eine Schwäche der Zivil-gesellschaft verweisen. Unter solchen Bedingungen wird die Konsolidierung von Demokratien erschwert bzw. verzögert. Da Gewalt eine ernsthafte Herausforderung für die Entwicklung von Zivilgesellschaft darstellt, muß gefragt werden, ob dem Aspekt der Gewaltbereitschaft in Transformationsgesellschaften in der bisherigen Forschung nicht zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
Die Protestanalyse verdeutlicht, wie sich die Bevölkerung in den vier Gesellschaften -Polen, Ungarn, Slowakei und ehemalige DDR -mit Protestaktionen in den politischen Umbau nach 1990 eingemischt hat. Die Intensität des Protestes erwies sich sogar als überraschend ausgeprägt. Schärfe und Tempo des wirtschaftlichen Umbaus sowie die Neuregelung der politischen Kompetenzen bergen vielfältigen sozialen Konfliktstoff in der Transformation. Unkonventionelles politisches Verhalten in Form von Protesten ist für die Transformation in allen vier untersuchten Ländern in der postkommunistischen Transformation charakteristisch.
Mittelfristig können für die Transformation zur Demokratie jedoch weder zu starke Protestmobilisierung und schwache politische Institutionen noch zu starke Institutionen und eine zu schwache Mobilisierung förderlich sein. Entscheidend ist dabei nicht, wie häufig protestiert wird, sondern wie „durchlässig“ politische Systeme sind, das heißt welche Möglichkeiten sie eröffnen, Ansprüche auf Partizipation aufzunehmen und gesellschaftliche Konflikte bereits vor einer Radikalisierung zu bewältigen. Für Länder wie Polen mit einer längeren Protesttradition stellt sich zudem das Problem, daß die auch nach dem Umbruch anhaltende Mobilisierung den Transformationsprozeß insofern behindern kann, als eine Institutionalisierung von Konfliktbearbeitungsformen durch die Protestkultur erschwert wird. Aber auch die eher schwache Interessenartikulation in unkonventioneller Form, wie im Fall der Slowakei, ist der Demokratisierung nicht förderlich, da sie den Prozeß der Entwicklung einer vitalen Zivilgesellschaft verzögert. Daher ist eine Analyse der Demokratisierung, die sich ausschließlich auf die politisch-institutionellen Prozesse in der Transformation postkommunistischer Gesellschaften stützt, unvollständig. Vielmehr schließt die Demokratisierung habituelle Prozesse mit Veränderungen der politischen Kultur sowie die Herausbildung von vitalen Zivilgesellschaften mit ein.
Christiane Lemke, Dr. phil., geb. 1951; Universitätsprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Hannover; Forschungs-und Lehrtätigkeit an der Freien Universität Berlin; Gastprofessuren an der Harvard University, an der University of North Carolina at Chapel Hill und an der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: Die Ursachen des Umbruchs. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR, Opladen 1992; (Hrsg. zus. mit Gary Marks) The Crisis of Socialism in Europe, Durham 1993; ferner zur europäischen und amerikanischen Politik.
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