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Wertewandel und Politikwandel. Wertewandel als Ursache von Politikverdrossenheit und als Chance ihrer Überwindung | APuZ 52-53/1996 | bpb.de

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APuZ 52-53/1996 Wertewandel und Bürgergesellschaft Wertewandel und Politikwandel. Wertewandel als Ursache von Politikverdrossenheit und als Chance ihrer Überwindung Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. Demokratie zwischen Werte-Beliebigkeit und pluralistischem Werte-Konsens Die politische Gemeinschaft und ihre Kultur. Zum Gegensatz zwischen kulturellem Pluralismus und Multikulturalismus

Wertewandel und Politikwandel. Wertewandel als Ursache von Politikverdrossenheit und als Chance ihrer Überwindung

Olaf Winkel

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die moderne Gesellschaft ist von einem Wertewandel erfaßt worden, in dessen Verlauf Pflicht-und Akzeptanzwerte an Bedeutung verlieren und Selbstentfaltungswerte an Bedeutung gewinnen. Die Auswirkungen dieses Wandels auf das politische Leben, die unter dem Stichwort der Politikverdrossenheit in die Schlagzeilen geraten sind, werden häufig einseitig negativ beurteilt. Die in diesem Beitrag vorgenommene Aufarbeitung der einschlägigen wissenschaftlichen Diskussion zeigt aber, daß der Wertewandel nicht nur als Mitverursacher von Politikverdrossenheit anzusehen ist, sondern auf der anderen Seite auch erhebliche konstruktive Potentiale aufweist, mit deren Hilfe sich Politikverdrossenheit abbauen und vielleicht sogar in ihr Gegenteil verkehren läßt. Diese Potentiale könnten vor allem durch die Schaffung neuer politischer Verantwortungsrollen produktiv gemacht werden, die der konstruktiven Wertsynthese eines aktiven Realismus Vorschub leistet und der destruktiven Wertsynthese des hedonistischen Materialismus -der heute insbesondere unter jungen Menschen im Vormarsch ist -Einhalt gebietet. Die zu diesem Zweck erforderlichen institutionellen Innovationen hätten darüber hinaus den Vorteil, der gegenwärtigen politischen Steuerungskrise entgegenzuwirken, die aus der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Teilsysteme resultiert, welche eigenen Funktionslogiken folgen und sich immer stärker voneinander abschotten. Das gegenwärtige Unvermögen der Politik, überzeugende Antworten auf zentrale gesellschaftliche Herausforderungen zu geben und sich in ihren Strukturen an veränderte Bedingungen anzupassen, leistet allerdings einer Entwicklung Vorschub, in deren Verlauf die konstruktiven Potentiale des Wertewandels blockiert und seine destruktiven Potentiale verstärkt werden.

I. Einleitung

Der Wertewandel gilt heute als zentrales Merkmal der modernen Gesellschaft. Die Auswirkungen des Wertewandels auf das politische Leben, die insbesondere unter dem Stichwort der Politikverdrossenheit in die Schlagzeilen geraten sind, werden häufig einseitig negativ beurteilt. Die folgenden Überlegungen sollen einer differenzierteren Sichtweise den Weg bereiten. Dabei geht es erstens darum, nachzuweisen, daß der Wertewandel zwar einerseits durchaus als Mitverursacher von Politik-verdrossenheit anzusehen ist, andererseits aber auch -und hier liegt der wesentliche Punkt -als Chance, Politikverdrossenheit zu überwinden und brachliegende politische Potentiale gesellschaftlich produktiv zu machen. Zweitens soll aufgezeigt werden, daß sich diese Potentiale aber nicht ohne weiteres realisieren lassen, sondern institutionelle Innovationen im politischen System voraussetzen.

Die weiteren Ausführungen gliedern sich in vier Teile:

Zuerst werden die zentralen Begriffe geklärt.

Darauf folgt eine Darstellung der unterschiedlichen Ansätze, Methoden und Ergebnisse der Wertewandelforschung, in deren Rahmen auch die positiven Aspekte des Wertewandels für die gesellschaftliche Entwicklung Berücksichtigung finden.

In einem weiteren Schritt wird die Problematik auf die Zusammensicht von Wertewandel und Politikverdrossenheit fokussiert. Dabei geht es insbesondere um die Untermauerung der These, daß ein Abbau von Politikverdrossenheit ohne die Veränderung politischer Institutionen nicht möglich ist.

Im letzten Teil werden die zuvor gezogenen Schlußfolgerungen zusammengefaßt und in zwei Exkursen um einige weiterführende Überlegungen ergänzt. Diese richten sich erstens auf die Frage nach einer sinnvollen Fortentwicklung des politischen Systems unter steuerungs-theoretischen Aspekten, zweitens auf die Frage nach den Auswirkungen des gegenwärtigen Politikversagens auf Wertewandel und Politik-verdrossenheit.

II. Grundbegriffe

Die grundlegenden Begriffe, die im Vorfeld weiterer Überlegungen geklärt werden müssen, sind die Begriffe Werte, Wertewandel und Politikverdrossenheit. Politikverdrossenheit Von Politikverdrossenheit oder Politikmüdigkeit ist in den unterschiedlichsten Zusammenhängen die Rede. Allgemein werden diese Begriffe mit folgenden, sich zunehmend ausbreitenden Erscheinungen verbunden:

-Die Bürger zeigen immer weniger Bereitschaft, sich in konventionellen Formen am politischen Leben zu beteiligen (z. B. sinkende Wahlbeteiligung). -Das Vertrauen der Menschen in Politik und Politiker nimmt ab. Die Entfremdung zwischen Bürgern und ihren gewählten Vertretern wächst.

-Die Bürger entziehen traditionsreichen Parteien und anderen politischen Großorganisationen ihr Vertrauen.

-Gleichzeitig wächst die Zahl der Wechselwähler, Protestwähler und Nichtwähler 1. Unumstritten ist, daß die wachsende Politikverdrossenheit mit dem Wandel individueller und gesellschaftlicher Werthaltungen im Zusammenhang steht. Die Art und Richtung dieses Zusammenhangs wird aber unterschiedlich beurteilt. Werte und Wertewandel Obwohl der Wertbegriff zu den zentralen analytischen Konzepten der Sozialwissenschaften gehört, ist man bis heute noch weit von einer einheitlichen Verwendungsweise entfernt. Die mit einschlägigen Fragen befaßten Autoren des Informationszentrums Sozialwissenschaften der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute haben sich auf folgende -komplizierte -Definition des Wert-begriffs geeinigt, die zwar anerkannt, aber nicht unumstritten ist: „Als Werte verstehen wir objektunspezifische Orientierungsleitlinien zentralen Charakters, welche Realitätssicht, Einstellungen, Bedürfnisse und Handlungen einer Person steuern. Dies allerdings nicht vollständig determinierbar, sondern in situativ partiell flexibler Art und Weise. Werte sind also individuelle Orientierungsleitlinien mit Spielräumen für situationsgerechtes Agieren und Reagieren. Dieser indivuell internalisierte Standard besitzt aber immer auch gesellschaftliche Bedeutung, ist gesamtgesellschaftlich oder subkulturell vermittelt. Werte haben also eine Mittlerfunktion zwischen Mensch und Gesellschaft.“ 2 Aus dieser Sicht erscheinen Werte im wesentlichen als im Laufe der Sozialisation erworbene dauerhafte Orientierungen der Gesellschaftsmitglieder in bezug auf das sozial Wünschbare, denen eine verhaltenssteuernde Funktion zukommt.

Die in der Wertforschung herrschende Überein-stimmung läßt sich in folgenden Aussagen zusammenfassen:

-Werte sind in hierarchischen Systemen organisiert.

-Sie sind gesellschaftlich bestimmt.

-Sie finden ihren Ausdruck in zentralen gesellschaftlichen Institutionen.

-Sie werden vom Individuum über Sozialisationsprozesse aufgenommen

Daneben ist man sich auch darin einig, daß es Raum-Zeit-abhängige und kulturabhängige Unterschiedlichkeiten in der relativen Bedeutung von Werten -also einen Wertewandel -gibt. Als Wege, auf denen sich der Wertewandel vollzieht, gelten die Aufnahme neuer Werte, die Verschiebung der Rangordnung innerhalb eines bestehenden Wertsystems und der Zerfall alter Werte Über die Relation des Wertewandels zu benachbarten Phänomenen der Veränderung kollektiver Verhaltensmuster und der Veränderung der politischen Kultur ist man sich allerdings wiederum ebensowenig einig wie über seine Bewertung. Charakteristisch für die Wertewandelforschung sind ihre hohe theoretische Diffusität und die dementsprechende Heterogenität und Inkompatibilität ihrer Ergebnisse.

III. Ansätze und Ergebnisse der Wertewandelforschung

Mit der 1971 erschienenen Studie The Silent Revolution in Europe löste der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart eine wissenschaftliche Diskussion um die Veränderung von grundlegenden gesellschaftlichen Werten in industrialisierten Gesellschaften aus, die bis heute andauert. Wichtige deutsche Vertreter der Wertewandelforschung sind Elisabeth Noelle-Neumann vom Allensbacher Institut für Demoskopie, die einen bedenklichen Werteverfall konstatiert, und Helmut Klages, dessen Arbeiten zum Bedeutungsverlust von Pflicht-und Akzeptanzwerten und zur Bedeutungszunahme von Selbstentfaltungswerten den gegenwärtigen Stand der Wertewandelforschung nachhaltig prägen. 1. Ronald Ingleharts Postmaterialismustheorie Nach Inglehart läßt sich gesellschaftlicher Wandel über einmal erworbene und relativ konstant beibehaltene Wertorientierungen erklären Seine These von einem grundlegenden Wertewandel in den westlichen Industrieländern unterstellt eine zunehmende Ablösung materialistischer Werte durch postmaterialistische Werte mit positiven gesellschaftlichen Auswirkungen. Ingleharts Wertewandelkonzept basiert einerseits auf einer sozialpsychologischen Theorie und andererseits auf einer Sozialisationstheorie.

Zum sozialpsychologischen Aspekt der Postmaterialismustheorie: Bezugnehmend auf Maslows Konzept einer Bedürfnishierarchie stellt Inglehart die Behauptung auf, daß Menschen zunächst Bedürfnisse der physiologischen und physischen Sicherheit und damit materialistische Wertstrukturen entwickeln, auf deren Befriedigung dann die Herausbildung sozialer, kultureller und intellektueller Bedürfnisse und damit postmaterialistischer Wertstrukturen folgt Diese Behauptung verbindet Inglehart mit einer Mangelhypothese, nach der diejenigen Bedürfnisse an subjektiver Wertschätzung gewinnen, die noch nicht befriedigt und zudem verhältnismäßig knapp sind.

Zum sozialisationstheoretischen Aspekt der Postmaterialismustheorie: Um einen langfristig stabilen Wertewandel ableiten zu können, kombiniert Inglehart seine motivationspsychologischen Überlegungen mit einer Sozialisationshypothese. Diese besagt, daß die grundlegenden Einstellungen und Wertprioritäten einer Person sehr stark durch jene Bedingungen geprägt werden, die sie in der „formativen Phase“ -d. h. in den ersten zwanzig Lebensjahren -vorfindet, und daß diese Grundwerte keinen kurzfristigen Veränderungen unterliegen, sondern dauerhaft als Wertmaßstab zur Beurteilung von sozialen und politischen Entwicklungen dienen.

Vor diesem Hintergrund stellt Inglehart nun die Behauptung auf, daß jene Generationen in westlichen Industriegesellschaften, die in Phasen materiellen Mangels geboren und sozialisiert worden sind, in ihrer Mehrheit materialistische Wertorientierungen entwickelt hätten, während andere Generationen, die in Zeiten relativer Prosperität aufgewachsen sind, in zunehmendem Maße post-materielle Wertorientierungen aufwiesen. Letzteres treffe auf die in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsenen Menschen prinzipiell zu. Aus dieser Sicht stellt sich ein postmaterialistisch geprägter Wertewandel, der mit einer Politisierung der Gesellschaft einhergeht, quasi als evolutionäres Ergebnis der ökonomischen Entwicklung moderner Industrienationen dar.

Diese zentrale Aussage wurde von Inglehart im Verlaufe der siebziger und achtziger Jahre anhand einer Reihe von Befragungen in europäischen Ländern überprüft, in denen die Befragten Ranglisten von Eigenschaften bildeten, die jeweils für materialistische oder postmaterialistische Werte standen. In diesen Untersuchungen schien der Nachweis dafür erbracht worden zu sein, daß es in dem genannten Zeitraum tatsächlich zu einem Bedeutungsverlust materialistischer Werte gekommen ist und daß Zusammenhänge zwischen niedrigem Lebensalter, hoher Bildung und Tätigkeiten im Dienstleistungssektor einerseits sowie der Hochschätzung postmaterialistischer Werte andererseits vorliegen.

Dann meldeten sich aber immer mehr Kritiker zu Wort, die Ingleharts Prämissen, Methoden und Ergebnisse in Zweifel zogen

-Die logische Stimmigkeit seines Ansatzes, nach dem eine lebenslange Prägung durch eine Mangel-bzw. Sozialisationssituation erfolgt, wurde bestritten. -Sein bipolares Wertemodell wurde als unzulässige Vereinfachung und als ideologisch gefärbt abgelehnt.

-Die Mängel seiner Meßinstrumente, die auf einem unzureichenden Rangordnungsverfahren beruhen, wurden aufgedeckt.

-Schließlich wurde ihm verschiedentlich sogar vorgeworfen, in seinen Messungen keine tief-liegenden Werte, sondern lediglich Einstellungen zu spezifischen Themen zu erfassen und damit unbewiesene Zusammenhänge -etwa zwischen Wertorientierungen und politischem Verhalten -zu unterstellen.

Aber alle Kritik ließ Inglehart nicht von der These einer zunehmenden Ablösung materialistischer durch postmaterialistische Werte in westlichen Industrieländern abrücken. Seine Kategorien und Skalen finden bis heute Verwendung. 2. Elisabeth Noelle-Neumanns Werteverfallstheorie Während Inglehart und die in seiner Tradition arbeitenden deutschen Wertewandelforscher diebeobachteten Wertveränderungen in der bundesdeutschen Bevölkerung wohlwollend als Fortschritt zu einem qualitativ höherwertigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsniveau interpretierten, warnten andere vor den Gefahren eines Werteverfalls. Zu den warnenden Stimmen zählen insbesondere Elisabeth Noelle-Neumann und andere Vertreter des Allensbacher Institutes für Demoskopie, die das Vordringen von Selbstentfaltungswerten auf Kosten traditioneller bürgerlicher Tugenden wie Bereitschaft zu Disziplin und Pflichterfüllung als gesellschaftliche Auflösungserscheinungen beklagen. Die Forschungsarbeiten der Postmaterialismustheoretiker und der Allensbacher Demoskopen vollzogen sich voneinander unabhängig und lange Zeit sogar, ohne daß man überhaupt voneinander Kenntnis nahm.

Die bereits seit 1947 vom Allensbacher Institut relativ kontinuierlich durchgeführten Studien über den Wandel von Einstellungen und Werten in Deutschland machten Noelle-Neumann auf einen epochalen Werteumbruch im Jahre 1968 aufmerksam, von dem sie sagt, daß er sich später zwar verlangsamt, aber niemals umgekehrt habe Diesen Umbruch führt Noelle-Neumann unter anderem auf das Wirken der Frankfurter Schule zurück, das sie interpretiert als bewußte Strategie, „um die Tradierung von Werten in der Bundesrepublik Deutschland zu unterbrechen“

Die zentralen Stränge des Werteverfalls in den jüngeren Generationen, der in der Bundesrepublik Deutschland einen bisher nie gekannten Generationskonflikt erzeugt habe, äußern sich nach Noelle-Neumann auf folgende Weise: -Die Bindung der Menschen an Religion und Kirche nimmt ab. -Die Beschränkung individueller Freiheit durch Normen, Hierarchien oder Autoritäten wird immer weniger akzeptiert. -Tradierte Tugenden wie Höflichkeit, gutes Benehmen, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Sauberkeit und Sparsamkeit verlieren an Bedeutung. -Die bürgerliche Leistungsethik weicht einer zunehmenden Freizeitorientierung. -Die Ansprüche der Menschen an staatliche Institutionen wachsen ins Uferlose. -Der Gemeinschaftssinn und die Bindungsfähigkeit der Gesellschaftsmitglieder nehmen ab. -Die Bereitschaft und die Fähigkeit der Menschen, sich in erprobten Formen in politischen Gemeinwesen zu engagieren, sind rückläufig.

In diesen Entwicklungen sieht Noelle-Neumann eine Aushöhlung der Fundamente, auf die eine pluralistische Gesellschaft zwingend angewiesen ist. Sie fordert deshalb eine Art Werterenaissance, wobei sie eine wertmäßig fundierte Erziehung und eine entsprechende Einwirkung auf die öffentliche Meinung als mögliche Ansatzpunkte für eine Stabilisierung des gesellschaftlichen Wertehaushaltes nennt.

In diesem Sinne verweisen auch der Hanns-Seidel-Stiftung nahestehende Wissenschaftler auf empirische Erhebungen aus den neunziger Jahren, in denen nachgewiesen wird, daß in breiten Schichten der Bevölkerung durchaus der Wunsch besteht, Elternhaus, Schule und Universitäten sollten sich wieder wesentlich stärker auf ihre Rolle als Wertsetzungsinstanzen besinnen und Medien, Politiker und Parteien in dieser Funktion ablösen, da diese die in sie gesetzten Hoffnungen oder Erwartungen ohnehin nicht erfüllen könnten 3. Helmut Klages’ Wertsynthesetheorie Die von Klages begründete Schule der Wertewandelforschung, die ebenfalls eine empirisch fundierte Analyse der Prozesse des Wertewandels in Deutschland und anderen Industriestaaten liefert, unterscheidet sich sowohl von der Schule Ingleharts als auch von den Positionen Noelle-Neumanns deutlich

Von Inglehart trennen Klages insbesondere die von diesem unterstellte evolutionäre Qualität desWertewandels, die Art und Weise, wie Inglehart die Einordnung der Werte in die Kategorien Materialismus und Postmaterialismus vorgenommen hat und die von diesem unterstellte Eindimensionalität der Materialismus-Postmaterialismus-Achse. Dem evolutionistisch-optimistischen und eindimensionalen Erklärungsmodell Ingleharts stellt Klages einen Ansatz gegenüber, der von dem Bedeutungsverlust von Pflicht und Akzeptanzwerten zugunsten von Selbstentfaltungswerten als einem generellen Trend, nicht als einer evolutionären Entwicklung ausgeht. Dabei betont Klages die Ambivalenz des Wertewandels, die Existenz unterschiedlicher Wertdimensionen und Wertkombinationen sowie die Möglichkeit konstruktiver und destruktiver Wertsynthesen.

Von Noelle-Neumann trennt Klages vor allem die Ablehnung der These eines Werteverfalls. Doch auch Klages konstatiert -einen immer radikaler auftretenden Anspruch auf eine individuelle, nur eigenen Entscheidungen entspringende und nicht rechenschaftspflichtige Lebensgestaltung;

-ein Staatsverständnis, das das politische Gemeinwesen vorwiegend als Dienstleistungseinrichtung versteht;

-eine sukzessive Auflösung der Normbindung sozialen Verhaltens;

eine zunehmende Abkehr von großen Organisationen;

-einen zunehmenden Verfall der parlamentarischen Demokratie und -einen zunehmenden Verfall von Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft.

Seine Analysen sind aber stärker vom Bemühen um Neutralität geprägt und seine Urteile erscheinen differenzierter als die Noelle-Neumanns. Auf diese Weise entgeht ihm auch die Bedeutung von positiven Momenten des Wandels nicht, die durchaus Anlaß zur Hoffnung geben, etwa -die trotz abnehmender Parteibindungen zunehmende Bereitschaft der Menschen zur Beteiligung am politischen Leben;

-das mit dem wachsenden Desinteresse an den konventionellen Beteiligungsangeboten der repräsentativen parlamentarischen Demokratie einhergehende steigende Interesse an unkonventionellen Formen der politischen Partizipation; -die zunehmende Bereitschaft, Randgruppen zu tolerieren;

-die wachsende Bereitschaft zum Verzicht in einer schwierigen Lage.

Hervorzuheben ist auch, daß Klages allgemein als problematisch empfundene gesellschaftliche Entwicklungen im Unterschied zu Noelle-Neumann nicht als unmittelbares Ergebnis des Wertewandels interpretiert. Diese versteht er vielmehr in erster Linie als Diskrepanz zwischen gewandelten Werten auf der einen und unveränderten und unzureichenden Wertverwirklichungsangeboten auf der anderen Seite. So führt Klages im Hinblick auf die von Noelle-Neumann als Auflösungserscheinungen gebrandmarkten Phänomene des Rückgangs der Arbeitsmotivation und der zunehmenden Freizeitorientierung aus, dies sei nicht die Folge einer grundlegenden Erschütterung der kollektiven Arbeitsmoral. Vielmehr handele es sich bei der zunehmenden Fixierung der Menschen auf die Freizeit um eine „kompensatorische Werterfüllung“, ausgelöst durch eine mit dem Vordringen von Selbstentfaltungswerten und dem Zurücktreten von Pflicht-und Akzeptanzwerten einhergehende „Erwartungsenttäuschung“ in der Arbeitswelt, für die die qualitativen und quantitativen Angebotsdefizite dieses Bereichs verantwortlich seien .

Aus einem solchen Blickwinkel stellen sich auch die bedenklichen Entwicklungen, die der Werte-wandel zumindest mitverursacht, nicht nur als gravierende gesellschaftliche Probleme dar. Sie verweisen auf der anderen Seite ebenso auf neue Potentiale, die durch den Abbau der Diskrepanz zwischen Wertverwirklichungsbedürfnissen und -bedingungen gesellschaftlich produktiv gemacht werden könnten.

Wie eingangs angesprochen, bestätigen die Erhebungen der Wissenschaftler um Helmut Klages keine lineare Entwicklung, aber einen zu Beginn der sechziger Jahre eingetretenen und bis heute wirksamen Trend der Bedeutungsabnahme sogenannter Pflicht-und Akzeptanzwerte und der Bedeutungszunahme sogenannter Selbstentfaltungswerte. Diese beiden Kategorien bedürfen der Erläuterung.

Zur Kategorie Pflicht-und Akzeptanzwerte:

-Als im Rückgang befindliche gesellschaftsbezogene Pflicht-und Akzeptanzwerte führt Klages die Werte Disziplin, Gehorsam, Leistung, Ord-nung, Pflichterfüllung, Treue, Unterordnung, Fleiß und Bescheidenheit auf.

-Als im Rückgang befindliche persönlichkeitsbezogene Pflicht-und Akzeptanzwerte werden von ihm die Werte Selbstbeherrschung, Pünktlichkeit, Anpassungsbereitschaft, Fügsamkeit und Enthaltsamkeit genannt.

Zur Kategorie Selbstentfaltungswerte:

-Als im Vordringen begriffene gesellschaftsbezogene Selbstentfaltungswerte idealistischer Prägung weist Klages die Werte Emanzipation von Autoritäten, Gleichbehandlung, Gleichheit, Demokratie, Partizipation und Autonomie des Gesellschaftsmitglieds aus.

-Als auf dem Vormarsch befindliche persönlichkeitsbezogene Selbstentfaltungswerte hedonistischer Prägung werden von ihm die Werte Genuß, Abenteuer, Spannung, Abwechslung und Ausleben emotionaler Bedürfnisse genannt.

-Als im Vordringen begriffene persönlichkeitsbezogene Selbstentfaltungswerte individualistischer Prägung führt Klages Werte wie Kreativität, Spontaneität, Selbstverwirklichung, Ungebundenheit und Eigenständigkeit auf.

Die Formel vom Bedeutungsgewinn der Selbstentfaltungswerte auf Kosten der Pflicht-und Akzeptanzwerte hält Klages aber nur für tauglich, den „Megatrend des Wertewandels“ zu bezeichnen; auf der „Mikroebene“ seien durchaus abweichende Entwicklungen zu beobachten So weist er nach, daß innerhalb der Kategorie der Pflicht-und Akzeptanzwerte vor allem die Bedeutung der Werte Gehorsam und Unterordnung stark rückläufig ist, während die Bedeutung der Werte Ordnungsliebe und Fleiß lediglich eine leicht abnehmende Tendenz aufweist.

Die zentrale Leistung der Wertewandelforscher um Helmut Klages besteht wohl darin, daß sie die Existenz unterschiedlicher Werttypen nachgewiesen haben, daß sie die gesellschaftlich und politisch relevanten Handlungspotentiale dieser Wert-typen ermittelt sowie die Verbreitung der Werttypen in der Bundesrepublik Deutschland erforscht haben. Es sind fünf Werttypen, die von Klages und seinen Mitarbeitern identifiziert wurden: der Konventionalist, der Resignierte, der aktive Realist, der nonkonforme Idealist und der hedonistische Materialist bzw.der Hedomat.

Beim Wertkonventionalisten oder Traditionalisten verbinden sich eine hohe Pflicht-und Akzeptanz-bereitschaft mit einem schwach ausgeprägten Bedürfnis nach Selbstentfaltung und Engagement. Sein stetig abnehmender Anteil an der Bevölkerung beträgt derzeit etwa 20 Prozent. Im Arbeiter-milieu liegt er aber deutlich höher. Der Konventionalist findet sich hauptsächlich unter älteren Menschen mit Volksschulbildung oder abgeschlossener Lehre. Inzwischen stellt der Sozialtypus der verwitweten Frau eine bedeutende Unterkategorie dieses Werttyps dar.

Der Typus des Resignierten ist dadurch gekennzeichnet, daß weder Pflicht-und Akzeptanzwerte noch Selbstentfaltungswerte für ihn hohe Bedeutung haben. Etwas mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ist dieser Kategorie zuzurechnen. Resignierte entstammen zumeist dem Arbeitermilieu, haben die Volksschule oder eine Lehre absolviert und verfügen nur über ein geringes Einkommen. Überproportional häufig ist ein solcher Wertverlust bei ganz jungen und bei älteren Menschen anzutreffen.

Als nonkonformer Idealist wird der Gegentypus des Konventionalisten bezeichnet, bei dem sich die Wertpräferenzen in Richtung der Selbstentfaltungswerte verschoben haben. Wie der Anteil der Konventionalisten beträgt auch der inzwischen leicht rückläufige Anteil der Idealisten in der Bevölkerung etwa 20 Prozent. Der nonkonforme Idealist ist in erster Linie ein Produkt der unruhigen sechziger Jahre. Besonders häufig tritt er in höheren sozialen Schichten und unter Gebildeten auf. Angestellte des öffentlichen Dienstes, insbesondere Lehrer, aber auch Studenten und Schüler kommen in dieser Kategorie besonders häufig vor.

Der aktive Realist steht für eine Wertsynthese, in der Pflicht-und Akzeptanzwerte sowie Selbstentfaltungswerte gleichermaßen stark ausgeprägt sind. Dieser Typus ist bei einem knappen Drittel der Bevölkerung anzutreffen und damit am stärksten verbreitet. Realisten sind oft mittleren Alters, entstammen gehobenen sozialen Schichten, haben die Realschule absolviert und verfügen über ein hohes Einkommen.

Der Typus des hedonistischen Materialisten tritt erst seit Ende der achtziger Jahre in wissenschaftlich nachweisbarer Quantität auf. Indem sich bei ihm Teile der Selbstentfaltungswerte -nämlich die persönlichkeitsbezogenen Selbstentfaltungswertehedonistischer Prägung wie Genuß, Abenteuer, Abwechslung und Ausleben emotionaler Bedürfnisse -mit einzelnen Teilen der Pflicht-und Akzeptanzwerte wie Ordnung und Gehorsam verbinden, steht der Hedomat für eine reduzierte Wertsynthese. Dieser Typ ist stark am Lebensgenuß interessiert und läßt sich in seinem Verhalten von dem Gedanken leiten, daß eine Realisierung seiner hedonistischen Ziele nur auf der Basis eines hohen Lebensstandards möglich ist. Der Anteil der Hedomats in der Bevölkerung liegt bei etwa Prozent, die Tendenz ist steigend. Hervorzuheben ist die überproportional große Verbreitung dieses Typs bei jungen Menschen, insbesondere bei Hauptschülern und Lehrlingen. In der Altersgruppe der Menschen von 14 bis 23 Jahren liegt sein Anteil bei weit über 20 Prozent. Bei Menschen zwischen 14 und 17 ist er mit einem Anteil von e ist er mit einem Anteil von einem Drittel sogar der am weitesten verbreitete Typ. Besonders gut gedeiht der Hedomat im Milieu der unteren Mittelschicht. Hedomats sind oft Kinder von Arbeitern, insbesondere von Facharbeitern. Hier scheint das sogenannte traditionslose Arbeitermilieu prägend zu sein, das zur Mittelschicht tendiert.

Bei der Untersuchung der Potentiale, welche den aufgeführten Werttypen im Hinblick auf die Sicherung der „gesellschaftlichen Zukunftsfähigkeit“ innewohnen, diagnostiziert Klages einen „dramatischen Spannungsgehalt“ zwischen den konkurrierenden Trends in Richtung des aktiven Realismus und in Richtung des materialistischen Hedonismus 15. Den aktiven Realisten beschreibt Klages als „einen auf institutionenbezogene Weise selbstentfaltungsorientierten Menschen aus der Mitte der Gesellschaft“ 16, der einerseits eine stark auf den Einsatz eigener Kreativität und Initiative abstellende Erfolgsorientierung aufweist, der aber andererseits auch weiß, daß ohne die Einhaltung von Regeln und ohne Selbstdisziplin kein Erfolg möglich ist.

In diesem Typus sieht Klages die Vorzüge der anderen Typen realisiert, ohne daß sich deren Nachteile gleichermaßen auswirkten: -Die konservative Wertkomponente der Realisten mache sie zu Rationalisten und integriere sie sozial.

-Ihre hedonistische Wertkomponente lasse sie nach attraktiven Funktionen und Tätigkeiten streben, die mit Erfolgserlebnissen, Einfluß und Prestige verbunden sind.

-Ihre idealistische Wertkomponente drücke sich in einem lebhaften Interesse am Gemeinwohl und an Reformen aus -allerdings nur an Reformen, die sich auf das Machbare richten.

Im Unterschied zum nonkonformen Idealisten rebelliere der aktive Realist nicht, um sich dann bei der Verfehlung eines zu hoch gesteckten Ziels frustriert abzuwenden, sondern finde Wege, auf denen sich sein Veränderungswillen konstruktiv umsetzen läßt.

Unter Verweis auf eingehende Datenanalysen faßt Klages die konstruktiven Eigenschaften des aktiven Realisten folgendermaßen zusammen:

-Der aktive Realist sei ebenso disziplinfähig wie zu einem produktiven und kritischen Engagement gegenüber einer Fülle von gesellschaftlichen Problemthemen bereit und in der Lage. -Er sei ebenso zur Respektierung von Gesetz und Ordnung wie zur Verteidigung seiner Rechte und Interessen in der Auseinandersetzung mit Ämtern und Behörden bereit.

-Der aktive Realist sei sowohl freizeit-und familienorientiert als auch berufsorientiert und entwickle in beiden Richtungen ein besonders hohes Engagement.

-Im Arbeitsleben zeichne er sich durch eine ausgeprägte Leistungsbereitschaft aus, gepaart mit großer Eigeninitiative und einem stark entwikkelten Interesse an eigenen Gestaltungsräumen und an sinnvollen Tätigkeiten.

-Der aktive Realist sei in allen Lebens-und Arbeitsbereichen offen gegenüber den Anforderungen kompetenter Autoritäten, von denen er allerdings eine kooperative Haltung verlange.

Damit stelle der aktive Realist eine „Annäherung an den oft vergeblich gesuchten, ideal verfaßten Menschen der Moderne“ dar, der „deren gewaltige Herausforderungen und Möglichkeiten ohne substantielle Abstriche anzunehmen vermag“ 17.

Während der aktive Realist durchaus als Verkörperung der positiven Potentiale des Wertewandels bezeichnet werden kann, weist der hedonistische Materialist nach den Untersuchungen von Klages und seinen Mitarbeitern vorwiegend negative und destruktive Eigenschaften auf. Der Hedomat, dessen Lebensperspektive Klages als durch die Eck-werte „Bereitschaft zu ordentlicher Leistung ohne besonderen Einsatz“ und „konsumfreudiger Lebensgenuß“ bestimmt charakterisiert stehe den Fragen des öffentlichen Lebens im allgemeinen indifferent gegenüber und zeige nur ein geringes Interesse an gesellschaftlichen Problemstellungen. In diesem Typüs komme „sowohl eine Tendenz zu einer Art spielerischer Daseinsbewältigung als auch zum Egoismus“ zum Vorschein Trotz dieser selbstbezogenen Orientierung verkörpere der Hedomat ein latentes Unzufriedenheitsund Unruhepotential, da er der Politik mit einer uniformierten, mit einem diffusen Mißtrauen verbundenen Erwartungshaltung gegenübertrete, die leicht in Enttäuschung und Verdrossenheit oder bedingungslose Mitläuferschaft bei Protestaktionen unterschiedlichster Art umschlagen könne. Die Untersuchungen der Forschergruppe um Helmut Klages und nachfolgende Erhebungen anderer Wissenschaftler erbrachten unter anderem eindeutige Belege dafür, daß Teile der Hedomats eine hohe Akzeptanz gegenüber rechtsradikalem Gedankengut und rechtsradikalen Parteien aufweisen.

Mit einem Anteil von knapp 15 Prozent ist der Hedomat in der Bevölkerung nicht nur deutlich schwächer vertreten als der aktive Realist mit einem Anteil von über 30 Prozent, sondern auch schwächer als der nonkonforme Idealist und der Konventionalist mit jeweiligen Anteilen von etwa 20 Prozent. Bedenklich stimmt aber, wie rasch sich der Hedomat seit Ende der achtziger Jahre etabliert hat und insbesondere, wie häufig er unter jungen Menschen auftritt. In den Medien erregte der Jahresbericht der Bundeswehrbeauftragten für die Jugendarbeit Aufsehen, die sich darin auf Gespräche mit 185 000 Schülern im Alter von 14 bis 19 Jahren berufen Glaubt man dem Bericht, ist die Haltung der meisten Jugendlichen stark von Egoismus und Opportunismus geprägt: Für sie stehe die Verwirklichung eigener Lebensziele an erster Stelle. Leistungen des Staates würden eingefordert, Pflichten dagegen abgelehnt. Die Fehlentwicklungen gingen dabei so weit, daß der Austritt des Sängers Robbie Williams aus der Popgruppe

Take That viele Jugendliche mehr bestürzt habe als das Massaker von Sebrenica.

Klages geht zwar nicht von einer Steuerbarkeit der Verhaltens-und Werteentwicklung in der modernen Gesellschaft aus, er sieht in dieser Hinsicht aber immerhin Einwirkungsmöglichkeiten. Diese will er im Sinne der Förderung einer konstruktiven Wertsynthese genutzt sehen. Als Mittel dazu empfiehlt er das Anbieten von sogenannten Verantwortungsrollen. Hinter Klages’ Empfehlung steht folgender Gedankengang: -Der Wertewandel hat nun einmal eingesetzt und wird weiter voranschreiten. Sich gegen ihn zu stemmen ist ein aussichtsloses Unterfangen. -Die gegenwärtige Lage des gesellschaftlichen Wertebestands läßt sich beschreiben als eine Art vorläufiger Schwebezustand, der von Wert-schwankungen begleitet wird. In dieser Situation erscheint eine konstruktive Synthese der miteinander um die Vorherrschaft ringenden Wertkategorien und Werte prinzipiell möglich.

In einem erheblichen Teil der Bevölkerung hat sich diese Wertsynthese sogar schon von selbst vollzogen, nämlich durch die Entstehung des neuen Typs des aktiven Realisten. Die Bemühungen müssen sich unter diesen Umständen vor allem darauf richten, die Potentiale des Wertewandels über die Förderung konstruktiver Wertsynthesen gesellschaftlich produktiv zu machen. -Dabei kommt es vor allem darauf an, die Entstehungsbedingungen des aktiven Realisten -

insbesondere im Sozialisationsprozeß junger Menschen -zu fördern, um die offene Konkurrenz zwischen materialistischem Hedonismus und aktivem Realismus im Sinne des konstruktiven Typs zu entscheiden. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, den Menschen in allen Lebens-und Arbeitsbereichen möglichst viele Verantwortungsrollen anzubieten, in denen einerseits autozentrische Bedürfnisse ohne Frustration zur Geltung gebracht werden können, andererseits aber auch den Erfordernissen eines gedeihlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens Rechnung getragen wird.

Nicht nur die Politik, auch Wirtschaft, Verwaltung und andere gesellschaftliche Institutionen fordert Klages auf mitzuhelfen, die Diskrepanz zwischen gewandelten Werten und Wertverwirklichungsbedürfnissen und Wertverwirklichungsangeboten in diesem Sinne abzubauen.

IV. Wertewandel und Politik-verdrossenheit

Von Beginn an war die Wertewandeisdiskussion in ihrem Kern eine politiktheoretische und eine politische Diskussion. Dennoch fehlt es bis heute an einer für alle Seiten akzeptablen Antwort auf die Frage, wie sich das Problem der Politikverdrossenheit aus dem Blickwinkel der Wertewandeltheorie darstellt. Angesichts dieses Umstands erfolgt die Auseinandersetzung mit dieser Frage hier in der Weise, daß das Problem der Politikverdrossenheit sukzessive aus den Perspektiven der Ansätze und Forschungsergebnisse von Ronald Inglehart, Elisabeth Noelle-Neumann und Herbert Klages analysiert wird. 1. Politikverdrossenheit unter den Aspekten von Ingleharts Postmaterialismustheorie Nach Inglehart vollzieht sich in modernen Gesellschaften eine Entwicklung, in deren Verlauf -postmaterialistische Werte materialistische Werte langsam, aber kontinuierlich verdrängen; -in allen Lebens-und Arbeitsbereichen Postmaterialisten in die Mehrheit und Materialisten in die Minderheit geraten -und sich politische Einstellungen, politische Kultur und politische Institutionen sukzessive in Richtung auf die Realisierung einer qualitativ neuen Politik verändern, die sich verstärkt an den Leitvorstellungen der individuellen Freiheit, der politischen Partizipation und der materiellen Selbstbescheidung orientiert.

Aus diesem evolutionistischen und sozialoptimistischen Blickwinkel stellt Politikverdrossenheit ein anachronistisches Phänomen dar, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Das Modell Ingleharts liefert deshalb kaum brauchbare Anhaltspunkte für den Abbau von Politikverdrossenheit. Man könnte es in diesem Zusammenhang allenfalls als Hinweis auf Diskrepanzen zwischen politischen Partizipationsbedürfnissen und tatsächlich gegebenen politischen Partizipationschancen interpretieren, die von Klages aber überzeugender und exakter herausgearbeitet werden. 2. Politikverdrossenheit unter den Aspekten von Noelle-Neumanns Werteverfallstheorie Noelle-Neumann deutet das Vordringen von Selbstentfaltungswerten und den Rückgang bürgerlicher Tugenden wie Bereitschaft zu Disziplin und Pflichterfüllung als gesellschaftliche und politische Auflösungserscheinungen. Wie andere als bedrohlich empfundene Phänomene ist für sie auch die zunehmende Politikverdrossenheit unmittelbarer Ausdruck des Wertewandels, der von ihr mit einem Werteverfall gleichgesetzt wird: Wo der Gemeinsinn abnehme und das Eigennutzdenken zunehme, fehle es eben schon bald an grundlegenden Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des demokratischen politischen Lebens.

Unter dieser Prämisse kann Politikverdrossenheit nur über die Eindämmung des Wertewandels erfolgreich bekämpft werden. Als Mittel zur Beeinflussung des Wertewandels und damit auch zum Abbau von Politikverdrossenheit empfiehlt Noelle-Neumann einerseits eine wertmäßig fundierte Erziehung, die Elternhaus und Ausbildungseinrichtungen als wertsetzende Institutionen mit neuen Anforderungen konfrontiert, und andererseits eine zielgerichtete Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Letzteres erscheint ihr insbesondere durch die „Durchbrechung der Schweigespirale“ möglich Nach Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale neigen Menschen, die eine Minderheitenmeinung zu vertreten glauben, dazu, auf deren Äußerung zu verzichten. Dies führe wiederum zur Stärkung der Gegenmeinung und zu einer weiteren Bedeutungsabnahme der Minderheitenmeinung, die schließlich völlig aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwinde. Dieser Mechanismus wirke sich nicht nur bei konkreten politischen Themen aus, sondern führe langfristig auch dazu, daß bestimmte Werthaltungen bevorzugt und andere benachteiligt werden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß nach Noelle-Neumann die Beeinflussung des Bürgers, nicht die institutionelle Innovation, als zentraler Ansatzpunkt für den Abbau von Politikverdrossenheit angesehen werden muß: Der Bürger ist es, dessen Werthaltungen konserviert oder gar „repariert“ werden sollen. Für das politische Leben prinzipiell positive Momente des Werte-wandels -wie insbesondere die zunehmende Bereitschaft der Menschen, sich in neuen und unkonventionellen Formen vermehrt am politischen Leben zu beteiligen -werden von ihr nur am Rande und vorwiegend mit negativen Konnotationen zur Kenntnis genommen. Die Frage, ob nicht auf der anderen Seite auch strukturelle Veränderung erforderlich sein könnte, um einer berechtigten Kritik und einer berechtigten Enttäuschung des Bürgers gegenüber politischen Institutionen und Politikern Rechnung zu tragen, bleibt dagegen weitgehend ausgeblendet.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß diese und ähnliche Positionen in der Vergangenheit verschiedentlich als „Bürgerschelte“ oder gar als „Publikumsbeschimpfung“ diskreditiert wurden. Problematisch sind sie auch wohl dort, wo Sekundärtugenden unter Verweis auf ihre Kompatibilität zu überkommenen Formen des politischen Handelns absolut gesetzt werden sollen, und dort, wo jedwede Modifikation oder Erweiterung der überkommenen Formen des politischen Handelns ausgeblendet wird. Auf der anderen Seite darf in diesem Zusammenhang aber auch nicht vergessen werden, daß gemeinsame Werte eine wichtige identitätsstiftende bzw. gesellschaftsstiftende Funktion haben, und daß der Humanismus auch die moderne bzw. die postmoderne Gesellschaft auf einen Kanon von Grundwerten verpflichtet, wie er sich etwa in den im Grundgesetz garantierten Menschenrechten wiederfindet. 3. Politikverdrossenheit unter den Aspekten von Klages'Wertsynthesetheorie Klages beschreibt die Konsequenzen des Werte-wandels für die gesellschaftliche Entwicklung als im Prinzip ambivalent. Auch die Implikationen des Wertewandels für das politische Leben sind für ihn weder von vornherein positiv -wie für Inglehart -noch von vornherein negativ -wie für Noelle-Neumann.

Im Unterschied zu Noelle-Neumann interpretiert Klages die als bedenklich eingestuften sozialen Phänomene, die mit dem Wertewandel in Verbindung gebracht werden, nicht als unmittelbaren Ausfluß des Wertewandels oder gar eines Werte-verfalls. Für ihn sind sie vielmehr die Folge einer zunehmenden Diskrepanz zwischen Wertewandel und veränderten Wertverwirklichungsbedürfnissen einerseits und unveränderten und damit unzureichenden Wertverwirklichungsangeboten andererseits. Auch das Phänomen der Politikverdrossenheit deutet er in dieser Weise, nämlich als Konsequenz eines zunehmenden Auseinanderdriftens von politischen Wertverwirklichungsbedürfnissen und politischen Wertverwirklichungsangeboten.

Um den Wertewandel produktiv zu machen, empfiehlt Klages eine „Gesellschaftspolitik“ die geeignet ist, die beschriebenen Diskrepanzen abzubauen. Den Kern einer solchen Politik soll die Schaffung von Verantwortungsrollen bilden, die die Herausbildung eines aktiven Realismus begünstigen und einer weiteren Ausbreitung des hedonistischen Materialismus -insbesondere in den nachwachsenden Generationen -entgegenwirken.

In der Arbeitswelt erfordert dies nach einer inzwischen weit verbreiteten Überzeugung die vertikale und horizontale Anreicherung der Verantwortungsräume der Mitarbeiter; -die Einführung neuer systematischer, insbesondere teamorientierter Rationalisierungskonzepte, wie sie mit dem Vordringen der flexiblen Qualitätsproduktion und dem Rückzug der tayloristischen Massenproduktion Hand in Hand geht; -ein neues Verständnis von Hierarchie und Mitarbeiterführung in Produktion und Büro

Oder um es auf eine kurze Formel zu bringen: Die Schaffung neuer Verantwortungsrollen im Arbeitsleben setzt institutionelle Innovationen in Unternehmen und Behörden voraus.

Auch im Hinblick auf den politischen Bereich unterstreicht Klages die Notwendigkeit institutioneller Innovationen, die dem Wertewandel Rechnung tragen. Gerade sie seien geeignet, der politischen Kultur neue Impulse zu geben, ihr neue Vitalität zu verleihen und auf der anderen Seite Politikverdrossenheit abzubauen. Oder um es mit den Worten von Hans H. von Arnim zu sagen, der das Erfordernis institutioneller Innovationen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland bereits aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet und unterstrichen hat: „Es gibt einen Schatz an politischen Aktivitäten, der bis heute noch nicht annähernd gehoben ist. Freilichsetzt eine Freisetzung der Aktivitätspotentiale eine Änderung der Institutionen voraus, die den Bürger so weit wie möglich vom Objekt zum Subjekt macht.“

V. Schlußfolgerungen und weiterführende Überlegungen

Sicherlich spricht nichts dagegen, Anregungen von Wissenschaftlern wie Elisabeth Noelle-Neumann und Gerhard Hirscher zu folgen, die sich für eine Revitalisierung ehemals zentraler wertsetzender Institutionen -insbesondere von Schule, Elternhaus und Universität -einsetzen. Die Untersuchungsergebnisse des Forschungsinstitutes Basisresearch, nach denen dieser Wunsch in breiten Schichten der Bevölkerung gehegt wird, lassen sich durchaus als Mandat für ein solches Unterfangen auffassen.

Die wichtigsten Aufschlüsse darüber, wie man die zunehmende Politikverdrossenheit in der vom Wertewandel ergriffenen modernen Gesellschaft eindämmen könnte, liefern aber zweifellos die von Klages und seinen Mitarbeitern gewonnenen Erkenntnisse, die den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion bestimmen. Danach kommt es in erster Linie darauf an, die Diskrepanz zwischen politischen Wertverwirklichungsbedürfnissen und entsprechenden Angeboten durch die Schaffung neuer Verantwortungsrollen abzubauen, um eine positive Wertsynthese im Sinne der Förderung des aktiven Realisten -sozusagen als Zoon politikon der fortgeschrittenen Industriegesellschaft -zu unterstützen. Auf diese Weise ließe sich Politikverdrossenheit vielleicht nicht nur überwinden, sondern sogar in ihr Gegenteil verkehren.

Einen Hinweis darauf, wie zu diesem Zweck geeignete institutioneile Innovationen im politischen System aussehen könnten, liefert Klages bereits durch die Darlegung von Forschungsergebnissen, nach denen lediglich das Interesse an herkömmlichen Formen der Teilhabe am politischen Leben abnimmt, das Interesse an neuen und unkonventionellen Formen der politischen Partizipation aber stetig zunimmt. Als neue Formen der politischen Teilhabe sind etwa die politische Willensäußerung durch Unterschriftensammlung, die Bildung von Bürgerinitiativen, die politische Demonstration, politisch motivierte Streik der oder der Boykott von Produkten und Dienstleistungen zu nennen. 1. Exkurs zum Problem der Steuerungskrise Es waren allerdings nicht die Protagonisten der Wertewandelforschung, die die Aufmerksamkeit zuerst auf das Erfordernis institutioneller Innovationen im politischen System gelenkt haben. Dies taten vor allem Wissenschaftler wie Renate Mayntz und Fritz Scharpf, die vor dem Hintergrund der zunehmenden autopoiesischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft auf wachsende Steuerungsdefizite hinwiesen und Überlegungen zu ihrer Überwindung anstellten

Während früher noch fast ausschließlich darüber nachgedacht wurde, wie man der schleichenden Degenerierung politischer Steuerung durch die Verbesserung herkömmlicher Steuerungsinstrumente Herr werden könnte, rückt heute die Frage der Einführung zusätzlicher Steuerungsmechanismen immer stärker in den Vordergrund. Selbst im Hinblick auf die Ebenen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen wird inzwischen unter Schlagworten wie „Zivilgesellschaft“ und „assoziative Demokratie“ die Frage diskutiert, ob und in welchen Bereichen es angebracht sein könnte, legitime demokratische Abläufe nicht in der üblichen Weise zu organisieren, sondern politische Entscheidungen zuzulassen, die weniger von Mehrheiten als von diskursiven Konsensfindungsprozessen und Expertisen geleitet werden

Dabei setzt sich zunehmend die Überzeugung durch, daß es in vielen Bereichen -etwa in denen der Umweltpolitik und der Technologiepolitik - auf die Dauer keine Alternative zu entsprechenden Innovationen geben wird, wenn man dort nicht gänzlich auf politische Gestaltung verzichten will. Sieht man derartige Reformen, die weniger auf den Ersatz als auf die Ergänzung bestehender Steuerungssysteme abzielen, als zukünftig unausweichlich an, erscheinen die konstruktiven Poten-tiale des Wertewandels in einem völlig neuen Licht. Denn woher sonst sollte die Dynamik kommen, die erforderlich ist, um die aus steuerungsspezifischen Gründen notwendigen institutioneilen Innovationen zu vollziehen und die neuen Strukturen mit Leben zu erfüllen? An dieser Stelle schließt sich der Kreis von Wertewandeldiskussion, Institutionenkritik und Steuerungstheorie in einer Weise, die auch eine Vision von sozialer Zukunft ermöglicht, welche über die der Herausbildung einer radikal marktförmig ausgerichteten Gesellschaft hinausgeht. Der Wertewandel ist dabei nur eine Komponente in einem größeren Konzept, aber ohne Zweifel eine wesentliche.

In der Wirtschaft wird die Erkenntnis, daß der Wertewandel ein großes Produktivitätspotential beinhaltet, das über organisatorische Innovationen nutzbar gemacht werden kann, derzeit zwar noch nicht umfassend, aber immerhin schon ansatzweise umgesetzt. Für die Politik ist der Wertewandel dagegen bis heute kaum produktiv gemacht worden. Die zukünftige Qualität der Politik in der Bundesrepublik Deutschland und in der modernen Gesellschaft schlechthin hängt wohl in erheblichem Maße davon ab, ob man diesen Nachholbedarf endlich erkennen und ihm Rechnung tragen wird oder nicht.

Institutionelle Reformen, die im Hinblick auf die Überwindung des Steuerungsdefizites und den Abbau von Politikverdrossenheit in Betracht kommen, sind unter anderem: -die Vergrößerung der Einflußmöglichkeiten der Bürger bei Parlamentswahlen, etwa durch die Einführung der Verfahren des Kumulierens und Panaschierens; -die Verkleinerung der Parlamente und eine damit einhergehende Abschaffung der Fünfprozentklausel; die Direktwahl von Ministerpräsidenten; die Zulassung plebiszitärer Elemente bei geeigneten Sachentscheidungen auf allen politischen Ebenen, etwa nach dem Prinzip von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid; -die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, um neue Spielräume für lokale und regionale politische Aktivitäten zu gewinnen 2. Exkurs zum Problem des Politikversagens Politik und Politiker sind in der Bundesrepublik Deutschland heute massiver Kritik ausgesetzt -und dies keineswegs allein oder in erster Linie deshalb, weil die oben angesprochenen institutioneneilen Reformen noch ausstehen. Den demokratisch legitimierten staatlichen Entscheidungsträgern -aber auch den Parteien, den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Großorganisationen -wird vielmehr vor allem vorgeworfen, sie verwalteten lediglich den Mangel und blieben überzeugende Antworten auf drängende gesellschaftliche Herausforderungen schuldig. Es fehle nicht nur an der notwendigen Kompetenz und Entschlossenheit, um globale Probleme wie die „zunehmende Verelendung der Dritten Welt“ und die damit verbundene „weltweite ökologische Krise“ effektiv anzugehen; das Politikversagen beginne bereits mit einer „Entsolidarisierung gegenüber den Problemen des eigenen Landes“, was sich etwa in den bisher ungelösten Fragen der Zuwanderung, „eines massenhaften Exportes von Arbeitsplätzen bis zur Hinnahme einer steigenden Massenarbeitslosigkeit und des möglichen Bankrotts des Sozial-staats“ äußere

Diese Schwäche könnte zum Anlaß genommen werden, die Frage aufzuwerfen, ob nicht auch die professionelle Politik selbst in den Sog eines destruktiven Wertewandels geraten ist -nämlich in der Weise, daß die politischen Tugenden der Entscheidungsfähigkeit, Disziplin, Realitätsnähe und Verantwortungsbereitschaft zunehmend einem postmaterialistischen anything goes weichen, in dem die Bereitschaft, sich auch mit nach herkömmlichen Maßstäben nicht akzeptablen Entwicklungen abzufinden, sehr leicht in Zynismus und Fatalimus umschlagen könnte. Sollte man diese Frage bejahen müssen, käme man nicht umhin, die „politische Pathologie“ einer Postmoderne, deren politische Elite sich zunehmend vom Anspruch der politischen Gestaltung verabschiedet, als weitere Ursache für die oben aufgeführten bedenklichen Entwicklungen zu benennen.

Wenn sich in den Zentren der politischen Macht -etwa in den Parlamenten des Bundes und der Länder -eine zunehmende Entscheidungsschwäche und Handlungsmüdigkeit breitmacht, die sogar mit einer Tabuisierung von einzelnen Themen in den Medien und in der öffentlichen Meinung einhergeht, kann dies kaum ohne negative Auswirkungen auf das Wertbewußtsein der „vor Ort“ mit den konkreten Problemen konfrontierten Menschen wie auf die Qualität des regionalen und lokalen politischen Lebens bleiben. Wie soll etwa in den Städten und Gemeinden politische Vitalität entfaltet und sachgerecht auf neue Herausforderungen reagiert werden, wenn die übergeordneten Instanzen einerseits keine geeigneten Vorgaben, Impulse und Ideen liefern, andererseits aber auf ihren formellen politischen Hegemonieansprüchen beharren und auch für eine entsprechende Verteilung der Finanzmittel sorgen?

Betrachtet man Demokratie nicht nur als Staatsform, sondern darüber hinaus auch als Lebensprinzip das in allen Bereichen der Gesellschaft gelten soll, so wird das große Ausmaß des Schadens deutlich, der droht, wenn professionelle Politik durch ihr eigenes Versagen Politikverdrossenheit und einen destruktiven Wertewandel fördert -statt sich auf die Tugenden einer leistungsfähigen und realitätsnahen politischen Gestaltung zu besinnen. Ferner muß sie sich in ihren Strukturen an veränderte gesellschaftliche Umweltbedingungen anpassen, um die Steuerungskrise zu überwinden und die konstruktiven Potentiale des Wertewandels zu einem entscheidenden Kapital gesellschaftlicher und politischer Entwicklung zu machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Näheres dazu bei Hans H. von Arnim, Demokratie ohne Volk. Plädoyer gegen Staatsversagen, Machtmißbrauch und Politikverdrossenheit, München 1993; ders., Politikverdrossenheit, Wertewandel und politische Institutionen, in: Volker J. Kreyher/Carl Bohret, Gesellschaft im Übergang, Baden-Baden 1995, S. 31-37.

  2. Informationszentrum Sozialwissenschaften der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute (Hrsg.), Wertewandel und Werteforschung in den achtziger Jahren, Bonn 1991, S. XV.

  3. So auch Max Kaase, Wert/Wertewandel, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1995, S. 870-871.

  4. Vgl. Felix P. Lutz, Wertewandel, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Einheit, Frankfurt a, M. 1992, S. 741-747.

  5. Dies und das folgende nach Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1971; ders., Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt a. M. -New York 1989. Siehe auch Irene Gerlach. Wertewandel, in: Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992. S. 589-592; Ferdinand Müller-Rommel, Wertewandel, in: D. Nohlen (Anm. 3), S. 871-874.

  6. Konkret stehen dabei materialistische Wertstrukturen für die Orientierung an Zielen wie Ordnung und wirtschaftliche Sicherheit, postmaterialistische Wertstrukturen für die Orientierung an partizipativen und freiheitlichen Zielen.

  7. Vgl. insbes. Helmut Klages, Die gegenwärtige Situation der Wert-und Wertewandelforschung -Probleme und Perspektiven, in: Helmut Klages u. a. (Hrsg.), Werte und Wandel, Frankfurt a. M. 1992, S. 5-39; Siegfried Schumann, Postmaterialismus -ein entbehrlicher Ansatz?, in: Jürgen W. Falter u. a. (Hrsg.), Wahlen und politische Entscheidungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1989, S. 59-69.

  8. Dies und das folgende nach Elisabeth Noelle-Neumann, Politik und Wertewandel, in: Geschichte und Gegenwart, (1985) 1, S. 3-15; dies., Erinnerungen an die Entdeckung des Wertewandels, in: V. J. Kreyher/C. Bohret (Anm. 1), S. 2330. Siehe auch Gerhard Hirscher, Wertewandel in Bayern und Deutschland, München 1995, S. lOff.

  9. E. Noelle-Neumann (Anm. 7), S. 24.

  10. Vgl. G. Hirscher (Anm. 8), S. 42 ff.; Helmut Jung, Das Bild der Politiker und die Erwartungen der Bürger an die Politik. Ergebnisse aus der Meinungsforschung, in: Bürger und Politik -Politik und Bürger, Politische Studien, (1995) 1, S. 37-72.

  11. Das folgende vor allem nach Helmut Klages, Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich 1988; ders., Wertewandel als Zukunftsperspektive, in: Gerhard Hirscher (Hrsg.), Repräsentative Demokratie und politische Partizipation, München 1993, S. 41-58; ders., Die Realität des Wertewandels, in: Ansgar Klein (Hrsg.), Grundwerte der Demokratie, Bonn 1995, S. 81-86. Siehe auch Gerd Hepp, Wert-synthese. Eine Antwort der politischen Bildung auf den Wertwandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46/89. S. 15-23; Willi Herbert, Wandel und die Konstanz von Wert-strukturen, Speyer 1991; G. Hirscher (Anm. 8), S. 17 ff.

  12. Vgl. H. Klages, Wertedynamik (Anm. 11), S. 108.

  13. Vgl. H. Klages, Wertewandel als Zukunftsperspektive (Anm. 11), S. 48.

  14. Dieser Begriff ist zu verstehen im Sinne von auf der individuellen Ebene anzutreffenden Wertmustern, die grundlegende Wertdimensionen in unterschiedlicher Weise miteinander kombinieren.

  15. H. Klages, Die Realität des Wertewandels (Anm. 11), S. 84 f.

  16. Ebd.. S. 84.

  17. H. Klages, Wertewandel als Zukunftsperspektive (Anm. 11), S. 49.

  18. H. Klages, Die Realität des Wertewandels (Anm. 11), S. 85.

  19. Vgl. insb. die Ergebnisse der Untersuchungen, die das Forschungsinstitut Basisresearch in den neunziger Jahren im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung durchgeführt hat. Eine Zusammenfassung dieser Ergebnisse findet sich bei G. Hirscher (Anm. 8), S. 23 ff.

  20. Vgl. Bundeswehr bangt um Moral, in: Hamburger Morgenpost vom 3. August 1996.

  21. Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung -unsere soziale Haut, Frankfurt a. M. 1982.

  22. H. H. von Arnim, Politikverdrossenheit. Wertewandel und politische Institutionen (Anm. 1), S. 31.

  23. Helmut Klages, Häutungen der Demokratie, München 1993, S. 162.

  24. Näheres dazu bei Karl-Heinz Briam, Neue Technologien -veränderte Führungsaufgaben,'in: Klaus Henning u. a. (Hrsg.), Mensch und Automatisierung, Opladen 1990, S. 218-231; Helmut Klages/Gabriele Hippler, Mitarbeitermotivation als Modernisierungsperspektive, Gütersloh 1991; Ansgar Pieper. Technik und Arbeitsorganisation -Chancen und Bedingungen im Betrieb, in: Bernd Biervert/Kurt Monse (Hrsg.), Wandel durch Technik, Institution -Organisation -Alltag, Opladen 1990, S. 261-272.

  25. H. von Arnim, Politikverdrossenheit, Wertewandel und politische Institutionen (Anm. 1), S. 36.

  26. Autopoiesis steht in der funktionalistischen System-theorie für eine fortschreitende gesellschaftliche Aus-differenzierung und eine zunehmende funktionslogische Abschottung gesellschaftlicher Teilsysteme, mit denen ein Bedeutungsverlust herkömmlicher Steuerungsformen einhergeht. Vgl. Niklas Luhmann, Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: Hans Haferkamp/Michael Schmidt (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt a. M. 1987, S. 307-324.

  27. Vgl. etwa Renate Mayntz/Fritz Scharpf, Kriterien, Voraussetzungen und Einschränkungen aktiver Politik, in: dies., Planungsorganisation, München 1973, S. 115-145.

  28. Vgl. Michael Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, in: Politische Vierteljahresschrift, 1996 (1), S. 27-55.

  29. Näheres dazu bei Max Kaase, Politische Beteiligung, in: U. Andersen/W. Woyke (Anm. 5), S. 429-422; Wolfgang Fischer, Formen unmittelbarer Demokratie im Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52-53/93, S. 16-18; H. H. von Arnim, Politikverdrossenheit, Wertewandel und politische Institutionen (Anm. 1), S. 36 f.

  30. Manfred Wöhlcke, Der ökologische Nord-Süd-Konflikt, München 1993, S. 7.

  31. Klaus W. Wippermann, Das Gemeinwohl als sehr deutsche Thematik, in: Das Parlament, Nr. 27 vom 28. Juni 1996.

  32. Ebd.

  33. Näheres zum Leitbild der Demokratie als Lebensform bei Ulrich von Alemann, Demokratie, in: Wolfgang W. Mikkel (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, Bonn 1986, S. 75-79: Gerhard W. Wittkämper, Telematik und kommunikative Demokratie, in: Universitas, (1988) 4. S. 480-489.

Weitere Inhalte

Olaf Winkel, Dr. phil., M. A., geb. 1957; Politikwissenschaftler und Soziologe; langjährige Tätigkeit als Wissenschaftler, Berater und Lehrbeauftragter; Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen zu politischen Implikationen des gesellschaftlichen und technologischen Wandels.