Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wertewandel und Bürgergesellschaft | APuZ 52-53/1996 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 52-53/1996 Wertewandel und Bürgergesellschaft Wertewandel und Politikwandel. Wertewandel als Ursache von Politikverdrossenheit und als Chance ihrer Überwindung Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. Demokratie zwischen Werte-Beliebigkeit und pluralistischem Werte-Konsens Die politische Gemeinschaft und ihre Kultur. Zum Gegensatz zwischen kulturellem Pluralismus und Multikulturalismus

Wertewandel und Bürgergesellschaft

Gerd Hepp

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit der historischen Zäsur von 1989 ist -wie in anderen westlichen Demokratien -in der Bundesrepublik eine allgemeine moralisch-kulturelle Orientierungskrise zu beobachten. Sie ist vor allem Ausdruck des epochalen Wertewandels, der sich als ein tiefgreifender, gesamtgesellschaftlicher mentaler Qualitätssprung, als ein Wandel von einem an Normen orientierten hin zu einem subjektiv geprägten Selbst-und Weltverständnis beschreiben läßt. Damit sind gesellschaftliche Ambivalenzen verknüpft, die sich sowohl als Gefährdungen wie auch als Chancenpotentiale deuten lassen. So hat der Wertewandel einerseits einen allgemeinen Demokratisierungsschub bewirkt, andererseits aber -hierin von der Politik unterstützt -bei den Bürgern auch privatistisch-instrumentelle Denk-und Verhaltensmuster einer politischen und wohlfahrtsstaatlichen Konsumorientierung befördert. Zur Revitalisierung des Gemeinsinns könnte ein pragmatisches Konzept der Bürgergesellschaft beitragen, das die demokratieförderlichen Potentiale des Werte-wandels zu nutzen und zu aktivieren sucht. Es wird in vier Richtungen entfaltet: Umbau des Sozialstaates, direkter Bürgereinfluß im politischen Entscheidungsprozeß, bürgerfreundliche Dialogkultur, soziales Engagement und Aktivbüfgerschaft.

Über ein halbes Jahrzehnt ist es nun her, daß der Kommunismus in Osteuropa zusammengebrochen ist und sich gewissermaßen über Nacht, fast lautlos, von der politischen Bühne verabschiedet hat. Im Blick auf diese historische Zäsur von 1989 sprachen Beobachter damals wenn nicht vom Ende der Geschichte, so doch vom Ende der Ideologien und der großen Systemgegensätze. Zugleich schien das liberale System des Westens nach jahrzehntelanger Gegnerschaft als das überlegenere eine eindrucksvolle Bestätigung erfahren zu haben.

Doch schon bald meldeten sich auch selbstkritisch verunsicherte Stimmen. Sie fragten, ob der Westen mit dem Sozialismus nicht doch mehr verloren habe als nur einen Gegner. Waren durch die von ihm ausgehende Bedrohung nicht auch Bindungen und Zusammenhalt im Westen gefördert und so dessen innere Schwächen kaschiert worden? Der Konsens der liberalen Demokratie, so wurde argumentiert, habe sich durch Kontrast ergeben und die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes habe im Westen ein ideologisches Vakuum hinterlassen.

Von Triumphgebärde also keine Spur, vielmehr scheint sich im Westen zunehmend Katzenjammer breit zu machen. Besorgt fragte z. B. Joachim Fest in einem Ende 1993 erschienenen Essay „Über die schwierige Freiheit“, ob dem Zerfall des Gegners nun der eigene folgen werde. Fest nannte einen ganzen Katalog von Schwachpunkten: die Ermüdung der Institutionen, ausufernden Privatismus und Individualismus, einen Mangel an übergeordneten Gesichtpunkten und Verantwortungen sowie an Lebenssinn, motivierenden Zukunftsbildern und haltgebenden Zugehörigkeiten; ferner die um sich greifende postmoderne Beliebigkeit, in der alle moralischen Horizonte offen sind, wo „alles geht“ und nichts wirklich wichtig ist, in der die Laune über die Norm triumphiert und das Vermächtnis mühsam erworbener Prinzipien und Freiheiten dahinzuschmelzen droht

Doch die gegenwärtige, von wertkritischen Selbst-zweifeln geplagte innere Nabelschau ist nicht länger nur ein Steckenpferd wertkonservativer Intellektueller. Höchst auffällig ist, daß gegenwärtig sowohl professionelle Liberale wie auch das linke Establishment ungewohnt wertkonservative Töne anschlagen. Peter Glotz z. B. schrieb Anfang 1993 in einer „Zeit“ -Serie über Patriotismus, daß auf Dauer selbst ein gut funktionierendes Netz von Waren und Dienstleistungen allein eine Gesellschaft nicht zusammenhalte, daß vielmehr Verfassungspatriotismus, Gemeinsinn und Solidarität das Gebot der Stunde seien Ihm sekundierte bald darauf der „Spiegel“, der in einer Serie mit dem Titel „Die liberale Demokratie am Wendepunkt“ eine extreme Zersplitterung der Gesellschaft in streitende egoistische Gruppen und Interessenverbände beklagte und demgegenüber die Parole ausgab, Gemeinwohl sei das Stichwort zur Umkehr Und erwähnt sei schließlich auch das „Plädoyer eines Antiautoritären für Autorität“, nämlich Claus Leggewies, eines ehemaligen 68ers, der geschockt durch die abnehmenden Hemmschwellen bei Gewalt und Vandalismus vor allem junger Menschen nach Erklärungen suchte. „Ohne moralische Fundamente, ohne staatsbürgerliche Tugend“, so sein Fazit, „muß die Politik kaputtgehen. Auctoritas ist ein Akt der (dauernden) Gründung des Gemeinwesens. Wo so wenig Gründung ist wie hierzulande, wächst die Gewalt.“

I. Merkmale und Ambivalenzen des Wertewandels

Die hier nur stichwortartig angeführten Zeitdiagnosen verweisen auf eine tiefgreifende Sinn-und Orientierungskrise, die mehr oder minder alle westlichen Demokratien erfaßt hat. Zugleich rückt die nach 1989 fieberhaft einsetzende Suche nach moralisch-kultureller Selbstvergewisserung verstärkt ins öffentliche Bewußtsein, daß in allen westlichen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten ein geradezu epochaler Wertewandelstattgefunden hat. Seine Turbulenzen werden in der Bundesrepublik aufgrund historisch bedingter größerer. Wertdiskontinuitäten vermutlich stärker erfahren als anderswo. Auslösende Faktoren waren die technologische Modernisierung, die Bildungsrevolution, die sozial-und wohlfahrtsstaatliche Entwicklung sowie der wachsende Einfluß der Massenmedien.

Der Kern dieses Wertewandels läßt sich vor allem als Gewichtsverlagerung beschreiben: Pflicht-und Akzeptanzwerte sind deutlich geschrumpft, während Selbstentfaltungswerte kräftig expandierten Oder anders ausgedrückt: Es hat ein Wandel von einem nomozentrischen zu einem autozentrischen Selbst-und Weltverständnis stattgefunden, in dem das originäre Selbst, die eigenen Lebensinteressen zur Leitinstanz des Denkens und Fühlens aufrücken. Entsprechend ist eine starke Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile, ein allgemeiner Entnormativierungs-und Subjektivierungstrend wie auch eine allgemeine Zunahme instrumenteller Einstellungen zu beobachten. Gleichzeitig gehen mit dem gewachsenen Selbstentfaltungsstreben sowohl vermehrte Anspruchs-haltungen wie auch verminderte Zufriedenheitsdispositionen einher. Grundsätzlich entsteht eine größere Empfindlichkeit gegenüber faktischen oder vermuteten Widerständen, Einschränkungen und Selbständigkeitsgefährdungen aus dem Raum der gesellschaftlichen Umwelt. Autoritativen Außenanforderungen, hierarchisch geordneten Sozialzusammenhängen, regulativen Normen wie auch den Identifikations-und Akzeptanzwünschen aus der Organisations-und Institutionenwelt steht man mit gewachsener Distanz kritisch gegenüber.

Dies heißt aber nicht, daß die Übernahme von Pflichten und Verantwortung, die Akzeptanz vorgegebener Zielsetzungen, die Hinnahme-, Bin-dungs-und Folgebereitschaft in großem Stil nun verweigert wird. Neu ist, daß dies nun alles weit stärker in Abhängigkeit von individual-personalen Voraussetzungen gewährt wird. Die persönliche Motivation, selber gewonnene Einsichten und Überzeugungen, individuelle Nutzwertkalküle bzw. die autonome Entscheidungsfindung werden nun ausschlaggebend

Naturgemäß sind solche Entwicklungen selbst wieder Gegenstand von Bewertungen. Man hüte sich hier allerdings vor einem pauschalen Kulturpessimismus in Schwarz-Weiß-Manier. Wertewandel ist nicht einfach gleichzusetzen mit Wertezerfall. Das Bild ist eher durch zwiespältige Ambivalenzen, durch die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Widersprüchen geprägt. Festzustellen sind, wie einleitend ausgeführt, in unserer Gesellschaft problemerzeugende Entnormativierungs-und Entsolidarisierungstendenzen, deutliche Symptome eines ausufernden Egoismus und Individualismus, eine sich ausbreitende Ellenbogenmentalität. Im Hinblick auf künftige Trends stimmt es so durchaus auch beunruhigend, daß nach dem „Speyerer Typenschema für Wertetypen“ unter den 18-bis 30jährigen der „Hedomat“, der typische Vertreter der Ego-Gesellschaft, der sich weitgehend auf die materialistische und hedonistische Bedürfnismaximierung konzentriert, nicht nur deutlich überrepräsentiert ist, sondern auch eine signifikant steigende Tendenz aufweist

Dennoch darf man nicht verkennen, daß der Wertewandel neben solch spezifisch ausgeprägten Werteverlusten auch ausgeprägte Chancenpotentiale enthält. So ist die Gesellschaft insgesamt offener, unverkrampfter und toleranter geworden, ist der Respekt vor der persönlichen Individualität des anderen ebenso gewachsen wie das Ausmaß an kritisch-rationaler Kommunikation. Auch wäre es absurd zu sagen, die gesamte Gesellschaft sei einer hemmungslosen Egomanie verfallen. Individualismus als sozialer Begriff und Egoismus -oder auch Politikverdrossenheit -als moralische Kategorien müssen auseinandergehalten werden Noch immer gibt es in der Bevölkerung ein starkes Potential an sozialer Hilfsbereitschaft, übt jeder sechste Bürger in irgendeiner Form ein Ehrenamt aus, wenngleich der Trend beim Ehrenamt gerade bei jüngeren Jahrgängen nach unten zeigt. Dafür gibt es wiederum aber auch eine fast schon rasant gewachsene Bereitschaft zu sozialer Selbstorganisation in Form von inzwischen 67 500 Selbsthilfe-gruppen mit 2, 6 Millionen Mitgliedern, die vor allem junge Menschen ansprechen 1’. Sie sind Ausdruck neugewonnener Subsidiarität, die nicht nur die öffentliche Hand entlastet, sondern auch eine neue Form der Bürgerbeteiligung, in der mitbürgerliche Verantwortung bei gleichzeitiger Verfolgung legitimer Eigeninteressen eingeübt werden kann.

II. Wertewandel und demokratische Kultur

Es ist evident, daß die dargelegten Ambivalenzen auch das Verhältnis des Bürgers zum politischen Gemeinwesen nachhaltig prägen. Auch hier muß man sich vor kulturkritischen Verkürzungen hüten, verdankt doch die demokratische Kultur gerade dem Wertewandel einen Gutteil an substantiellen Fortschritten. Er war Motor der partizipatorischen Revolution und steht für den seit Mitte der sechziger Jahre einsetzenden Modernisierungs-und Demokratisierungsschub der Gesellschaft. So war er Voraussetzung dafür, daß die Bürger der Bundesrepublik den alten Obrigkeitsstaat mit seiner Überbetonung von kollektiven Pflicht-und Ordnungswerten mittlerweile weit hinter sich gelassen haben. Individuelle Mit-und Selbstbestimmung, pluralistische Meinungsvielfalt, der geregelte politische Konfliktaustrag, eine streitbare politische Opposition sind erst durch den Wertewandel auch in der Bundesrepublik zu demokratischen Selbstverständlichkeiten herangereift. Aus dem hierarchiefixierten Staatsbürger von einst sind mündige und selbstbewußte Bürger geworden. Bilanziert man die letzten Jahrzehnte, so ist das Ergebnis eindeutig: Die Bundesrepublik hat längst den Anschluß an westliche Demokratie-standards geschafft, ja sie gilt im internationalen Vergleich sogar als Hort demokratischer Stabilität.

Doch der Wandel von der spezifisch deutschen Staatsbürgerkultur zu einer aufgeklärten demokratischen Bürgerkultur ist nur die eine Seite der Medaille des Wertewandels. Schattenseiten werden dort sichtbar, wo -gewissermaßen gegenläufig -wichtige Balancen aus dem Lot geraten, die für die Stabilität und Stärke der Demokratie konstitutiv sind. Mehr als jede andere Staatsform bedarf vor allem die Demokratie der Balance von Vertrauen und Mißtrauen, von Akzeptanz und Protesthaltung, von individuellem Nutzenkalkül und Gemeinsinn, von Eigenverantwortung und kollektiver Verantwortung. Wo immer das Pendel nur in die eine Richtung ausschlägt, geht dies zu Lasten demokratischer Qualität.

Natürlich befinden wir uns heute nicht in einer extremen Situation. Aber die Gewichte haben sich doch zumindest in Teilen verschoben. Im Hinblick auf die gegenwärtige Befindlichkeit des Bürgerbewußtseins drängt sich daher als Fazit auf: Die auto-zentrischer gewordenen Bürger stehen gerade in jüngerer Zeit der Politik und den staatlichen Institutionen hochgradig unzufriedener, mißtrauischer, abstandsbetonter und protestbereiter gegenüber und lassen sich im Umgang mit dem Politischen primär von individuellen Nutzenkalkülen und deutlich weniger von traditionellen Formen des Gemeinsinns und kollektiver Verantwortungsübernahme leiten. 1. Wertewandel und politische Partizipation Diese These vom Verlust traditioneller Akzeptanz-bereitschaften und entsprechend ausgeformten Gemeinsinnorientierungen soll im folgenden an zwei Politikbereichen exemplarisch verdeutlicht werden. Zunächst sind mit der Zunahme von Selbstentfaltungsorientierungen Veränderungen im Partizipationsverhalten der Bürger zu beobachten. Schon die bisweilen überstrapazierte Formel von der Politikverdrossenheit deutet ja an, daß hier einiges aus den Fugen geraten ist. Symptomatisch für wertewandelbedingte Veränderungen haben sich vor allem die konventionellen Beteiligungsformen, zu denen vor allem die Beteiligung an Wahlen und die Mitwirkung in Parteien und Verbänden gehören, seit geraumer Zeit rückläufig entwickelt. Das Wählerverhalten hat sich enorm flexibilisiert, die Wähler sind -wie die überwiegend positiv zu bewertende Zunahme der Wechselwähler signalisiert -um vieles „wählerischer“ geworden. Zum Problem geworden sind hier allerdings die Denkzettel-, Protest-und Nichtwähler, die stärker als früher das Bild der Wahlen auf allen Ebenen prägen. Auch das Engagement in Parteien und Verbänden hat spätestens seit Mitte der acht-ziger Jahre deutlich nachgelassen. In beiden Bereichen wird über drastische Mitgliederverluste, Nachwuchsmangel und allgemein sinkende Bin-dungs-und Identifikationsbereitschaft geklagt.

Dazu gegenläufig befinden sich die sogenannten nichtkonventionellen politischen Beteiligungsformen seit längerem in einem beachtlichen Aufwärtstrend Vor allem jüngere Bürger präfererieren zunehmend nicht das Dauerengagement in Parteien, sondern ein politisches Handeln, das möglichst institutionenungebunden, von subjektiven Betroffenheitserwägungen geleitet, den kurzfristigen und raschen Erfolg im Visier hat. Leserbriefe, Unterschriftensammlungen, Mitwirkung in einer Bürgerinitiative, Teilnahme an Protestdemonstrationen sind Ausdruck zunehmender Konventionalisierung nichtkonventioneller Partizipationsweisen. Diese werden von dem Wunsch diktiert, rasch gehört zu werden und medial inszenierten Druck auf die Öffentlichkeit und die staatlichen Institutionen auszuüben. Entsprechende Aktionen dienen durchaus -jedoch keineswegs immer -dazu, von der Politik vernachlässigte Probleme zu thematisieren, öffentliche Mißstände aufzudecken oder gemeinwohlorientierte Bürgerprojekte auf den Weg zu bringen.

Zu deren Kehrseite gehört, daß lautstarke Protest-politik vor allem im kommunalpolitischen Bereich auch immer wieder zu einer Blockade des politischen Prozesses führt und es immer schwieriger wird, größere Projekte, die aus Gründen des Allgemeininteresses dringend geboten sind -z. B.der Bau einer Umgehungsstraße oder einer Müllverbrennungsanlage -gegen „basisdemokratische“ Proteste durchzusetzen. Das Recht der Betroffenen ist . hier mittlerweile zu einem mächtigen, objektive Sachzwänge und Mehrheitsentscheidungen überlagernden Prinzip geworden. Hinzu kommt, daß politische Forderungen gerade im Umfeld der sogenannten Bewegungsdemokratie mitunter auch mit gesinnungsethischem Moralismus befrachtet werden, der Kompromisse verhindert und den politischen Entscheidungsprozeß lähmt. Weit häufiger als früher werden hier auch die Grenzen zur Illegalität überschritten: Gebäude-und Platzbesetzungen, Verkehrsblockaden sind in diesem Umfeld geradezu zu etwas Alltäglichem geworden. Auch in der Gesamtbevölkerung hat in diesem Sog die Toleranz gegenüber außerstaatlicher Gewaltanwendung zur Durchset-zung politischer Interessen unter bestimmten Voraussetzungen signifikant zugenommen 2. Mentalitätsentwicklungen im sozialen Wohlfahrtsstaat In welchem Ausmaß sich die Balance zwischen Gemeinwohlorientierung und Individualinteresse verschoben hat, zeigt noch krasser ein Blick auf die Mentalitätsentwicklung unter den Bedingungen des expandierenden Wohlfahrtsstaates. Auch hier sind Ambivalenzen auszumachen: Einerseits hat der erfolgreiche Ausbau des Sozialstaates, der die Daseins-und Lebensrisiken der Menschen deutlich entschärfte, auch wesentlich zur Ausbildung politischer Legitimität und zur kontinuierlichen Konsolidierung der Demokratie in breiten Bevölkerungsschichten beigetragen. Andererseits hat man mit Recht immer wieder von einer Sinnverkehrung des Sozialstaats gesprochen, der über die Förderung einer Vollkaskomentalität parallel auch den Gemeinsinn ausgehöhlt hat. Je perfekter der Sozialstaat nämlich die Daseinsvorsorge organisierte, desto mehr trieb er auch die Anspruchsinflation voran und förderte so beim Bürger die Neigung, das Glas stets eher halb leer als halb voll zu sehen. Über die spiralförmig sich hochschaukelnde Bedürfnisdynamik geriet der Staat so in eine Bedürfnis-oder Anspruchsfalle hinein, so daß trotz steigender Leistungen seitens der Politik Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit sich gerade auch in sozioökonomisch eher privilegierten Schichten immer mehr ausbreiten konnten Indem anspruchs-und unzufriedenheitsbegrenzende Persönlichkeitswerte sich abschwächten, wurde gleichzeitig auch die Kultur der Eigenverantwortung und des Helfens an der Wurzel ausgetrocknet. „Der Sozialstaat“, so kann man mit Ulrich Beck folgern, „ist eine Versuchsanordnung zur Konditionierung ich-bezogener Lebensweisen“ Für die Bewältigung der Daseinsrisiken ist man ja nicht selbst, sind nicht länger Freunde, Nachbarn oder Verwandte zuständig, sondern das anonyme Kollektiv einer Sozialstaatsbürokratie, dem alle persönlichen Verpflichtungen überantwortet werden. So hat sich immer mehr eine parasitäre Kon-sumentenmentalität ausgebreitet, die im Staat nur noch ein Dienstleistungsunternehmen sieht, eine Art säkularisierten Heilsbringer für materielle Glücksbedürfnisse, aus dem man unter kleinstmöglichem persönlichen Einsatz ein Maximum an Profit herausschlagen will

In großen Teilen der Bevölkerung scheint so der egozentrische, die Bürgerpflichten und das Gemeinwohl ignorierende Sozialstaatsbürger, der Bourgeois, zur gesellschaftlichen Normalfigur geworden zu sein. Auf prompte Bedienung und Bereicherung eingestellt, sieht er die Politik primär durch die Brille des Warenhauskunden, der, eifersüchtig auf Besitzstandswahrung bedacht, ständig befürchtet, um den Gegenwert eigener Sozialbeiträge zugunsten skrupelloserer oder politisch begünstigterer Bevölkerungsgruppen geprellt zu werden. Verstärkt durch die fehlende Transparenz und Übersichtlichkeit eines hochkomplexen Steuer-und Sozialversicherungssystems ist daher heute ein sozialausbeuterisches Mitnahmeverhalten quasi zur Alltagsnorm geworden. Die Schattenwirtschaft ist eine blühende Branche, die vorteilsmäßige Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder die Ergatterung von ungerechtfertigter Sozialhilfe oder von Arbeitslosengeld gelten geradezu als normal. Symptomatisch in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung der Einstellung zur Steuerhinterziehung. Zu Beginn der achtziger Jahre wurde sie noch von 52 Prozent der Befragten mißbilligt, 1993 dagegen nur noch von 39 Prozent

Angesichts solcher Entwicklungen kann die fortschreitende Erosion des Gemeinsinns nicht verwundern, die -von engagierten Minderheiten einmal abgesehen -sich als eine schleichende Krise der politischen Teilnahme diagnostizieren läßt. Umfragen zeigen, daß gerade in den letzten Jahren immer weniger Bürger bereit sind, sich politisch zu engagieren bzw. ein politisches Amt, etwa auf der kommunalen Ebene, zu übernehmen Viel häufiger begegnet uns der Bürger als anspruchsberechtigter Interessent, der seine Individualrechte möglichst unverkürzt durchzusetzen gewillt ist, seine sozialen Ansprüche als Rechtsansprüche vor den

Gerichten einzuklagen sucht, weshalb sich der Rechtsstaat immer mehr zum Rechtswegestaat entwickelt hat. Was Helge Pross schon 1982 über die Bundesrepublik auf gesicherter empirischer Grundlage schrieb, nämlich daß in ihr übergreifende, „über die persönlichen Interessen und das private Glück hinausgreifende Ideen, Ideen der Selbstverleugnung zugunsten gemeinschaftlicher Belange, Ideen der Solidarität zu Lasten des eigenen Vorteils, Ideen des Verzichts für ein Kollektiv“ keine Heimat haben, dürfte heute in noch stärkerem Ausmaß zutreffen. Das Demokratieverständnis der Bundesbürger weist so eher instrumentell-konsumentenhafte Züge auf, zumal im fragmentierten Pluralismus der heutigen Gesellschaft die Politik immer weniger auf nichtkontroverse, allgemein „gültige“ moralische und kulturelle Ressourcen zurückgreifen kann, mit deren Hilfe man zumindest einen Großteil der Bürger auf ein übergreifendes normatives politisches Sinn-konzept verpflichten könnte

Auch der angesichts dieses Befundes neu beschworene Verfassungspatriotismus ist ein rein akademisches, von der Praxis weitgehend abgehobenes Konstrukt ohne emotionale Bodenhaftung in größeren Bevölkerungskreisen geblieben. Zudem ist er durch den Widerspruch von traditionaler und posttraditionaler Deutung auch unter seinen Protagonisten in hohem Maße strittig Im Hinblick auf die fortgeschrittenen soziokulturellen Heterogenisierungen in der wertedynamischen Postmoderne, in der die vorpolitischen normativen Quellen der politischen Kultur immer mehr zu versiegen drohen und in der die überforderte Politik immer angestrengter darauf verwiesen ist, die zentralen Werte und Regeln selbst ständig hervorzubringen und zu legitimieren, verflüchtigen sich auch die traditionellen Umrisse eines Leitbildes vom Bürger zunehmend im Dunst der Beliebigkeiten. So verfestigt sich der Eindruck, daß Demokratie in den Augen des Bürgers sich heute tendenziell vor allem über die Gewährung privat-individualistischer Freiheitsspielräume und Selbstentfaltungschancen und deren materielle Unter-polsterung durch ständig steigenden Wohlstand und sozialstaatliche Wohltaten zu legitimieren scheint.

Dieser Mangel an Gemeinsinn stellte solange kein Problem dar, als es geradezu naturgesetzlich sich einstellende Zuwächse zu verteilen galt. Dies hat sich einschneidend geändert, nachdem die Verteilungsspielräume enger geworden sind. Die Legitimität der Demokratie läuft nun Gefahr, in eine problematische Abhängigkeit vom Bruttosozialprodukt und den schwankenden Erfolgen der Arbeitsmarktpolitik zu geraten. Unbestreitbar erfordern auf vielen Feldern sowohl innen-wie außenpolitische Probleme und Zwänge künftig spürbare Einschränkungen. Zu erinnern ist an das Dauerproblem drohender Wirtschaftsrezession, die Folgelasten der deutschen Einheit, die Sanierung der Staatsfinanzen, die Leistungsüberforderung des Sozialstaates, wachsende Umweltkosten, die anschwellende Wanderungsdynamik aus wirtschaftlich unterentwickelten Regionen und den internationalen Verantwortungszuwachs des größer gewordenen Deutschland.

III. Bürgergesellschaft als pragmatisches Reformprojekt

Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es evident, daß die Bewältigung entsprechender Problemlagen ganz wesentlich davon abhängen wird, ob es gelingt, Bürgersinn als Bereitschaft zur Selbst-und Eigenverantwortung, als Handlungsund Einsatzbereitschaft auch für überindividuelle Interessen, als Sinn für soziale Verpflichtungen neu zu vitalisieren. In dieser herausfordernden Situation könnte die (wiederentdeckte) Formel von der Bürgergesellschaft, die sich seit geraumer Zeit quer durch alle Parteiungen einer symbol-trächtigen Hoffnung erfreut, als richtungsweisender Kompaß dienen. Allerdings ist auch sie nicht vor einseitigen Instrumentalisierungen gefeit, und zudem mangelt es ihren Konzeptualisierungen auch an begrifflicher Schärfe Versteht man das Konzept der Bürgergesellschaft aber als pragmatisch orientiertes Reformprojekt -jenseits von normativ überhöhten Bürgeridealen, plebiszitärer Romantik bzw. etatistischen oder gouvernementalen Feindbildern -, dann kann es sowohl zur Verringerung der Kluft zwischen Politik und Bürgern wie auch zur Neubelebung des Gemeinsinns hilfreich sein.

So verstanden meint Bürgergesellschaft vor allem eine Revitalisierung und Erweiterung des Bürger-dialogs, eine damit verknüpfte Ausweitung bürgerschaftlicher Einflußnahme im Prozeß der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung sowie das Bereitstellen von erweiterten Spielräumen für bürgerschaftliche Verantwortungsübernahme im vorpolitischen und im kommunalen Raum. Eine solche Deutung liegt zudem auf der Entwicklunglinie des aufgezeigten wertedynamischen Trends, sucht aber den Selbstbezug und gewachsene Entfaltungs-und Selbständigkeitsorientierungen stärker mit den übergreifenden Anliegen des Gemeinwesens zu verknüpfen und zu harmonisieren. Aus der Verschränkung von gemeinwohlförderlichen Elementen des Werte-wandels mit den Prämissen der Bürgergesellschaft könnten dann entsprechende Reformschritte abgeleitet werden, die sich in vier Richtungen hin konkretisieren lassen, wobei hier Andeutungen genügen müssen: 1. Struktureller Umbau des Sozialstaats Eine erste Voraussetzung bestünde zunächst in einer unvoreingenommenen Analyse des Zusammenhangs von Mentalitätsstruktur und Sozialpolitik. Folgt man der oben dargelegten Situationsbeschreibung, so resultiert daraus die Forderung nach einem fundamentalen Umbau des Sozialstaates, dessen mentalitätskorrumpierende Widersprüche und Konstruktionsfehler seit langem offensichtlich sind. Da hier eine geradezu kopernikanische Wende in unseren Denk-und Anspruchs-gewohnheiten gefordert ist, bedürften die Bürger dazu einer starken und überzeugenden Hilfe von außen. Dies impliziert Forderungen an die Politik, was aber bei den den politischen Prozeß maßgeblich bestimmenden Parteien und Politikern selbst einen radikalen Umdenkungsprozeß voraussetzt. Im Kampf um knapper werdende Wählerstimmem sind ja Parteien und Politik ebenfalls zu anpassungsopportunistischen Vermarktungseinrichtungen geworden, die im Bürger bislang vornehmlich den auf Ansprüche und schnelle Vorteile erpichten bourgeois angesprochen und damit das oben skizzierte defizitäre Wertemuster entscheidend gefördert haben. Dies gilt vor allem für die großen Volksparteien, die sich im Wettbewerb um die Gunst der zahlenmäßig expandierenden, ideologisch aber weitgehend ungebundenen und mobilen neuen Mittelschichten zunehmend selbst kommerzialisiert haben

Nachdem mit der allgemeinen Ressourcenverknappung die bisherige Geschäftsgrundlage solcher Kommerzialisierung entfallen ist, müssen die Parteien nun den Mut und die Konsequenz zu einer Politik der Einschränkungen aufbringen, dem Bürger neue -immaterielle -Prioritäten und Ziele setzen und so, jenseits von sozialen Wohltaten, öffentlichen Gütern und Dienstleistungen, in ihm künftig stärker den citoyen herausfordern. Dies erfordert unpopuläre Überzeugungsarbeit, eine Abkehr von der bisherigen Form der Gefälligkeitsdemokratie und konsequente politische Führungskraft, die die übergeordneten Gesamtinteressen auch gegen die mächtig organisierten und gegenläufig agierenden Partikularinteressen, die kompromißlos die Besitzstände ihrer Klientel verteidigen, zur Geltung zu bringen gewillt ist

Moralische Appelle allerdings laufen ins Leere und auch der Aufbau einer Bürokratie zur Mißbrauchsbekämpfung von Sozialleistungen kann hier wenig verändern. Gefordert ist vor allem ein struktureller Umbau des etablierten Sozialstaatsystems. Eine Vielzahl westeuropäischer Staaten -darunter auch das sozialstaatliche Musterland Schweden -hat bereits seit Jahren, ohne mit vereinigungsbedingten Finanzierungsproblemen konfrontiert zu sein, strukturelle Eingriffe auf der Basis marktwirtschaftlicher Impulse vorgenommen und diese mit radikalen staatlichen Sparprogrammen im Sozialbereich verknüpft

Auch in der Bundesrepublik wird eine fundamentale staatliche Aufgabenderegulierung in der Sozialpolitik nicht zu umgehen sein, auch wenn schon die Diskussion über Karenztage wegen der Pflegeversicherung oder eine Reduzierung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu einer lähmenden Blockade der Handlungsfähigkeit der Politik führt. Eine solche Deregulierung läge auch ganz auf der Trendlinie des Wertewandels, würde den überbetreuten Bürgern -die im konkreten Falle diesen Zusammenhang aber gerne verdrängen -doch ein Stück persönlicher Verantwortung und damit Selbständigkeit zur Bewältigung individueller Risikolagen, also zur eigenen Lebensgestaltung zurückgegeben und so die staatliche Bevormundung und Abhängigkeit in diesem Bereich reduziert Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips als Hilfe zur Selbsthilfe könnte auf diese Weise die sonst so oft geforderte autonome Selbstverantwortung für die eigene Lebensführung wieder individuell erfahrbarer machen und das Band zwischen Selbstentfaltungsstreben und Gemeinwohl wieder enger knüpfen helfen. Zur Realisierung einer derart veränderten Mentalität-verfassung -die auch für die Gemeinwohlziele Beitragsstabilität und Kostendämpfung unerläßlich ist -bedarf es jedoch analoger Strukturen und Weichenstellungen. Die Richtung andeutend seien hier exemplarisch erwähnt: eine einkommensabhängig gestaltete Selbstbeteiligung im Bereich der sozialen Sicherung und der Gesundheitsvorsorge, eine stärkere Verschränkung von Bedürftigkeit und Begünstigung durch einen deutlichen Vorteil der Erwerbstätigkeit gegenüber der Sozialhilfe (in der Praxis häufig kombiniert mit Schwarzarbeit) sowie eine weit stärkere Aufsplitterung in Grund-leistungen der Zwangsversicherung und darüber hinausgehende Wahlleistungen auf der Basis freiwilliger Versicherungsverhältnisse. Direkter Bürgereintluß im politischen Entscheidungsprozeß Ein zweites bürgergesellschaftliches Desiderat betrifft Forderungen nach mehr direkten Einflußmöglichkeiten auf den politischen Entscheidungsprozeß. Politik ist zwar, wie Meinungsumfragen immer wieder belegen, für die meisten Bürger nach wie vor eine absolute Nebensache, dennoch hat der Wunsch nach direkten Partizipationschancen kontinuierlich zugenommen. Zu erwägen ist deshalb zumindest eine wohldosierte Stärkung plebiszitärer Elemente. Volksentscheide auf Bundesebene oder die von mehr als drei Vierteln der Bevölkerung geforderte Direktwahl des Bundespräsidenten sind jedoch eher untaugliche Instrumente. Volksentscheide werden der zunehmenden Komplexität und Sachgesetzlichkeit der Politik nicht gerecht -man denke an so hochkomplexe Themen wie Gesundheitsreform, Pflegeversicherung oder Gentechnologie -, und ein Bundespräsident von Volkes Gnaden würde die Statik der gesamten Verfassungsarchitektur zum Kippen bringen. Zu denken wäre aber an eine Demokratisierung der Listenwahl bei Bundestagswahlen nach dem Modell Bayerns, das bei Landtagswahlen das Kumulieren und Panaschieren auf der Landesliste gestattet. Der Wähler, der an dieser Stelle durch das geltende Wahlrecht bevormundet wird, erhielte so weit mehr als bisher Einfluß auf die Kandidatenauswahl.

Ferner wäre auf der kommunalen Ebene an die keineswegs überall mögliche Direktwahl der Bürgermeister, an Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zu denken. Im übrigen bietet gerade die lokale Politikebene, die in allen Konzepten der Bürgergesellschaft als das zentrale Handlungsfeld für bürgerschaftliches Engagement figuriert, viele bislang ungenutzte Möglichkeiten, die Bürger direkt in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Stellvertretend sei hier hingewiesen auf sogenannte mediative Verfahren, wie sie in den USA häufig im Umweltbereich als enthierarchisierte und diskursiv-kooperative Konfliktlösungsstrategie praktiziert werden. Oder auf das in manchen deutschen Städten erfolgreich praktizierte „New Public Management“, in der die Bürger als Nutznießer kommunalpolitischer Dienstleistungen unmittelbar zur Evaluierungsinstanz und damit zum eigentlichen Steuerungssubjekt der Politik und der Verwaltung erhoben werden Insgesamt stehen solche Modelle wegweisend für eine größere Bürgernähe der Politik, für einen stärker deliberativ akzentuierten Politikstil wie auch für eine stärkere Einbindung der Bürger in die Verantwortung für Entscheidungen. 3. Bürgergesellschaft und Dialogkultur Diese Zusammenhänge enthalten den Hinweis, daß die Bürgergesellschaft als ein spezifisch kommunikativer Handlungszusammenhang im Bereich des Politischen auch eine entsprechende Kommunikations-und Dialogkultur voraussetzt. Die Darstellung und Vermittlung von Politik wie auch ihre Perzeption im öffentlichen Bewußtsein erweist sich jedoch als ausgesprochen defizitär. Als ein im wesentlichen von den Parteien gesteuertes Geschehen stellt sich der politische Entscheidungsprozeß in der Wahrnehmung der Bürger häufig als eine über ihre Köpfe hinweg ablaufende Folge von „konzertierten Aktionen“ dar, an denen Parteigremien. Interessenverbände, Expertengremien. Verwaltungsstäbe oder sonstige Gruppierungen beteiligt sind. Da dieser hochkomplexe Prozeß in der „Koordinationsdemokratie“ -in der zwischen staatlichen Institutionen und zahlreichen gesellschaftlichen Kräften in aufwendigen Verhandlungssystemen. in formellen und informellen Netzwerken allseits konsens-und implementationsfähige Lösungen angestrebt werden -für den Bürger undurchsichtig bleibt, entsteht bei ihm häufig der Eindruck, hier handle es sich um ein von den allmächtigen Parteien gelenktes Kulissengeschiebe. das ihn bewußt von der Politik fernzuhalten und zum Manipulationsobjekt oder doch zumindest zum einflußlosen Zuschauer zu degradieren suche 10 Verschärft wird diese Sichtweise zudem durch die massenmedialen Selbstdarstellungsrituale des professionellen Politikmanagements. Es sucht den mit der Komplexität der Politik gewachsenen Vermittlungsproblemen -die unter den Bedingungen des Fernsehens zusätzlich unter Druck geraten -durch die Flucht in die Personalisierung und die oberflächenhaft-symbolische Inszenierung von Politik als Show oder Unterhaltung zu entkommen. Symbolische Politik ist „in Wahrheit aber machtvolle Austreibung des Politischen“, „ein direkter Anschlag auf die Urteilskraft der Bürger“, der dem Verständigungshandeln der Bürgergesellschaft den Boden entzieht Daraus resultierende negative Wahrnehmungsmuster und Ohnmachtsgefühle, die auch durch den Immobilismus und eine sich allzu häufig einstellende Entscheidungsunfähigkeit der Politik verstärkt werden, schaukeln sich spiralförmig nach oben Politik in der Bürgergesellschaft, die wechselseitiges Verstehen und Verständnis, den Austausch von Argumenten zwischen politischen Verantwortungsträgern und Bürgern voraussetzt, muß sich daher auf allen Ebenen dialogisch stärker zu den Bürgern hin öffnen. Dies vermag einerseits die Responsivität politischer Entscheidungen zu verbessern, andererseits Komplexität, Vernetzungen und Sachaspekte des politischen Prozesses in -

gewiß sehr mühseliger -kommunikativer Vermittlungsarbeit einer kritischer gewordenen Öffentlichkeit transparenter zu machen. 4. Soziales Engagement und Aktivbürgerschaft Schließlich muß Politik neue Ideen und Strategien entwickeln, um im Sinne einer „aktiveren Demokratie“ die Bürger wieder vermehrt für die Aufgaben und Probleme des politischen Gemeinwesens zu sensibilisieren. In der griechischen Antike bezeichnete man Bürger, die sich freiwillig und selbstverantwortlich den öffentlichen Angelegenheiten widmeten, als polites, während diejenigen, die sich dagegen privatistisch abschotteten, als idiotes galten. Erst recht kann eine moderne Demokratie nur dann Bestand haben, wenn ausreichend Bürger bereit sind, einen Teil ihrer persönlichen Ressourcen und Kompetenzen für gemeinschaftliche Belange einzusetzen.

Diese Zusammenhänge mit aller Deutlichkeit wieder in Erinnerung gerufen zu haben, ist ein Verdienst des Kommunitarismus, der inzwischen auch in der Bundesrepublik intensiv rezipiert wird Im Mittelpunkt steht die Neuentdeckung des vorpolitischen und vorstaatlichen Raums, der Raum des Sozialen und der ihn konstituierenden lebensweltlichen Zusammenhänge, in denen „die Rückkehr zum Wir“ konkret erfahren werden kann In neu zu konstituierenden sozialen Netzwerken wird die Chance gesehen, die Bürger zu mehr Engagement, bürgerschaftlicher Eigenverantwortung und solidarischem Handeln, kurzum zu Gemeinsinn zu ermutigen und zu motivieren. Seine Quellen sind sowohl traditionelle lokale Teilöffentlichkeiten: Vereine, Kirchen oder Verbände wie auch vielfältige neue Formen lebensweltlich geprägter sozialer Selbstorganisation und Selbsthilfe in Nachbarschaft, Schule, Stadtteil oder Kommune.

Indem hier individuelle und gesellschaftliche Ressourcen aktiviert werden, kommt es zugleich zu einer „Durchdringung politischen und sozialen Handelns“, wird die Trennung von öffentlichen Angelegenheiten und sozialem Miteinander der Bürger im bürgerschaftlichen Handeln aufgehoben Das Soziale schlägt deshalb zum Nutzen der Demokratie über die lebensweltliche Problembe-wältigung eine Brücke zum Politischen hin, so daß homo socialis und homo politicus zur Einheit finden. Allerdings gilt es zu bedenken, daß sich bürgerschaftliches Engagement und Gemeinsinn in der Bürgergesellschaft nicht autoritativ verordnen lassen und daß über moralische und pflicht-ethische Appelle so gut wie nichts zu bewirken ist. Die insgesamt autozentrischer gewordenen Bürger -und hier vor allem die jüngeren unter ihnen -sind wohl nicht weniger bereit zum sozialen Engagement und zum solidarischen Helfen als vorherige Generationen; sie suchen jedoch, wählerischer geworden, verstärkt nach neuen Formen und Angeboten.

Gewünscht werden enthierarchisierte und selbst-organisierte Gruppen-und Arbeitsformen, die individuelle Gestaltungsfreiräume, Chancen für die Entfaltung von Kreativität sowie Möglichkeiten für informelle soziale Kontakte, für soziale Anerkennung und Gemeinschaftserlebnisse bereitstellen. Gleichzeitig wird bürgerschaftliches Engagement verstärkt auch mit Motivlagen des Eigeninteresses, des Selbstbezugs und der Erlebnisorientierung in Zusammenhang gebracht, was wiederum nicht vordergründig mit krudem Egoismus gleichzusetzen ist.

Politik, die den gewandelten Werteprofilen gerecht werden will und gleichzeitig deren innovatorische Potentiale zum Nutzen des Gemeinwesens mobilisieren möchte, muß deshalb künftig für entsprechende bürgerschaftliche Verantwortungsspielräume, die in unserer sozial extrem versäulten und professionalisierten Gesellschaft weitgehend rar geworden sind, die strukturellen Voraussetzungen schaffen. Um so etwas wie eine neue „soziale Ökologie“, einen „kooperativen Individualismus“ zu fördern, könnten dann zahlreiche Gemeinschaftsaufgaben und soziale Dienste, die seit längerem geradezu reflexartig an den Staat, die Verbände oder den Markt verwiesen werden, wieder an den Bürger zurückgegeben werden An entsprechenden Gemeindeaufgaben in der kommunalen Jugend-und Altenarbeit, in der Stadtgestaltung und im kulturellen Leben besteht kein Mangel. Solche Privatisierungsmaßnahmen könnten nicht nur dazu beitragen, die leeren Kassen der Gemeinden zu entlasten -sie könnten vor allem helfen, das Gefühl für überpersönliche Verpflichtungen und solidarisches Handeln neu zu wecken. Vor allem junge Menschen, die heute sozial oft unterfordert sind, brauchen entsprechende Verantwortungsrollen, um soziale Tugenden auch trainieren zu können. Dadurch könnten auch neue Zweck-und Gefühlsgemeinschaften entstehen, die die Distanz zwischen dem vereinzelten Individuum und dem anonymen Großgebilde Staat verringern sowie neue Zugehörigkeiten und Identitäten mit Bezug zum Gemeinwesen zu stiften vermögen

Staatlichen Institutionen und der Politik käme hier primär die Rolle des beratenden und unterstützenden Moderators zu, der zu entsprechenden Aktivitäten ermutigt, die notwendigen Angebotskonzepte entwickelt und die erforderliche Infrastruktur bereitstellt Das heißt aber auch, daß es nicht um die Einpassung von Subjekten in vorhandene Handlungsräume gehen darf, sondern daß mit den Bürgern entsprechende Ziele und Modalitäten frei zu vereinbaren und auszuhandeln sind. Von der Politik sind dabei weniger Geld und Sachleistungen gefordert als vielmehr Überzeugungsarbeit -bis hin zu Schulungskursen, um bei den Bürgern, bei denen laut Umfragen selbstorganisiertes Handeln durchaus hoch im Kurs steht, entsprechende soziale und administrative Kompetenzen zu fördern. Auf ihnen könnte dann eine die Belange des Gemeinwesens stärker berücksichtigende „Kultur der Selbständigkeit“ aufbauen, in der die individualen und sozialen Komponenten von Selbstentfaltung künftig stärker ins Gleichgewicht kommen, nachdem deren Zusammenhang in der Dynamik des Wertewandels und einer so nicht mehr leistbaren wohlfahrtstaatlichen Entwicklung weitgehend aus dem Blick geraten sind

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Joachim Fest, Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 30 ff.

  2. Vgl. Peter Glotz, Links und patriotisch, in: Die Zeit vom 19. Februar 1993, S. 10.

  3. Vgl. Thomas Darstädt/Gerhard Spörl, Streunende Hunde im Staat, Folge XI: Die liberale Demokratie am Wendepunkt, in: Der Spiegel, Nr. 13/1993, S. 150.

  4. Claus Leggewie, Plädoyer eines Antiautoritären für Autorität, in: Die Zeit vom 5. März 1993, S. 93.

  5. Zur Theorie des Wertewandels vgl. insbesonders Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a. M. -New York 1984; ders., Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich 1988. Zur politikwissenschaftlichen Dimension des Wertewandels vgl. Gerd Hepp, Wertewandel. Politikwissenschaftliche Grundfragen, München 1994.

  6. Vgl. H. Klages, Wertedynamik, ebd., S. 56 ff.; ferner ders., Häutungen der Demokratie, Zürich 1993, S. 49 ff.

  7. Dies zeigen Trendanalysen zwischen 1987 und 1993. Auf der anderen Seite befindet sich unter den 18-bis 30jährigen -anlog zur Gesamtbevölkerung -in den westlichen Bundesländern auch der soziale Wunschtypus des „Wertesynthetikers“ oder „aktiven Realisten“, der konventionelle und moderne Werte in optimaler Weise verbindet und zu Aktivität und sozialem Engagement bereit ist, seit Jahren gleichfalls im Aufwind. 1993 betrug der Anteil an „Hedomats“ in dieser Altersgruppe 31 Prozent, an „aktiven Realisten“ dagegen 34 Prozent. In der Gesamtbevölkerung lagen die entsprechenden Werte bei 17 Prozent („Hedomat“) bzw. bei 34 Prozent („aktiver Realist“). Vgl. hierzu Thomas Gensicke, Sozialer Wandel durch Modernisierung, Individualisierung und Wertewandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/96, S. 14. Zu den Typisierungen und deren Verbreitung vgl.den Beitrag von Olaf Winkel in diesem Heft. Zur Bedeutung der Wertewandelprofile in der politischen Bildung vgl. Gerd Hepp, Wertsynthese. Eine Antwort der politischen Bildung auf den Wertwandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46/89, S. 15-23.

  8. Vgl. Thomas Meyer, Die Transformation des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 85.

  9. Vgl. Erwin K. und Ute Scheuch, Das Ehrenamt gestern, heute und morgen. Die Entmachtung durch Professionelle, in: Das Parlament vom 17. Februar 1995, S. 1 und 2. Zur neuen „Selbsthilfebewegung“ vgl. Fritz Vilmar/Brigitte Runge, Auf dem Weg in die Selbsthilfegesellschaft?, Essen 1986.

  10. Vgl. Wilhelm Bürklin, Gesellschaftlicher Wandel, Wertewandel und politische Beteiligung, in: Karl Starzacher u. a. (Hrsg.), Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der Demokratie?, Köln 1992, S. 22.

  11. Einer Allensbacher Umfrage zufolge wurde das Gewaltmonopol des Staates bereits 1986 immerhin von 44 Prozent aller Bundesbürger über 16 Jahren, d. h. fast von jedem zweiten Befragten, abgelehnt. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher, Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie 1984-1992, Band 9, München u. a. 1993, S. 606.

  12. Vgl. H. Klages, Häutungen (Anm. 6), S. 76 ff.

  13. Ulrich Beck, Vom Verschwinden der Solidarität, in: Süddeutsche Zeitung vom 13. /14. Februar 1993, S. 15.

  14. Vgl. hierzu auch Helmut Klages, Wandlungen im Verhältnis der Bürger zum Staat, in: ders. (Hrsg.), Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelgesellschaft, Frankfurt a. M. -New York 1993, S. 86 ff.

  15. Vgl. Renate Köcher, Gerecht ist die Steuer, die andere trifft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Oktober 1993, S. 15.

  16. Vgl. Renate Köcher, Die Politik wird den Erwartungen der Bürger immer weniger gerecht, in: Das Parlament vom 7. Januar 1994, S. 3.

  17. Helge Pross, Was ist heute deutsch. Wertorientierung in der Bundesrepublik, Reinbek 1982, S. 135.

  18. Vgl. Helmut Dubiel, Ungewißheit und Politik, Frankfurt 1994, S. 106 ff., sowie Michael Th. Greven, Die Pluralisierung politischer Gesellschaften: Kann die Demokratie bestehen?, in: Demokratie in der Krise? Zukunft der Demokratie, Opladen 1995, S. 277.

  19. Gemeint ist die Kluft, die die universalistische, vom konkreten Staats-und Nationsbezug „gereinigte“ Interpretation des Verfassungspatriotismus von Jürgen Habermas von einer am Identitätskonzept der Nation und ethnisch-kulturellen Traditionszusammenhängen orientierten Sichtweise trennt, wie sie -in der Nachfolge von Dolf Sternberger -etwa Jürgen Gebhardt vertritt. Zur Begründung der unterschiedlichen Auffassungen vgl. Jürgen Gebhardt, Verfassungspatriotismus als Identitätskonzept der Nation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14/93 S. 36 f., sowie Jürgen Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Überlegungen zur europäischen Zukunft, St. Gallen 1991, S. 6 ff.

  20. Zur Diskussion um Begrifflichkeit und Konzeptualisierung der Bürgergesellschaft und den zumeist synonym gebrauchten Begriff der Zivilgesellschaft vgl. folgende einführende Übersichten: Gerd Hepp/Uwe Uffelmann, Einleitung, in: Gerd Hepp u. a. (Hrsg.), Die schwierigen Bürger, Bad Schwalbach 1994, S. 4 ff.; Ansgar Klein. Civil Society -Zwischenbilanz und Perspektiven einer Diskussion, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, (1994) 1: Zivilgesellschaft und Demokratie, S. 4 ff.; Jörg Ueltzhöffer/Carsten Aschberg, Engagement in der Bürgergesellschaft. Die Geislingen Studie, Stuttgart 1995, S. 9-28; Arpad Sölter, Zivilgesellschaft als demokratietheoretisches Konzept, in: Jahrbuch für Politik, (1993), S. 145-180.

  21. Vgl. Elmar Wiesendahl, Volksparteien im Abstieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 34-35/92, S. 10.

  22. Daß der Bürger hier nicht für rationale Argumente gewonnen werden könnte, wäre eine allzu skeptische Annahme. Der Anstoß zu einem solchen rationalen Dialog fiele allerdings in die Bringschuld der politischen Klasse, die hier auch ein Eigeninteresse hat. Lehren hierzu können aus dem folgenreichen Beispiel der sogenannten Steuerlüge gezogen werden. Vieles deutet nämlich darauf hin, daß die CDU bei der Bundestagswahl von 1990 ein besseres Wahlergebnis erzielt hätte, wenn sie zuvor an die Verantwortung der Bürger appelliert und die Notwendigkeit erhöhter Belastungen plausibel dargelegt hätte. Eine historisch günstige Situation, in der Verzichtsbereitschaft zugunsten des Aufbaus der neuen Länder und der Anstrengungen des Zusammenwachsens nach dem Gewinn der Freiheit für alle Deutschen erfolgreich hätte geweckt werden können, ist so durch eine die wahren Folgen der Vereinigung verschleiernde Beschwichtigungspolitik in zaghafter und unverantwortlicher Weise verspielt worden.

  23. In Schweden wurden massive Einschnitte in das soziale Netz sogar von einer großen, parteiübergreifenden Koalition ins Werk gesetzt. Vgl. hierzu Fredy Gsteiger, Im Volksheim wird es ungemütlich, in: Die Zeit vom 16. Oktober 1992, S. 11, der die Einzelmaßnahmen wie folgt beschreibt: „Renten werden gekürzt. Das Ruhestandsalter steigt auf 66 Jahre. Wer krank wird, bekommt am ersten Tag kein Gehalt, am zweiten 65 Prozent und am dritten 80 Prozent. Wohnungsbeihilfen fallen weg. Das lang versprochene Erziehungsgeld wird auf den Nimmerleins-Tag verschoben ... Vom Jahresurlaub werden zwei Tage abgeknapst. Und das bisher vom Staat getragene Renten-und Krankenversicherungssystem wird Schritt für Schritt privatisiert. Leistungskürzungen sind abzusehen.“

  24. Vgl. Christoph Böhr, Der schwierige Weg zur Freiheit. Europa an der Schwelle zu einer neuen Epoche, Bonn 1995, S. 126 f.; Wolf Rainer Wendt, Zivil sein und zivil handeln. Das Projekt der Bürgergesellschaft in: Blätter der Wohlfahrtspflege. Deutsche Zeitschrift für Sozialarbeit, (1993) 9, S. 261.

  25. Eine umfassende Aufarbeitung der Problematik mit zahlreichen Lösungsvorschlägen bietet Warnfried Dettling, Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft. Gütersloh 1995; vgl. ferner C. Böhr (Anm. 24), S. 62 ff. sowie S. 122 ff.

  26. Zum Thema der Enthierarchisierung kommunal-politischer Entscheidungsprozesse durch aktive Bürger-beteiligung vgl.den Übersichtsband von Horst Zilleßen/Peter Dienel/Wendelin Strubelt (Hrsg.), Die Modernisierung der Demokratie. Internationale Ansätze, Opladen 1993. Zur ersten Umsetzung von Mediationsverfahren in der Bundesrepublik vgl. Hans-Joachim Fietkau/Helmut Weidner. Mediationsverfahren in der Umweltpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 39-40/92. S. 24-34. Zu den Möglichkeiten des „New Public Management“ vgl. H. Klages, Häutungen (Anm. 6), S. 169 ff.

  27. Der zunehmend aufwendige Konsens-und Koordinationsbedarf der Politik, der zum Hindernislauf für die politische Führung wird und deren Handlungsfähigkeit stark einengt, geht auf stark veränderte strukturelle Rahmenbedingungen zurück, die als neuartige „checks and balances" den Regierungsprozeß determinieren. Neben den traditionellen institutionellen Barrieren durch Koalitionsrücksichten und Politikverflechtung im Föderalismus sind hier zu nennen: Die Expansion und Ausdifferenzierung der Politikfelder, die gewachsene Sensibilität für die Folgen und Nebenfolgen von Entscheidungen, die Zunahme der politischen Akteure durch die „partizipatorische Revolution“, die Auswirkung des Fernsehens auf die inhaltliche Zuspitzung, das Tempo und die Personalisierung von Entscheidungsprozessen, die zunehmende Politisierung der Gerichtsbarkeit, neu erwachte Regionalismen wie auch wachsende internationale und supranationale Verflechtungen. Vgl. hierzu im einzelnen Wolfgang Jäger, Wer regiert die Deutschen, Zürich 1994, S. 62 ff. und S. 185 ff.

  28. T. Meyer (Anm. 8), S. 143 und S. 137.

  29. Immobilismus und Entscheidungsunfähigkeit der Politik haben aber nicht nur mit den in Anm. 27 genannten strukturellen Faktoren, sondern auch mit der Tabuisierung bestimmter Themen in der Öffentlichkeit zu tun, die durch eine fragwürdige „Political Correctness" einem kollektiven Verdrängungsprozeß ausgesetzt sind. Zu erinnern ist z. B. an die jahrelange Verschleppung der Asylproblematik, die Belastung des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates durch ungebremste Zuwanderung, die Mißbrauchsbekämpfung bei Sozialleistungen wie auch der oben angemahnte, längst überfällige Umbau des Sozialstaates zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

  30. Vgl. unter anderem Otto Kalbscheuer, Gemeinsinn und Demokratisierung, in: Christel Zahlmann (Hrsg.), Kommunitarismus in der Diskussion, Berlin 1992, S. 109 ff.; einen pointierten Überblick über die politische Rezeption des Kommunitarismus in Deutschland bietet neuerdings Walter Reese-Schäfer, Die politische Rezeption des kommunitarischen Denkens in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/96, S. 3-10.

  31. Vgl. Amitai Etzioni, The Spirit of Community. Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda, New York 1993, S. 125.

  32. Vgl. W. R. Wendt (Anm. 24), S. 260; ferner W. Dettling (Anm. 25), S. 77, sowie ders., Sozialisiert den Wohlfahrtsstaat, in: Die Zeit vom 21. Juli 1995, S. 6.

  33. Dies heißt keineswegs, daß die Politik nun nur noch neue oder alternative Formen bürgerschaftlichen Engagements fördern sollte. Das traditionelle Ehrenamt in Vereinen, Verbänden oder kirchlichen Organisationen bedarf gleichermaßen einer deutlichen Aufwertung und Förderung, wobei auch hier über eine stärkere Akzentuierung von „kooperativen Selbstbezügen“ nachgedacht werden sollte. Unter anderem bedarf es neuer Prestige-und Statussymbole, daneben aber auch materieller Honorierungen in Form steuerlicher und finanzieller Begünstigungen wie auch eines wirksamen Schutzes vor der Macht der Professionalität, die sich zu einem mächtigen Feind des -ja oft ehrenamtlich tätigen -Gemeinsinns entwickelt hat.

  34. Vgl. hierzu Herbert Schneider, Gemeinsinn, Bürger-gesellschaft und Schule -ein Plädoyer für bürgerorintierte politische Bildung, in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.), Reicht der Beutelsbacher Konsens?, Schwalbach 1996, S. 207.

  35. So auch Michael Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 177.

  36. Sowohl die hohe Akzeptanz bürgerschaftlicher Selbst-organisation wie auch den ausgeprägten Wunsch nach Fortbildungsmaßnahmen durch öffentliche Stellen belegen empirisch eindrucksvoll J. Ueltzhöffer/C. Aschberg (Anm. 20), S. 58 und 120 ff.

Weitere Inhalte

Gerd Hepp, Dr. phil., geb. 1941; Professor für Politikwissenschaft und politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Wertwandel und politische Kultur. Eine politikwissenschaftliche Analyse in pädagogischer Absicht, in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, (1987) 2; Wertsynthese. Eine Antwort der politischen Bildung auf den Wertwandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46/89; Werte-wandel und Bürgerbewußtsein heute, in: (Hrsg. zus. mit Siegfried Schiele und Uwe Uffelmann) Die schwierigen Bürger, Schwalbach 1994; Wertewandel. Politikwissenschaftliche Grundfragen, München 1994; Der Einfluß des Wertewandels auf schulpolitische Innovationen, in: Zeitschrift für internationale erziehungs-und sozialwissenschaftliche Forschung, (1996) 2.