Über ein halbes Jahrzehnt ist es nun her, daß der Kommunismus in Osteuropa zusammengebrochen ist und sich gewissermaßen über Nacht, fast lautlos, von der politischen Bühne verabschiedet hat. Im Blick auf diese historische Zäsur von 1989 sprachen Beobachter damals wenn nicht vom Ende der Geschichte, so doch vom Ende der Ideologien und der großen Systemgegensätze. Zugleich schien das liberale System des Westens nach jahrzehntelanger Gegnerschaft als das überlegenere eine eindrucksvolle Bestätigung erfahren zu haben.
Doch schon bald meldeten sich auch selbstkritisch verunsicherte Stimmen. Sie fragten, ob der Westen mit dem Sozialismus nicht doch mehr verloren habe als nur einen Gegner. Waren durch die von ihm ausgehende Bedrohung nicht auch Bindungen und Zusammenhalt im Westen gefördert und so dessen innere Schwächen kaschiert worden? Der Konsens der liberalen Demokratie, so wurde argumentiert, habe sich durch Kontrast ergeben und die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes habe im Westen ein ideologisches Vakuum hinterlassen.
Von Triumphgebärde also keine Spur, vielmehr scheint sich im Westen zunehmend Katzenjammer breit zu machen. Besorgt fragte z. B. Joachim Fest in einem Ende 1993 erschienenen Essay „Über die schwierige Freiheit“, ob dem Zerfall des Gegners nun der eigene folgen werde. Fest nannte einen ganzen Katalog von Schwachpunkten: die Ermüdung der Institutionen, ausufernden Privatismus und Individualismus, einen Mangel an übergeordneten Gesichtpunkten und Verantwortungen sowie an Lebenssinn, motivierenden Zukunftsbildern und haltgebenden Zugehörigkeiten; ferner die um sich greifende postmoderne Beliebigkeit, in der alle moralischen Horizonte offen sind, wo „alles geht“ und nichts wirklich wichtig ist, in der die Laune über die Norm triumphiert und das Vermächtnis mühsam erworbener Prinzipien und Freiheiten dahinzuschmelzen droht
Doch die gegenwärtige, von wertkritischen Selbst-zweifeln geplagte innere Nabelschau ist nicht länger nur ein Steckenpferd wertkonservativer Intellektueller. Höchst auffällig ist, daß gegenwärtig sowohl professionelle Liberale wie auch das linke Establishment ungewohnt wertkonservative Töne anschlagen. Peter Glotz z. B. schrieb Anfang 1993 in einer „Zeit“ -Serie über Patriotismus, daß auf Dauer selbst ein gut funktionierendes Netz von Waren und Dienstleistungen allein eine Gesellschaft nicht zusammenhalte, daß vielmehr Verfassungspatriotismus, Gemeinsinn und Solidarität das Gebot der Stunde seien Ihm sekundierte bald darauf der „Spiegel“, der in einer Serie mit dem Titel „Die liberale Demokratie am Wendepunkt“ eine extreme Zersplitterung der Gesellschaft in streitende egoistische Gruppen und Interessenverbände beklagte und demgegenüber die Parole ausgab, Gemeinwohl sei das Stichwort zur Umkehr Und erwähnt sei schließlich auch das „Plädoyer eines Antiautoritären für Autorität“, nämlich Claus Leggewies, eines ehemaligen 68ers, der geschockt durch die abnehmenden Hemmschwellen bei Gewalt und Vandalismus vor allem junger Menschen nach Erklärungen suchte. „Ohne moralische Fundamente, ohne staatsbürgerliche Tugend“, so sein Fazit, „muß die Politik kaputtgehen. Auctoritas ist ein Akt der (dauernden) Gründung des Gemeinwesens. Wo so wenig Gründung ist wie hierzulande, wächst die Gewalt.“
I. Merkmale und Ambivalenzen des Wertewandels
Die hier nur stichwortartig angeführten Zeitdiagnosen verweisen auf eine tiefgreifende Sinn-und Orientierungskrise, die mehr oder minder alle westlichen Demokratien erfaßt hat. Zugleich rückt die nach 1989 fieberhaft einsetzende Suche nach moralisch-kultureller Selbstvergewisserung verstärkt ins öffentliche Bewußtsein, daß in allen westlichen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten ein geradezu epochaler Wertewandelstattgefunden hat. Seine Turbulenzen werden in der Bundesrepublik aufgrund historisch bedingter größerer. Wertdiskontinuitäten vermutlich stärker erfahren als anderswo. Auslösende Faktoren waren die technologische Modernisierung, die Bildungsrevolution, die sozial-und wohlfahrtsstaatliche Entwicklung sowie der wachsende Einfluß der Massenmedien.
Der Kern dieses Wertewandels läßt sich vor allem als Gewichtsverlagerung beschreiben: Pflicht-und Akzeptanzwerte sind deutlich geschrumpft, während Selbstentfaltungswerte kräftig expandierten Oder anders ausgedrückt: Es hat ein Wandel von einem nomozentrischen zu einem autozentrischen Selbst-und Weltverständnis stattgefunden, in dem das originäre Selbst, die eigenen Lebensinteressen zur Leitinstanz des Denkens und Fühlens aufrücken. Entsprechend ist eine starke Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile, ein allgemeiner Entnormativierungs-und Subjektivierungstrend wie auch eine allgemeine Zunahme instrumenteller Einstellungen zu beobachten. Gleichzeitig gehen mit dem gewachsenen Selbstentfaltungsstreben sowohl vermehrte Anspruchs-haltungen wie auch verminderte Zufriedenheitsdispositionen einher. Grundsätzlich entsteht eine größere Empfindlichkeit gegenüber faktischen oder vermuteten Widerständen, Einschränkungen und Selbständigkeitsgefährdungen aus dem Raum der gesellschaftlichen Umwelt. Autoritativen Außenanforderungen, hierarchisch geordneten Sozialzusammenhängen, regulativen Normen wie auch den Identifikations-und Akzeptanzwünschen aus der Organisations-und Institutionenwelt steht man mit gewachsener Distanz kritisch gegenüber.
Dies heißt aber nicht, daß die Übernahme von Pflichten und Verantwortung, die Akzeptanz vorgegebener Zielsetzungen, die Hinnahme-, Bin-dungs-und Folgebereitschaft in großem Stil nun verweigert wird. Neu ist, daß dies nun alles weit stärker in Abhängigkeit von individual-personalen Voraussetzungen gewährt wird. Die persönliche Motivation, selber gewonnene Einsichten und Überzeugungen, individuelle Nutzwertkalküle bzw. die autonome Entscheidungsfindung werden nun ausschlaggebend
Naturgemäß sind solche Entwicklungen selbst wieder Gegenstand von Bewertungen. Man hüte sich hier allerdings vor einem pauschalen Kulturpessimismus in Schwarz-Weiß-Manier. Wertewandel ist nicht einfach gleichzusetzen mit Wertezerfall. Das Bild ist eher durch zwiespältige Ambivalenzen, durch die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Widersprüchen geprägt. Festzustellen sind, wie einleitend ausgeführt, in unserer Gesellschaft problemerzeugende Entnormativierungs-und Entsolidarisierungstendenzen, deutliche Symptome eines ausufernden Egoismus und Individualismus, eine sich ausbreitende Ellenbogenmentalität. Im Hinblick auf künftige Trends stimmt es so durchaus auch beunruhigend, daß nach dem „Speyerer Typenschema für Wertetypen“ unter den 18-bis 30jährigen der „Hedomat“, der typische Vertreter der Ego-Gesellschaft, der sich weitgehend auf die materialistische und hedonistische Bedürfnismaximierung konzentriert, nicht nur deutlich überrepräsentiert ist, sondern auch eine signifikant steigende Tendenz aufweist
Dennoch darf man nicht verkennen, daß der Wertewandel neben solch spezifisch ausgeprägten Werteverlusten auch ausgeprägte Chancenpotentiale enthält. So ist die Gesellschaft insgesamt offener, unverkrampfter und toleranter geworden, ist der Respekt vor der persönlichen Individualität des anderen ebenso gewachsen wie das Ausmaß an kritisch-rationaler Kommunikation. Auch wäre es absurd zu sagen, die gesamte Gesellschaft sei einer hemmungslosen Egomanie verfallen. Individualismus als sozialer Begriff und Egoismus -oder auch Politikverdrossenheit -als moralische Kategorien müssen auseinandergehalten werden Noch immer gibt es in der Bevölkerung ein starkes Potential an sozialer Hilfsbereitschaft, übt jeder sechste Bürger in irgendeiner Form ein Ehrenamt aus, wenngleich der Trend beim Ehrenamt gerade bei jüngeren Jahrgängen nach unten zeigt. Dafür gibt es wiederum aber auch eine fast schon rasant gewachsene Bereitschaft zu sozialer Selbstorganisation in Form von inzwischen 67 500 Selbsthilfe-gruppen mit 2, 6 Millionen Mitgliedern, die vor allem junge Menschen ansprechen 1’. Sie sind Ausdruck neugewonnener Subsidiarität, die nicht nur die öffentliche Hand entlastet, sondern auch eine neue Form der Bürgerbeteiligung, in der mitbürgerliche Verantwortung bei gleichzeitiger Verfolgung legitimer Eigeninteressen eingeübt werden kann.
II. Wertewandel und demokratische Kultur
Es ist evident, daß die dargelegten Ambivalenzen auch das Verhältnis des Bürgers zum politischen Gemeinwesen nachhaltig prägen. Auch hier muß man sich vor kulturkritischen Verkürzungen hüten, verdankt doch die demokratische Kultur gerade dem Wertewandel einen Gutteil an substantiellen Fortschritten. Er war Motor der partizipatorischen Revolution und steht für den seit Mitte der sechziger Jahre einsetzenden Modernisierungs-und Demokratisierungsschub der Gesellschaft. So war er Voraussetzung dafür, daß die Bürger der Bundesrepublik den alten Obrigkeitsstaat mit seiner Überbetonung von kollektiven Pflicht-und Ordnungswerten mittlerweile weit hinter sich gelassen haben. Individuelle Mit-und Selbstbestimmung, pluralistische Meinungsvielfalt, der geregelte politische Konfliktaustrag, eine streitbare politische Opposition sind erst durch den Wertewandel auch in der Bundesrepublik zu demokratischen Selbstverständlichkeiten herangereift. Aus dem hierarchiefixierten Staatsbürger von einst sind mündige und selbstbewußte Bürger geworden. Bilanziert man die letzten Jahrzehnte, so ist das Ergebnis eindeutig: Die Bundesrepublik hat längst den Anschluß an westliche Demokratie-standards geschafft, ja sie gilt im internationalen Vergleich sogar als Hort demokratischer Stabilität.
Doch der Wandel von der spezifisch deutschen Staatsbürgerkultur zu einer aufgeklärten demokratischen Bürgerkultur ist nur die eine Seite der Medaille des Wertewandels. Schattenseiten werden dort sichtbar, wo -gewissermaßen gegenläufig -wichtige Balancen aus dem Lot geraten, die für die Stabilität und Stärke der Demokratie konstitutiv sind. Mehr als jede andere Staatsform bedarf vor allem die Demokratie der Balance von Vertrauen und Mißtrauen, von Akzeptanz und Protesthaltung, von individuellem Nutzenkalkül und Gemeinsinn, von Eigenverantwortung und kollektiver Verantwortung. Wo immer das Pendel nur in die eine Richtung ausschlägt, geht dies zu Lasten demokratischer Qualität.
Natürlich befinden wir uns heute nicht in einer extremen Situation. Aber die Gewichte haben sich doch zumindest in Teilen verschoben. Im Hinblick auf die gegenwärtige Befindlichkeit des Bürgerbewußtseins drängt sich daher als Fazit auf: Die auto-zentrischer gewordenen Bürger stehen gerade in jüngerer Zeit der Politik und den staatlichen Institutionen hochgradig unzufriedener, mißtrauischer, abstandsbetonter und protestbereiter gegenüber und lassen sich im Umgang mit dem Politischen primär von individuellen Nutzenkalkülen und deutlich weniger von traditionellen Formen des Gemeinsinns und kollektiver Verantwortungsübernahme leiten. 1. Wertewandel und politische Partizipation Diese These vom Verlust traditioneller Akzeptanz-bereitschaften und entsprechend ausgeformten Gemeinsinnorientierungen soll im folgenden an zwei Politikbereichen exemplarisch verdeutlicht werden. Zunächst sind mit der Zunahme von Selbstentfaltungsorientierungen Veränderungen im Partizipationsverhalten der Bürger zu beobachten. Schon die bisweilen überstrapazierte Formel von der Politikverdrossenheit deutet ja an, daß hier einiges aus den Fugen geraten ist. Symptomatisch für wertewandelbedingte Veränderungen haben sich vor allem die konventionellen Beteiligungsformen, zu denen vor allem die Beteiligung an Wahlen und die Mitwirkung in Parteien und Verbänden gehören, seit geraumer Zeit rückläufig entwickelt. Das Wählerverhalten hat sich enorm flexibilisiert, die Wähler sind -wie die überwiegend positiv zu bewertende Zunahme der Wechselwähler signalisiert -um vieles „wählerischer“ geworden. Zum Problem geworden sind hier allerdings die Denkzettel-, Protest-und Nichtwähler, die stärker als früher das Bild der Wahlen auf allen Ebenen prägen. Auch das Engagement in Parteien und Verbänden hat spätestens seit Mitte der acht-ziger Jahre deutlich nachgelassen. In beiden Bereichen wird über drastische Mitgliederverluste, Nachwuchsmangel und allgemein sinkende Bin-dungs-und Identifikationsbereitschaft geklagt.
Dazu gegenläufig befinden sich die sogenannten nichtkonventionellen politischen Beteiligungsformen seit längerem in einem beachtlichen Aufwärtstrend Vor allem jüngere Bürger präfererieren zunehmend nicht das Dauerengagement in Parteien, sondern ein politisches Handeln, das möglichst institutionenungebunden, von subjektiven Betroffenheitserwägungen geleitet, den kurzfristigen und raschen Erfolg im Visier hat. Leserbriefe, Unterschriftensammlungen, Mitwirkung in einer Bürgerinitiative, Teilnahme an Protestdemonstrationen sind Ausdruck zunehmender Konventionalisierung nichtkonventioneller Partizipationsweisen. Diese werden von dem Wunsch diktiert, rasch gehört zu werden und medial inszenierten Druck auf die Öffentlichkeit und die staatlichen Institutionen auszuüben. Entsprechende Aktionen dienen durchaus -jedoch keineswegs immer -dazu, von der Politik vernachlässigte Probleme zu thematisieren, öffentliche Mißstände aufzudecken oder gemeinwohlorientierte Bürgerprojekte auf den Weg zu bringen.
Zu deren Kehrseite gehört, daß lautstarke Protest-politik vor allem im kommunalpolitischen Bereich auch immer wieder zu einer Blockade des politischen Prozesses führt und es immer schwieriger wird, größere Projekte, die aus Gründen des Allgemeininteresses dringend geboten sind -z. B.der Bau einer Umgehungsstraße oder einer Müllverbrennungsanlage -gegen „basisdemokratische“ Proteste durchzusetzen. Das Recht der Betroffenen ist . hier mittlerweile zu einem mächtigen, objektive Sachzwänge und Mehrheitsentscheidungen überlagernden Prinzip geworden. Hinzu kommt, daß politische Forderungen gerade im Umfeld der sogenannten Bewegungsdemokratie mitunter auch mit gesinnungsethischem Moralismus befrachtet werden, der Kompromisse verhindert und den politischen Entscheidungsprozeß lähmt. Weit häufiger als früher werden hier auch die Grenzen zur Illegalität überschritten: Gebäude-und Platzbesetzungen, Verkehrsblockaden sind in diesem Umfeld geradezu zu etwas Alltäglichem geworden. Auch in der Gesamtbevölkerung hat in diesem Sog die Toleranz gegenüber außerstaatlicher Gewaltanwendung zur Durchset-zung politischer Interessen unter bestimmten Voraussetzungen signifikant zugenommen 2. Mentalitätsentwicklungen im sozialen Wohlfahrtsstaat In welchem Ausmaß sich die Balance zwischen Gemeinwohlorientierung und Individualinteresse verschoben hat, zeigt noch krasser ein Blick auf die Mentalitätsentwicklung unter den Bedingungen des expandierenden Wohlfahrtsstaates. Auch hier sind Ambivalenzen auszumachen: Einerseits hat der erfolgreiche Ausbau des Sozialstaates, der die Daseins-und Lebensrisiken der Menschen deutlich entschärfte, auch wesentlich zur Ausbildung politischer Legitimität und zur kontinuierlichen Konsolidierung der Demokratie in breiten Bevölkerungsschichten beigetragen. Andererseits hat man mit Recht immer wieder von einer Sinnverkehrung des Sozialstaats gesprochen, der über die Förderung einer Vollkaskomentalität parallel auch den Gemeinsinn ausgehöhlt hat. Je perfekter der Sozialstaat nämlich die Daseinsvorsorge organisierte, desto mehr trieb er auch die Anspruchsinflation voran und förderte so beim Bürger die Neigung, das Glas stets eher halb leer als halb voll zu sehen. Über die spiralförmig sich hochschaukelnde Bedürfnisdynamik geriet der Staat so in eine Bedürfnis-oder Anspruchsfalle hinein, so daß trotz steigender Leistungen seitens der Politik Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit sich gerade auch in sozioökonomisch eher privilegierten Schichten immer mehr ausbreiten konnten Indem anspruchs-und unzufriedenheitsbegrenzende Persönlichkeitswerte sich abschwächten, wurde gleichzeitig auch die Kultur der Eigenverantwortung und des Helfens an der Wurzel ausgetrocknet. „Der Sozialstaat“, so kann man mit Ulrich Beck folgern, „ist eine Versuchsanordnung zur Konditionierung ich-bezogener Lebensweisen“ Für die Bewältigung der Daseinsrisiken ist man ja nicht selbst, sind nicht länger Freunde, Nachbarn oder Verwandte zuständig, sondern das anonyme Kollektiv einer Sozialstaatsbürokratie, dem alle persönlichen Verpflichtungen überantwortet werden. So hat sich immer mehr eine parasitäre Kon-sumentenmentalität ausgebreitet, die im Staat nur noch ein Dienstleistungsunternehmen sieht, eine Art säkularisierten Heilsbringer für materielle Glücksbedürfnisse, aus dem man unter kleinstmöglichem persönlichen Einsatz ein Maximum an Profit herausschlagen will
In großen Teilen der Bevölkerung scheint so der egozentrische, die Bürgerpflichten und das Gemeinwohl ignorierende Sozialstaatsbürger, der Bourgeois, zur gesellschaftlichen Normalfigur geworden zu sein. Auf prompte Bedienung und Bereicherung eingestellt, sieht er die Politik primär durch die Brille des Warenhauskunden, der, eifersüchtig auf Besitzstandswahrung bedacht, ständig befürchtet, um den Gegenwert eigener Sozialbeiträge zugunsten skrupelloserer oder politisch begünstigterer Bevölkerungsgruppen geprellt zu werden. Verstärkt durch die fehlende Transparenz und Übersichtlichkeit eines hochkomplexen Steuer-und Sozialversicherungssystems ist daher heute ein sozialausbeuterisches Mitnahmeverhalten quasi zur Alltagsnorm geworden. Die Schattenwirtschaft ist eine blühende Branche, die vorteilsmäßige Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder die Ergatterung von ungerechtfertigter Sozialhilfe oder von Arbeitslosengeld gelten geradezu als normal. Symptomatisch in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung der Einstellung zur Steuerhinterziehung. Zu Beginn der achtziger Jahre wurde sie noch von 52 Prozent der Befragten mißbilligt, 1993 dagegen nur noch von 39 Prozent
Angesichts solcher Entwicklungen kann die fortschreitende Erosion des Gemeinsinns nicht verwundern, die -von engagierten Minderheiten einmal abgesehen -sich als eine schleichende Krise der politischen Teilnahme diagnostizieren läßt. Umfragen zeigen, daß gerade in den letzten Jahren immer weniger Bürger bereit sind, sich politisch zu engagieren bzw. ein politisches Amt, etwa auf der kommunalen Ebene, zu übernehmen Viel häufiger begegnet uns der Bürger als anspruchsberechtigter Interessent, der seine Individualrechte möglichst unverkürzt durchzusetzen gewillt ist, seine sozialen Ansprüche als Rechtsansprüche vor den
Gerichten einzuklagen sucht, weshalb sich der Rechtsstaat immer mehr zum Rechtswegestaat entwickelt hat. Was Helge Pross schon 1982 über die Bundesrepublik auf gesicherter empirischer Grundlage schrieb, nämlich daß in ihr übergreifende, „über die persönlichen Interessen und das private Glück hinausgreifende Ideen, Ideen der Selbstverleugnung zugunsten gemeinschaftlicher Belange, Ideen der Solidarität zu Lasten des eigenen Vorteils, Ideen des Verzichts für ein Kollektiv“ keine Heimat haben, dürfte heute in noch stärkerem Ausmaß zutreffen. Das Demokratieverständnis der Bundesbürger weist so eher instrumentell-konsumentenhafte Züge auf, zumal im fragmentierten Pluralismus der heutigen Gesellschaft die Politik immer weniger auf nichtkontroverse, allgemein „gültige“ moralische und kulturelle Ressourcen zurückgreifen kann, mit deren Hilfe man zumindest einen Großteil der Bürger auf ein übergreifendes normatives politisches Sinn-konzept verpflichten könnte
Auch der angesichts dieses Befundes neu beschworene Verfassungspatriotismus ist ein rein akademisches, von der Praxis weitgehend abgehobenes Konstrukt ohne emotionale Bodenhaftung in größeren Bevölkerungskreisen geblieben. Zudem ist er durch den Widerspruch von traditionaler und posttraditionaler Deutung auch unter seinen Protagonisten in hohem Maße strittig Im Hinblick auf die fortgeschrittenen soziokulturellen Heterogenisierungen in der wertedynamischen Postmoderne, in der die vorpolitischen normativen Quellen der politischen Kultur immer mehr zu versiegen drohen und in der die überforderte Politik immer angestrengter darauf verwiesen ist, die zentralen Werte und Regeln selbst ständig hervorzubringen und zu legitimieren, verflüchtigen sich auch die traditionellen Umrisse eines Leitbildes vom Bürger zunehmend im Dunst der Beliebigkeiten. So verfestigt sich der Eindruck, daß Demokratie in den Augen des Bürgers sich heute tendenziell vor allem über die Gewährung privat-individualistischer Freiheitsspielräume und Selbstentfaltungschancen und deren materielle Unter-polsterung durch ständig steigenden Wohlstand und sozialstaatliche Wohltaten zu legitimieren scheint.
Dieser Mangel an Gemeinsinn stellte solange kein Problem dar, als es geradezu naturgesetzlich sich einstellende Zuwächse zu verteilen galt. Dies hat sich einschneidend geändert, nachdem die Verteilungsspielräume enger geworden sind. Die Legitimität der Demokratie läuft nun Gefahr, in eine problematische Abhängigkeit vom Bruttosozialprodukt und den schwankenden Erfolgen der Arbeitsmarktpolitik zu geraten. Unbestreitbar erfordern auf vielen Feldern sowohl innen-wie außenpolitische Probleme und Zwänge künftig spürbare Einschränkungen. Zu erinnern ist an das Dauerproblem drohender Wirtschaftsrezession, die Folgelasten der deutschen Einheit, die Sanierung der Staatsfinanzen, die Leistungsüberforderung des Sozialstaates, wachsende Umweltkosten, die anschwellende Wanderungsdynamik aus wirtschaftlich unterentwickelten Regionen und den internationalen Verantwortungszuwachs des größer gewordenen Deutschland.
III. Bürgergesellschaft als pragmatisches Reformprojekt
Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es evident, daß die Bewältigung entsprechender Problemlagen ganz wesentlich davon abhängen wird, ob es gelingt, Bürgersinn als Bereitschaft zur Selbst-und Eigenverantwortung, als Handlungsund Einsatzbereitschaft auch für überindividuelle Interessen, als Sinn für soziale Verpflichtungen neu zu vitalisieren. In dieser herausfordernden Situation könnte die (wiederentdeckte) Formel von der Bürgergesellschaft, die sich seit geraumer Zeit quer durch alle Parteiungen einer symbol-trächtigen Hoffnung erfreut, als richtungsweisender Kompaß dienen. Allerdings ist auch sie nicht vor einseitigen Instrumentalisierungen gefeit, und zudem mangelt es ihren Konzeptualisierungen auch an begrifflicher Schärfe Versteht man das Konzept der Bürgergesellschaft aber als pragmatisch orientiertes Reformprojekt -jenseits von normativ überhöhten Bürgeridealen, plebiszitärer Romantik bzw. etatistischen oder gouvernementalen Feindbildern -, dann kann es sowohl zur Verringerung der Kluft zwischen Politik und Bürgern wie auch zur Neubelebung des Gemeinsinns hilfreich sein.
So verstanden meint Bürgergesellschaft vor allem eine Revitalisierung und Erweiterung des Bürger-dialogs, eine damit verknüpfte Ausweitung bürgerschaftlicher Einflußnahme im Prozeß der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung sowie das Bereitstellen von erweiterten Spielräumen für bürgerschaftliche Verantwortungsübernahme im vorpolitischen und im kommunalen Raum. Eine solche Deutung liegt zudem auf der Entwicklunglinie des aufgezeigten wertedynamischen Trends, sucht aber den Selbstbezug und gewachsene Entfaltungs-und Selbständigkeitsorientierungen stärker mit den übergreifenden Anliegen des Gemeinwesens zu verknüpfen und zu harmonisieren. Aus der Verschränkung von gemeinwohlförderlichen Elementen des Werte-wandels mit den Prämissen der Bürgergesellschaft könnten dann entsprechende Reformschritte abgeleitet werden, die sich in vier Richtungen hin konkretisieren lassen, wobei hier Andeutungen genügen müssen: 1. Struktureller Umbau des Sozialstaats Eine erste Voraussetzung bestünde zunächst in einer unvoreingenommenen Analyse des Zusammenhangs von Mentalitätsstruktur und Sozialpolitik. Folgt man der oben dargelegten Situationsbeschreibung, so resultiert daraus die Forderung nach einem fundamentalen Umbau des Sozialstaates, dessen mentalitätskorrumpierende Widersprüche und Konstruktionsfehler seit langem offensichtlich sind. Da hier eine geradezu kopernikanische Wende in unseren Denk-und Anspruchs-gewohnheiten gefordert ist, bedürften die Bürger dazu einer starken und überzeugenden Hilfe von außen. Dies impliziert Forderungen an die Politik, was aber bei den den politischen Prozeß maßgeblich bestimmenden Parteien und Politikern selbst einen radikalen Umdenkungsprozeß voraussetzt. Im Kampf um knapper werdende Wählerstimmem sind ja Parteien und Politik ebenfalls zu anpassungsopportunistischen Vermarktungseinrichtungen geworden, die im Bürger bislang vornehmlich den auf Ansprüche und schnelle Vorteile erpichten bourgeois angesprochen und damit das oben skizzierte defizitäre Wertemuster entscheidend gefördert haben. Dies gilt vor allem für die großen Volksparteien, die sich im Wettbewerb um die Gunst der zahlenmäßig expandierenden, ideologisch aber weitgehend ungebundenen und mobilen neuen Mittelschichten zunehmend selbst kommerzialisiert haben
Nachdem mit der allgemeinen Ressourcenverknappung die bisherige Geschäftsgrundlage solcher Kommerzialisierung entfallen ist, müssen die Parteien nun den Mut und die Konsequenz zu einer Politik der Einschränkungen aufbringen, dem Bürger neue -immaterielle -Prioritäten und Ziele setzen und so, jenseits von sozialen Wohltaten, öffentlichen Gütern und Dienstleistungen, in ihm künftig stärker den citoyen herausfordern. Dies erfordert unpopuläre Überzeugungsarbeit, eine Abkehr von der bisherigen Form der Gefälligkeitsdemokratie und konsequente politische Führungskraft, die die übergeordneten Gesamtinteressen auch gegen die mächtig organisierten und gegenläufig agierenden Partikularinteressen, die kompromißlos die Besitzstände ihrer Klientel verteidigen, zur Geltung zu bringen gewillt ist
Moralische Appelle allerdings laufen ins Leere und auch der Aufbau einer Bürokratie zur Mißbrauchsbekämpfung von Sozialleistungen kann hier wenig verändern. Gefordert ist vor allem ein struktureller Umbau des etablierten Sozialstaatsystems. Eine Vielzahl westeuropäischer Staaten -darunter auch das sozialstaatliche Musterland Schweden -hat bereits seit Jahren, ohne mit vereinigungsbedingten Finanzierungsproblemen konfrontiert zu sein, strukturelle Eingriffe auf der Basis marktwirtschaftlicher Impulse vorgenommen und diese mit radikalen staatlichen Sparprogrammen im Sozialbereich verknüpft
Auch in der Bundesrepublik wird eine fundamentale staatliche Aufgabenderegulierung in der Sozialpolitik nicht zu umgehen sein, auch wenn schon die Diskussion über Karenztage wegen der Pflegeversicherung oder eine Reduzierung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu einer lähmenden Blockade der Handlungsfähigkeit der Politik führt. Eine solche Deregulierung läge auch ganz auf der Trendlinie des Wertewandels, würde den überbetreuten Bürgern -die im konkreten Falle diesen Zusammenhang aber gerne verdrängen -doch ein Stück persönlicher Verantwortung und damit Selbständigkeit zur Bewältigung individueller Risikolagen, also zur eigenen Lebensgestaltung zurückgegeben und so die staatliche Bevormundung und Abhängigkeit in diesem Bereich reduziert Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips als Hilfe zur Selbsthilfe könnte auf diese Weise die sonst so oft geforderte autonome Selbstverantwortung für die eigene Lebensführung wieder individuell erfahrbarer machen und das Band zwischen Selbstentfaltungsstreben und Gemeinwohl wieder enger knüpfen helfen. Zur Realisierung einer derart veränderten Mentalität-verfassung -die auch für die Gemeinwohlziele Beitragsstabilität und Kostendämpfung unerläßlich ist -bedarf es jedoch analoger Strukturen und Weichenstellungen. Die Richtung andeutend seien hier exemplarisch erwähnt: eine einkommensabhängig gestaltete Selbstbeteiligung im Bereich der sozialen Sicherung und der Gesundheitsvorsorge, eine stärkere Verschränkung von Bedürftigkeit und Begünstigung durch einen deutlichen Vorteil der Erwerbstätigkeit gegenüber der Sozialhilfe (in der Praxis häufig kombiniert mit Schwarzarbeit) sowie eine weit stärkere Aufsplitterung in Grund-leistungen der Zwangsversicherung und darüber hinausgehende Wahlleistungen auf der Basis freiwilliger Versicherungsverhältnisse. Direkter Bürgereintluß im politischen Entscheidungsprozeß Ein zweites bürgergesellschaftliches Desiderat betrifft Forderungen nach mehr direkten Einflußmöglichkeiten auf den politischen Entscheidungsprozeß. Politik ist zwar, wie Meinungsumfragen immer wieder belegen, für die meisten Bürger nach wie vor eine absolute Nebensache, dennoch hat der Wunsch nach direkten Partizipationschancen kontinuierlich zugenommen. Zu erwägen ist deshalb zumindest eine wohldosierte Stärkung plebiszitärer Elemente. Volksentscheide auf Bundesebene oder die von mehr als drei Vierteln der Bevölkerung geforderte Direktwahl des Bundespräsidenten sind jedoch eher untaugliche Instrumente. Volksentscheide werden der zunehmenden Komplexität und Sachgesetzlichkeit der Politik nicht gerecht -man denke an so hochkomplexe Themen wie Gesundheitsreform, Pflegeversicherung oder Gentechnologie -, und ein Bundespräsident von Volkes Gnaden würde die Statik der gesamten Verfassungsarchitektur zum Kippen bringen. Zu denken wäre aber an eine Demokratisierung der Listenwahl bei Bundestagswahlen nach dem Modell Bayerns, das bei Landtagswahlen das Kumulieren und Panaschieren auf der Landesliste gestattet. Der Wähler, der an dieser Stelle durch das geltende Wahlrecht bevormundet wird, erhielte so weit mehr als bisher Einfluß auf die Kandidatenauswahl.
Ferner wäre auf der kommunalen Ebene an die keineswegs überall mögliche Direktwahl der Bürgermeister, an Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zu denken. Im übrigen bietet gerade die lokale Politikebene, die in allen Konzepten der Bürgergesellschaft als das zentrale Handlungsfeld für bürgerschaftliches Engagement figuriert, viele bislang ungenutzte Möglichkeiten, die Bürger direkt in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Stellvertretend sei hier hingewiesen auf sogenannte mediative Verfahren, wie sie in den USA häufig im Umweltbereich als enthierarchisierte und diskursiv-kooperative Konfliktlösungsstrategie praktiziert werden. Oder auf das in manchen deutschen Städten erfolgreich praktizierte „New Public Management“, in der die Bürger als Nutznießer kommunalpolitischer Dienstleistungen unmittelbar zur Evaluierungsinstanz und damit zum eigentlichen Steuerungssubjekt der Politik und der Verwaltung erhoben werden Insgesamt stehen solche Modelle wegweisend für eine größere Bürgernähe der Politik, für einen stärker deliberativ akzentuierten Politikstil wie auch für eine stärkere Einbindung der Bürger in die Verantwortung für Entscheidungen. 3. Bürgergesellschaft und Dialogkultur Diese Zusammenhänge enthalten den Hinweis, daß die Bürgergesellschaft als ein spezifisch kommunikativer Handlungszusammenhang im Bereich des Politischen auch eine entsprechende Kommunikations-und Dialogkultur voraussetzt. Die Darstellung und Vermittlung von Politik wie auch ihre Perzeption im öffentlichen Bewußtsein erweist sich jedoch als ausgesprochen defizitär. Als ein im wesentlichen von den Parteien gesteuertes Geschehen stellt sich der politische Entscheidungsprozeß in der Wahrnehmung der Bürger häufig als eine über ihre Köpfe hinweg ablaufende Folge von „konzertierten Aktionen“ dar, an denen Parteigremien. Interessenverbände, Expertengremien. Verwaltungsstäbe oder sonstige Gruppierungen beteiligt sind. Da dieser hochkomplexe Prozeß in der „Koordinationsdemokratie“ -in der zwischen staatlichen Institutionen und zahlreichen gesellschaftlichen Kräften in aufwendigen Verhandlungssystemen. in formellen und informellen Netzwerken allseits konsens-und implementationsfähige Lösungen angestrebt werden -für den Bürger undurchsichtig bleibt, entsteht bei ihm häufig der Eindruck, hier handle es sich um ein von den allmächtigen Parteien gelenktes Kulissengeschiebe. das ihn bewußt von der Politik fernzuhalten und zum Manipulationsobjekt oder doch zumindest zum einflußlosen Zuschauer zu degradieren suche 10 Verschärft wird diese Sichtweise zudem durch die massenmedialen Selbstdarstellungsrituale des professionellen Politikmanagements. Es sucht den mit der Komplexität der Politik gewachsenen Vermittlungsproblemen -die unter den Bedingungen des Fernsehens zusätzlich unter Druck geraten -durch die Flucht in die Personalisierung und die oberflächenhaft-symbolische Inszenierung von Politik als Show oder Unterhaltung zu entkommen. Symbolische Politik ist „in Wahrheit aber machtvolle Austreibung des Politischen“, „ein direkter Anschlag auf die Urteilskraft der Bürger“, der dem Verständigungshandeln der Bürgergesellschaft den Boden entzieht Daraus resultierende negative Wahrnehmungsmuster und Ohnmachtsgefühle, die auch durch den Immobilismus und eine sich allzu häufig einstellende Entscheidungsunfähigkeit der Politik verstärkt werden, schaukeln sich spiralförmig nach oben Politik in der Bürgergesellschaft, die wechselseitiges Verstehen und Verständnis, den Austausch von Argumenten zwischen politischen Verantwortungsträgern und Bürgern voraussetzt, muß sich daher auf allen Ebenen dialogisch stärker zu den Bürgern hin öffnen. Dies vermag einerseits die Responsivität politischer Entscheidungen zu verbessern, andererseits Komplexität, Vernetzungen und Sachaspekte des politischen Prozesses in -
gewiß sehr mühseliger -kommunikativer Vermittlungsarbeit einer kritischer gewordenen Öffentlichkeit transparenter zu machen. 4. Soziales Engagement und Aktivbürgerschaft Schließlich muß Politik neue Ideen und Strategien entwickeln, um im Sinne einer „aktiveren Demokratie“ die Bürger wieder vermehrt für die Aufgaben und Probleme des politischen Gemeinwesens zu sensibilisieren. In der griechischen Antike bezeichnete man Bürger, die sich freiwillig und selbstverantwortlich den öffentlichen Angelegenheiten widmeten, als polites, während diejenigen, die sich dagegen privatistisch abschotteten, als idiotes galten. Erst recht kann eine moderne Demokratie nur dann Bestand haben, wenn ausreichend Bürger bereit sind, einen Teil ihrer persönlichen Ressourcen und Kompetenzen für gemeinschaftliche Belange einzusetzen.
Diese Zusammenhänge mit aller Deutlichkeit wieder in Erinnerung gerufen zu haben, ist ein Verdienst des Kommunitarismus, der inzwischen auch in der Bundesrepublik intensiv rezipiert wird Im Mittelpunkt steht die Neuentdeckung des vorpolitischen und vorstaatlichen Raums, der Raum des Sozialen und der ihn konstituierenden lebensweltlichen Zusammenhänge, in denen „die Rückkehr zum Wir“ konkret erfahren werden kann In neu zu konstituierenden sozialen Netzwerken wird die Chance gesehen, die Bürger zu mehr Engagement, bürgerschaftlicher Eigenverantwortung und solidarischem Handeln, kurzum zu Gemeinsinn zu ermutigen und zu motivieren. Seine Quellen sind sowohl traditionelle lokale Teilöffentlichkeiten: Vereine, Kirchen oder Verbände wie auch vielfältige neue Formen lebensweltlich geprägter sozialer Selbstorganisation und Selbsthilfe in Nachbarschaft, Schule, Stadtteil oder Kommune.
Indem hier individuelle und gesellschaftliche Ressourcen aktiviert werden, kommt es zugleich zu einer „Durchdringung politischen und sozialen Handelns“, wird die Trennung von öffentlichen Angelegenheiten und sozialem Miteinander der Bürger im bürgerschaftlichen Handeln aufgehoben Das Soziale schlägt deshalb zum Nutzen der Demokratie über die lebensweltliche Problembe-wältigung eine Brücke zum Politischen hin, so daß homo socialis und homo politicus zur Einheit finden. Allerdings gilt es zu bedenken, daß sich bürgerschaftliches Engagement und Gemeinsinn in der Bürgergesellschaft nicht autoritativ verordnen lassen und daß über moralische und pflicht-ethische Appelle so gut wie nichts zu bewirken ist. Die insgesamt autozentrischer gewordenen Bürger -und hier vor allem die jüngeren unter ihnen -sind wohl nicht weniger bereit zum sozialen Engagement und zum solidarischen Helfen als vorherige Generationen; sie suchen jedoch, wählerischer geworden, verstärkt nach neuen Formen und Angeboten.
Gewünscht werden enthierarchisierte und selbst-organisierte Gruppen-und Arbeitsformen, die individuelle Gestaltungsfreiräume, Chancen für die Entfaltung von Kreativität sowie Möglichkeiten für informelle soziale Kontakte, für soziale Anerkennung und Gemeinschaftserlebnisse bereitstellen. Gleichzeitig wird bürgerschaftliches Engagement verstärkt auch mit Motivlagen des Eigeninteresses, des Selbstbezugs und der Erlebnisorientierung in Zusammenhang gebracht, was wiederum nicht vordergründig mit krudem Egoismus gleichzusetzen ist.
Politik, die den gewandelten Werteprofilen gerecht werden will und gleichzeitig deren innovatorische Potentiale zum Nutzen des Gemeinwesens mobilisieren möchte, muß deshalb künftig für entsprechende bürgerschaftliche Verantwortungsspielräume, die in unserer sozial extrem versäulten und professionalisierten Gesellschaft weitgehend rar geworden sind, die strukturellen Voraussetzungen schaffen. Um so etwas wie eine neue „soziale Ökologie“, einen „kooperativen Individualismus“ zu fördern, könnten dann zahlreiche Gemeinschaftsaufgaben und soziale Dienste, die seit längerem geradezu reflexartig an den Staat, die Verbände oder den Markt verwiesen werden, wieder an den Bürger zurückgegeben werden An entsprechenden Gemeindeaufgaben in der kommunalen Jugend-und Altenarbeit, in der Stadtgestaltung und im kulturellen Leben besteht kein Mangel. Solche Privatisierungsmaßnahmen könnten nicht nur dazu beitragen, die leeren Kassen der Gemeinden zu entlasten -sie könnten vor allem helfen, das Gefühl für überpersönliche Verpflichtungen und solidarisches Handeln neu zu wecken. Vor allem junge Menschen, die heute sozial oft unterfordert sind, brauchen entsprechende Verantwortungsrollen, um soziale Tugenden auch trainieren zu können. Dadurch könnten auch neue Zweck-und Gefühlsgemeinschaften entstehen, die die Distanz zwischen dem vereinzelten Individuum und dem anonymen Großgebilde Staat verringern sowie neue Zugehörigkeiten und Identitäten mit Bezug zum Gemeinwesen zu stiften vermögen
Staatlichen Institutionen und der Politik käme hier primär die Rolle des beratenden und unterstützenden Moderators zu, der zu entsprechenden Aktivitäten ermutigt, die notwendigen Angebotskonzepte entwickelt und die erforderliche Infrastruktur bereitstellt Das heißt aber auch, daß es nicht um die Einpassung von Subjekten in vorhandene Handlungsräume gehen darf, sondern daß mit den Bürgern entsprechende Ziele und Modalitäten frei zu vereinbaren und auszuhandeln sind. Von der Politik sind dabei weniger Geld und Sachleistungen gefordert als vielmehr Überzeugungsarbeit -bis hin zu Schulungskursen, um bei den Bürgern, bei denen laut Umfragen selbstorganisiertes Handeln durchaus hoch im Kurs steht, entsprechende soziale und administrative Kompetenzen zu fördern. Auf ihnen könnte dann eine die Belange des Gemeinwesens stärker berücksichtigende „Kultur der Selbständigkeit“ aufbauen, in der die individualen und sozialen Komponenten von Selbstentfaltung künftig stärker ins Gleichgewicht kommen, nachdem deren Zusammenhang in der Dynamik des Wertewandels und einer so nicht mehr leistbaren wohlfahrtstaatlichen Entwicklung weitgehend aus dem Blick geraten sind