Ich danke Jörg Faust für die kritische und kenntnisreiche Durchsicht des ursprünglichen Manuskriptes.
Wenn man im heutigen Lateinamerika mit Kabinettsmitgliedern und Parlamentariern, Sozialwissenschaftlern und hohen Repräsentanten der Wirtschaft, mit Diplomaten und Parteiführern über die internationale Situation des Subkontinents bzw.der jeweiligen Länder spricht kommt verhältnismäßig rasch das Thema Asien-Pazifik auf. Dies so gut wie unbeschadet von der geostrategischen Lage des jeweiligen Landes. Für brasilianische oder argentinische Gesprächspartner scheint „Asien-Pazifik“ ähnlich relevant zu sein wie für Mexikaner oder Chilenen, denen das gegenüberliegende Asien schon aus geographischen wie historischen Gründen vertrauter ist. Umgekehrt artikuliert sich in den letzten Jahren auch in Ost-und Südostasien ein gewisses Interesse an Lateinamerika, auch wenn es nicht die Intensität des lateinamerikanischen Asien-Engagements erreicht
Im folgenden Beitrag wird es darum gehen, zunächst die internationale Situation in Erinnerung zu rufen, innerhalb derer sich die lateinamerikanisch-asiatische Annäherung abspielt. Daraus folgt, zweitens, das bisher erkennbare beiderseitige Interessenprofil. In einem dritten Schritt ist etwas genauer auf typische lateinamerikanisch-asiatische Beziehungsprofile einzugehen. Viertens erfolgt -sofern dies heute schon möglich ist -eine vorläufige Bewertung des neu entstehenden Beziehungsmusters. Im ganzen kommt in diesem Beitrag die lateinamerikanische Asien-Perspektive etwas ausführlicher zum Ausdruck als die umgekehrte Sichtweise.
I
Etwa Anfang bis Mitte der neunziger Jahre spielte die Frage der Neuordnung des internationalen Systems im Sinne der Bildung großer, geopolitisch zusammengehaltener Blöcke in Wissenschaft und Politik eine herausragende Rolle Maastricht-Europa, die Bildung des North American Free Trade Agreement (NAFTA) und die schon durch die Enterprise for the Americas Initiative Präsident Bushs 1990 in Aussicht gestellte Bildung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone von Alaska bis Feuerland, schließlich auch die verschiedenen Kooperationsansätze im asiatisch-pazifischen Raum wie die 1989 entstandene Asian Pacific Economic Cooperation (APEC) dienten als Stimulans solcher Überlegungen. Sie konvergierten weitgehend darin, sich auf die baldige Realität einer „Festung Europa“, einer sich neu und unter der hegemonialen Führerschaft der USA formierenden Wirtschaftsgemeinschaft in der Westlichen Hemisphäre und eines sich abzeichnenden asiatisch-pazifischen Blocks unter stärkerem japanischen Einfluß einzustellen.
Nicht alles an diesem Szenario der Großblöcke war eindeutig. Daß die USA über die APEC und über andere pazifische Organisationen wie den Pacific Economic Cooperation Council (PECC) und über den Pacific Basin Economic Council (PBEC) eine unübersehbare asiatisch-pazifische Schiene aufrechterhielten bzw. noch auszubauen suchten -wie die Clinton-Initiative zur Gipfelkonferenz der APEC-Staats-und Regierungschefs im Spätherbst 1994 in Blake Island bei Seattle zeigen sollte -, paßte nicht ganz in dieses Bild sich formierender Blöcke. Ebenso machte die Zugehörigkeit einiger lateinamerikanischer Länder zu den pazifischen Organisationen eine trennscharfe Abgrenzung genauso schwierig wie der durch das ASEAN Regional Forum (ARF) seit 1993 aufgekommene Sicherheitsdialog, an dem auch die Nordamerikaner und die Europäische Union beteiligt sind.
Die hier angedeuteten Blockbildungsüberlegungen wurden nie völlig aufgegeben, in den letzten Jahren aber dadurch relativiert, daß in jeder der in Frage kommenden Großregionen interne Ungewißheiten und Belastungen aufgekommen sind (Maastricht II und Erweiterungsdebatte in Europa, Stagnation der NAFTA-Arrondierung in den Amerikas, überhaupt das Fehlen einer definierten Lateinamerika-Politik Washingtons wachsender Nationalismus, sich verstärkende regionale Konflikte und zunehmende Sicherheitsprobleme in Asien-Pazifik
Europa wird darum kämpfen müssen, mit dem Doppelproblem Vertiefung und Erweiterung fertig zu werden. Auch existiert keine allseits geteilte Zieldefinition. Zu den Widersprüchlichkeiten der europäischen Haltung auf der internationalen Bühne zählt, daß die EG bzw. EU ein denkbar dialogbereites Integrationsgebilde war und geblieben ist, daß das nämliche EU-Europa aber genauso eindeutig zu den Protagonisten welthandelspolitischer Abkapselungen gehört. Die USA tun sich schwer damit, aus einer primär binnengerichteten Sichtweise herauszufinden und z. B. in der Westlichen Hemisphäre Signale eines gesamtamerikanischen Zusammenhalts in eine konstruktive Kooperationspolitik zu übersetzen. Und ähnlich wie dies für Lateinamerika gilt, kann von einer in sich kohärenten US-Asienpolitik seit Jahren keine Rede sein Auch die dritte Gruppe der großregional definierten Triade -die westpazifische Staaten-welt -zeigt kein klares Verhalten und noch weniger ein deutliches Kohäsionsprofil, was schon durch den Hinweis auf den sich in der Region abspielenden Rüstungswettlauf angedeutet ist. Der Vorschlag des Premierministers von Malaysia, Mahathir Muhamad, zur größeren Gewichtung eines East Asian Economic Grouping liegt weiterhin auf dem Tisch und wird von asiatischer Seite in unterschiedlicher Weise mit Sympathie und Distanz betrachtet. Dem Westen gegenüber, voran den USA, besteht eine Art Haßliebe. Man braucht ihn ökonomisch, man bedarf vor allem der sicherheitspolitischen Präsenz der USA, ohne indessen (mit Ausnahme von Japan und in etwa noch Südkorea) mit westlichen Vorstellungen von Ordnungspolitik, Legitimierung politischer Systeme und Menschenrechten konform zu gehen. Dies schließt Überlegungen zu einer geschichtsgeleiteten, über die Wertedebatte hinausgehenden Identität Ost-und Südostasiens für jenen Moment nicht aus, in dem man den amerikanischen Schirm entbehren zu können glaubt Ob das in einer absehbaren Zeit der Fall sein wird, bleibt ungewiß. Die Relativierung der Blockbildungsüberlegungen ist auch noch durch andere Mechanismen eingeleitet worden: durch die unübersehbaren Trends zur Interdependenz der Weltwirtschaft mit eindeutigen weltweiten Vernetzungseffekten auf Unternehmensebenen, durch gleichzeitige Trends zur Globalisierung ökonomischer, ökologischer, sicherheitspolitischer Problemfelder und durch Konzepte eines „offenen Regionalismus", die, soweit erkennbar unabhängig voneinander, von lateinamerikanischer und asiatischer Seite wie auch in den Expertengremien der APEC diskutiert und als wünschenswert zur Überwindung starrer Blöcke angesehen werden.
II.
Lateinamerika sieht sich -bei allen Unterschieden von Land zu Land und von Subregion zu Subregion -dem Hegemoniepotential der einzig verbleibenden Supermacht ausgesetzt („Zertifikation“ der Drogenländer, großregionale Law-and-order-Politik im Namen von Demokratierestitution ä la Haiti, Helms-Burton-Außenhandelsgesetz, Ersetzung von Entwicklungshilfe durch eine aggressive Handelspolitik usw.). Gleichzeitig bleibt die Supermacht aus der Sicht der Regierungen südlich des Rio Grande unkalkulierbar. Es geht im Augenblick durch den Subkontinent -im einzelnen aus sehr unterschiedlichen Motiven -eine erschreckend deutliche Welle des Antiamerikanismus, die in operative Politik übersetzt heißt: Weg vom politischen wie ökonomischen und politischen Dominationsversuch der USA! Im externen Verhältnis bedeutet dies eine gezielte Politik der Diversifikation auf globaler Ebene. Hier bieten sich als attraktive globale Mitspieler die Europäer an -und immer mehr auch die Ost-und Südostasiaten.
Da die lateinamerikanischen Staaten unter dem Vorzeichen eines auf Weltmarktintegration umgestellten Entwicklungsparadigmas auf neue, aufnahmefähige Märkte, Auslandsinvestitionen und Technologieimport angewiesen sind, richtet sich ein wachsender Anteil der entsprechenden Aufmerksamkeiten in den Außen-wie in den Handelsministerien, in den Unternehmerverbänden wie in den internationalen Departments nicht weniger Universitäten und Forschungsinstitute auf Asien-Pazifik. Gemeint sind dabei Japan, dem immer schon ein gewisses ökonomisches Gewicht in einigen asiatischen Ländern zukam die Volksrepublik China, die „Tigerländer“ und die ASEAN-Gruppe.
Dieses Zugehen auf den Westpazifik wird weder als eine Verlegenheit noch als eine Notlösung empfunden, sondern eher als Ergebnis eines pragmatischen und zugleich rationalen Kalküls in der Ausrichtung der eigenen Außen-und Außenwirtschaftspolitik. Und es wird dieses Zugehen nicht nur praktiziert durch jeweils nationalstaatliche Akteure, sondern auch konstruktiv unterstützt durch gesamtlateinamerikanische Gremien und in gesamtlateinamerikanischer Verantwortung stehende „think tanks“ wie z. B. die Rio-Gruppe, die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL in Santiago de Chile oder durch das in Caracas ansässige Lateinamerikanische Wirtschaftssystem SELA Auf diese Weise sind z. B. lateinamerikanisch-asiatische Gesprächs-brücken, aber auch Datenbanken und Experten-kreise entstanden, über die die lateinamerikanischen Nationalstaaten selbst zur Stunde nicht verfügen.
Die asiatischen Lateinamerika-Interessen sind in Teilen damit vergleichbar, aber nicht ganz identisch. Kompatibel ist sicher der Wunsch, im Gefolge von weltwirtschaftlicher Globalisierung und Interdependenz auf Länder bzw. eine Region zu-zugehen, die nach schwierigsten Jahren der wirtschaftlichen Anpassung in Ansehung makro-ökonomischer Indikatoren wie Wachstum des Bruttosozialproduktes oder Inflationsbekämpfung, teilweise auch Schuldenabbau, wieder Stabilisierungserfolge aufweisen kann Mit Aufmerksamkeit hat man auch in Asien zur Kenntnis genommen, daß so gut wie alle lateinamerikanischen Länder Abschied von der immer weniger ergiebigen Strategie der Importsubstitution und eines nach innen gerichteten Entwicklungsmodells genommen haben und dabei sind, Auslandsinvestitionen nicht mehr unter staatliche Bevormundungen zu stellen. Lateinamerika ist im ganzen unter eine wohlwollende Observanz der Asiaten geraten: So wies die einflußreiche Zeitschrift Far Eastern Economic Review bereits im September 1990 darauf hin, daß Lateinamerika dabei sei, Weichen zu stellen, die es -wie früher schon einmal in den sechziger und siebziger Jahren -zu einem „ernsthaften Konkurrenten für Asien“ machen könnten
Das asiatische Interesse an Lateinamerika hat durch die NAFTA-Gründung einen weiteren Auftrieb erhalten. In Asien denkt man oft in anderen Zeitdimensionen, so daß -jenseits von einstweilen stagnierenden Verhandlungen über eine NAFTA-Erweiterung -stärker auf die langfristige Entwicklung in der Westlichen Hemisphäre überhaupt geachtet wird. In einem sehr wichtigen Punkt gibt es allerdings einen zentralen Unterschied im diversifikationsstrategischen Denken von Asiaten und Lateinamerikanern: Aus asiatischer Sicht kann es sich beim Zugehen auf Lateinamerika nicht um den Versuch der Bildung eines Gegengewichtes gegen die USA handeln; dies schon gar nicht im asiatisch-pazifischen Raum selbst. Vergleichbar ist in beiden Fällen die Form des Aufeinanderzugehens: Es handelt sich auch in Asien-Pazifik um eine Mischung aus Initiativen nationaler Regierungen, den Vorschlägen von an Einfluß gewinnenden „think tanks“, universitären Institutionen und Vernetzungsimpulsen aus der Wirtschaft. Letzterem wird in Zukunft ein immer größeres Gewicht zukommen, da die ökonomischen Verklammerungen bereits in ein Stadium der faktischen Irreversibilität eingetreten sind
III.
Eigentlich ist die eingangs getroffene Behauptung, Lateinamerika sei dabei, den Westpazifik zu entdecken, nicht ganz korrekt. Die älteste Brücke zwischen dem heutigen Lateinamerika und Ost-asien errichteten die Spanier, die ihren Ostasien-Handel zwischen den Häfen Manila und Acapulco abwickelten (auch Lima bzw. Callao waren zeitweilig um eine Beteiligung bemüht ). Die Verbindung wurde nach Lösung des südlichen Amerika von Spanien bedeutungslos, doch hat dies nie ausgeschlossen, daß sich einige lateinamerikanische Länder -vor allem Mexiko, Chile und Peru -ihrer pazifischen Lage bewußt blieben oder allmählich wieder bewußt wurden. Bezeichnenderweise erinnert selbst eine jüngst herausgegebene Projektstudie der Handelskammer in Bogotä, verfaßt im Auftrage des nationalen PBEC-Komitees, an die geschichtliche Ausgangslage
Seit den siebziger und achtziger Jahren ging man in einzelnen Ländern Lateinamerikas verhältnismäßig gezielt auf den Pazifik zu. Hier ist zunächst Chile zu nennen. Chiles Pazifik-Interesse war in den siebziger Jahren durch Forschungsaktivitäten des Instituto de Relaciones Internacionales seiner Nationaluniversität in Santiago offenkundig geworden. Unter Leitung von Francisco Orrego Vicuna wurde im Jahre 1979 ein Seminar auf der Osterinsel mit dem bezeichnenden Titel „La Comunidad del Pacifico: Hacia un rol para America Latina“ veranstaltet. Schon in den sechziger Jahren waren auch die Mexikaner mit entsprechenden Initiativen aufgetreten. Zu nennen ist die Einrichtung eines Centro de Estudio Orientales am Colegio de Mexico (1964), das inzwischen ein beachtenswertes Pazifik-Jahrbuch herausbringt und dem im Asien-Pazifik-Zentrum der Universität von Guadalajara eine Konkurrenz zu entstehen beginnt. Später haben Peru, Kolumbien, interessanterweise auch Brasilien, Argentinien und in Ansätzen Ecuador, angefangen, eigene diplomatische und wissenschaftliche Kapazitäten aufzubauen. Diese hatten im Einzelfall ihren konkreten realgeschichtlichen Hintergrund; beispielsweise die japanische Einwanderung nach Brasilien, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende chinesische Einwanderung nach Peru, die etwas später erfolgende koreanische Migration nach Mexiko oder die in den sechziger Jahren angestellten und vor allem ideologisch motivierten Versuche, Mexiko, Brasilien, Argentinien, Chile und Kuba in die außenpolitische Dritte-Welt-Perspektive der Volksrepublik China einzubeziehen.
Lateinamerika und Asien nehmen einander also nicht erst in unseren neunziger Jahren zur Kenntnis. Zum Beispiel hatten sich lateinamerikanische und asiatische Anliegen schon in den langen Jahren des Versuchs getroffen, eine Interessengemeinschaft des Südens gegen den industriestaatlichen und kapitalistischen Norden aufzubauen. Aus der Zeit des ausklingenden Nord-Süd-Dialogs liegt eine bezeichnende Äußerung des Chilenen Ernesto Tironi vor: Man müsse die asiatischen Länder eigentlich als „Weggenossen“ („companeros de ruta“) ansehen, weil nur auf diese Weise genügend Verhandlungsmasse gegenüber den Ländern der Ersten Welt aufkommen könne. Bei Tironi findet sich ein zukunftsträchtiger strategischer Gesichtspunkt: Man dürfe mit Blick auf Asien nichts hinauszögern, weil es zu spät werden könne, wenn erst einmal die sich abzeichnende Kooptation asiatischer Länder durch die nördlichen „Industrieländer“ abgeschlossen sei.
Das Argument war nicht falsch, der Zeitpunkt jedoch denkbar ungünstig: Das Jahr 1982 hat bekanntlich die Schuldenkrise Lateinamerikas eingeleitet mit einer sich für etliche Jahre verschlechternden wirtschaftlichen Gesamtsituation, die nicht wenige Länder des Subkontinentes bis an den absoluten Rand der Regierungsfähigkeit brachte. Die negativen Folgen der „verlorenen Dekade“ für ein lateinamerikanisch-asiatisches Zusammengehen waren bis vor kurzem zu erkennen. Die Lateinamerikaner bekamen zeitweilig ein erhebliches asiatisches Mißtrauen zu spüren, hatten sie doch zwei der gerade in Asien am meisten geschätzten politischen Tugenden verletzt: Stabilität und Kontinuität. Für eine Reihe von Jahren konnte sich auch deshalb dieses asiatische Mißtrauen aufbauen, weil die lateinamerikanischen Länder zu lange an einem binnengerichteten, auf Importsubstitution orientierten Wirtschafts-und Entwicklungsdenken festhielten, das in der Praxis eine erhebliche Scheu vor dem Weltmarkt, überdi-mensionierte und im Schnitt leistungsschwache staatliche Wirtschaftssektoren und aufgeblähte, unter Effizienzdefiziten leidende Staatsverwaltungen bedeutete. Lateinamerika geriet daher in Ost-und Südostasien in den Ruf, nicht besonders handlungsfähig zu sein, und zwar in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht.
Der schon in den achtziger Jahren eingeleitete „schmerzhafte Lernprozeß“ ist jedoch auch in Asien zur Kenntnis genommen worden und insgesamt auch angekommen. Daß auch in Lateinamerika plötzlich welthandelspolitische Interdependenz, Marktwirtschaft und staatliche Leistungsfähigkeit zu Tugenden erklärt und in nicht wenigen Ländern wirtschaftliche und politische Reformen eingeleitet wurden (Mexiko, Argentinien, Peru, Kolumbien, seit längerem schon und am erfolgreichsten Chile, schwerfälliger, aber erkennbar auch Brasilien), machte die Latinos in Asien sozusagen wieder salonfähig.
Heute sind wir Zeugen eines angelaufenen und erfreulich weit gekommenen, allerdings noch nicht abgeschlossenen Umdenkungsprozesses, der im übrigen nur dann von Bestand sein wird, wenn die wichtigsten sieben oder acht lateinamerikanischen Länder den jetzigen Reformkurs beibehalten und wenn interessierte lateinamerikanische Regierungen es schaffen, ihre diplomatische Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum auszubauen, ihre Mitarbeit in den pazifischen Organisationen zu intensivieren und wenn aktiv an weiteren transpazifischen Brücken für die Unternehmerschaft gearbeitet wird. Im Juli 1996 hat die Far Eastern
Economic Review noch einmal an die alte „politicaluncertainty“ Lateinamerikas erinnert, gleichzeitig aber auch auf die „providing competition“ des zeitgenössischen Lateinamerika hingewiesen Insgesamt lassen sich im heutigen Zugehen Lateinamerikas auf Asien und im asiatischen Verhältnis zu Lateinamerika drei Dimensionen erkennen.
Erstens: Ausgehend von der Erkenntnis, daß Handel, Investitionen und Technologie einen „zentralen Ausgangspunkt für transpazifische Kooperation“ bilden, zeichnen sich immer mehr bilateral anzusetzende Kooperationsprofile ab: Japan-Brasilien, Japan-Mexiko, Korea-Mexiko, Korea-Venezuela, Thailand-Brasilien, Thailand-Mexiko, Singapur-Venezuela, Taiwan-Mexiko usw. Die Außenhandelsprofile lassen erhebliche Wachstumsraten erwarten. So hat sich der Handel der asiatischen Schwellenländer mit Mexiko und Venezuela zwischen 1989 und 1992 um etwa 32 Prozent erhöht. In einzelnen Eällen sind erstaunliche Ergebnisse erzielt worden (der Handel zwischen Taiwan und Mexiko erreichte zwischen 1989 und 1992 einen jährlichen Wachstumszuwachs um durchschnittlich 111, 4 Prozent wobei allerdings zu sehen ist, daß die absoluten Ausgangswerte gering waren. Die Investitionsziffern sind niedriger anzusetzen, erscheinen aber nicht als unbedeutend. So haben in dem vorhin genannten Zeitraum Korea und Taiwan zehn Prozent ihrer Auslandsinvestitionen in Lateinamerika getätigt, die Volksrepublik China immerhin noch vier Prozent Nach neuesten Pressemeldungen wollen die südkoreanischen Firmen Daewoo Electronics und LG Electronics bis zum Jahre 2005 Investitionen in Milliardenhöhe (US-Dollar) in Brasilien und Mexiko tätigen und dies scheint nur die Spitze eines Eisbergs zu sein.
Interessanterweise gibt es auch lateinamerikanische Investitionsströme nach Asien, vorzugsweise nach Taiwan, Malaysia und Korea, in geringerem Umfang auch nach China, Indonesien, Hongkong und Thailand. Der Gesamtbefund dieser wirtschaftlichen Kooperation ist eindeutig: Der Zuwachs des interregionalen Handels liegt signifikant über der jeweiligen Zunahme am Welthandel. Dies anzumerken bedeutet allerdings nicht, eine gewisse Asymmetrie zwischen beiden Regionen zu übersehen. Dies gilt über die Investitionen hinaus vor allem für den Technologietransfer, der von Asien nach Lateinamerika, aber so gut wie gar nicht umgekehrt verläuft.
Zweitens: Ein immer interessanter werdendes Verklammerungselement zwischen Lateinamerika und Ost-und Südostasien geben die pazifischen Organisationen ab. Schon in den sechziger Jahren suchten einige lateinamerikanische Länder nach Mitwirkungsmöglichkeiten in den damals beginnenden pazifischen Verflechtungen. Dies gilt für den in den sechziger Jahren ins Leben gerufenen Pacific Basin Economic Council genauso wie für die 1982 gegründete Pacific Economic CooperationConference, die in Lateinamerika in Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru über eigene Länder-komitees verfügt Bisheriger Höhepunkt dieser pazifischen Entwicklung ist zweifellos die APEC. Für die APEC-Mitgliedschaft interessierten sich sehr früh fünf lateinamerikanische Staaten -Argentinien, Chile, Ecuador, Mexiko und Peru. 1993 gelang es Mexiko und 1994 Chile, in die APEC aufgenommen zu werden. Mexikos APEC-Eintritt hängt zweifellos mit seiner NAFTA-Mitgliedschaft zusammen. Im Falle Chiles hat sich eine vorsichtige, seit Jahren aufgebaute und von ost-und südostasiatischer Seite (Malaysia, Thailand, Indonesien) erwiderte Besucherdiplomatie ausgezahlt, obwohl einflußreiche Gruppen aus den USA und Australien gegen die APEC-Aufnahme Chiles opponierten Denkbar ist, daß auch Brasilien bei einer sich bietenden Gelegenheit entsprechende Wünsche anmeldet. Immerhin läuft ein brasilianischer Antrag, in die Asiatische Entwicklungsbank aufgenommen zu werden.
Alle diese Vorgänge bilden eine eigene Handlungsebene: Im lateinamerikanisch-asiatischen Verhältnis geht es nicht nur um bilaterale Austausch-und Begegnungsprofile ökonomischer und/oder politischer Art, sondern auch um die allmähliche Herausbildung eines eigenen Multilateralismus pazifischer Prägung. Es sieht so aus, daß mit der zunehmenden Stärke bilateral angelegter Interaktionsketten die multilaterale, auf das Pazifische Becken ausgerichtete Seite deshalb an Bedeutung gewinnt, weil Vertrautheiten entstehen, die sich in multilateralen Foren als Unterstützungspotentiale auswirken. Die Art des chile-nischen APEC-Beitritts ist ein gutes Beispiel dafür
Die dritte Ebene wechselseitiger Annäherung ist eine Kombination aus Diplomatie und Wissenschaft. Die Übergänge sind manchmal fließend. Die an Asien-Pazifik interessierten lateinamerikanischen Länder haben in den letzten Jahren systematisch ihre entsprechenden diplomatischen Dienste ausgebaut, was naturgemäß reziprok vonstatten ging. Des weiteren kommt der Ausbau von Asien-Instituten oder zumindest von arbeitsfähig ausgestatteten Asien-Schwerpunkten in Lateinamerika Schritt für Schritt voran, und zwar über Mexiko und Chile hinaus, so wie umgekehrt qualifizierte wissenschaftliche Lateinamerika-Institute in Japan, Korea oder Taiwan entstanden sind. Entsprechende lateinamerikanische Ansätze lassen sich auch für einzelne ASEAN-Länder erkennen. Asien ist in Lateinamerika diplomatisch interessant geworden und wissenschaftlich in Mode gekommen. Das umgekehrte Interessenprofil ist schwächer entwickelt, aber gleichfalls vorhanden. sein.
IV.
Es gibt für die Bewertung des sich nach und nach dichter gestaltenden lateinamerikanisch-asiatisch-pazifischen Beziehungsmusters Sicherheiten und Vorläufigkeiten des Urteils. Das lateinamerikanische Zugehen auf Asien-Pazifik wurde seit dem Ende der achtziger Jahre und noch deutlicher nach der Implosion des Sowjetblocks immer aktueller: Je mehr die Welt sich in große, politisch wie handelspolitisch zu definierende neue Blöcke aufzuteilen drohte, um so gebotener schien es, eine mehrfache Strategie bedingter Kohärenz und Gesamtlogik zu verfolgen: Zum einen hat sich in den letzten zehn Jahren die innerlateinamerikanische gesamtregionale und subregionale Kooperation und Integration rapide weiterentwickelt (Rio-Gruppe, MERCOSUR, Zentralamerikanische Integration), um für die „großen“ Blöcke als Gesprächs-und Handelspartner interessant zu
Zum zweiten galt es, eigene Zuordnungen zu diesen Blöcken zu finden, was eo ipso auch eine aktivere Asien-Politik implizierte. Und dies -um es zu wiederholen -auf bilateralen wie auf multilateralen Schienen. Manches davon mag eher auf symbolischer und intentionaler Ebene ohne unmittelbar sichtbare Wirkung liegen, wie beispielsweise die 1988 gegründete mexikanische Kommission für das Pazifische Becken oder Mexikos Mitgliedschaft in zwei pazifischen Parlamentarierverbänden Aber zweifelsohne werden auf diese Weise Zeichen gesetzt, die bei den Adressaten auch verstanden werden.
Drittens ist Asien-Pazifik für Lateinamerika immer interessanter geworden, weil sich niemand in Lateinamerika der Tatsache verschließen konnte, daß in Ost-und Südostasien Märkte und Investitionsquellen ungeheuren Ausmaßes entstehen, die zu übersehen sich keine Volkswirtschaft und keine verantwortungsvolle Regierung leisten kann. Entsprechend heißt es auch in dem erwähnten Papier der Handelskammer in Bogota: Es wäre von höchstem Risiko, „Kolumbien von jenen Prozessen der ökonomischen, industriellen, technologischen, wissenschaftlichen, kommerziellen und finanziellen Entwicklungen isoliert zu halten, die die neue Realität des Pazifik konstituieren“ Den Pazifik, vor allem das pazifische Asien, in Betracht zu ziehen sei schlicht eine Überlebensfrage für Kolumbien selbst. Viertens liegen alle diese Argumente, die man in ähnlicher Form in ganz Lateinamerika erfährt, auf der strategischen Ebene eines Versuchs, die paraimperiale Stellung der USA zu relativieren.
Dies alles wiederholt sich in etwas modifizierter Form, wenngleich mit geringerer Dramatik, für die „Tigerländer“ und für die ASEAN-Gruppe, deutlich abgeschwächter für Japan und die chinesische Volksrepublik. Lateinamerika ist von keiner vitalen Bedeutung für die Asiaten, wohl aber ein interessanter und vermutlich an Bedeutung gewinnender Subkontinent von primär ökonomischer Attraktion. Vorerst spielen die lateinamerikanischen Länder auch keine entscheidende Rolle in den Überlegungen zum Ausbau der gesamtpazifischen Verflechtungen. Dies allerdings mit der Kautel und Ausnahme, daß sich der NAFTA-Prozeß nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ausweiten könnte. Dann nämlich würde es auf asiatischer Seite durchaus Sinn ergeben, über die pazifischen Vergemeinschaftungen PBEC, PECC und APEC auf Prinzipien eines „offenen Regionalismus" mittels intensivierterer Verklammerungen mit Lateinamerika zu achten.
Mit solchen Bemerkungen sind zugleich Grenzen des beiderseitigen Aufeinanderzugehens angedeutet. Asien-Pazifik ist für Lateinamerika eine primär für die Bestandssicherung der eigenen ökonomischen Zukunft wichtige Adressatengruppe, bei der es sich lohnt, Anläufe zu einem Partnerschaftsstatus zu versuchen. Dessen ungeachtet übersieht man kaum irgendwo im lateinischen Amerika, daß von asiatischer Seite nur bedingt Unterstützungen in der immer wichtiger werdenden Frage der Regierungsfähigkeit (gobernabilidad) und noch weniger Interesse an der Bestandserhaltung des demokratischen Umbruchs zu erwarten sind. In Lateinamerika hat man sehr wohl begriffen, daß Asien zu größeren Teilen eine eigene, vom Westen unterschiedliche Wertewelt besitzt und artikuliert. Auf diesen Gebieten bleibt der tatsächliche und bevorzugte Partner, ähnlich wie in der Entwicklungshilfe, Europa.
Es sollte gleichwohl deutlich geworden sein, daß über das in seinen Dimensionen und Interessenlagen nicht ganz identische Aufeinanderzugehen Lateinamerikas und des pazifischen Asiens ein neues Verklammerungselement in das internationale System gekommen ist. Und: Von lateinamerikanischen Einseitigkeiten kann in dieser Variante des Asien-Pazifik-Spiels keine Rede sein. Es ist bezeichnend, daß zwei der ASEAN-Staats-und Regierungschefs auf dem fünften ASEAN-Gipfel 1995 in Bangkok auf die wachsende Bedeutung Lateinamerikas hinwiesen: ein asiatisches Signal von höchster Ebene, wie es ähnlich schon 1994 vom damaligen indischen Premierminister Narasimha Rao ausgegangen war