I. Krise der Politikdidaktik
Ansehensverlust der politischen Bildung Es steht schlecht um die politische Bildung. Lange vorbei sind die Zeiten, als man sich um den Bestand und die Verankerung der neuen demokratischen Institutionen im Bewußtsein der westdeutschen Bevölkerung Sorgen machte und der politischen Bildung eine erhebliche Stabilisierungsfunktion beimaß. Mit der Festigung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland ging ein Bedeutungsverlust der politischen Bildung bei den (Bildungs-) Politikern einher.
In der Schule kam es zu Stundenkürzungen. Von den Schülern wird das Unterrichtsfach häufig als „Laber“ -Fach bezeichnet. Im Urteil von Lehrer-kollegien ist politische Bildung ein Fach, das gut auch fachfremd, d. h. von jedem politisch interessierten Lehrer unterrichtet werden kann. Die Vorstellung, daß ein kompetenter Politikunterricht ebenso wie der Mathematik-oder Chemieunterricht ein entsprechendes fachwissenschaftliches Studium voraussetzt, ist nicht allzu verbreitet.
Ein Ansehensverlust ist auch an den Universitäten festzustellen. Nicht nur wurden Professuren für die Ausbildung von Politik-bzw. Sozialkundelehrern wegen gesunkener Studiennachfrage gestrichen. Es kam bei Neuausschreibungen auch zu Abwertungen der Stellen. Und es wurde auch schon einmal der gutgemeinte Vorschlag gemacht, die Ausbildung der Lehrer besser einem Schulpraktiker zu übertragen und auf eine wissenschaftliche Ausbildung in Politikdidaktik zu verzichten.
In dieser Situation treten nun Verantwortliche für die Lehrerausbildung, vor allem Professoren und schulische Ausbildungsleiter für politische Bildung, mit einem „Darmstädter Appell“ an die Öffentlichkeit. Sie beklagen eine unzureichende ideelle und materielle Unterstützung durch die Politiker und die politischen Institutionen. Sie fordern, daß politische Bildung in allen Schulformen und Klassenstufen der Sekundarstufen 1 und II (einschließlich des beruflichen Schulwesens) kontinuierlich angeboten wird und Pflichtfach in der Hochschulreifeprüfung wird, daß sie nicht mehr fachfremd unterrichtet werden darf und daß entgegen dem gegenwärtigen Trend die politikwissenschaftlichen Professuren gesichert und ausgebaut werden. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, deuten die Verfasser an, daß politische Bildung zur geistigen und politischen Bewältigung der wichtigen gesellschaftlichen Probleme beitragen kann, und drohen gleichermaßen vage wie unverhohlen mit gravierenden Folgen für die Zukunft der Demokratie und für die Erhaltung des sozialen Friedens, wenn die politische Bildung an den Schulen und Hochschulen nicht entschieden stärker gefördert wird 1.
Es ist allerdings kaum zu erwarten, daß sich die Politiker durch derartige Verheißungen und Drohungen verunsichern oder beeindrucken lassen, denn „sie nehmen politische Bildung nicht mehr wichtig, vielleicht sogar: nicht mehr ernst“ Vielmehr steht zu befürchten, daß sie derartige Ausführungen für naiv halten und dadurch nur in ihrem skeptischen Urteil über die Qualität und Bedeutung der politischen Bildung bestärkt werden. 2. Widersprüche und Unklarheiten gegenwärtiger politikdidaktischer Konzeptionen Statt vergeblich öffentliche Anerkennung und Ressourcen einzufordern, wäre es angebracht, darüber nachzudenken, warum sie versagt werden und inwieweit man dafür selbst verantwortlich ist. So haben z. B. unzureichende bildungs-und gesellschaftstheoretische Begründungen, Inkonsistenzen und Vagheiten bzw. eine kaum noch in die Schulpraxis übertragbare Übertheoretisierung der Didaktik der politischen Bildung wesentlich zu ihrem Reputationsverlust beigetragen. Diese Defizite offenbart auch der „Darmstädter Appell“.
Die Verfasser halten es für notwendig, der politischen Bildung „grundsätzlich neue Entwicklungsimpulse“ zu geben, damit diese auch zukünftig ihrer Aufgabe gerecht wird. Diese neuen Entwicklungsimpulse sind nach Ansicht der Autoren bedingt durch aktuelle Schlüsselprobleme, die die Politik vor neue Aufgaben stellen. Die als neu aufgeführten acht Schlüsselprobleme reichen von der Arbeitslosigkeit über Probleme der Integration von Zuwanderern, ökologische Gefahren, Extremismus, zunehmende Komplexität und Undurchschaubarkeit gesellschaftlicher und politischer Prozesse, Massenkommunikation und Wertewandel bis hin zu den Vereinigungsproblemen Diese als neu ausgegebenen sozialen Probleme sind aber zum größten Teil (Ausnahme Vereinigungsproblematik) seit zwanzig und mehr Jahren aktuell, virulent und Gegenstand heftiger politischer Kontroversen. Wir haben somit den seltenen Fall vorliegen, daß wissenschaftliche Vertreter der politischen Bildung, d. h. Verantwortliche für die Konzeptionen politischer Bildung, öffentlich einräumen, diese Probleme offenbar bisher nicht (genügend) berücksichtigt zu haben und nun an sich selbst öffentlich appellieren, dieses zu ändern.
Symptomatisch für die Didaktik der politischen Bildung ist, wie dann auf die vorgeblich neuen Entwicklungsimpulse ein-bzw. nicht eingegangen wird. Wenn es die Autoren mit dem Ziel ernst meinen, den Schülern grundlegende Kenntnisse über das Gesellschaftssystem, über den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel zu vermitteln, und wenn die politische Bildung zur geistigen und politischen Bewältigung der genannten Schlüsselprobleme beitragen soll, dann bedarf es zur angemessenen Behandlung dieser komplexen sozialen Probleme umfassender sozialwissenschaftlicher, rechtswissenschaftlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Kenntnisse. Politische Bildung würde somit zu einer umfassenden Gesellschaftslehre. Diese Konsequenz der propagierten Ziele der politischen Bildung wird aber abgelehnt, weil ein umfassender sozialwissenschaftlicher Ansatz, „in der Gefahr (steht), die Besonderheiten des Politischen’ zu verkennen“. Verworfen wird aber auch eine Reduzierung des Politischenauf „bloße Institutionenkunde“. Es gelte, auch „die Inhalte, Gegenstände und Probleme von praktischer Politik angemessen zu erfassen“. Hierzu bedürfte es jedoch der „weitreichenden Informationen aus Soziologie, Ökonomie, Recht und Zeit-geschichte“ d. h. jener sozialwissenschaftlichen Ausbildung der Lehrer, die wiederum abgelehnt wird.
Dieser fundamentale Widerspruch in ihrer Konzeption von politischer Bildung wird von den Autoren aber offensichtlich nicht wahrgenommen. Andernfalls könnten sie nicht behaupten, die politische Bildung könnte ihren Aufgaben nachkommen, wenn sie nur materiell entschieden gefördert und ihr eine höhere Wertschätzung entgegengebracht würde Die Möglichkeit, daß gerade derartige Widersprüche und Konzeptionslosigkeiten der Didaktik der politischen Bildung und die Behandlung wichtiger gesellschaftlicher Probleme ohne entsprechende fachwissenschaftliche Qualifizierung der Lehrer zu dem geringen Ansehen der politischen Bildung und ihrer Didaktik an Universitäten, im politischen und Bildungssystem und in der Öffentlichkeit beigetragen haben, ziehen sie nicht in Betracht. Es sieht so aus, als ob viele Verantwortliche für die Didaktik der politischen Bildung kein Bewußtsein von den grundlegenden Defiziten und damit der Krise ihrer Disziplin haben. Ähnliche Widersprüche, Unklarheiten und Vagheiten hinsichtlich der Ziele, Inhalte und Qualifikationsanforderungen der politischen Bildung sind weit über die Autorenschaft des „Darmstädter Appells“ hinaus verbreitet. Man findet sie z. B. auch in der Schrift „Politikdidaktik kurzgefaßt“, in der die Ergebnisse von Werkstattgesprächen zusammengefaßt sind, die zwischen Verantwortlichen für die Lehrerausbildung in Universitäten, in Ausbildungs-und Fortbildungseinrichtungen der Länder und Lehrern geführt wurden Themen des politischen Unterrichts sind danach neben den politischen Institutionen und politischen Entscheidungsprozessen auch die Gegenstände politischer Auseinandersetzungen und Entscheidungen. Von den Lehrern wird verlangt, daß sie sich hinsichtlich der jeweiligen Themen „u. a. einen Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Forschung und der politischen Diskussion verschaffen“. Treffen sie „ohne nähere Sachinformationen aus (ihrem) mehr oder weniger zufällig vorhandenem Wissen heraus didaktische Entscheidungen, dann wird die Unterrichtseinheit wahrscheinlich mißlingen. Ein Lehrer wird etwas fachwissenschaftlich Falsches oder Einseitiges auch mit einem Medienfeuerwerk und mit Methodenvielfalt im Unterricht immer als falsche bzw. einseitige Lernaufgabe präsentieren.“
Kurz darauf kommen die Verfasser jedoch zu dem Schluß, daß dieser Anspruch an die fachwissenschaftliche Kompetenz nicht einlösbar ist. Denn es wäre „eine völlige Überforderung von denjenigen, die ein Fach der politischen Bildung unterrichten, zu erwarten, in allen denkbaren sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen -Psychologie, Rechtswissenschaft, Ökonomie, Soziologie (vielleicht auch zusätzlich in den Naturwissenschaften, z. B. zu der Frage, wie hoch das Sicherheitsrisiko eines Atomkraftwerks ist) -kompetent zu sein“ Das Dilemma der politischen Bildung wäre bei dieser Argumentation: Lieber die Gegenstände politischer Auseinandersetzung gar nicht als falsch und einseitig behandeln oder sie lieber einseitig und falsch als gar nicht zu behandeln. Die Verfasser entscheiden sich für die zweite Möglichkeit. Es komme vor allem auf die politikwissenschaftliche Kompetenz an, und es genüge, wenn die jeweils für ein Thema relevanten anderen Bezugswissenschaften aus der Perspektive des politikwissenschaftlich Ausgebildeten „befragt“ würden. Das heißt, die jeweiligen psychologischen, juristischen, ökonomischen, soziologischen und gegebenenfalls naturwissenschaftlichen Kenntnisse des Politiklehrers genügten schon, denn im Zentrum des Unterrichts stehe ja das , Politische. Die Frage, ob sachlich falsche oder einseitige Darstellungen und Analysen nicht auch zu falschen Einsichten in das . Politische führen könnten, wird in diesem Zusammenhang nicht mehr gestellt
Hinzu kommt noch, daß nicht gesagt werden kann, was unter dem Politischen’ eigentlich zu verstehen ist Vielmehr wird darauf verwiesen, daß es je nach theoretischem Ansatz, historischen Erfahrungen und Interessen sehr verschiedene Politikbegriffe und -Verständnisse gibt. Dem Lehrer wird geraten, sich einen für den Unterricht geeigneten Politikbegriff auszusuchen. Der angemessene Politikbegriff soll die Komplexität der „politischen Wirklichkeit einfangen“, wichtige Teile davon nicht ausblenden und sich eignen, die Komplexität der politischen Wirklichkeit zu strukturieren und zu systematisieren. Da jedoch die „politische Wirklichkeit“, ihre „Komplexität“ und „Struktur“ nicht begriffslos gegeben sind, sondern wiederum von dem vorgängigen Politikbegriff abhängen, ist dieses Auswahlkriterium für den richtigen Politik-begriff zirkulär und der Lehrer hinsichtlich der Bestimmung des geeigneten Politikbegriffs, der Auswahl von den Zielen und Inhalten der politischen Bildung so klug wie zuvor.
Als eine weitere Hilfe zur Gestaltung des Unterrichts wird die Unterscheidung zwischen den politischen Institutionen (polity), den Gegenständen politischer Auseinandersetzungen und Entscheidungen (policy) und den Prozessen der politischen Entscheidung über die Probleme (politics) genannt. Zu Recht erkennen die Autoren, daß diese Unterscheidungen für alle politischen Probleme relevant sind. Verstanden als Dimensionen politischer Probleme enthalten sie aber keine Auswahlkriterien für Ziele und Inhalte der politischen Bildung.
Angesichts derartiger Widersprüche, Unklarheiten und Vagheiten von Konzeptionen für den politischen Unterricht sind die Ergebnisse einer Befragung von Lehrern für politische Bildung nachvollziehbar: „Die meisten Lehrerinnen und Lehrer messen der Fachdidaktik geringe oder keine Bedeutung für die Unterrichtstätigkeit zu. Daraus folgt: Zwischen Fachdidaktik und Unterrichtspraxis besteht keine Verbindung mehr. Der Sozialkundeunterricht und die didaktische Forschung und Lehre an den Hochschulen führen ein Eigenleben. Die Mehrheit der Befragten neigt dazu, Didaktik auf Methodik zu reduzieren.“ 3. Politikdidaktik als Ausdruck des politischen Zeitgeists Die tiefliegende Ursache für die desolate Situation der politischen Bildung kann darin gesehen werden, daß ihre Hauptströmungen im allgemeinen stets nur Ausdruck des politischen Zeitgeists waren. Eine wissenschaftlichen Kriterien genügende, bildungstheoretisch begründete Position, von der aus sie den Zeitgeist hätten kritisch befragen und in Frage stellen können, wurde im allgemeinen nicht erarbeitet.
Die Zeit zu Beginn der Bundesrepublik war von einer Transformation obrigkeitsstaatlicher und volksgemeinschaftlicher Orientierungen in ein gemeinschaftliches Streben nach ökonomischem Wohlstand, von Verdrängung statt Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und von innergesellschaftlichem Konfliktvermeidungsverhalten der Bevölkerung bei gleichzeitiger antikommunistischer Abgrenzung gekennzeichnet. Die entsprechende Konzeption politischer Bildung war partnerschaftlich und antikommunistisch ausgerichtet
Mit der Festigung und zunehmenden Akzeptanz des politischen und wirtschaftlichen Systems sowie dem Hereinwachsen politisch unbelasteter Generationen in die gesellschaftliche Verantwortung wurden Wahrnehmung und Austragung von Konflikten innerhalb des akzeptierten und abgesteckten Rahmens nicht mehr so stark abgewehrt. Dementsprechend wurden ab Mitte der sechziger Jahre zunehmend gesellschaftliche Konflikte und deren demokratische Austragung als Gegenstand der politischen Bildung und die Konfliktfähigkeit der Subjekte als Bildungsziel begründet -allerdings auch heftig von harmonistisch orientierten Didaktikern, Politikern und Bevölkerungskreisen befehdet.
Die Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre kritisierte die autoritären gesellschaftlichen Strukturen, stellte die kapitalistische Organisation der Wirtschaft als den zentralen gesellschaftlichen Konfliktherd heraus und propagierte sozialistische Lösungen. Die nicht unbeträchtliche Rezeption der Kapitalismuskritik im Sinne einer Konzentrations-und Machtkritik sowie Kritik der autoritären Strukturen, die auch von Liberalen geteilt werden konnte -weniger dagegen die sozialistischen Lösungsvorschläge und Utopien -, brachte dann auch entsprechende politikdidaktische Konzeptionen, sogenannte emanzipatorische Didaktiken, hervor. Ihren kurzen gesellschaftlichen Höhepunkt hatten sie, als einige Landespolitiker für kurze Zeit der illusionären Vorstellung anhingen, sich auch mit ihrer Hilfe die politische Macht sichern zu können. Dies war die Blütezeit parteipolitischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlich orientierter Auseinandersetzungen um eine angemessene Politikdidaktik.
Mit dem Ausbau der sozialstaatlichen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Komponenten der sozialen Marktwirtschaft unter der sozialliberalen Regierung verloren die kapitalismuskritischen Strömungen in der Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. Angesichts der hohen Akzeptanz und Stabilität des politischen und wirtschaftlichen Systems (trotz steigender Arbeitslosigkeit) traten seit Ende der siebziger Jahre Thematisierungen gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge und die Frage nach den Zielen und Inhalten der politischen Bildung immer mehr in den Hintergrund. 4. Zunehmende Konzentration auf Methoden-fragen Es begann eine „nachkonzeptionelle Phase“ mit einer zunehmenden Konzentration auf Methoden-fragen der politischen Bildung: „Didaktische Entwürfe (werden) nur noch in der partiellen Sicht von . Orientierungen'entwickelt...: Alltagsorientierung, Stadtteilorientierung, Bedürfnisorientierung, Erfahrungsorientierung, Handlungsorientierung usw. Ich verstehe das so: Der theoretischen Explikationen überdrüssig oder von der massiven Kritik beeindruckt, wendet man sich direkt der Praxis zu und findet diese als Realität der Schüler (Schülerorientierung), als Realität, in der die Schüler leben (Alltagsorientierung), als Bewußtsein, wie es ist oder im Alltag entsteht (Erfahrungsorientierung).“ Natürlich wäre auch noch auf die „Betroffenheit“ als weiteres Auswahl-und Legitimationskriterium hinzuweisen.
Die Behandlung zentraler Strukturen des Gesellschafts-und des politischen Systems tritt auch in jenen Ansätzen in den Hintergrund, die die Förderung von Konfliktfähigkeit als Bildungsziel angeben. Solange sie für die Ebene der Unterrichtsinhalte keine bildungs-und gesellschaftstheoretischen Begründungen für die Auswahl der zu behandelnden Konflikte und für die Fragestellungen, unter denen sie zu behandeln sind, angeben, dominieren unterrichtspraktische Überlegungen: Demnach steigen durch die Behandlung aktueller Konflikte die Chancen, die Schüler für den Unterricht zu motivieren; die Bedingungen für einen lebhaften, kontroversen Unterricht und für den Einsatz handlungsorientierter Methoden wie z. B. Rollenspiele werden günstiger etc.
Soweit das Ziel der Konfliktfähigkeit die Entwicklung von Persönlichkeitsstrukturen -insbesondere die Förderung individueller Handlungsressourcen wie Frustrations-, Ambiguitäts-und Rollendistanz sowie Selbstbewußtsein -und die Vermittlung von konsensorientiertem Interaktions-und Kommuni-kationsverhalten im Unterricht ist, sind Fragen nach der Auswahl zentraler Inhalte der politischen Bildung ebenfalls von nachrangiger Bedeutung. Darüber hinaus lassen die sozialisatorischen Konstitutionsbedingungen für die angestrebten Persönlichkeitsstrukturen aber nicht nur Zweifel an der Erreichbarkeit dieser Zielsetzung durch die politische Bildung aufkommen. Vielmehr verweisen sie auch auf die hohe Bedeutung von (schulischen) Interaktions-und Kommunikationsstrukturen für die gewünschte Persönlichkeitsentwicklung. Diese sind aber in keiner Weise fachspezifisch und erfordern zu ihrer Institutionalisierung dementsprechend in keiner Weise ein eigenständiges Unterrichtsfach „Politische Bildung“. Dieses ist nur zu rechtfertigen, wenn fachspezifische Unterrichtsziele und -inhalte bildungs-und gesellschaftstheoretisch begründet werden können. Diese Einwände gelten im Prinzip auch gegen das Ziel der Förderung der moralischen Urteilskompetenz oder gar Urteilsperformanz der Schülerinnen und Schüler. Hier besteht zusätzlich die Gefahr eines bloßen, nur für Zeugnisnoten relevanten schulischen Inhaltslernens von moralischen Regeln
Eine Schlüsselrolle für diese Reduzierungen der Politikdidaktik spielte der sogenannte Beutelsbacher Konsens von 1977. Seinerzeit trafen sich die führenden Vertreter der divergierenden Ansätze und beschlossen, ihre theoretischen und politischen Differenzen hintanzustellen. Sie einigten sich auf drei Grundsätze von politischer Bildung, die diese aus politischen Kontroversen heraushalten sollte Diese Grundsätze lauteten (in umgekehrter Reihenfolge): -„Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.“ Im Einklang mit dem an Bedeutung gewonnenen Wert der individuellen Durchsetzungsfähigkeit entfallen hier jegliche Reflexionen auf die Legitimierbarkeit und Verallgemeinerbarkeit von Interessen, deren Begrenzung durch Persönlichkeitsansprüche von anderen und durch gesellschaftliche Verpflichtungen. Im Vordergrund steht, die Gesellschaft optimal zum eigenen, unhinterfragten Vorteil zu nutzen. Die politische Bildung bezieht keine kritische Position hierzu. -„Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen.“
Daß es fundamentale gesellschaftliche Strukturen gibt und es gesellschaftstheoretisch fundierter Auswahl-und Beurteilungskriterien für die Strukturierung der Fülle von gesellschaftlichen Problemen und Konflikten bedarf, wird nicht mehr erwähnt. Die Gegenstände gesellschaftlicher Kontroversen werden damit mehr oder weniger gleichwertig; individuelle Interessen, Betroffenheit, Erfahrung, Handlungsorientierung etc. können so zu den dominanten Auswahlkriterien werden. -„Das Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern.“ An dieser Selbstverständlichkeit für eine öffentliche Erziehung in einer demokratischen Gesellschaft gibt nur die Wahl der Überschrift hinsichtlich der Haltung gegenüber den Schülerinnen und Schülern zu denken.
Diese substantielle Verarmung der Politikdidaktik und ihre Zuwendung zu Methodenfragen wird auch als „pragmatische Wende“ ausgegeben. Das soll wohl Realitätsgerechtigkeit, praktische Vernunft, Augenmaß, Angemessenheit u. ä. assoziieren lassen. Gleichzeitig drückt es Zufriedenheit mit dem Zustand der Politikdidaktik aus. Übersehen wird dabei aber, daß die Konzentration auf Methoden dem vielbeklagten fachfremd erteilten Unterricht in politischer Bildung gerade den Boden bereitet. Denn Methodenkompetenz gehört zum Berufsbild aller Lehrer. Nur wenige beurteilen diese Entwicklung kritisch. Gagel spricht z. B. von einer Selbstaufgabe der politischen Didaktik
Gegenwärtig ist das gesellschaftliche Bewußtsein eher von Hilflosigkeit angesichts der Fülle der sozialen Probleme und deren Komplexität geprägt. In schneller Folge werden neue Probleme (und alte immer wieder neu) in den Medien dargestellt. Ein Gefühl der Überforderung ist weit verbreitet, wenn es darum geht, Erklärungen für die Entstehung von Problemen und deren Strukturen zu finden sowie Problemlösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Es gibt keine allgemein verbreiteten bzw. akzeptierten Interpretationsmuster für die gesellschaftlichen Probleme, Konflikte und Lösungsansätze. Sieht man sich den Zustand der gegenwärtigen Politikdidaktik daraufhin an, kann man ihn leicht als Spiegel dieser Hilflosigkeit gegenüber der neuen „Unübersichtlichkeit“ der Gesellschaft und damit wiederum als Ausdruck des Zeitgeists interpretieren. Dies dürfte ein weiterer Grund für die Konzentration der Politikdidaktik auf Methodenfragen sein.
II. Lösungsansätze
Soll die Didaktik der politischen Bildung wieder Relevanz für die politische Bildung gewinnen sowie wissenschaftliche und gesellschaftliche Anerkennung finden, kommt sie nicht umhin, zunächst ihre Ziele und Inhalte bildungs-und gesellschaftstheoretisch zu fundieren, zu konkretisieren und systematisch aufeinander zu beziehen. Hierzu folgen nun einige Überlegungen. 1. Politische Bildung als Gesellschaftslehre Politische Bildung könnte sich z. B. auf ihre ursprüngliche Funktion besinnen, nämlich zur Förderung demokratischer Werteorientierungen, des demokratischen Bewußtseins und demokratischen Engagements beizutragen. Dann wäre ihr zentraler normativer Bezugspunkt das Streben der Individuen nach Autonomie, Selbstverantwortung und Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung, das an dem entsprechenden Streben der jeweils anderen seine Grenzen findet. Aus diesem individuellen Autonomiestreben resultiert der Anspruch der Individuen, die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die ihnen gleichermaßen Autonomieräume gewährleisten wie auch begrenzen, selbst zu bestimmen. Die Legitimität und Anerkennung der gesellschaftlichen Regeln resultiert daraus, daß die Individuen mit ihren jeweils unterschiedlichen Identitätsentwürfen. Freiheitsvorstellungen und Interessen die gleichen Chancen und Rechte haben, an der Bestimmung der gesellschaftlichen Regeln teilzuhaben. Demokratische Mehrheitsentscheidungen können aber nur so weit Legitimität beanspruchen, wie sie selbst nicht gegen den konstitutiven Wert der Demokratie, das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen verstoßen. Insofern müssen sie von einem unabhängigen Verfassungsgericht überprüft werden können. Rechtsstaatlichkeit und Gewalt-monopol wären weitere fundamentale staatliche Realisationsbedingungen für die Autonomie der Individuen.
Mit diesem normativen Bezugspunkt hätte politische Bildung dann z. B. über die normativen Grundlagen der Demokratie, über die Legitimation und Funktion demokratischer Institutionen zu unterrichten und diese daraufhin zu befragen, inwieweit sie dem Anspruch der Individuen auf Selbstbestimmung ihrer gesellschaftlichen Lebensbedingungen gerecht werden. Zu untersuchen wäre u. a., ob die Wähler hinreichend Einfluß auf die Zusammensetzung der politischen Institutionen nehmen können, ob sie über hinreichende Informationsquellen verfügen, das Handeln ihrer Repräsentanten zu kontrollieren, ob auch ihre Repräsentanten genügend Kontroll-und Entscheidungsmöglichkeiten gegenüber der Exekutive haben, durch welche Maßnahmen die Ansprüche der Bürger auf politische Selbstbestimmung gestärkt werden können und Tendenzen der Verselbständigung von politischen Institutionen und Politikern und damit u. a„ auch der Parteien-und Politikerverdrossenheit entgegengewirkt und das politische Engagement gestärkt werden kann. Jeweils ginge es primär um strukturelle Ursachen der Probleme und strukturelle Ansätze angemessener Problembewältigungen. Hilfreich für diese kritisch-konstruktive Funktion der politischen Bildung wären Vergleiche mit den Regelungen dieser Probleme in anderen Demokratien.
Im Unterricht wären diese Themen natürlich nicht abstrakt, sondern an Beispielen zu behandeln. Hierzu dürften die konkreten Sachverhalte (z. B. Bundesverfassungsgerichtsurteile zum informationeilen Selbstbestimmungsrecht, zu § 218, zum Kruzifixurteil) nicht nur verkürzt als Illustration herangezogen werden, sondern müßten in angemessener Komplexität dargestellt werden, damit die Schüler sich ein Urteil über die involvierten unterschiedlichen Wertvorstellungen, Wahrnehmungen und Interpretationen der Konflikte, über divergierende Interessen und deren Legitimation sowie über angemessene demokratische Reaktio-• nen auf die Urteile machen können. In anderen Problemfällen -wie z. B. die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament, die Funktion parlamentarischer Untersuchungsausschüsse etc. -käme die Frage nach den strukturellen Gründen für die Macht, bestimmte Wertvorstellungen. Problemdefinitionen und Interessen durchzusetzen, hinzu.
Neben der Behandlung der politischen Institutionen wären somit die politischen Entscheidungen selbst ein zentraler Schwerpunkt des Unterrichts. Aus der Vielzahl der Gesetze, Verwaltungsvorschriften und staatlichen Einrichtungen bzw. Leistungen interessieren vor allem jene, die für die Entfaltungsmöglichkeiten der Persönlichkeit von Bedeutung sind. Damit werden die diesbezüglichen Entscheidungen im Rahmen von Familien-, Bildungs-(Allgemein-, Berufs-, Weiterbildung), Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Arbeitsmarkt-, Unternehmensverfassungs-, Arbeitsschutz-und Sozialpolitik zum Inhalt der politischen Bildung. Die leitende Fragestellung wäre wieder die nach den unterschiedlichen Wertvorstellungen, Interessenlagen, Problemwahrnehmungen und -definitionen sowie nach den strukturellen Machtressourcen, auf die die jeweils zur Herrschaft gekommenen Positionen bzw. ihre Vertreter zurückgreifen konnten. Das heißt, auch hier müßten die Gegenstandsbereiche der politischen Entscheidungen in ihrer ganzen Komplexität zum Unterrichtsinhalt werden.
Durch diese Einbeziehung der für die Persönlichkeitsentfaltung relevanten politischen Entscheidungen würde die politische Bildung zwangsläufig zu einer umfassenden Gesellschaftslehre. Konsequenterweise sollte man sie dann auch so bezeichnen.
Im Hinblick auf die Autonomie des Individuums als normativen Bezugspunkt der -jetzt -Gesellschaftslehre würde allerdings die Behandlung des demokratischen politischen Institutionensystems und relevanter politischer Entscheidungen als Realisierungsbedingung für Persönlichkeitsentfaltung noch zu kurz greifen. Damit würde der gesellschaftlichen Konstitution von Individualität nicht hinreichend Rechnung getragen:
-Die Persönlichkeitsstrukturen der Individuen werden im Sozialisationsprozeß gesellschaftlich geformt. Dieser Sozialisationsprozeß wird weiterhin auch durch das Herkunftsmilieu und die soziale Lage der Herkunftsfamilien geprägt. (Bekanntlich haben z. B. Kinder von Eltern ohne berufliche Ausbildung, die als un-bzw. angelernte Arbeiter tätig sind, im Durchschnitt deutlich geringere Chancen, identitätsfördernde Ressourcen z. B. im Bereich des kognitiven Leistungsvermögens, der moralischen Urteilsfähigkeit und der Rollendistanz zu entwickeln als z. B. Beamtenkinder.) Diese gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen von Persönlichkeitsstrukturen wären ebenfalls in der Gesellschaftslehre zu thematisieren.
-Identitätsentwürfe sind stets auf ein spezifisches gesellschaftliches Werte-und Normensystem bezogen. Sie können nur im sozialen Handeln, im Rahmen vielfältiger, wechselseitiger Abhängigkeitsverhältnisse realisiert werden. Die für die Persönlichkeitsentwicklung relevanten Strukturen des gesellschaftlichen Werte-und Normensystems sind deshalb auch dann zu thematisieren, wenn sie politisch nicht umstritten, weil weithin anerkannt sind. Beispiele hierfür sind insbesondere die Bedeutung des Leistungsprinzips, der privatwirtschaftlichen Organisation der Marktwirtschaft für die strukturell höchst unterschiedlichen Chancen der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung.
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Autonomie des Individuums als Bezugsnorm der politischen Bildung zwangsläufig impliziert, daß diese nur als umfassende Gesellschaftslehre zu konzipieren ist. Ihre Gegenstände sind das politische Institutionensystem, die identitätsrelevanten politischen Entscheidungen, aber auch, in welcher Weise gesellschaftliche Werte-und Normen-systeme -u. a. vermittelt durch die Herkunftsfamilie die Bedürfnisse, Wertorientierungen und Weltinterpretationen der Subjekte formen, welche Autonomieräume sie ihnen belassen, welche Autonomieleistungen sie ihnen abverlangen, welche inhaltlichen Vorstellungen sie für die individuellen Identitätsentwürfe enthalten bzw. gesellschaftlich normiert vorgeben, in welcher Weise die gesellschaftlichen Chancen zur Identitätsentfaltung ungleich verteilt sind, welche, strukturellen Ursachen dies hat und wie diese legitimiert werden. Indem die Gesellschaftslehre verdeutlicht, daß Identitätsbehauptung auf die Anerkennung durch andere, die die gleichen Wertorientierungen und sozialen Deutungsmuster teilen, angewiesen ist und daß die Autonomie des Individuums nur in einer Gesellschaft realisierbar ist, deren Werte-und Normensysteme an dieser regulativen Norm ausgerichtet ist -nach Adorno nur in einer gerechten, menschlichen Gesellschaft, nach Hegel in einem guten Staat -, soll sie auch zu einem entsprechenden gesellschaftlichen Engagement im eigenen Identitätsinteresse beitragen. 2. Ausdifferenzierung der sozialökonomischen Bildung aus der Gesellschaftslehre Die von Politikdidaktikern befürchtete Überforderung von Lehrern sowie ihrer Ausbilder bei einer gemäß derartigen Überlegungen identitäts-und* gesellschaftstheoretisch fundierten Gesellschaftslehre erscheint auf den ersten Blick unvermeidbar. Die Lösung dieser Problematik reduziert sich aber nicht auf die Alternative einer umfassenden Gesellschaftslehre einerseits, die zumindest in Teilbereichen mit Oberflächlichkeit und Dilettantismus einhergehen würde, und einer Reduzierung auf das Funktionieren des politischen Institutionensystems gemäß demokratischen Prinzipien (Institutionenkunde) andererseits, wodurch gerade die inhaltlich relevanten, die Gesellschaft bewegenden politischen Entscheidungen aus dem Blick gerieten. Die anzustrebende Lösung kann, wenn Aufgaben und Anspruchsniveau der Gesellschaftslehre nicht reduziert werden sollen -vergleichbar der Thematisierung von Natur in Wissenschaft und Unterricht nur in einer Ausdifferenzierung von Teilbereichen der Gesellschaftslehre zu einem eigenständigen Unterrichtsfach liegen.
Hier bietet sich die Behandlung des Wirtschaftsund Beschäftigungssystems (inkl.des beruflichen Bildungssystems) als gesellschaftliches Teilsystem im Rahmen einer speziellen „sozialökonomischen Bildung“ als eigenständiges Studien-und Unterrichtsfach an. Diese Ausdifferenzierung der sozialökonomischen Bildung liegt nahe, weil das ökonomische System'für das gesellschaftliche Gesamtsystem und dessen Entwicklung ebenso wie die Erwerbsarbeit für die Identitätsentfaltung und das Identitätsselbstverständnis von zentraler Bedeutung sind und weil für ein angemessenes Verständnis von Wirtschafts-und Beschäftigungssystem umfangreiche und differenzierte wirtschaftswissenschaftliche, soziologische und rechtliche Kenntnisse notwendig sind, so daß dies eine spezielle Ausbildung erforderlich macht. Hierfür gibt es unter so unterschiedlichen Fachbezeichnungen wie z. B. Arbeitslehre, Wirtschaftslehre, Arbeit/Wirtschaft und Wirtschafts-und Rechts-lehre bereits vielfältige Institutionalisierungsansätze in allen Schularten und Stufen des allgemeinbildenden Schulsystems.
Als Teilbereich der allgemeinbildenden Gesellschaftslehre könnte die sozialökonomische Bildung sich nicht auf die rein ökonomischen Zusammenhänge beschränken. Sie hätte das bestehende Wirtschafts-und Beschäftigungssystem als Ausdruck einer historischen Werte-, Interessen-und Machtkonstellation zu begreifen. Als allgemeinbildendes Fach hätte sie ebenso wie die politische Bildung die unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten für Individualität -in diesem Fall im System der Erwerbsarbeit -, deren ökonomische, technische und soziale Ursachen, die Kriterien und deren Legitimation für Zugang und Verteilung der ungleichen Berufspositionen sowie die individuellen, kollektiven und politischen Handlungsmöglichkeiten zur Wahrnehmung von individuellen Interessen zu analysieren.
Da sich politisch-administratives, ökonomisches und soziokulturelles System -in der begrifflichen Differenzierung in Anlehnung an Habermas -in vielfältiger Weise gegenseitig durchdringen (man denke nur an die Bedeutung der beruflichen Position für die außerberufliche Lebensführung, an die Bedeutung des ökonomischen Werte-und Normensystems und der Qualifikationsanforderungen „des Wirtschaftssystems“ für das allgemeine gesellschaftliche Wertesystem, für die Bildungsorientierung von Eltern und Kindern und die Gestaltung des Bildungssystems, aber auch an Anpassungen der betrieblichen Arbeitsorganisation an gestiegene Selbstverwirklichungsansprüche, an die direkten und indirekten Eingriffe des politischen Systems in das Wirtschaftsgeschehen durch Festlegung des rechtlichen Rahmens für wirtschaftliches Handeln), wird es zwischen politischer und sozialökonomischer Bildung auch vielfache Überschneidungen geben -und es drängen sich Kooperationen bzw. fächerübergreifender Unterricht geradezu auf.
Wenn also einerseits den Schülern grundlegende Kenntnisse über das Gesellschaftssystem, über politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel vermittelt werden sollen und andererseits in Studium und Unterricht der politischen Bildung ein wissenschaftlicher Standard aufrechterhalten werden soll, der anderen Fächern vergleichbar ist dann müßten die Vertreter der Didaktik der politischen Bildung größtes Interesse an einer Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der sozialökonomischen Bildung in Universität und Schule und an einer engen Kooperation mit ihr haben. 3. Auswahlkriterien für Studium und Unterricht Nach einer Ausdifferenzierung der sozialökonomischen Bildung wäre neben dem politisch-administrativen immer noch das soziokulturelle System Gegenstand der verbleibenden Gesellschaftslehre. Das heißt, eine Konzentration auf die Politikwissenschaft ließe sich weiterhin nicht begründen. Neben Demokratietheorien träten vor allem allgemeine Gesellschaftstheorien, die das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum und die gesellschaftlichen Ursachen für die Herausbildung der Autonomie des Individuums als grundlegender Norm demokratischer Gesellschaften thematisieren, Identitäts-und Sozialisationstheorien sowie darauf bezogene empirische Gesellschaftsanalysen. Sie hätten die Funktion, Ziele und Inhalte des Fachs differenzierter zu begründen und zu strukturieren und wären gleichzeitig das fachwissenschaftliche Fundament der Gesellschaftslehre.
Auch die Einbeziehung des soziokulturellen Systems als Gegenstand der Gesellschaftslehre müßte nicht notwendig zu der befürchteten Ausuferung der Inhalte der politischen Bildung führen. Vielmehr würde der normative Bezugspunkt der Politikdidaktik -die Autonomie des Individuums -als einschränkendes Auswahlkriterium für die Unterrichtsinhalte und als leitende Fragestellung für ihre Behandlung dienen. Relevant wären dann vor allem jene gesellschaftlichen Werte und Normen, die die formalen und materialen Bedingungen und Chancen für die Autonomie des einzelnen bestimmen, sowie jene vergangenen und gegenwärtigen Entscheidungen, an denen der stete Konflikt zwischen individuellem Autonomie-streben und dem Schutz der Autonomie der anderen verdeutlicht werden kann. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen, wobei insbesondere das erste auch das Verhältnis von Gesellschaftslehre und sozialökonomischer Bildung an einem konkreten Fall näher ausführt: -Erwerbsarbeit hat in unserer Gesellschaft eine wesentliche Bedeutung für die Identitätsbildung und -entfaltung und für die biographischen Lebensentwürfe von Jugendlichen. Die Übernahme der Berufsrolle ist für sie ein wichtiger Schritt zur Autonomie, zur Selbstverantwortung, kurz, zum Erwachsenwerden. Erwerbsarbeit ist ein herausgehobenes soziales Handlungsfeld, in dem sie ihre Leistungsfähigkeit beweisen können und sozial anerkannt bekommen. Sie ist wichtig für das Selbstwertgefühl und die soziale Integration der Individuen. Dabei werden die Ansprüche an die Identitätsentfaltung in der Berufsrolle zunehmend höher. Demgegenüber ist die Organisation der Unternehmen auf das Rentabilitätsprinzip abgestellt, herrscht traditionell eine instrumentelle Haltung gegenüber den Mitarbeitern und Mißtrauen gegenüber deren Leistungsbereitschaft vor; dementsprechend werden die Autonomieräume in der Arbeit nach Möglichkeit klein gehalten (Taylorismus), sind die Persönlichkeitsentfaltungsmöglichkeiten sowohl begrenzt wie auch höchst ungleich verteilt und steigt das Spannungsverhältnis zwischen betrieblichen Organisationsprinzipien und beruflicher Tätigkeit einerseits und Ansprüchen der Mitarbeiter an die Arbeit andererseits, soweit nicht -wie in Anfängen zu beobachten -die betriebliche Arbeitsorganisation den Arbeitsansprüchen stärker angepaßt wird.
Entsprechend der hohen Bedeutung von Erwerbs-arbeit für die Identitätsentwicklung und das Identitätsselbstverständnis sind Identitätsbeeinträchtigungen durch Arbeitslosigkeit gravierend. Diese Bedeutung von Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit wäre gleichermaßen Unterrichtsgegenstand der Gesellschaftslehre wie der sozialökonomischen Bildung.
Die sozialökonomische Bildung würde darüber hinaus die unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten in Berufspositionen, die Mechanismen der Verteilung der Positionen und die ökonomischen sowie die durch ökonomisches Handeln vermittelten technischen und gesellschaftlichen Ursachen für die Begrenzungen von Identitätsentfaltung in der Erwerbsarbeit analysieren. Insbesondere würde sie auch die ökonomischen, technischen und gesellschaftlichen Gründe für Arbeitslosigkeit und mögliche Gegenstrategien thematisieren. Hierzu sind u. a. entsprechende wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse notwendig.
Im Rahmen der Gesellschaftslehre ginge es dagegen z. B. bei der Behandlung der Arbeitslosigkeit nicht um die Erklärung der ökonomischen Zusammenhänge. Hier stünde zunächst die Identitätsbedeutung von Arbeitslosigkeit im Vordergrund. Auch ohne wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse ist offensichtlich, daß das gegenwärtige Niveau von Arbeitslosigkeit struktureller Art und nicht auf mangelnde Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft der Arbeitslosen zurückzuführen ist. Zu diskutieren wären deshalb z. B. die subjektiven und gesellschaftlichen Implikationen einer generellen Umverteilung von Arbeit auf alle Arbeitsuchenden mit entsprechenden Einkommenseinbußen (wie dies konkret im Wirtschafts-und Beschäftigungssystem realisierbar ist, ohne die Kapitalrentabilität zu senken, was Arbeitsplätze gefährden würde, wäre wiederum Gegenstand der sozialökonomischen Bildung) im Vergleich zu einer (zunächst?) billigeren Alimentierung von Sockelarbeitslosigkeit durch die Mehrheit der Arbeitsbesitzer sowie die politischen Realisierungschancen dieser idealtypischen Alternativstrategien. Thema der politischen Bildung wäre somit das Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Verantwortung sowie von Solidarität im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit und nicht die Erklärung ökonomischer Zusammenhänge. -Der normative Bezugspunkt der Gesellschaftslehre könnte auch zur Konzentration der Inhalte bei einer Ausdehnung der Gegenstandsbereiche der politischen Bildung über den nationalen Rahmen hinaus führen. Zu fragen wäre dann, in wel eher Weise inter-bzw. supranationale Institutionen bzw. Organisationen dem Autonomie-und Selbstbestimmungsrecht der Individuen gerecht werden bzw. es befördern. Des weiteren wäre zu diskutieren, inwieweit das Verständnis der Autonomie des Individuums als universalistische Norm (die die universalistischen Normen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit impliziert) in Verbindung mit der Einsicht in die gesellschaftliche Konstitution von Individualität eine Verantwortung für die Durchsetzung dieser Normen außerhalb nationaler Grenzen begründet. Die Analyse internationaler Wirtschaftsbeziehungen, z. T. in Rahmenplänen für die politische Bildung enthalten, wäre dagegen wieder Gegenstand der sozialökonomischen Bildung, da sie umfangreichere ökonomische Kenntnisse voraussetzt. Zu behandeln wären z. B. Interessenkollisionen zwischen Exportwirtschaft und einer an den Menschenrechten orientierten Außenpolitik. Eingehende wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse sind dafür nicht erforderlich, weil es letztlich um die Bewertung von Interessenkonflikten geht. -Mit der Grundnorm der individuellen Autonomie wäre auch eine Basis gegenüber einem häufiger zu beobachtenden Werterelativismus und einer lediglich -nach dem Motto „Seid nett zueinander“ -multikulturellen Erziehung gegeben. Das heikle und konfliktreiche Problem der Integration oder Anpassung anderer Kulturen stände unter der leitenden Fragestellung der Verbindlichkeit, Reichweite und lebenspraktischen Umsetzung demokratischer Werte und Normen gegenüber widerstreitenden Werten und Normen. 4. Unterrichtsmethoden Erst im Anschluß an eine derartige -oder ähnlich fundierte -Klärung von Zielen und Inhalten der politischen Bildung werden die vielfältigen Unterrichtsmethoden relevant. Sie wären hinsichtlich ihrer jeweiligen Ziel-und Inhaltsangemessenheit sowie ihrer Eignung, diese mit dem kognitiven Leistungsvermögen, den Interessen, Motiven und Erfahrungen der Schüler zu verbinden, zu analysieren. Darauf kann hier nicht detailliert eingegangen werden, doch ist in diesem Zusammenhang auf zwei prinzipielle Aspekte hinzuweisen:
-Die Komplexität der Gesellschaft und ihr ständiger Wandel läßt diese im Unterricht nur ausschnitthaft und ihre Strukturen auch nur exemplarisch behandeln. Die Schüler sind deshalb zu befähigen -und das ist bei der Wahl der Methoden zu beachten -, theoretische Erklärungsansätze selbständig auf neue komplexe gesellschaftliche
Probleme bzw. Sachverhalte anzuwenden, sich Informationen hierfür zu beschaffen, diese auszuwerten, gegebenenfalls Defizite in ihren theoretischen Erklärungsansätzen zu erkennen, letztere dann zu differenzieren oder zu modifizieren -d. h., sie sollten eine theoretische und methodische sozialwissenschaftliche Kompetenz erwerben und in diesem Lernprozeß ihre eigenen sozialen Deutungsmuster differenzieren und von Inkonsistenzen befreien, sofern nicht affektive oder interessenbezogene Widerstände bei den Schülern dem entgegenstehen. Zur Stärkung dieser anzustrebenden Selbständigkeit und des Selbstbewußtseins der Schüler haben Methoden des entdeckenden und forschenden Lernens, wie z. B. Fallanalysen, eine herausgehobene Bedeutung. -Über die Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft kann nicht nur inhaltlich-fachlich unterrichtet werden, wenn sie wirklich übernommen werden sollen. Sie müssen auch in den schulischen Kommunikations-und Interaktionsstrukturen verbindlich institutionalisiert und Teil der Lebenspraxis sein. Insofern wird von dem Lehrer hohes pädagogisches Engagement, soziale Sensibilität und Duchsetzungsvermögen verlangt. Diese Realisierung der zu vermittelnden Werte in der gesellschaftlichen Praxis, im Alltag, ist aber nicht angemessen erfaßt, wenn man sie unter den Methoden der politischen Bildung subsumiert.
III. Politikdidaktik am Scheideweg
Gesellschaftslehre, die als Fach der Allgemeinbildung auf Persönlichkeitsbildung zielt, muß notwendig auch bildungs-, d. h. persönlichkeitstheoretisch begründet werden. Es bedarf eines theoretischen Persönlichkeitskonzepts, das die gesellschaftliche Konstitution der Individuen, den strukturellen Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft, erfaßt und so die Aufmerksamkeit auch auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Individualitätsentfaltung -auf gesellschaftliche Werte-und Normensysteme, auf Macht-und Interessenstrukturen -lenkt. Die Auswahl der gesellschaftlichen Unterrichtsgegenstände und der gesellschaftstheoretischen Analysen würde damit eine bildungstheoretische Begründung erfahren. Gleichzeitig müßte das Konzept die Internalisierung von gesellschaftlichen Wertesystemen und gesellschaftlichen Deutungsmustern -mit ihren ideologischen Komponenten zur Legitimation von partikularen Interessen und gesellschaftlichen Privilegien -theoretisch erfassen können. Ohne eine angemessene bildungs-und gesellschaftstheoretische Grundlage gerät die politische Bildung konzeptionell in Gefahr, sich sowohl Illusionen über ihre Bedeutung im Rahmen der politischen Sozialisation der Heranwachsenden als auch über ihre Bedeutung für den gesellschaftlichen Wandel zu machen. Das hinsichtlich dieser Ansprüche bis heute überzeugendste bildungstheoretische Konzept ist das auf G. H. Mead fußende und soziologisch wie psychologisch weiterentwickelte Identitätskonzept des symbolischen Interaktionismus
Eine in diesem Sinne ausgearbeitete Didaktik der Gesellschaftslehre könnte für den Unterricht der Lehrer wieder erhebliche Bedeutung erlangen. Sie böte eine theoretisch fundierte Position gegen die Auslieferung des Politikunterrichts an schnell wechselnde Betroffenheiten und gesellschaftliche bzw. politische Aktualitäten, die wegen ihrer Fülle und Schnellebigkeit nur allzu leicht zu Oberflächlichkeit und Dilettantismus im Unterricht führen. Auch böte sie eine Position gegen Ausuferungen und Struktur-sowie Konturlosigkeiten, die aus der Deklarierung aller Situationen bzw. Probleme als gleichwertige politische („auch das Private ist politisch“) resultieren.
Außerdem würde sie eine sozialwissenschaftliche Ausbildung voraussetzen, die gar nicht erst die Idee aufkommen ließe, daß dieses Fach fach-fremd unterrichtet werden kann.
Eine an der Autonomie der Individuen orientierte Gesellschaftslehre wäre notwendig gesellschaftsund zeitgeistkritisch und damit konfliktträchtig. Mit ihr könnte leicht die gewünschte Anerkennung und Förderung von Politikern und Parteien verscherzt werden, da diese im allgemeinen zwecks Machterhaltung gerade Experten im „Surfen“ auf den vielfältigen Wogen des Zeitgeists sind (auch Populismus genannt). Andererseits haben aber auch die bisherigen Anpassungen der politischen Bildung an den Zeitgeist weder Reputationsverluste noch Ressourcenminderungen verhindern können. Es spricht somit einiges dafür, die „nachkonzeptionelle Phase“ der Didaktik der politischen Bildung mittels einer konzeptionellen, d. h. „theoretischen Wende“ zu beenden.
Wenn die Didaktik der politischen Bildung jedoch ihr Feld weiterhin wesentlich in den Methoden der politischen Bildung sieht, dann wird der Vorschlag, die fachdidaktische Ausbildung der Studenten Praktikern statt Wissenschaftlern zu übertragen und auf eine Wissenschaft der Didaktik der politischen Bildung an den Universitäten zu verzichten, wohl weiteren Beifall finden. Damit würde allerdings die Krise der Didaktik der politischen Bildung als Wissenschaft bis auf weiteres zementiert und nicht behoben.