I. Nehmen diese Demokratie und ihre Bürger sich gegenseitig ernst?
In keiner gesellschaftlichen Struktur ist die wechselseitige Abhängigkeit der Individuen so zwingend wie im politischen System der Demokratie. Das gleiche Wahlrecht (one man -one vote) verwirklicht -auch wenn es nicht durchweg ausgeübt wird -die Idee der Gleichheit in einem Maße, wie dies in keinem anderen gesellschaftlichen Teilbereich gegeben ist. Die Entscheidungen binden alle Bürger und Bürgerinnen aneinander, auch wenn ihnen dieser Zusammenhang nicht bewußt sein sollte. Durch alle Einzel-und Partikularinteressen hindurch bleibt die Herstellung des Gemeinsamen eine Notwendigkeit und eine Verpflichtung.
Politisches System und soziale Lebenswelt sind nicht nur aufeinander bezogen, sie sind auch voneinander abhängig. Es wäre naiv, Demokratie als allein durch ihre politischen Institutionen gesichert zu betrachten. „Für den politischen Prozeß eines Gemeinwesens, für dessen Stabilität und Legitimität geben im Zweifelsfall nicht die Institutionen den Ausschlag, die sich ein Gemeinwesen schafft, sondern die lebendige politische Kultur, die es zur Entfaltung bringen.“ Institutionen als geronnene Erfahrungen bedürfen der Möglichkeit der Aktualisierung im Denken, Fühlen und-Handeln der Bürger; dies ist besonders in Krisenzeiten notwendig.
Gegenwärtig sind offensichtlich weder der Zusammenhang von politischem System und Bürgerkultur noch der Prozeß einer Verallgemeinerung von Bedürfnissen und Interessen zu spüren. „Politikverdrossenheit“ bezeichnet die wechselseitige Distanz und Entfremdung, ja sogar das wechselseitige Mißtrauen von Bürgern und Akteuren im politischen System: Bürger werfen Politikern vor, ihre Welt nicht zu kennen und nicht kennen zu wollen; Politiker werfen Bürgern vor, nur ihr privates Eigeninteresse in Ansprüche umzusetzen und die Mühe der ällgemeineren Perspektive zu scheuen
Diese Distanz zwischen Staatsbürger und Politik ist Teil und Ausdruck eines umfassenderen Integrationsproblems. Unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme sind nach unterschiedlichen Regelsystemen konstruiert -die Wirtschaft verfährt anders als der soziale Nahbereich und dieser wieder anders als politische Demokratie; ein gemeinsamer Zusammenhalt ist nicht ersichtlich. Unbefragte Traditionen bzw. stabile Subkulturen sind nicht prägend und führen nicht zu Stabilität. Die Auflösung relativer Klarheiten in den Prozessen von Pluralisierung (als Zunahme institutionell gegebener Möglichkeiten) und Individualisierung (als Chance und Aufgabe der eigenen Suche und Bestimmung des Lebens) bedeutet, daß individuelle und kollektive Bildungsprozesse um so wichtiger werden.
Individuelle Bildungsprozesse in Richtung auf postkonventionelle Identitäten sind im Prozeß der Modernisierung die einzige Chance, daß einzelne ihr Leben selbstbestimmt integrieren und sich zugleich über die normativen Implikationen dieser Art von Identität in eine neue Art der sozialen Einbindung begeben können. „Diese neue Art der sozialen Einbindung müßte als Eigenleistung der Individuen gedacht werden.“
Wenn Traditionen und andere Vorgegebenheiten nicht (mehr) unbefragt gelten, wenn die Zunahme an Wahlmöglichkeiten die Eigentätigkeit und damit auch die Verantwortlichkeit der Individuen steigert, dann müssen Bildungsprozesse auch in der Schule über die Vermittlung von Kenntnissen hinausgehen. Lern-und Entwicklungsvorgänge, die auf das individuelle Urteilen zielen und in sozialer Auseinandersetzung organisiert sind, stellen die einzige sichtbare Klammer zwischen den Aufgaben des Erwerbs persönlicher Identität und der Herstellung gesellschaftlich-politischer Integration dar.
Bürgertugenden entstehen nicht naturwüchsig aus den gegebenen Lebensverhältnissen. Solidarität als bindungserzeugende Kraft ergibt sich nur für den sozialen Nahraum durch das unmittelbare Erleben, nicht aber für sozial übergreifende Zusammenhänge -wie es Institutionen und Gesellschaften sind. Diese Solidarität muß durch eigene Entscheidungen von Menschen hergestellt werden. Das „Projekt der Solidarität durch Autonomie“ enthält als moderne Bürgertugenden „Gerechtigkeitssinn, Bürgermut und Urteilskraft“ „Der moralische Sinn für Gerechtigkeit bedarf der Urteilsfähigkeit, um politisch zu werden, und des Bürgermuts, um praktische Geltung zu erlangen. Der Urteilsfähigkeit kommt die Leitfunktion zu, weil sie es ist, die entscheiden kann, was Gerechtigkeit im Hinblick auf praktische Belange zu bedeuten hat und wo auf welche Weise entschlossenes Handeln zur Durchsetzung der politischen Ziele geboten ist. Ihre Bedeutung wächst, wenn die Verhältnisse unübersichtlich werden und das politische Handeln in seinen Ansatzpunkten und Ergebnissen zweifelhaft wird.“
Demokratie reproduziert sich nicht aus sich selbst heraus -eine vorhandene Form beinhaltet nicht schon automatisch das Leben für ihre Realisierung. Spontane Lernprozesse mögen die nächste Generation vieles lehren, aber nicht jene kognitiven, emotionalen und pragmatischen Fähigkeiten, die der Umgang mit dem höchst abstrakten, komplexen, moralisch anspruchsvollen und durch inhaltliche Widersprüche gekennzeichneten System der Demokratie verlangt.
Der Darmstädter Appell (s. die Dokumentation in diesem Heft S. 34 ff.) formuliert die Verwunderung und die Sorge, daß diese politische Gesellschaft und ihre Bürger und Bürgerinnen sich offenbar wechselseitig ignorieren. Weder bilden Individuen sich in Hinsicht aufs Gemeinwesen, noch mobilisiert das Gemeinwesen die ihm verfügbaren Ressourcen für diese Bildung. Mag man die Vielfalt der Fächerbezeichnungen und die Unterschiedlichkeit der Fächerzuschnitte noch auf die relative Jugend des Unterrichtsfaches zurückführen, die dann die herrschende Unübersichtlichkeit wiederholt, so kann man die magere Ausstattung des Faches nur verblüfft feststellen -Politikunterricht ist keineswegs in allen Klassenstufen realisiert. (Bildung für und zur Demokratie ist wohl nebensächlich.)
-Häufig handelt es sich um ein 1-Stunden-Fach.
(Interaktive Lernprozesse, die Selbsttätigkeit und gemeinsame Bestimmung der Arbeit bedeuten könnten, werden zwar in den Präambeln von Richtlinien und Lehrplänen gefordert, aber nicht ermöglicht.
-Fachfremd erteilter Unterricht ist nicht selten.
(Das Fach ist angewiesen auf den guten Willen von fachfremd Unterrichtenden. Dies kann aber den Erwerb sozialwissenschaftlicher Kompetenz nicht ersetzen.) -Die sogenannte Reifeprüfung erfordert nicht in allen Bundesländern auch nur ein Minimum sozialwissenschaftlich fundierten Politikunterrichts. (Diese Gesellschaft ist um ihre Fundamente unbekümmert.)
Zwar müssen die Unterschiede in den Bundesländern gesehen werden auch muß hervorgehoben werden, daß Demokratie-Lernen eine relativ junge (in den alten Bundesländern) oder eine ganz junge (in den neuen Bundesländern) Aufgabe darstellt und deshalb -historisch betrachtet -enorme Fortschritte gegeben sind, aber insgesamt stellt die heutige Situation einen Zustand der Geringachtung dieser Demokratie für sich und durch sich selbst dar.
II. Politikunterricht ist unbequem, er stört
Politische Bildung hat zur Zeit keine Konjunktur, und der Feststellung, daß Fachdidaktik und Fachunterricht zu wünschen übriglassen, ist wenig entgegenzusetzen. Nur: Dieses Argument sticht nicht, wie ein Blick z. B. auf das altehrwürdige Fach Physik zeigt, von dem auch nicht behauptet wird, daß es unproblematisch sei Ein relativ junges Fach kann sich zudem auf die zwangsläufige Notwendigkeit von Entwicklung berufen. Die Beliebtheit oder Unbeliebtheit des Faches bei Schülerinnen und Schülern -hierzu gibt es im übrigen kaum Daten -ist ebenfalls kein Argument per se: Im Falle der Beliebtheit würde bei diesem Fach eher geargwöhnt, es sei zu „leicht“; im Falle der Unbeliebtheit würde bei diesem Fach eher als sonst kritisiert, es erreiche die Lernenden nicht und sei „entfremdet“.
Zwei Eigentümlichkeiten des Faches können die derzeitige Randständigkeit der politischen Bildung in der öffentlichen Diskussion mit erklären: Das Fach selbst ist Gegenstand der Politikverdrossenheit, und der Unterricht verkündet niemandes spezifische Weitsicht als Wahrheit. Das Fach stört -die Politikverdrossenheit (weil es sie als Irrationalität an die Bürger und Bürgerinnen zurückgibt) und die Einzelsicht als Anforderung an Politik (weil es sie mit anderen Sichten konfrontiert).
Distanz zur Politik bzw. sogar Mißtrauen gegen institutionalisierte Politik verträgt sich bei vielen Lernenden durchaus mit sozialem Engagement und hohem Vertrauen in Bewegungen mit quasi moralischem Monopol. Dies zeigen nicht nur jugendsoziologische Untersuchungen dies ist auch Unterrichtserfahrung seit mindestens zehn Jahren. Konnte ich als Lehrerin für Politik bzw. Sozialwissenschaften in den siebziger Jahren mindestens auf Neugier, wenn nicht überhaupt auf aktives Interesse für politische und gesamtgesellschaftliche Probleme rechnen, so war diese Sichtweise in den vergangenen Jahren häufig eher eine Zumutung Gesteigert wurde das Erstaunen meiner -im übrigen fast immer liebens-und achtenswerten -Schülerinnen und Schüler dann, wenn ich meine Mitgliedschaft in der SPD erwähnte. Dieses Erstaunen äußerte sich übrigens -und auch das ist wohl bezeichnend -eher schweigend in Mimik und sonstiger Körpersprache. Der Unterton der Reaktionen, so sie denn ausgesprochen wurden, war: Sie sind doch sonst eigentlich ein ganz netter und vernünftiger Mensch.
Die Selbstverständlichkeit in der Demokratie des Grundgesetzes, daß Bürger und Bürgerinnen sich auch in den bündelnden und um Vermittlung der Willen bemühten Großorganisationen treffen (die deshalb ständig in sich zerrissen sind und nie das Wohlgefühl der klaren und eindeutigen Wahrheit geben können), ist zur Zeit nicht gegeben. Mag es dafür auch viele nachvollziehbare Gründe geben (Überlastung der Politik, der übliche Politikstil, symbolische Politik, Erfolglosigkeit in der Aufgabenbewältigung u. a. m.), so ist diese verbreitete Politikferne der Verfassung nicht angemessen. Für den Unterricht bedeutet dies, daß das Fach Politik eine unbequeme Anforderung an das Denken in Konflikten und Zusammenhängen darstellt, die dem gegenwärtigen Verdruß zuwiderläuft. Dies bedeutet auch, daß Fehlleistungen im politischen Raum auf den Unterricht zurückschlagen
Diese Störung -daß die Politik eisige Reaktionen hervorruft und damit auch den Politikunterricht beschädigt -kommt dem ersten Anschein nach von außen. Von innen -also aus der didaktischen Struktur des Faches -kommt eine gravierendere Störung, die das Bedürfnis vieler Lernenden nach Harmonie, nach Klarheit und nach wohlgeratener Einseitigkeit gefährdet. Der sogenannte Beutelsbacher Konsens, das Ergebnis einer fachdidaktischen Konferenz im Jahre 1976, formulierte drei Prinzipien für den Politik-Unterricht -das Überwältigungsverbot als Verbot von Indoktrination und Überrumpelung des Schülers durch den Unterricht; -das Kontroversprinzip als Gebot der Repräsentanz gesellschaftlich-politischer Konflikte im Unterricht; -das Schülerinteresse als Ziel und Weg des Unterrichts.
Das dritte Prinzip des Beutelsbacher Konsenses wird inzwischen differenzierter formuliert weil die Kategorie des Interesses nicht schon per se die Spannung von Einzelinteresse, den Perspektiven anderer, den Funktionen von Institutionen und Werten und schließlich einer Vorstellung von übergreifender Gemeinsamkeit zum Ausdruck bringt. Die -letztlich harmonistische -Hoffnung auf eine unsichtbare Hand, die in der Demokratie die vertretenen Einzelinteressen zu einem sinnvollen Ganzen fügen möge, muß durch die Einsicht ersetzt werden, daß Bürgerinnen und Bürger gemeinsam dieses Ganze herstellen und verantworten müssen.
Der Beutelsbacher Konsens enttäuscht illusionäre Sehnsüchte, die um so stärker zu sein scheinen, je gravierender die Probleme (rapider Wandel, Unübersichtlichkeit, Globalisierung) sich darstellen: Der Lehrer gibt keine klaren Gewißheiten -weder in der Analyse der Zeit, noch in der Bewertung von Vorgängen und schon gar nicht für das Parteiergreifen in Konflikten. Ganz im Gegenteil: Die in der Gesellschaft gegebenen Kontroversen und Interessenkonflikte muß er in den Unterricht hineinholen, damit sie repräsentiert werden.
Die Fähigkeit, Differenzen auszuhalten (Ambiguitätstoleranz die sich nicht schnell durch Dezision, Sympathien oder Antipathien bereinigen lassen, ist notwendig für die gemeinsame Analyse und Beurteilung als Voraussetzungen für eine rationale (also sachgemäße und verantwortbare) Entscheidung des einzelnen. Nicht nur den Lernenden wird hier viel abverlangt, auch den Lehrerinnen und Lehrern -im übrigen auch der Öffentlichkeit, zumal den Medien. Wenn im Verlauf einer Konfliktanalyse eine Lehrerin mich nach der Gegenüberstellung der -in sich ja allesamt verständlichen -Interessenpositionen Klarheit suchend anguckt und fragt: „Und wer hat nun recht?“, dann ist der Hintergrund der vormundschaftlichen DDR-Gesellschaft sicher eine mögliche Erklärung für den Versuch einer schnellen Konfliktbereinigung. Aber die Verstörung durch legitime Konflikte ist allgemeiner. Wenn ein Kollege sein Problem mit dem Fach so formuliert: „Ich bin im anderen Fach Naturwissenschaftler -da gibt es klar den Unterschied zwischen richtig und falsch. Hier ist alles immer so offen; z. B. Gesetze -die werden geändert“, dann sind andere Weltzugänge und auch Fachkulturen eine Bremse für die Fähigkeit, sich emotional und kognitiv auf Konflikte einzulassen
Die Qualifikationen, die im Politikunterricht die Ziele des Lernens darstellen können daher vielleicht am ehesten in „Konfliktfähigkeit“ zusammengefaßt werden. Hierzu würde gehören: -der zivile Umgang mit Kontroversen (Verzicht auf Gewalt, Akzeptanz von Regeln); -die Vermittlung des Eigeninteresses mit den Interessen Nahe-und Fernstehender und seine Ausweitung in Richtung auf ein allgemeines Interesse (Übernahme mehrerer Perspektiven); -die Suche nach Kenntnis bzw. Erkenntnis von Koordinationsmechanismen für das Handeln der einzelnen (Analyse der Anatomie gesellschaftlicher Teilbereiche und globaler Strukturen); -die Klärung impliziter Werte und die Entscheidung für Werte aufgrund von Kriterien (Werte-reflexion);
-der Entwurf von Plänen für das individuelle oder kollektive Handeln, die die kognitiven und affektiven Analyse-und Urteilsprozesse in ein stimmiges Bild integrieren, und ihre Ausführung (individuelle Identität und gesellschaftliche Integration). Konfliktfähigkeit in einem demokratischen Verständnis realisiert den wechselseitigen Bezug von Konsens und Konflikt. Tragfähige Konsense in Fragen konfligierender Interessen und vor dem Hintergrund zerbrochener Selbstverständlichkeiten können nur über Auseinandersetzungen errungen werden. Den Erwerb neuer Antworten müssen die Individuen leisten. Die Autonomie des einzelnen, der sich nur für und durch das Ganze verwirklichen kann, ist das Ziel -im Sinne eines regulativen Prinzips -des Politikunterrichts. „Mündiger Staatsbürger“ ist jene traditionellere Formulierung, die den Gebrauch des eigenen Mundes, die Artikulation(sfähigkeit) der eigenen Meinung, der eigenen Position in der Beziehung von Bürger und Staat prägnant ausdrückt Niemandes Partei wird im Politikunterricht ergriffen -das gilt sowohl für politische Parteien als auch für gesellschaftliche Großorganisationen. Niemandes Weltanschauung wird umstandslos tradiert -das gilt sowohl für Gemeinschaften als auch für Individuen. Die Auseinandersetzung der Lernenden soll befördert werden und damit ihre Fähigkeit, selbst zu tragfähigen Überzeugungen und Entscheidungen zu gelangen. Es braucht nicht zu verwundern, daß der Politikunterricht keine Lobby hat. Politikunterricht kann keine Lobby im Sinne der möglichst machtvollen Vertretung von Einzel-oder Partikularinteressen haben, weil er diese enttäuschen müßte. Seine Bildungsidee betrifft die Person als Gesellschaftsmitglied und politischer Bürger.
III. Aktuelle Perspektiven des Politikunterrichts
Im folgenden möchte ich zwei didaktische Problemfragen an den Politikunterricht stellen und erläutern. Anschließend werde ich eine doppelte fachdidaktische Antwort für Unterricht und Fach-struktur skizzieren.
Was heißt Werte-und Urteilsbildung im Politik-unterricht? Politische Bildung hat -auch -zum Ziel die Förderung politisch-moralischen Urteilsvermögens. Dieses Ziel ist mit zunehmender Unsicherheit und Unbestimmtheit des individuellen und kollektiven Lebens eine unabweisbare Aufgabe geworden. Der Mangel an Selbstverständlichkeiten erzeugt die Notwendigkeit des gemeinsamen Erwerbs von Gemeinsamkeiten. Aus der Diagnose folgen allgemeine pädagogische Konsequenzen, die fachdidaktisch zugespitzt werden können (weiter unten folgt die fachdidaktische Konkretisierung)
1. „Werte-Erziehung“ kann in einer modernen Gesellschaft nicht Werte-Vermittlung im Sinne von Werte-Indoktrination sein; der Vorgang muß reflexiv sein Das Überwältigungsverbot betrifft den Inhalt von Urteilen und auch die Wahl von Kategorien (Angebote statt Vorgaben). 2. „Werte-Reflexion" muß sachgebunden, also in den Realienfächern erfolgen. Die Isolierung der Wertedimension von den Dimensionen der Realität würde womöglich bloße Gesinnungsethik bzw. sachfremde Emotionalität provozieren. Werte-Bildüng muß also politisch-moralische Urteilsbildung sein. Sozialwissenschaftliches Sehen, wertendes Beurteilen und praktisches/politisches Handeln sind eine fachdidaktische Trias. 3. Reflexivität als Merkmal der Moderne und des ihr gemäßen Lernens verlangt ein interaktionistisches Lernkonzept, in dem die lernenden Subjekte den Prozeß aktiv mit konstruieren. Deshalb sind Verfahren für den Unterricht zu entwerfen, die die Verarbeitung von Wertekonflikten in die Richtung der Kriterienprüfung und der Entscheidung ermöglichen (Streitverfahren, Meta-Phasen für Analyse und Reflexion, Phase der Politisierung).
An diesem Punkt wird das Kontroversprinzip erneut wichtig, und zwar geht es über die inhaltliche Kontroverse hinaus. Werte-Fragen (oder auch moralische Fragen) sind häufig Konflikte zwischen Werten bzw. ihren Anwendungen (vgl.den Konflikt um den § 218 StGB), die von einzelnen und/oder vom Gesetzgeber entschieden werden müssen. Dieser inhaltliche Konflikt, veröffentlicht 4 sich als sozialer Konflikt (auch in den Lerngruppen): Interessen-bzw. Überzeugungsgruppen streiten sich. Die im Streit angeführten Gründe enthalten zum einen in ihrem Wertebezug im engeren Sinne unterschiedliche Perspektiven Die angeführten Gründe enthalten zum anderen Wertebezüge auf unterschiedlich abstrakten bzw. konkreten Ebenen: Geht es um den allgemeinen Wert (z. B. Leben) oder um seine zeit-, kultur-oder personenspezifische Konkretisierung (menschenwürdiges Leben in konkreten Situationen)? Schließlich betreffen die Gründe -häufig durcheinander und deshalb Verwirrung und Zorn stiftend -entweder Tatsachen oder Werte; wenn Konsequenzen von Wertentscheidungen, also tatsächliche Folgen und Nebenfolgen (auch fernliegende), mit berücksichtigt werden, geht Gesinnungs-in Verantwortungsethik über
Streitkultur in Unterricht und Gesellschaft würde bedeuten, diese komplizierte Mehrdimensionalität von moralischem Konflikt zu akzeptieren und zu vermitteln. Der direkte und unvermittelte Streit, der womöglich wilder und blinder Zank bleibt, muß übergehen in die Betrachtung und Beurteilung des Streitens (Reflexivität).
Paßt derselbe Unterricht für Jungen und Mädchen?
Wir wissen nichts Schlüssiges darüber, ob Jungen und Mädchen im Politikunterricht unterschiedliche Inhalte und Prozesse betonen und verschiedene Bedürfnisse verfolgen -anders als dies für das Fach Physik festzustehen scheint Es wäre aber verwunderlich, wenn die allgemeinen geschlechtsspezifischen Unterschiede der Weltzugänge keinen Unterschied für den Politikunterricht machen sollten.
Die Hypothese einer geschlechtsspezifischen Akzentuierung ist in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Diskussionssträngen untersucht worden: Die Auseinandersetzung um eine (angebliche) weibliche Moral, um Fragen der Koedukation, Untersuchungen zum Geschlechter-Verhältnis und zur geschlechtsspezifischen Sozialisation sowie zur Identitätsentwicklung in der Adoleszenz deuten alle auf einen Trend hin: Es gibt anscheinend unterschiedliche Weltzugänge und Fachkulturen, die -jedenfalls zur Zeit und hier -stärker von Frauen bzw. Mädchen einerseits und Männern bzw. Jungen andererseits gewählt werden
Zu vermuten ist, daß Mädchen eher eine Sichtweise bevorzugen, die mit kommunikativen und interaktiven Prozessen und Problemen von Subjekten zu tun hat, die lebendige und damit ganzheitliche Erscheinungen betrifft und moralische Bewertungen einschließt. Demgegenüber werden sich Jungen eher für technisch-objektive Gegenstände, für analytische und wertfreie Betrachtungs-und Verfahrensweisen sowie für erfolgs-orientierte Strategien des Handelns interessieren. Diese Gegenüberstellung ist durchaus problematisch: Nicht nur werden jene vielen Grenzüberschreitungen und Verständigungsprozesse zwischen diesen Zugängen ausgeblendet, so daß aus der Grauzone des Alltags eine überpointiert analytisch-klare Aussage wird; es besteht zudem die Gefahr der Verdinglichung, also der Festschreibung eines Ist-Zustandes durch Beschreibung, wo es doch um die Verfügbarmachung der Differenzen für alle ginge „Geschlecht“ als Kategorie sozialer Differenz erfaßt aber Realität und hat also für Erkenntnis und Handeln eine förderliche Funktion, die nicht einem moralischen Tabu unterliegen darf. Die Spezifität der Sichtweisen und Wahlen gilt auch für das Verständnis von Wissenschaft: Van den Daele stellte einer konventionellen Wissenschaft, die die Natur vom Menschen abtrennt, sie seiner Herrschaft unterwirft und sich selbst dabei als wertfrei und objektiv betrachtet, eine alternative Wissenschaft gegenüber, die Mensch und Natur zu integrieren sucht, einen ganzheitlichen Bedeutungszusammenhang herstellt und dabei moralische Verantwortlichkeiten akzeptiert Diese Betonung von Affektivität, moralischer Kollektiv-orientierung, partikularer konkreter Bezüge, ganzheitlicher und interaktiv ermittelter Bedeutungen -dies dürfte dem „weiblichen“ Zugang zur Wirklichkeit entsprechen.
Eine naheliegende Vermutung -auch gestützt auf vielfältige Alltagsbeobachtungen -ist die Wahl unterschiedlicher Fachkulturen durch Schüler und Schülerinnen an den Punkten, wo es Wahlmöglichkeiten gibt. Die Ergebnisse sind deutlich: In der gymnasialen Oberstufe Nordrhein-Westfalens ist „Erziehungswissenschaft“ ein weibliches Fach (ca. drei Viertel der Lernenden sind Schülerinnen) und „Physik“ ein männliches Fach (ca. drei Viertel der Lernenden sind Schüler). An den Gymnasien Sachsen-Anhalts mit besonderen inhaltlichen Schwerpunkten sind die mathematisch-naturwissenschaftlichen Profile männlich (ca. drei Viertel der Lernenden sind Schüler) und die sprachlichen und musischen Profile eher weiblich
Was wissen wir über den Unterricht in Politik bzw. Sozialwissenschaften? Empirische Befunde im strengen, beweisenden Sinne haben wir nicht, aber einzelne Daten fügen sich in den diskutierten Zusammenhang schlüssig ein (und ergeben zusammen mit der „Validierung“ durch die Alltagsbeobachtung ein wohl doch klares Bild). Ein Vergleich von Wissensbereichen ergab für Mädchen den Schwerpunkt für „soziales Wissen“ im Vergleich zu Wissen zu Recht, Wirtschaft und Politik Wahrscheinlich kommen hier Interessen bzw. mangelnde Interessen zum Ausdruck, die in der Jugendforschung gut belegt sind. „Nach wie vor wird auch in den neueren Umfragen unter Jugendlichen ein geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägtes politisches Interesse bekundet. Frauen geben in Ost wie West ein geringeres Interesse an als Männer.“
Politisches Interesse ist demnach bei Mädchen geringer als bei Jungen „junge Frauen [sind] zurückhaltender in ihrem politischen Engagement als die jungen Männer“ Die Erklärung mag darin liegen, daß „das gesellschaftliche Engagement der Frauen stärker auf das engere soziale Umfeld und weniger stark auf alltagsfernes politisches Handeln hin orientiert ist“ Deshalb müßte überlegt werden, ob diesem Begriff von Interesse für Politik vielleicht ein (zu) enger Politikbegriff zugrundeliegt, der Politik nur mit dem staatlichen Institutionengefüge definiert
Schließlich ist auf die Ergebnisse von Weißeno zurückzugreifen, auch wenn er selbst kaum geschlechtsspezifische Differenzen untersucht Aus den Interviews mit 27 Schülern und Schülerinnen nach dem Abitur im Fach „Sozialwissenschaften“ (Nordrhein-Westfalen) ermittelte er drei unterschiedliche Lernertypen. Der soziologische Lernertyp sucht im Unterricht Hilfen zur Identitätsfindurg und ist gekennzeichnet durch einen offenen Umgang mit Unsicherheiten. Über subjektive Betroffenheit wird die Brücke zur objektiven Wirklichkeit geschlagen, und so wird auch der Wunsch nach Aufklärung und Kritik geweckt. Hier ist ein diskursiver Unterricht wichtig. Die Hälfte der Mädchen, aber nur ca. ein Zehntel der Jungen werden diesem Typ zugeordnet. Die kleine Zahl der Interviewten muß allerdings berücksichtigt werden
Dagegen ist der ökonomisch orientierte Lernertyp eher stofforientiert und weniger problemorientiert. Hier werden die formal-logische Verknüpfung von Fakten und sachsystematische Vorgehensweisen gesucht. Zur Motivation werden konkrete Beispiele, die die Anwendung des Gelernten darstellen, gewünscht, die aber nicht mit der eigenen Person verknüpft sein sollen. (Etwa die Hälfte der Jungen gehören zu diesem Typ, aber auch etwa ein Drittel der befragten Mädchen.) Der dritte, der politisch orientierte Lernertyp, verknüpft die Mikro-Ebene des persönlichen Interesses mit der Makro-Ebene öffentlichen Geschehens und politischer Macht-und Herrschaftsfragen. Gefordert wird ein problemorientierter Unterricht mit schülerorientierten Methoden. (Hier ordnet Weißeno knapp die Hälfte seiner männlichen Befragten zu und nur eines der befragten acht Mädchen. Allerdings stellt er fest, daß bei allen Lernertypen das Interesse an politischen Problemstellungen anzutreffen ist Es ergibt sich -bei aller Unsicherheit der empirischen Grundlage -ein klares Bild. Kann also ein und dasselbe Fach für Jungen und Mädchen passen, wenn Bedürfnisse, Interessen und Zugangs-weisen so unterschiedlich sind?
Eine doppelte fachdidaktische Antwort: moralisch-politische Urteilsbildung in einem integrierten sozialwissenschaftlichen Fach In der Fachdidaktik wird seit geraumer Zeit das Problem diskutiert, daß wahrscheinlich der Politik-bzw. Sozialkunde-Unterricht häufig auf soziales Lernen reduziert wird und die Dimension(en) des Politischen nicht erreicht Der Befund paßt zur Veränderung des Politikverständnisses zwischen den Generationen: Öffentlich und privat werden in einem Zwei-Welten-Modell getrennt, personalisierende Deutungsmuster werden auch ans Politische angelegt. Dem Selbstbezug entspricht die Dominanz des Privaten; Solidarisierung verläuft entlang sozialästhetischer Dimensionen in informellen Netzwerken; Autoritäten haben ihre Funktion geändert; moralische Grundkategorien besitzen im Sinne intuitiven Moralisierens orientierende Kraft; gesellschaftliches Engagement geht einher mit der Ablehnung institutionalisierter Politik
Dieser Generationenwandel drückt sich verstärkt aus in der Differenz der Geschlechter. Zugleich bringt er auch zum Ausdruck, daß der Politik bzw.dem politischen Teilsystem der Gesellschaft nicht (mehr) die Integration der Teilwelten zugetraut wird, die aus Gründen des sozialen Wandels ohnehin disparater und desintegrierter erscheinen. Der Ruf nach Werte-Erziehung ist die -zunächst unpolitische -Konsequenz.
Die beiden Problemfragen -die Frage nach der Wertebildung im Politikunterricht und die Frage nach der Geschlechtsspezifität im Lernen -lassen sich in einer Antwort verknüpfen, nämlich in dem Vorschlag moralisch-politischer bzw. politisch-moralischer Urteilsbildung mit dem Medium des Dilemmas.
Moralische Dilemmata haben im Unterricht die Kraft, Schülerinnen und Schüler in Auseinandersetzungen über moralische Fragen zu verwickeln, sie zur Klärung ihrer Entscheidungen zu befähigen und auch die Notwendigkeit und Möglichkeit von Begründungen ihrer Entscheidungen erfahren zu lassen Ein moralisches Dilemma stellt ein Individuum vor die Entscheidung zwischen Werten oder deren Konkretisierungen, so daß die Entscheidung einen wichtigen Wert verletzt und deshalb begründet werden muß. An dieser Stelle wird deutlich, daß eine Phase der Reflexion über die benutzten Werte und über die Kriterien für die Entscheidung sinnvoll ist; vor dem Hintergrund der für Werte-Bildung notwendigen Reflexivität ist sie unerläßlich. Die Behandlung eines Dilemmas als Entscheidungsnotwendigkeit eines Individuums zwischen Werten, die in dem Dilemma berührt sind, wäre aber eine Engführung, wenn der Unterricht bei dieser individualisierenden Sichtweise stehen-bliebe Das moralische Problem bliebe eines für Einzelwesen und von politischen Regelungen im Sinne der allgemeinen Festlegung von Rahmenbedingungen abgeschnitten. Deshalb sollte die Dilemmabearbeitung eine Phase der „Politisierung“ enthalten.
Der Zusammenhang moralischer Dilemma-Fragen, die als Konflikte von Personen alle didaktischen Vor-und Nachteile der Personalisierung enthalten, mit gesamtgesellschaftlichen Strukturen, die der sozialwissenschaftlichen Analyse bedürfen, sowie letztlich mit politischen Entscheidungsfragen wäre herzustellen. Für das Beispiel der Behandlung des Schwangerschaftsabbruches im Unterricht bedeutet dies, daß ein individuell-moralisches . Entscheidungsdilemma und die kollektiv-politische Beurteilung der Handlungssituation im Strafrecht und in anderen staatlichen Regelungen miteinander zu verknüpfen sind Für das Beispiel des Dilemmas einer Unternehmerin, ob sie einen bestimmten Auftrag annehmen oder ablehnen soll, bedeutet dies, daß das Dilemma nur so lange existiert, wie diese Gesellschaft in ihrer staatlichen Organisationsform die in Rede stehende Entscheidung dem einzelnen Bürger überläßt bzw. zumutet und nicht politisch (und mit rechtlicher Sanktionsgewalt) vorentscheidet
Der „moralische“ Zugang käme dem Bedürfnis nach ganzheitlicher, wertender, lebensbezogener Betrachtung entgegen, der „sozialwissenschaftliche“ Zugang dem Bedürfnis nach Analyse, Distanz und Sachsystematik. Die Verklammerung in einer politischen Entscheidungsfrage würde beide Sichtweisen aufeinander beziehen Mehrfaches wäre erreicht: Die Auseinandersetzung um Werte würde weder indoktrinieren noch emotionalisieren im Sinne der nur intuitiven, aufs Private reduzierten und damit gesinnungsethisch verkürzten Stellungnahme. Sozialwissenschaftliche Informiertheit wäre Bestandteil des Urteils, politische Entscheidung würde sich den Konflikten stellen. Zugleich wären die unterschiedlichen Sichtweisen, die wir mit „männlich“ bzw. „weiblich“ verkürzend und zugleich doch realistisch bezeichnen, einander vermittelt.
Der zweite Vorschlag zur fachdidaktischen Antwort auf die Fragen nach der Wertebildung und nach der koedukativen Bildung bezieht sich auf die Struktur des Unterrichtsfaches. Wie in vielen bildungspolitischen Fragen muß auch hier die Entscheidung zwischen den Polen von Differenzierung und Integration erfolgen: Nicht nur das gemeinsame Lernen von Jungen und Mädchen stellt eine Entscheidung dar, auch der Zuschnitt von Fächern ist eine Entscheidung für Spezialität und Besonderung oder für Integration und Verallgemeinerung.
Das Fach „Politik“ (oder „Sozialkunde“ usw.) als Integrationsfach mit den wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie ist ein hervorragendes Beispiel für die Verknüpfung unterschiedlicher Fachkulturen in einem Schulfach. Die gegenseitige Beunruhigung und schließlich Bereicherung der unterschiedlichen Zugriffe -die häufig durch männliche oder weibliche Akteure repräsentiert werden -ist ein Prozeß der allgemeineren Bildung. Die Interaktion im Unterricht macht beide Sichtweisen allen verfügbar und dient somit auch der gemeinsamen Verständigungsfähigkeit.
Nach meiner Unterrichtserfahrung ist sehr wohl die Möglichkeit gegeben, daß Mädchen sich schließlich (u. U. erst in Jahrgang 13) auf die Ökonomie einlassen, auch wenn sie vorher den Gegenstand und die Begrifflichkeit als „ätzend“ abgelehnt haben. Ebenso ist die Möglichkeit gegeben, daß Jungen sich sozialen Problemen und Ich-Bezügen zuwenden, auch wenn sie dies vorher als „Gelaber“ abgetan haben. (Überhaupt scheinen die Bezeichnungen „harte“ bzw. „weiche“ Fächer und der Ausdruck „Laberfach“ diese unterschied-liehen Weltzugänge in der Form von abgrenzenden Vorurteilen zu formulieren.)
Diese Zusammenführung der Sichtweisen braucht keine bloß additive zu sein. Die jeweiligen disziplin-spezifischen Themen bzw. Arbeitsweisen müssen mit denen der anderen Disziplinen verbunden werden. Auch bei der Behandlung ökonomischer Gegenstände muß die Frage nach den Regeln des Zusammenlebens, nach dem Funktionieren und den Funktionen des Systems auch für die konkreten Menschen (also auch die Frage der Gerechtigkeit) gestellt werden Ebenso gehören zur Behandlung sozialer und psychischer Probleme die Härte der klaren Begrifflichkeit und die Entpersonalisierung durch Strukturanalysen sozialwissenschaftlicher Art. Politische Probleme haben vermutlich am ehesten die Kraft, personale und systemische Prozesse und Strukturen als miteinander verknüpfte erscheinen zu lassen
Die didaktische Logik des Arguments ist die Forderung nach der (kontrollierten) Verklammerung unterschiedlicher Schwerpunkte bei der Betrachtung und Beurteilung von Welt: Ein eher kommunikativ-interaktiver Zugang mit starken Ich-Bezügen wird ergänzt bzw. erweitert durch einen analytisch-systematischen, distanzierten Zugriff -und umgekehrt!
IV. Illusionen: Verflüchtigung (Prinzip) oder Zerstückelung (Einzelfächer)
Nicht nur sympathisch, sondern auch notwendig (weil realistisch) ist die These, daß politische Bildung auch Unterrichtsprinzip sein müsse Die Aufgabe des Demokratie-Lernens darf nicht in ein bestimmtes Spezialfach abgeschoben werden, sondern sie wird mit dieser Forderung generalisiert. Zudem wirken Schule und Unterricht -auch wenn dies nicht bewußt ist -ohnehin politisch, indem Strukturen und Interaktionen inhaltliche Aussagen über die Beziehung von Individuum und Gesellschaft machen und die Inhalte auch vermeintlich unpolitischer Fächer doch politische Botschaften enthalten
Die Forderung, politische Bildung solle Unterrichtsprinzip sein, muß vertreten werden, aber das Prinzip darf nicht die politische Bildung im Fach „Politik“ ersetzen. Die Begrenzung der politischen Bildung aufs Prinzip, dem ja in allen Fächern Genüge zu tun sei, würde die Verflüchtigung politischer politischer Bildung bedeuten; ein weiter Politik-Begriff (alles menschliche Zusammenleben verfolgt Regeln) würde allein vorherrschen können; die Härte der Definitions-und Regelungskämpfe einschließlich der Sanktionsmechanismen staatlicher Gewalt und die manchmal überwältigende Komplexität der politischen Probleme bzw. Aufgaben könnten ausgeblendet bleiben.
Das Unterrichtsprinzip hätte also -nach aller Erfahrung -gute Aussichten, unverbindlich zu bleiben. Solange nicht Richtlinien und Unterricht seine Realisierung beweisen müßten, würde es beim Deklarieren bleiben können. Niemand ist beim . Prinzipso recht verantwortlich, weil es den Strukturen anderer Fächer im heutigen Verständnis nicht zwingend zugehört. Der heimliche Lehrplan sozialer Erziehung, die nicht auch politische Bildung wird, ist der Verzicht auf sozialwissenschaftlichen Sachverstand und das Fehlverstehen der Nahgruppe (Familie, Freunde) als die gesamte soziale Welt. Dann darf „moralisiert“ und „personalisiert“ werden -bei aller anerkennenswerten Zielsetzung sozialen Lernens in seiner Bedeutung für den einzelnen und für Gruppen wäre dies unpolitisch verharmlosend. Die hierzu gegenteilige Entscheidung -nämlich übertriebene Spezialisierung und Besonderung -wäre die Aufspaltung der sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen in je einzelne Unterrichtsfächer (Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaft, Recht, Psychologie u. a. m. -all diese Fächer gibt es in der Bundesrepublik).
Eine Trennung der Welt in künstliche Kästchen bzw. die Isolierung sozialer oder ökonomischer Vorgänge voneinander und von politischen Bedingungen und Folgen zielt auf Partialbildung und provoziert regelmäßig anschließend den Ruf nach (nachträglicher und schwer realisierbarer) Fächerübergreifung. Für die Lernenden wäre es ohnehin nicht begreifbar, wenn sie beim Thema „Arbeitslosigkeit“'vom Soziologie-Lehrer an den Wirtschafts-oder an den Politik-Lehrer weitergereicht würden mit ihrer -im Moment naheliegenden -Frage, worum es etwa beim sogenannten Entsendegesetz geht. Arbeitslosigkeit ist weder nur ein soziales oder psychisches Identitätsproblem noch eine nur abstrakte Frage von Menschenwürde, sondern auch ein marktvermitteltes Geschehen unter politisc•h gesetzten Rahmenbedingungen. Gesellschaftliche Probleme (z. B. Arbeitslosigkeit, Umweltgefährdung, Aggression) richten sich nicht nach Wissenschaftsgrenzen. Sie erscheinen als komplexe Phänomene, deren unterschiedliche Aspekte ihren Lebensbezug und ihre Bedeutsamkeit ausmachen. Die Verknüpfung der Mikro-und der Makro-Welt(en) ist der fachdidaktische Weg zur Analyse und Synthese
Die Zerstückelung der politischen Bildung auf viele Fächer führt zur Häppchen-Didaktik, denn die Summe der Unterrichtsstunden wird durch solche Isolierungen ja nicht erhöht. In Sachsen-Anhalt leiten Lehrer manchmal Berichte über Unterricht in „Sozialkunde“ (ein Fach mit nur einer Wochenstunde in nur einigen Jahrgängen der Sekundarstufe I) mit der Bemerkung ein, sie hätten in der Klasse auch das Fach „Wirtschaft-Technik“ und könnten deshalb konzentrierter und ruhiger unterrichten. Das Strukturproblem des (zu) isolierenden Fächerzuschnitts kann aber nicht durch Appelle an Koordination und Kooperation der -ohnehin eher überlasteten -Lehrerinnen und Lehrer gelöst werden
V. Das Theorie-Praxis-Problem: Wie kommen Didaktik und Methodik zusammen?
Zu den Problemen der Fachdidaktik „Politik“ zählt sicher auch weiterhin der Befund, daß vermutlich viele Lehrerinnen und Lehrer dazu neigen, „Didaktik auf Methodik zu reduzieren“ Das hätte letztlich zur Konsequenz, daß ein unprofessionelles Verständnis vom Lehrerhandeln vorherrschte, nämlich die Reduktion auf Rezeptologie und nicht die theoretisch angeleitete Interpretation von Situation und Handeln Vor allen Klagen über diese Diagnose ist aber zu fragen, ob nicht der Handlungsdruck des Berufs eine solche Einengung des Interesses verständlich werden läßt und ob die Fachdidaktik mit ihren theoretischen Konzeptionen dem Handlungsdruck genügend Rechnung trägt.
Was tun? Mein Vorschlag lautet, im Begriff der „fachdidaktischen Prinzipien“ zwei Stränge zusammenzuführen, die häufig getrennt diskutiert werden, nämlich den didaktischen Begründungszusammenhang und die Angabe von Methoden bzw. Verfahren Die Idee dabei ist, die (objektive) Bildungsanforderung an die jungen Leute zu verknüpfen mit ihrem (subjektiven) Zugang zum Lernen. Die Diagnosen der Zeit und des Gegenstandes müssen mit den Befunden zu Situation und Kompetenzen der Lernenden in der Angabe unterrichtlicher Strategien verknüpft werden, und zwar bis hin zur konkreten Phasierung des Unterrichts (Methode im Sinne der Strukturierung einer Unterrichtsreihe) und möglicher Verfahren zur Durchführung (Sozial-und Arbeitsformen, Medien etc.) Einen solchen Zusammenhang habe ich oben am Beispiel des Prinzips „moralisch-politische Urteilsbildung“ angedeutet
Einen vorzüglichen Ausgangspunkt bietet die Formulierung der fachdidaktischen Konzeptionen bei Walter Gagel Für die „Problemorientierung“ spitzt er das didaktische Denken von Wolfgang Hilligen zu bis hin zu einem „Methodenkasten“, der zugleich die Phasierung einer Unterrichtsreihe abgibt (Darüber hinaus eignet sich diese oder eine variierte Struktur auch als dynamische Struktur für Einzelstunden in einem Lehrgang: Identifikation eines Problems, Analysen von Ursachen und Interessen, „Lösungen“ und Entscheidung, Beurteilen der Folgen.) Ähnlich prägnant arbeitet Gagel für die „Konfliktorientierung“ heraus, daß Konflikt eine politische Kategorie ist (ebenso wie auch „Problem“ die Inhaltsstruktur, also die Struktur des Lerngegenstandes bezeichnen kann) und daß der Konflikt die Brücke zum alltäglichen Umgang mit Politik darstellt -dies zu sehen war das didaktische Verdienst von Giesecke Allerdings fehlt in diesem Beispiel eine praktikable Unterrichtsstrategie
Fachdidaktische Prinzipien (außer den genannten könnten beispielhaft noch das Fallprinzip die Handlungsorientierung und die Wissenschaftspropädeutik genannt werden) haben also die Funktion, wissenschaftlich definierte und problematisierte Gegenstände -vor dem Hintergrund der Anforderungen an Bildung in einer bestimmten Zeit -zu transformieren in Prozesse des Lernens und der Entwicklung, die durch die lernenden Subjekte vollzogen und durch sie mit bestimmt werden. Kurzum: Fachdidaktische Prinzipien formulieren die Begründung und Konkretisierung unterrichtlicher Strategien. Damit wäre vielleicht eine Formulierungsebene gegeben, die dem professionellen Lehrerhandeln theoretisierende Angebote für die verstehende Anwendung auf die je gegebenen konkreten „Fälle“ (hier sind dies Lerngruppen) zur Verfügung stellt.
Die Verknüpfung von theoretischer und praktischer Ebene versuche ich in der „Einführung in die Didaktik der politischen Bildung“ so zu realisieren, daß ich vor der theoretischen Behandlung eines fachdidaktischen Prinzips (z. B. Konflikt-orientierung) eine entsprechende Übung durchführe (also eine konkrete Konfliktanalyse). Diese Übung verwickelt Studenten bzw. Lehrer in den dynamischen Prozeß der Bearbeitung eines (exemplarischen) Gegenstandes. Für die nachfolgende theoretische Erläuterung ist also vorher eine Erfahrung gemacht worden, so daß -so meine Hoffnung -die Theorie nicht „Schall und Rauch“ bleibt.
Reaktionen von drei Lehrergruppen (Martin-Luther-Universität in Halle) zeigen übrigens durchaus Unterschiede: Manche Teilnehmer bevorzugen auch nach zwei Semestern ganz deutlich die praktischen Teile der Veranstaltung und erklären die Vorlesungen für „zu theoretisch, überflüssig, abstrakt, unterrichtsfern“. Andere heben die Bedeutung der „theoretischen Untermauerung“ hervor, die ihnen helfe, Erfahrungen aufzuarbeiten und ihr Handeln zu reflektieren. Auch die Reihenfolge -erst zu handeln und dann zu theoretisieren (mir selbst erscheint dies als didaktisch ziemlich zwingend) -war nicht allen Teilnehmern eingängig und zumindest erst einmal gewöhnungsbedürftig. Für unakzeptabel halte ich sowohl die unterrichts-ferne didaktische Abstraktion, die trotzdem den Lehrern in Form fordernder Postulate gegenüber-tritt („die Lehrer müßten doch, sollten doch“ etc., ohne daß der Fordernde eine konkrete Vorstellung von Mitteln und Wegen mitliefert), als auch die Reduktion auf unterrichtliche Verfahren, die nicht in einen didaktischen Zusammenhang gestellt werden und bloße Rezeptologie darstellen.
Das fachdidaktische Prinzip der Handlungsorientierung ist in der Dauergefahr, zum unterrichtlichen Werkzeugkasten reduziert zu werden So skizziert Klippert eine Unterrichtsstruktur, die mit vielen interessanten Verfahren gefüllt wird, aber in ihrer Struktur der Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Gegenstand einen höchst konventionellen und unpolitischen Lehrgang darstellt: „Vorwissen und Voreinstellungen aktivieren -gezielte Informationserarbeitung -vertiefende Problematisierung“ -dieser Dreischritt scheint eine dynamische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt herzustellen. Da aber die Übergänge zwisehen den Phasen nicht begreifbar bzw. nicht dynamisch sind (aus den Voreinstellungen ergeben sich gerade nicht die Art und der Inhalt der Informationen, sondern dies wird vom Lehrer geplant und vorgegeben), bleiben die Benennungen der Phasen hohl. Die Bezeichnung „vertiefende“ Problematisierung meint nicht etwa den (dann reflektierenden) Rückgang zum Anfang, sondern dient der Vertiefung der „institutionenkundlichen Informationen“ In einer traditionellen Terminologie könnte man diese Abfolge als „Motivation -Erarbeitung -Festigung“ bezeichnen; das Motivationsproblem wird dann mit Hilfe von Verfahren (die, wie gesagt, in sinnvoller Weise aufgaben-und aktivitätsorientiert sind) angegangen, ohne daß diese Verfahren in einen übergreifenden methodischen und didaktischen Zusammenhang gestellt werden
Fazit: Lehrerschelte bringt nichts (sie seien so untheoretisch), Fachdidaktikerschelte bringt auch nichts (sie seien so weltfremd, also unterrichts-fern). Fachdidaktiker haben (entsprechende Positionen im Wissenschaftsbetrieb vorausgesetzt) die Möglichkeit und die Aufgabe, handlungsferner zu reflektieren als Praktiker. Der Kern ihrer Tätigkeit ist die Produktion von Professionswissen, das den Praktikern für ihr Handeln unter Situationsdruck Strategien (in der Form von Abkürzungsstrategien) bereitstellt. Die Verästelungen der theoretischen Diskussion werden den Lehrer eventuell nicht mehr interessieren, ihn wird aber z. B. die in der „Problemorientierung“ formulierte Verknüpfung von Theorie und Methode interessieren müssen, weil sie ihm Reflexions-und Handlungshilfe bieten kann.
VI. Die Rolle der Politiklehrer
Der Versuch, die Berufsrolle des Politiklehrers zu beschreiben, hat mich zu einer dreifachen Bestimmung geführt: die allgemeine Lehreraufgabe, die Fachlehrerfunktion und schließlich die des politischen Bildners in der Institution Schule.
Jede Lehrerin, jeder Lehrer handelt in einer -analytisch gesprochen -dreifachen Konfliktstruktur Er steht zwischen zwei Klienten, deren Ansprüche sich widersprechen können (nicht: müssen), nämlich zwischen den Bildungsanforderungen und -Zumutungen der Gesellschaft (einschließlich der Aufgabe der Bewertung und damit Selektion) und den Bildungswünschen des bzw.der Lernenden. Selbst wenn wir nur den Schüler oder die Schülerin als maßgeblichen Klienten des professionell Handelnden ansehen könnten, wäre damit keine Harmonie der Aufgabe erreicht; denn der Konflikt der Interessen des Lernenden hier und heute (unmittelbare Bedürfnisse) mit denen in der Zukunft (was er bzw. sie aus der Sicht der eingetretenen Zukunft für heute gewollt haben würde) bliebe bestehen -dies macht den Sinn intentionaler Erziehung aus. Schließlich lernen Lernende in Schulen in Gruppen und nie als einzelne; das soge-nannte Schülerinteresse ist also mehrdeutig und damit konfliktreich. Diese drei Konfliktdimensionen sind zur Zeit nicht aufhebbar; sie müssen vom Lehrer ausbalanciert werden, weil die sich widersprechenden Anforderungen ihr je eigenes Recht haben.
Der Fachlehrer für „Politik“ handelt in den drei Konfliktdimensionen als fachwissenschaftlich Ausgebildeter und als fachdidaktischer Experte im spezifischen Fach. Die Verknüpfung von fachwissenschaftlicher Gegenstandserfassung in Verbindung mit Bildungszielen und der Organisation von Lernprozessen wird in fachdidaktischen Prinzipien formuliert; ihre Realisierung ist für das Fach spezifisch. Ein Beispiel dafür mag das „Kontroversprinzip“ sein, das ursprünglich ein normatives Konzept politischer Bildung darstellte und für die bildungspolitische Diskussion wichtig war (Beutelsbacher Konsens). Die Diskussion ist zunehmend konkret geworden indem nämlich unterrichtliche Verfahren gezeigt wurden, die dieses Kontroversprinzip zur Realisierung bringen können (Debatte, Pro-und-Contra-Diskussion, Rollen-spiel u. a. m.). Die unterrichtliche Strategie kann vom einzelnen Lehrer bzw. von der einzelnen Lehrerin für konkretes Handeln genutzt werden.
Eine weitere spezifische Aufgabe des Politiklehrers, die nicht ans Fach geknüpft ist, aber auch im Fach verfolgt werden kann, ist die Unterstützung der Lernenden bei ihrer Interessenvertretung als Schüler. Sowohl für die juristischen Texte (Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Verfügungen, Urteile, Kommentare) ist der Politiklehrer ein kompetenter Ansprechpartner als auch für Verfahren der Konfliktbearbeitung (man kann so etwas auch üben) wie auch der kategorialen Durchdringung von Interessenkonflikten (mit dem Ziel der Analyse und Wertung und Planung).
Wenn diese dritte Funktion -Beratung der Lernenden in der Bearbeitung von Konflikten in der Schule — eine selbstverständliche Funktion von Politiklehrern wäre, dann brauchten diese sich nicht vor der Konfliktträchtigkeit dieser Funktion zu fürchten. So unstrittig es ist, daß Sportlehrer ihre Schüler auch außerhalb des Fachunterrichts beraten und Informatiklehrer sich auch für die Computer ihrer Schüler interessieren, so unstrittig sollte auch die Funktion der Schülerberatung durch den Politiklehrer sein. Seltsamerweise gibt es Beauftragte in dieser Gesellschaft für vieles, auch für Kinder, aber nicht für Schüler -dabei ist Schüler zu sein der Beruf der Kinder und Jugendlichen, der sie in eine enge, dauerhafte und umfängliche Beziehung zum Staat setzt. Dieses (nicht mehr: besondere Gewalt-) Verhältnis ist ein potentiell politisches und hat Anspruch auf Förderung durch die Institution Schule. Der Politiklehrer kann hier helfen.