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Sozialer Wandel durch Modernisierung, Individualisierung und Wertewandel | APuZ 42/1996 | bpb.de

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APuZ 42/1996 Artikel 1 Sozialer Wandel durch Modernisierung, Individualisierung und Wertewandel Lebensformen und Lebensverläufe in diesem Jahrhundert Sozialer Wandel und Geschlecht: Für eine Neubestimmung des Privaten Ende der Frauenpolitik? Zur unvollendeten Emanzipation von Männern und Frauen

Sozialer Wandel durch Modernisierung, Individualisierung und Wertewandel

Thomas Gensicke

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Beitrag wird ein Mehrebenenmodell von sozialem Wandel durch Modernisierung skizziert. Es verbindet Ideen der Luhmannschen Systemtheorie, die in der Individualisierungsthese mündet, mit der von Wolfgang Zapf vertretenen Theorie der Basisinstitutionen der Modernisierung, der Hradilschen Unterscheidung von objektiver und subjektiver Modernisierung und der empirischen Wertewandeistheorie von Helmut Klages. Auf der Systemebene bedeutet modernisierender sozialer Wandel danach funktionale Differenzierung, auf der Ebene der Lebensweise Individualisierung und auf der Mentalitätsebene einen Wertewandel von Akzeptanz zur Selbstentfaltung. Für die aktuelle Situation wird das Spannungsfeld der durch Globalisierung in Frage gestellten sozialstaatlich gestützten Modernisierung und der amerikanischen Variante betrachtet. Erste mentale Anzeichen und erwartbare weitere Konsequenzen eines Umschwenkens Deutschlands auf das amerikanische Modell werden in der Ausbreitung des sogenannten Hedomaterialismus und einer neuen Spannung von Verlierer-und Gewinnerattitüden unter jungen Leuten vermutet. Für die Gesamtbevölkerung wird im Moment noch ein mentales Entgegenstemmen bei partieller Anpassung gegenüber der sich abzeichnenden neuen Situation konstatiert.

I. Ein Modell für modernisierenden sozialen Wandel

Quelle: Eigene Darstellung. Graphik 1: Gedankliches Modell zum Verständnis von Modernisierung

Die fortgeschrittenen Gesellschaften Europas und die USA traten im 19. Jahrhundert in eine Phase sozialen Wandels ein, die durch forcierte Modernisierung gekennzeichnet ist. Vorbereitet durch die Herausbildung städtischen bürgerlichen Lebens im Mittelalter, durch Renaissance und Reformation und die Bildung größerer Nationalstaaten, ging im 19. Jahrhundert der langsame Erosionsprozeß des traditionellen Gesellschaftstyps in eine galoppierende Revolution aller gesellschaftlichen Verhältnisse über. Deutschland entwickelte sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts von einem ärmlichen Agrarland, das nicht einmal in der Lage war, seine 25 Millionen Einwohner richtig zu ernähren, in ein prosperierendes Industrieland, das um 1914 einer Bevölkerung von 68 Millionen Einwohnern einen bescheidenen Wohlstand bieten konnte. Das heutige wiedervereinigte Deutschland stellt sich am Ende des 20. Jahrhunderts wiederum stark verändert dar: Trotz aller aktuellen Probleme ist es auf dem Weg in eine Dienstleistungs-und Informationsgesellschaft mit einer vergleichsweise wohlhabenden und zufriedenen Bevölkerung von ca. 81 Millionen Einwohnern (von denen inzwischen ca. sieben Millionen Ausländer sind).

Graphik 6: „Bildungsrevolution". Schul-und Berufsabschlüsse in der westdeutschen Bevölkerung Quelle: Siehe Graphik 5.

Wie war diese Entwicklung möglich? Die allgemeinste „Erklärung“ der Moderne liegt in der ideellen und gesellschaftlichen Aufwertung des Prinzips der Innovation gegenüber dem Prinzip der Tradition. Modernisierung ist permanente Innovation. Damit sich jedoch dieses Prinzip in der Gesellschaft durchsetzen konnte, mußten die Schranken fallen, die Innovation behinderten, die zumindest als menschliche Fähigkeit und als menschliches Bedürfnis a priori vorausgesetzt werden kann. Voraussetzung von Innovation ist Freiheit. Die gesellschaftliche Realisierung der Freiheitsidee ist die Voraussetzung von Modernisierung als innovativem sozialen Wandel.

Graphik 7: Erziehungsziele 1951-1995. Elterliche Erziehungsziele in der Bundesrepublik Deutschland (ohne neue Länder) im Zeitverlauf Quelle: Walter Tacke, Von der Majestät des Trends, in umfrage und analyse 1995 5/6 eigene Darstellung

Stefan Hradil hat den Kern der Modernisierung an vier Leitideen festgemacht, die ab einem bestimmten Punkt zum gesellschaftlichen Programm wurden: Fortschrittsdenken, individuelle Freiheit, Verweltlichung und Rationalität Erst in der Moderne wird überhaupt (und zwar möglichst ständig) wirklich „Neues unter der Sonne“ denkbar, weil der Zeitverlauf als eine lineare Achse gedacht wird (auf der möglichst alles -vor allem die Wirtschaft -„wachsen“ soll). Der ewige „göttliche“ Kreislauf des Gleichen wie er sich im Denkmuster der Agrargesellschaft im Kreislauf der Jahreszeiten darstellt, wird damit durchbrochen. Fortschritt (als ständige Innovation) ruft aber die einzelnen Individuen mit ihren Ideen als Innovatoren auf den Plan. Nur von hier kann ja das Neue kommen. Die Belohnung für innovatorisches Verhalten ist der Erfolg im weltlichen „Hier und Jetzt“ in einer den größten Nutzen bei geringstem Aufwand rational maximierenden Welt. Das Ziel des Modernisierungsprogramms ist letztlich das gute Leben für die größtmögliche Zahl, das Mittel ist permanenter innovatorischer Fortschritt durch Rationalisierung und Aktivierung der mehr oder weniger weit gestreuten individuellen Fähigkeiten und Motivationen.

Graphik 8: Politisch interessiert? (1952-1995; Bundesrepublik Deutschland) Quelle: Siehe Graphik 5.

Modernisierung als soziologisches Phänomen hat (mindestens) einen Strukturaspekt, einen Lebensweiseaspekt und einen Mentalitätsaspekt (Gra-phik 1). Modernisierung bedeutet Strukturwandlung durch Differenzierung, wodurch Bewegung und Innovation erst möglich wird. Historisch mußte das rechtlich-politische Korsett der traditionalen Gesellschaft gesprengt werden, das die soziale Dynamik, als Freiheits-und Emanzipationsdrang von Individuen und Gruppen immer vorhanden, einschnürte und abwürgte. Im nordamerikanischen Modell ließen die Auswanderer, die in die Weite des neuen Kontinents ausschwärmten, die Fesseln der traditionellen Gesellschaft gleich hinter sich. Zwar kannte auch die traditionelle Gesellschaft sozialen Wandel, doch war dieser eher durch Kriege oder Katastrophen verursacht. Modernisierende Sozialdynamik beruht auf wissenschaftlich gestützter Produktion aufgrund ständiger Reinvestition von großen Überschüssen. Sie konnte nur durch eine Deregulierung der Wirtschaftssphäre seitens des Staates und deren Eigen-steuerung aufgrund angestrebter Überschußmaximierung funktionieren (was am besten über das Marktprinzip zu erreichen war). Durch Modernisierung wird eine Gesellschaft überhaupt erst ein System, das sich durch interne funktionale Differenzierung in spezialisierte teilautonome Unter-systeme (Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Familie, Bildung etc.) von der natürlichen Umwelt unabhängig macht.

Graphik 9: Leben als Aufgabe oder Genuß? (1956-1995; Bundesrepublik Deutschland; ohne neue Länder) Quelle: Siehe Graphik 5.

Diese Strukturveränderungen entsprechen auf der Ebene der Lebensweise einem Trend zur Individualisierung. Durch Individualisierung werden in einer flexibilisierten Gesellschaft Steuerungsleistungen an die Individuen (und Kleingruppen) delegiert (oder diesen aufgezwungen). Das bedeutet für Kleingruppen und Individuen einerseits eine Reduktion von Bindung und eine Steigerung des Handlungsspielraums, andererseits aber auch einen Verlust an Sicherheit und Orientierung. Das Individuum wird zur Schnittstelle der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme und muß in dieser jeweils speziellen und flexiblen Situation eine eigene Lebenskarriere (Niklas Luhmann) zustande bringen. Diese Individualisierung sollte zunächst die Verfügbarkeit der Individuen (und ihrer Kernfamilien) für die erweiterte industrielle Produktion sichern und sie später zunehmend zu innovatorischem Verhalten motivieren. Vom atomisierten und kasernierten Anhängsel der Maschine wird der individualisierte Massenmensch schließlich zur Ideen-und Aktivitätsressource für wissenschaftlich-technischen und sozialen Fortschritt (zum sogenannten Humankapital). Die veränderte Lebensweise verändert schließlich auch die Mentalität. Die traditionale Gesellschaft konnte und mußte ihre Bevölkerung hauptsächlich über normative Akzeptanz des Gegebenen integrieren. Dieses Gegebene enthielt nicht die Möglichkeit einer Lebenskarriere (aber auch nicht den Zwang dazu), sondern legte nur das schnelle Hineinwachsen in ein sozial statisches Milieu nahe. Und selbst wenn man die mageren Überschüsse der traditionellen Wirtschaft gleichverteilt hätte, wären diese viel zu klein gewesen, um als Gratifikation die Integration über Akzeptanz zu ersetzen. Trotz autoritärer Herrschaftsform war die traditionale Gesellschaft viel zu wenig vernetzt, um politische Stabilitätsziele gegen die egozentrische Fliehkraft der Individuen durchzusetzen. Dazu bedurfte es der tiefen Verinnerlichung von Akzeptanz in den Köpfen und Herzen der Menschen, die durch die Institution der Kirche und ihr Weltbild geleistet wurde (dieses Erbe wurde später auch durch andere Institutionen fortgeführt, z. B. die preußische Volksschule). Die Kirche sorgte für die Unterdrückung aller Formen individualistischer Selbstentfaltung, sei es in Form des Strebens nach Selbständigkeit (Autonomie), nach Mitbestimmung (Partizipation) oder einfach nach mehr Genuß des Lebens (Hedonismus).

Graphik 10: Mehr Hedomats und Realisten. Wertetypen in Westdeutschland 1987/88-1993 (Bevölkerung ab 18 Jahre) Quellen: Daten: Eigene repräsentative Befragung 1987/88 (n = 6 000); Repräsentative Befragung der Forschungsstelle für gesellschaftliche Entwicklungen, Mannheim 1990 (n = 1 700); Sozioökonomisches Panel (SOEP) Westdeutschland 1993 (n = 6 800).

Diese lange unterdrückten Dimensionen der Selbstentfaltung beginnen die Mentalität der Massen erst in der ausgereiften Phase der Moderne zu prägen und werden Schritt für Schritt auch gesellschaftlich legitim. In einem Land wie (West-) Deutschland, wo Autonomie solange politisch-ideologisch unterdrückt wurde und wo der Wohlstand nach einer Phase der Kriege, Krisen und Inflationen explodierte, mußte die Mentalitätsveränderung heftige Züge annehmen. Dieses Phänomen bezeichnen wir in Speyer im engeren Sinne als den Wertewandel. Er ist der vorläufige Schlußstein, der die inzwischen ausgereifte Moderne kennzeichnet. Akzeptanz nimmt in modernen Gesellschaften ab, Selbstentfaltung zu {Helmut Klages').

Graphik 11: Mehr Hedomats, weniger Idealisten. Wertetypen in Westdeutschland 1987/88-1993 (18-30jährige) Quelle: Siehe Graphik 10.

Man kann für die Durchsetzung der Moderne (zumindest in Europa) eine historische Stufenfolge von Veränderungsprozessen unterstellen: Erst werden die Strukturen modernisiert, dann individualisiert sich die Lebensweise, und schließlich streben die Individuen immer stärker nach Selbstentfaltung (Hedonismus und Selbstbestimmung). Um diese historische Kausalität von Strukturveränderung, Lebensweiseveränderung und schließlich Mentalitätsveränderung zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß sich die neuen Eliten bzw. die sich mit dem „Fortschritt“ arrangierenden alten Eliten des 19. Jahrhunderts in ihrem Reformeifer wahrscheinlich nicht bewußt waren, welche (längerfristige) Kettenreaktion sie auslösten. Das Bürgertum wollte ein wirtschaftsfreundliches System. Teile der alten Eliten wollten an diesem System mitverdienen, andere ihr Land zur Großmacht führen. Was man sich damit einhandelte, war wohl den wenigsten bewußt. Die individualisierenden Lebensweiseveränderungen gingen in der breiten Bevölkerung „als stille Revolution“ hinter der Fassade einer offiziellen Kultur und eines offiziellen gesellschaftlichen Selbstverständnisses relativ unbemerkt und schleichend vor sich und wurden in ihrer Tragweite nicht bewußt. Schließlich sollte auch die zähe Lebenskraft einmal institutionalisierter Normen berücksichtigt werden. So kann man sich vorstellen, daß Akzeptanz als völlig adäquate „natürliche“ Sozialnorm für den „normalen“ Menschen angesehen wurde. Das Bedürfnis nach Selbstentfaltung kann in dieser Sicht nur eine abartige, erbsündige Neigung sein, die von Kindheit an ausgemerzt werden muß. Es ist davon auszugehen, daß dies bis weit in die Moderne die natürliche „Alltagsreligion“ der meisten Menschen war, die nur auf allerhöchster sozialer Ebene oder in Bohemekreisen durchbrochen wurde.

Unser oben skizziertes graphisches Modell enthält allerdings über den Kausalzusammenhang Modernisierung -Individualisierung -Wertewandel hinaus auch eine Rückkopplungswirkung des Werte-wandels auf die Modernisierung selbst. In der ausgereiften Wertewandelsgesellschaft ist es denkbar, daß über etablierte „subjektive“ Institutionen wie Märkte, die Konkurrenzdemokratie und die Medien eine Einwirkung der sich wandelnden Werte auf die Ausrichtung der Modernisierung selbst möglich wird. Das verleiht der bisher eher objektiv verstandenen Modernisierung einen stärker subjektiven Charakter {Stefan Hradil). Von daher ist auch die Charakterisierung des gegenwärtigen Gesellschaftstyps als Wertewandelsgesellschaft motiviert.

II. Die erste Phase der Modernisierung: Von der Agrar-zur Industriegesellschaft

Graphik 2: Primärer, sekundärer, tertiärer Sektor. Erwerbstätige nach Wirtschaftsektoren in Deutschland und in den alten Bundesländern nach Quellen: Rainer Geißler, Die Sozialstuktur Deutschlands, Opladen 1992; Daten des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Köln 1995; eigene Darstellung.

Im folgenden soll der radikale modernisierende soziale Wandel vor allem am deutschen Beispiel empirisch nachvollzogen werden.

Die erste Phase -der Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft -bringt zunächst eine dramatische Veränderung der Makrostrukturen (des Systems und der sich emanzipierenden Unter-systeme). Wichtigster Punkt ist wohl die zunehmende Emanzipation der Wirtschaft von der Politik, zumindest was den westeuropäischen Übergang zur Moderne betrifft (oder den sofortigen Start in die Moderne in amerikanischen Nord-staaten). Das drückt sich seit dem 18. Jahrhundert im Rückzug des Staates aus der Wirtschaftsregulation aus, insbesondere in Form der Gewerbefreiheit und in der Aufhebung der Erbuntertänigkeit der breiten bäuerlichen Bevölkerung. Damit entstand ein neues Großbürgertum (in England auch unter Einschluß von Teilen des Adels) und ein großes Proletariat, daß sich aus der verarmten Bauernschaft und Kleinstgewerbetreibenden auffüllte. Gleichzeitig nahm die Bevölkerung stark zu, die vormals durch rigide Heiratsbeschränkungen (die nun fielen) auf einem annähernd gleichbleibenden Niveau reguliert worden war. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts bewegte sich z. B. die englische Bevölkerung konstant bei einer Zahl von 6 Millionen. 1801 zählte sie bereits 9 Millionen, 1851 18 Millionen und schließlich 1901 33 Millionen. In Deutschland verzögerte sich zwar die Systemveränderung, dennoch stieg auch hier die Zahl der Bevölkerung von 25 Millionen im Jahr 1816 auf 35 Millionen in Jahr 1850 und schließlich bis 1900 auf 61 Millionen an.

Die Änderungen in der Bevölkerungsstruktur waren von einschneidenden Änderungen der Wirtschaftsstruktur begleitet. Zunächst expandiert der sekundäre Sektor (produzierendes Gewerbe) mit seinem Kernstück der Industrie. Arbeiteten um 1800 in Deutschland noch über 60 Prozent der Erwerbspersonen im primären Sektor (Land-, Forst-und Fischereiwirtschaft), so waren es 1885 noch etwa 40 Prozent, also ebensoviel wie inzwischen im sekundären Sektor (Graphik 2). Dank des wissenschaftlichen und industriellen Fortschritts (Einsatz von Maschinen und Agrarchemie) konnte das Land die gewaltig gewachsene Bevölkerung bald besser ernähren als früher. Schließlich überflügelte der sekundäre Sektor alle anderen Sektoren und wurde zum dominierenden Wirtschaftsbereich. Auch in diesem Prozeß war England der Vorreiter, dort arbeiteten 1880 nur noch 10 Prozent der Bevölkerung im primären Sektor, knapp 45 Prozent im sekundären, der Rest bereits im tertiären Dienstleistungssektor.

Mit dem Wachstum des sekundären Sektors explodierten die industriellen Großräume bzw. -Städte (Sachsen, Berlin, Ruhrgebiet, Rhein-Main), in die ganze Völkerwanderungen vor allem aus dem besonders agrarisch geprägten Osten zogen. Zwischen 1871 und 1939 legten die Großstädte ab 100 000 Einwohner in Deutschland um insgesamt20 Millionen Einwohner zu, während die Landgemeinden unter 2 000 Einwohnern in dieser Zeit immerhin einen Sockel von 21 Millionen Einwohnern halten konnten. So stellt sich am Ende des 19. Jahrhunderts Deutschland als eine verstädterte Industriegesellschaft mit einer quantitativ dominierenden (und bereits in sich differenzierten) Arbeiterklasse dar (Graphik 3). Das ist das soziale Umfeld der reformerischen und der revolutionären Arbeiterbewegung. Aus einer durch die Bevölkerungsexplosion und Wanderung in die Städte zusammengewürfelten Masse, deren Größe und Verfügbarkeit den Preis der Arbeit drückte, war nun in Deutschland eine organisierte, zum Teil umworbene Gegenmacht zu den besitzenden Klassen geworden, was die Lage der Arbeiter direkt oder indirekt verbesserte.

III. Der Übergang zur Wertewandelsgesellschaft: Sparsame Bevölkerungsweise, Verkleinerung der Haushalte, Veränderung der Erziehungspraxis

Graphik 3: Wandel der Berufsstellung. Erwerbstätige nach ihrer Stellung im Beruf 1882-1993 in Deutschland und in den alten Bundesländern Quelle: Siehe Graphik 2.

Um die Jahrhundertwende beginnt in Deutschland eine Übergangsperiode, die äußerlich durch Revolution, Kriege und Inflationen sowie durch die Nazizeit und ihre Folgen gekennzeichnet ist und die schließlich in der heutigen Wertewandelsge-Seilschaft endet. Trotz politischer und ökonomischer Turbulenzen setzen sich langfristige und im Vergleich zu früher .. weichere“ Strukturwandlungen durch, die letztlich mit größeren Lebenschancen. mehr Freiheit und besseren Möglichkeiten der Selbstentfaltung für immer größere Teile der Bevölkerung einhergehen. Das hat Auswirkungen auf die demographische Entwicklung der Bevölkerung: die Bevölkerungsweise.

Die Geburtenrate fällt seit dem Jahrhundertwechsel dramatisch, und dieser Fall ist auch durch die Bevölkerungspolitik der Nazis nur etwas korrigiert worden. Nur weil durch den medizinischen Fortschritt auch die Sterbeziffern deutlich sanken, stieg die Bevölkerung weiter an. wenn auch langsamer als früher. Die Lebenserwartung von Männern war bereits zwischen der Dekade 1871-1880 und der Dekade 1901-1910 von 36 auf 45 Jahre gestiegen, bei Frauen von 39 auf 48 Jahre. Die Säuglingssterblichkeit sank von 24 je 100 neugeborene Jungen in der Dekade 1881-1890 auf 7 im Jahre 1933. bei Mädchen von 21 auf 5. Damit fand ein historischer Übergang von einer .. verschwenderischen“ zu einer .. sparsamen“ Bevölkerungs weise statt. Das heißt, immer weniger Menschen werden geboren, und die Lebenden haben (außer in Kriegszeiten) höhere Chancen zu überleben, und sie leben überhaupt länger.

Auffällig kontinuierlich ist der Prozeß der Verkleinerung der privaten Haushalte verlaufen. Die Durchschnittsgröße fiel von Personen (1900) auf 4 Personen (1925) und schließlich 3, 3 Personen (1939) (Graphik 4). Die Zahl der Kinder pro Haushalt war schon damals im Vergleich zu früher relativ niedrig. Das heißt, daß die wachsenden Ressourcen auf weniger Köpfe verteilt werden konnten und die Kinder in den Familien auch mehr menschliche Zuwendung und mehr Freiheiten erfuhren. Es vollzog sich ein Prozeß schleichender Liberalisierung des Erziehungsverhaltens, der sich vor allem in einer abnehmenden „Strenge“ der Erziehung dokumentiert (Graphik 5) 4. In dieser unbemerkten Veränderung der Erziehungspraktiken muß die unmittelbare Vorbereitung des Wertewandels in der Bevölkerung gesehen werden 5.

IV. Der Wertewandel: Aufwertung von Selbständigkeit, Mitbestimmung und Lebensgenuß

Graphik 4: „Kleinere Haushalte“. Durchschnittliche Haushaltsgröße in Deutschland, BRD und DDR (1900-1989) Quelle: Statistische Jahrbücher; eigene Darstellung.

Der eigentliche Übergang zur Wertewandeisgesellschaft ist jedoch ohne weitere einschneidende Veränderungen nicht zu denken. Was die Übergangsperiode der ersten Jahrhunderthälfte den Deutschen nicht bieten konnte, war eine relativ stetige Prosperität, eine relativ egalitäre Wohlfahrt für die Masse der Bevölkerung und stabile demokratische gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Gerade die deutsche Entwicklung war gekennzeichnet durch soziale, regionale und kulturelle Zerrissenheit. Sie krankte letztlich an einer Unvollständigkeit der Modernisierung auf der Systemebene. Die ideologische Kluft zwischen Arbeiterklasse und besitzenden Klassen, zwischen Protestantismus und Katholizismus machte gemeinsam geteilte Grundwerte, die ein demokratisches Staatswesen hätten tragen können, unmöglieh. Diese Zerrissenheit, die durch autoritäre oder totalitäre Staatlichkeit nur zeitweilig überdeckt und angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Misere in der Weimarer Republik nicht überwunden werden konnte, führte in zwei Weltkriege, entwertete durch zwei Inflationen einen Großteil der Vermögen und endete schließlich in der totalen nationalen Katastrophe. Erst diese Katastrophe, die kräftige Nachhilfe der Alliierten und das abschreckende Beispiel des Ostblocks etablierten wenigsten in Westdeutschland wieder die Demokratie und die Marktwirtschaft. Prosperität und Wohlfahrtstaat verankerten das neue System im Laufe des Generationswechsels in der westdeutschen Bevölkerung.

Obwohl in der Bundesrepublik durch Marktwirtschaft und Demokratie günstige Verhältnisse für eine Anpassung der Mentalität und ihrer Werte an die neuen freiheitlichen Verhältnisse gegeben waren und dieser Wertewandel sich latent bereits im Erziehungsverhalten niederschlug, vollzog sich der Prozeß der Modernisierung in der Mentalität der Bevölkerung deutlich langsamer. Trotz aller Prosperität bedurfte es eines gesellschaftlichen Klimawechsels in den sechziger Jahren, um einen heftigen Wertewandeisschub auszulösen, der innerhalb zweier Jahrzehnte die Wertelandschaft der Bundesrepublik deutlich veränderte Die wirren gesellschaftlichen Verhältnisse des abgelaufenen Jahrhunderts hatten in den älteren Teilen der Bevölkerung eine starke Sicherheitsneigung und Experimentierunlust verankert („Keine Experimente“) und eine Abwendung von der öffentlichen Sphäre hin zum privaten Glück in der Familie verursacht („Ohnemichel"). Wiederbelebte Eliten aus der Weimarer Zeit prägten mit ihren zwar demokratisch gemeinten, aber „kulturell angestaubten“ Werten die Situation. Diese Stimmung war dominierend in den fünfziger Jahren. Einige Strukturveränderungen waren in Deutschland durch den Wiederaufbau nur verzögert erfolgt, so die Entwicklung des Dienstleistungssektors. Die Expansion höherer Bildung und die soziale Mobilität stockten.

Ab den sechziger Jahren sorgte dann ein ganzes Bündel von Faktoren für heftige Turbulenzen im Wertesystem großer Teile der Bevölkerung. Der gesellschaftliche Klimawechsel in der politischen Kultur, die allmähliche Gewöhnung an und das Vertrauen in stabilen bzw. steigenden Wohlstand und zunehmende sozialstaatliche Absicherung, zunehmende Tertiärisierung der Wirtschaft, begleitet von der Zunahme der Zahl sicherer Angestellten-und Beamtenpositionen, und schließlich die Bildungs-und Medienexpansion brachten Bewegung in die Werte (vgl. die Graphiken 2 und 3 sowie die Graphik 6). Anhand einiger weniger Langzeitreihen kann man diesen Wandel belegen.

Die prominenteste Zeitreihe der Werteforschung resultiert sicher aus der seit 1951 mehr oder weniger kontinuierlichen Abfrage einer Alternative elterlicher Erziehungsziele durch EMNID (Graphik In der schmalen Auswahl dreier Erziehungsziele gab die westdeutsche Bevölkerung bis in die sechziger Jahre hinein den ökonomischen Sekundärtugenden „Ordnungsliebe und Fleiß“ klar die Priorität. Im Laufe der zweiten Hälfte der sechziger gewann das Erziehungsziel „Selbständigkeit und freier Wille“ die Oberhand. 1969 hatte es mit 45 Prozent mit „Ordnungsliebe und Fleiß“ gleichgezogen; 1974 wurde es mit 53 Prozent von mehr als der Hälfte der Westdeutschen vertreten. In den siebziger Jahren boten sich beide Optionen ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das in den achtziger und den neunziger Jahren mit einer Zweidrittelmehrheit zugunsten der Liberalität entschieden wurde. Die durch die Modernisierung der Gesellschaft erfolgte Individualisierung der Lebenswelt war nun auch auf der Mentalitätsebene manifest geworden (zumindest im Spiegel der Demoskopie).

Die dritte Alternative der zitierten Zeitreihe offenbart noch einmal das, was wir vorhin als den schleichenden Wandel der Erziehungspraxis in der ersten Jahrhunderthälfte beschrieben haben. „Gehorsam und Unterordnung“ als traditionell-autoritäres Erziehungsleitbild stellte bereits zu Beginn der fünfziger Jahre nur noch eine Residualgröße dar. Der Wertewandel -meßbar an der Veränderung der Erziehungsziele -ging mit einer Sensibilisierung der Bevölkerung für öffentliche Belange einher (Graphik Gab es in den fünfziger Jahren noch eine relative Mehrheit, die „gar kein politisches Interesse“ (mehr als ein Drittel der Befragten) bekundete, so ging der Anteil der politisch völlig Desinteressierten ab den sechziger Jahren in einer Scherenbewegung auf eine Restgröße von ca. 10 Prozent zurück, und ein Block von 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung konnte politisch mobilisiert werden. Dieses Phänomen ist deswegen so bedeutsam, weil hier der zunächst eher privat vollzogene Wertewandel eine wichtige öffentliche Schnittstelle zum „System“ erhält.

Eine dritte Allensbacher Langzeitreihe bringt einen weiteren Aspekt der modernen Wertedynamik zum Ausdruck (Graphik 9). Indizieren die beiden Zeitreihen in Graphik 8 den mentalen Trend zum Individualismus in Form der Aufwertung allgemeiner Selbstentfaltungs-und Mitbestimmungsaspekte 7 in der Bevölkerung, so ist die in Graphik 9 präsentierte Zeitreihe Ausdruck des modernen Trends zum „Hier und Jetzt“. Statt eines Lebens in Mühsal und Plage tritt stärker die Genußseite des Lebens in den Vordergrund, oder wenigstens will man sich nicht einseitig für Plage oder Genuß entscheiden. Allerdings fand nur bei den unter 30jährigen ein Prioritätenwechsel statt, in der Gesamtbevölkerung halten sich „protestantische Ethik“ und „Hedonismus“ nach einem Wandlungsschub zwischen den sechziger und siebziger Jahren bis heute etwa die Waage.

Die hohe Priorität des Erziehungsleitbildes „Selbständigkeit“ bringt einen Konsens zum Ausdruck, der vom Idealbild (und der prinzipiellen Funktionalität) des frei und eigenständig entscheidenden Individuums ausgeht. Wenn Jugendliche dem „Lebensgenuß“ in Gegenüberstellung zum „Leben als Aufgabe“ die Priorität einräumen, dann ist das Ausdruck des seit den siebziger Jahren deutlich verlängerten jugendlichen Ausbildungsmoratoriums, das als private und (vor) berufliche Experimentierphase verstanden wird.

V. Deutschland in den neunziger Jahren: Wohin geht die weitere Werteentwicklung ?

Graphik 5: „Weniger Strenge“. Erinnerung an die Kindheit in den alten und neuen Ländern nach Geburtsjahr Quelle: Geburtsjahrgänge Daten des Instituts für Demoskopie (IFD) Allensbach; eigene Darstellung.

In der Tradition der Speyerer Werteforschung 8 haben wir ein Instrument entwickelt, das die heutige Situation des Wertewandels und seine Auswirkungen differenzierter erfassen soll, als das anhand von Durchschnittswerten mit linearen (auch diskontinuierlichen) Trends einzelner Werteindikatoren bzw. in Form von Trends von Wertealternativen („liberal“ versus „autoritär“, „hedonistisch“ versus „asketisch“) möglich ist. Eine wichtige Leitidee war dabei, daß in der Realität bei einzelnen Personen oder auch größeren Personengruppen „Wertekompromisse“ zwischen Pflicht-und Akzeptanzwerten und Selbstentfaltungswerten mindestens ebenso wahrscheinlich sind wie „Wertekonflikte“. Neben den Möglichkeiten „Wertekompromiß“ (besser ausgedrückt „Wertesynthese“ und im folgenden so bezeichnet) und „Wertekonflikt" hat sich jedoch auch die Möglichkeit eines „Werteverlustes“ (also eines „Weder-Nochs“ der Wertegruppen) als ebenso realistisch erwiesen

Die Graphik 10 zeigt die Verteilung von Werte-mustern (die wir Wertetypen nennen) in der erwachsenen westdeutschen Bevölkerung zu drei Meßpunkten. Obwohl drei Möglichkeiten des Wertekonfliktes -ausgedrückt in der subjektiven Zuordnung zu den Typen Ordnungsliebende Konventionalisten, Nonkonforme Idealisten und Hedonistische Materialisten -zugelassen waren, erreicht die Wertesynthese {Aktive Realisten) mit etwa einem Drittel stets die stärksten Anteile in der Bevölkerung. Auch die Variante des Werte-verlustes {Perspektivenlose Resignierte) erzielt mit etwa 15 Prozent zu jedem Zeitpunkt nennenswerte Anteile. Die gesamte Verteilung ist zwar ziemlich stabil, dennoch gibt es einen deutlichen Trend weg vom konventionalistischen Wertekonflikt bzw.der sich dem Wertewandel verweigerenden Wertekonstanz (Ordnungsliebende Konventionalisten). Konventionalisten sind von der Diskrepanz zwischen hoch ausgeprägten Pflicht-und Akzeptanzwerten (Gesetz und Ordnung, Sicherheit, Fleiß und Ehrgeiz), aber niedrig ausgeprägten hedonistisch-materiellen Selbstentfaltungswerten (Lebensgenuß und Lebensstandard) und niedrig ausgeprägten idealistischen Selbstentfaltungswerten (Kreativität und Engagement) beherrscht. Von den drei oben genannten konflikthaften Wertetypen nimmt -insbesondere zwischen 1990 und 1993 -anteilmäßig nur der des sogenannten hedonistischen Materialisten (kurzHedomat) zu, der hoch ausgeprägte hedonistische und materielle Werte mit abgesenkten Pflicht-und Akzeptanzwerten kombiniert. Der Anteil des Typus des Idealisten, für den ein idealistisch motivierter Konflikt mit den Pflicht-und Akzeptanz-werten typisch ist, stagniert dagegen. Das gilt auch für den Anteil der Resignierten (Möglichkeit des „Werteverlustes“).

Das Bild wird noch deutlicher, wenn man nur die Entwicklung bei den 18-bis 30jährigen zu den gleichen Meßpunkten betrachtet (Graphik 11). Konventionalisten stellen in dieser jüngsten Altersgruppe nur noch eine Restgröße dar. Die Entwicklung wird hier vor allem durch die Konkurrenz zwischen Aktiven Realisten (Wertesynthese) und zunächst den Idealisten (bis 1990), dann jedoch vor allem mit den Hedomats (1993) bestimmt.

Konventionalisten findet man vor allem da, wo hohes Alter eine Werteanpassung an eine sich verändernde Welt nicht mehr nötig oder nicht mehr möglich macht. Idealisten traf man bisher vor allem dort an, wo aus einer bereits günstigen sozialen Ausgangsposition überdurchschnittlich von modernen Strukturwandlungen zur Dienstleistungsgesellschaft (Medien, kultureller und akademischer Bereich) profitiert wurde und dennoch die wirklichen oder auch vermeintlichen Defizite dieser modernisierenden Entwicklung am deutlichsten bewußt wurden. Hedomats expandierten vor allem da, wo die Offenheit gegenüber dem gesellschaftlichen Trend zur liberalisierten und kommerzialisierten Konsumgesellschaft besonders ausgeprägt war -bei jungen Menschen aus der unteren Mittelschicht.

Ein Hintergrundfaktor der Expansion des Hedomaterialismus unter den jungen Leuten auf Kosten des Idealismus ist sicherlich der Zusammenbruch des Staatssozialismus, der bis dahin als idealistisches Gegenmodell zum kapitalistischen System fungierte. Ein weiterer Faktor dürfte das expandierende Privatfernsehen sein, das inzwischen die jungen Leute von Kindheit an fest im Griff hat und diese dem Trommelfeuer der Konsumwerte aussetzt. Wenn man außerdem die weithin grassierende Politikverdrossenheit bedenkt, läßt sich der erdrutschartige Verfall des bisherigen Leittypus des Idealisten bei jüngeren Leuten verstehen. Profiteur war der Hedomat, ein jugendlicher Typus, der einen offenen -„natürlichen“ -Egoismus zur Schau stellt und -deutlich stärker als alle anderen Wertetypen -Gewalt als Mittel der Problemlösung akzeptiert. Damit entwickeln Hedomats eine Neigung, den Wertekonsens der Bevölkerung überhaupt in Frage zu stellen. Zwar hat die Bevöl-kerung Pflicht-und Akzeptanzwerte ab-und Selbstentfaltungswerte aufgewertet, dennoch hält sie im breiten Konsens an einer Gruppe von Werten wie „Gutes Familienleben“, „Vertrauensvolle Partnerschaft“, „Freundschaft“, „Gesundheitsbewußtsein“ und „Umweltbewußtsein“ fest. Diese Konsenswerte sind vom Wertewandel wenig tangiert. Man kann sagen, daß sie die Sinnbasis des eigentlich „Wertvollen“ sind, die ihren Schwerpunkt im überschaubaren Nahbereich der Individuen hat

Hedomats entwickeln nun die Neigung, sich von diesen Grundvorstellungen des Sinn-und Wertvollen abzukoppeln. Damit beginnt sich bei ihnen das Werteverständnis überhaupt grundlegend zu ändern, so daß Werte nur noch Teil einer Anpassungsstrategie an die äußeren (materiellen oder genießerischen) Möglichkeiten sind. Bei jüngeren Leuten wurde damit ein idealistisches Werteverständnis zurückgedrängt, innerhalb dessen bestimmte ausgewählte Werte zwar auch (wie die Grundwerte ein „hohes Gut“ darstellen (wie im Wertekonsens der Bevölkerung). Dieses Gut muß aber gerade im Konflikt mit der Gesellschaft gelebt werden. Es kann daher unter den aktuell wahrgenommen (und von Idealisten eher negativ bewerteten) Umständen allenfalls in bestimmten sozialen Nischen realisiert werden.

Welche Rolle spielt nun die Wertesynthese in Form der Aktiven Realisten in der modernen Gesellschaft? Einen Trend zur Wertesynthese (also der zunehmenden Vereinbarkeit von Werten, die vormals stärker kontrastierten) konnten wir in unseren Bevölkerungsbefragungen in letzter Zeit generell feststellen. Unter jungen Leuten war der Typus des Aktiven Realisten neben dem Idealisten und dem Hedomat immer attraktiv, wobei allerdings periodische Schwankungen auftraten. Einen relativ krisenfesten Schwerpunkt hat die Wertesynthese vor allem in den älteren mittleren Jahrgängen. Interessant ist an der Wertesynthese, daß sie mit noch höherer Wertschätzung der ohnehin hoch ausgeprägten konsensuellen Wertebasis der Bevölkerung einhergeht. Aktive Realisten weisen jedoch auch eine hoch-entwickelte Verantwortungsethik auf und sind überproportional in sogenannten Verantwortungsrollen vertreten.

Das Profil von Menschen mit Wertesynthese verweist vor allem auf einen geglückten Sozialisationsprozeß. Innerhalb dieses Prozesses wird bereits in jungen Jahren eine breite Wertebasis aufgebaut, die als „wetterfeste“ Ziel-und Strebenssphäre vor allzuschneller Frustration und Resignation geschützt ist Die Wertesynthese ermöglicht eine individualisierende Umdeutung von Pflicht-und Akzeptanzwerten, die diese zu Tugenden im Rahmen einer eigenaktiven Lebensführung in Verantwortungszusammenhängen umfunktioniert. Dabei mögen günstige soziale Umstände und eine hohe Leistungs-und Karriereorientierung mitspielen, eine exklusive Bindung der Wertesynthese an formal günstige Soziallagen gibt es jedoch nicht. Sie tritt vielmehr in allen Lagen bis zur unteren Mittelschicht auf.

Welche Potentiale besitzen nun die modernen Wertetypen Idealist, Hedomat und Realist angesichts der Situation der neunziger Jahre? Diese könnte auf einen Bruch mit der bisherigen (europäischen) sozialstaatlichen Ausrichtung der Modernisierung hinauslaufen und damit erhebliche Konsequenzen für die weitere Wertedynamik in der Bevölkerung haben. Ursache dafür ist die nun forcierte Globalisierung der Weltwirtschaft, die zwar bereits in den achtziger Jahren im Gange, aber noch durch den Systemgegensatz zwischen Ost und West eingeschränkt war. Die national gebundenen Arbeitnehmer oder Sozialstaatsbürger verlieren damit ihre bisher vergleichsweise starke Stellung gegenüber dem nun (noch) stärker international agierenden Kapital. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus besteht keine ideologisch motivierte Veranlassung mehr, die soziale Qualität der Marktwirtschaft zu demonstrieren. Vor allem jedoch öffnete die weltweite Deregulierung riesige Märkte, die angesichts der problemlos gewordenen Kommunikationsmöglichkeiten und der dortigen geringen Kosten der Produktionsfaktoren verstärkt das Kapital anziehen. Wenn die im Moment gehandelten Szenarien Wirklichkeit werden, dann wird ein Umschwenken der noch sozialstaatlich verfaßten Bundesrepublik Deutschland auf das „amerikanische Modell“ denkbar. Die Folgen wären eine stärkere soziale Auslese, längere Arbeitszeiten und Lebensstandardabsenkungen für die Bevölkerung, wodurch die spezifischen Rahmenbedingungen der Modernisierung in den Sozialstaaten aufgehoben würden.

Die deutsche Färbung des Wertewandels, die aufgrund des Protestes gegen die Reste eines obrigkeitsstaatlichen Konservatismus und der relativ egalitären Anhebung des Lebensstandards auf der Basis staatlicher Umverteilungssysteme eine stark idealistische Komponente hatte, stünde dann (noch mehr als ohnehin schon) zur Disposition. Im Prinzip kann die Ausbreitung des Hedomaterialismus in den achtziger Jahren, die ihren (verspäteten) Scheitelpunkt in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und im Einheitsboom 1991/92 erreichte, bereits als eine erste mentale Anpassung an die verstärkte Amerikanisierung der Bundesrepublik gedeutet werden, allerdings noch auf Basis des sozialstaatlichen Modells.

Wenn das amerikanische Modell in Deutschland übernommen werden sollte, wäre mit einer Verhärtung auch der mentalen Landschaft zu rechnen. Es käme zu einschneidenden Veränderungen der bisher relativ entspannten sozialen Lage, die ein (nischenhaftes) Nebeneinander pluraler Werte-muster zuließ. Auch die Werte würden sich stärker auf einer vertikalen Achse „Gewinner versus Verlierer“ ausrichten. Wenigstens in einer Übergangsphase würden Realisten und Hedomats dieser neuen Situation am besten angepaßt sein -Realisten, weil sie ohnehin eine hohe Leistungsbereitschaft aufweisen, Hedomats, weil sie bei Aussicht auf materielle Gratifikation eine hohe Anpassungsbereitschaft zeigen. Die inzwischen beruflich etablierten Idealisten der mittleren Jahrgänge würden wohl ihre überdurchschnittliche soziale Stellung einigermaßen halten können. Doch bei den sich verengenden Möglichkeiten würde es für die jüngere Generation ernst. Die Gewinnerplätze sind im amerikanischen Modell limitiert und werden von ihren Besitzern verteidigt. Ohnehin können nicht alle Gewinner sein, und die halbwegs lukrativen Nischen im öffentlichen Sektor nehmen ab. Ein Teil der Jugendlichen, der aufgrund günstiger sozialer Herkunft eigentlich für absolute oder relative soziale Gewinnerplätze prädestiniert sein könnte, zeigte in unseren letzten Daten vom Herbst 1994 deutliche Resignationsneigungen.

Allein zwischen dem Frühjahr 1993 und dem Herbst 1994 sprang bei den 18-bis 25jährigen der Anteil von perspektivlosen Resignierten von auf 28 Prozent, der Anteil der Aktiven sank von 37 auf 28 Prozent 13. » Das scheint ein erster Hinweis für eine neuartige Zurückhaltung eines Teils der jungen Leute gegenüber Werten als Ziel-und Strebensaspekten des Lebens überhaupt zu sein. Man kann hier das Wort Resignation wohl vorerst nur in Anführungsstrichen setzen, weil es sich wohl noch eher um eine Wertezurückhaltung als um eine generelle Werteabstinenz handelt. Diese generelle Werteabstinenz der Resignierten trafen wir bisher vor allem bei älteren Modernisierungsverlierern aus den unteren Schichten an. Nach unseren letzten Daten sind die Resignierten dagegen mit Abstand der jüngste Wertetyp, noch vor den Hedomats. Die neue „Wertezurückhaltung“, die im Moment unter sozial eher besser gestellten jungen Leuten kultiviert wird, könnte sich angesichts eines -im Vergleich zu früher -dauerhaften Mangels an Lebenschancen zu einem neuen Trend zur Identitätslosigkeit, einer generellen Distanz zu stabilen Ziel-und Strebensgroßen des Lebens ausweiten.

Allgemein muß man sich fragen, inwiefern die Deutschen mental auf eine Amerikanisierung der sozialen Verhältnisse überhaupt vorbereitet sind. In den USA existierten immer Möglichkeiten der ideellen Kompensation für die Verlierer des sozialen Lebenskampfes, etwa in Form von vitalem Nationalstolz oder verschiedener Spielarten von Religiosität. Beide Kompensationsmöglichkeiten haben durch die spezifische Art und Weise des sozialen Wandels und des Wertewandels in Deutschland weitgehend an Bedeutung verloren. Die Daten zeigen im Moment, daß sich die „etablierte“ Bevölkerung (aber nicht die ganz jungen Leute) durch eine Art Werte-Revival gegen die neue flexiblere und unsichere Situation stemmt. Religion und das Nationale spielen dabei jedoch keine nenneswerte Rolle, wohl aber Recht und Ordnung, soziale Gerechtigkeit und familiäre Sicherheit.

Bis jetzt scheint die Bevölkerung eher auf eine Verteidigung des grundlegenden sozialen Status quo bei partieller Reformbereitschaft eingerichtet. Eine Reaktivierung von traditionellen Kompensa-tionsformen für fehlende oder bedrohte Lebenschancen ist nicht zu erkennen. Allerdings schätzt die Bevölkerung neuerdings die kleinen Netzwerke der Familien wieder stärker und bekundet größere Leistungsbereitschaft. Die jungen Leute spalten sich stärker in die Fraktionen der Leistungsbereiten, der Glücksritter, der Restidealisten und der abwartenden „Werteskeptiker“. Wohin sich der Trend des sozialen Wandels in Deutschland in Zukunft wendet und wie die Werteentwicklung damit fertig wird, bleibt der empirischen Beobachtung der Zukunft überlassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag kann aus Platzgründen nicht auf die Sonderentwicklung in der DDR und den neuen Ländern eingehen. Der Autor hat darüber intensiv gearbeitet und geht in bezug auf den realen Sozialismus, insbesondere die DDR, ebenfalls von der Anwendbarkeit des Modernisierungsmodells aus. Vgl. Thomas Gensicke, Von der Transformation zur Integration. Die neuen Bundesbürger an der Schnittstelle von individueller Anpassung und Vergesellschaftung im neuen Deutschland, noch unveröffentlichte Speyerer Dissertation; ders., Ostdeutschland 1989-1995 im Wandel. Objektive und subjektive Umbrüche, in: Edzard Janssen/Ulrich Möhwald/Dietrich Ölschleger, Gesellschaften im Umbruch? Aspekte des Wertewandels in Deutschland, Japan und Westeuropa, München 1996; ders., Modernisierung, Mentalitätsentwicklung und Wertewandel in der DDR, in: Hans Bertram/Stefan Hradil/Gerhard Kleinhenz, Sozialer und demographischer Wandel in den neuen Bundesländern, Berlin 1995.

  2. Vgl. Stefan Hradil, Die „objektive“ und die „subjektive“ Modernisierung. Der Wandel der westdeutschen Sozialstruktur und die Wiedervereinigung, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 29-30/92.

  3. Mit dem folgenden Begriffsschema und den zwei graphischen Modellen will ich verschiedene auf den Modernisierungsbegriff bezogene soziologische Ideen verknüpfen, u. a. die Systemtheorie der funktionalen Differenzierung mit ihrer Konsequenz in der Individualisierungsthese von Niklas Luhmann, die Theorie der Basisinstitutionen der Modernisierung (Markt, Demokratie, Wohlfahrtsstaat, Massen-wohlstand), wie sie Wolfgang Zapf immer wieder betont hat, Stefan Hradils Unterscheidung der objektiven und der subjektiven Modernisierung sowie die Werteforschung mit Helmut Klages’ Formel des Wertewandels von kollektivistischen Pflicht-und Akzeptanzwerten zu individualistischen Selbstentfaltungswerten und seiner Kennzeichung der gegenwärtigen Gesellschaft als Wertewandelsgesellschaft.

  4. Vgl. Karl-Heinz Reuband, Autoritarismus und Familie -Zum Wandel familialer Sozialisationsbedingungen Jugendlicher in Ost-und Westdeutschland, in: ders. /Franz Urban Pappi/Heinrich Best, Die deutsche Gesellschaft in vergleichender Perspektive, Opladen 1995.

  5. Vgl. Helmut Klages, Verlaufsanalyse eines Traditionsbruchs, in: ders., Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft, Frankfurt am Main -New York 1993.

  6. Vgl. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick -Gegenwartsanalyse -Prognosen, Frankfurt am Main -New York 1984; ders., Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland. Eine problemorientierte Hinführung zu Fakten und Deutungen, in: E. Janssen/U. Möwald/D. Ölschleger (Anm. 1).

  7. Vgl. auch Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, Weinheim -München 1996.

  8. In Speyer wird vom Verfasser zur Zeit das Projekt „Wertewandel in den neunziger Jahren. Tendenzen und Probleme“ unter der Leitung von Helmut Klages durchgeführt, das von der Robert Bosch Stiftung und der Fritz Thyssen Stiftung unterstützt wird. Die folgende Darstellung stützt sich auf Erkenntnisse der Speyerer Werteforschung und knüpft an einen Beitrag des Verfassers in dieser Zeitschrift an. Vgl. Thomas Gensicke, Wertewandel und Familie. Auf dem Weg zum „egoistischen“ oder „kooperativen“ Individualismus?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/94; ders., Deutschland im Wandel. Sozialer Wandel und Wertewandel in Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung, in: Speyerer Forschungsberichte Nr. 154 (19962).

  9. In unseren Analysen seit Anfang der achtziger Jahre haben sich in der Bevölkerung Wertekonflikt, Wertesynthese und Werteverlust über alle Messungen hinweg als wahrscheinliche Möglichkeiten wiederholt. Dabei war interessanterweise die Wertesynthese immer am stärksten ausgeprägt.

  10. Diese Grundwerte Familie, Partnerschaft, Freundschaft, Gesundheit und Natur sind wahrscheinlich das Resultat der Übergangsperiode zur Wertewandelsgesellschaft. Sie sind Ausdruck eines Trends von der Orientierung an der (objektiven) sozialen Norm zum (subjektiven) Wert als Leitgröße des menschlichen Verhaltens. Diese Entwicklung hat wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der breiten Bevölkerung stattgefunden, insbesondere im Zusammenhang mit der Ver(klein) bürgerlichung der Lebensweise nach dem Vorbild der bürgerlichen Familie.

  11. Ein Grundwertekonsens hat sich in der Bevölkerung inzwischen auch in bezug auf die Gesellschaft hergestellt: Persönliche Freiheit, Soziale Gerechtigkeit, Recht und Ordnung sowie Frieden sind die allgemein geteilten gesellschaftlichen Grundwerte der Bevölkerung.

  12. Aktive Realisten scheinen weitgehend identisch mit den sogenannten „starken Menschen“ zu sein, die Elisabeth Noelle-Neumann in den Daten des IFD Allensbach entdeckt hat. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Thomas Petersen, Alle, nicht jeder. Einführung in die Methoden der Demoskopie, München 1996.

  13. Diese Analysen beruhen auf einer für die 18-bis 65jährigen repräsentativen Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr München (SOWI) vom Herbst 1994, in die das Speyerer Wertemeßinstrument eingeschaltet war.

Weitere Inhalte

Thomas Gensicke, geb. 1962; 1984-1989 Studium der Philosophie in Leipzig; 1990-1991 Mitarbeiter am Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien (BISS); seit Oktober 1991 Forschungsreferent am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Lehrstuhl Prof. Dr. Helmut Klages); Bearbeitung des Rahmenprojektes „Wertewandel in Deutschland“. Veröffentlichungen u. a.: Wertewandel und Nationalbewußtsein. Über die Modernisierung des Nationalgefühls in Westdeutschland, in: Bernd Estel/Tilman Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1995; (zus. mit Helmut Klages) Spannungsfelder des Wertewandels. Von der spontanen Entwicklung von Selbstentfaltungswerten zu deren Integration, in: Norbert Seibert/Helmut J. Serve, Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, München 1994.