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Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft | APuZ 40/1996 | bpb.de

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APuZ 40/1996 Die internationale Regelung der Wiedervereinigung Von einer „No-win" -Situation zum raschen Erfolg Die deutsche Einigung oder das Ausbleiben des Wunders. Sechs Jahre danach: eine Zwischenbilanz Industrielle Beziehungen in Ostdeutschland: Zwischen Transformation und Standortdebatte Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft Die neuen Bundesländer als Sonderfall der Transformation in den Ländern Ostmitteleuropas

Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft

Fritz Vilmar/Wolfgang Dümcke

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Zusammenfassung

Ausgehend von neuesten, besorgniserregenden Daten über einen erneut drohenden ökonomischen „Absturz Ost“, kritisieren die Autoren die Gleichgültigkeit der deutschen Politikwissenschaft angesichts der schwerwiegenden Defizite der Vereinigungspolitik. Sie fassen die Ergebnisse eines vierjährigen Forschungsprojekts „Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses“ zusammen, das sie als Pilotstudie für eine noch ausstehende, nur kooperativ zu bewältigende Gesamtanalyse verstehen. Nach Auffassung der Autoren wird der Demokratisierungsprozeß in Ostdeutschland substantiell in Frage gestellt durch einen Prozeß der „strukturellen Kolonialisierung“ -im Sinne einer politischen, ökonomischen und kulturellen Dominierung des ostdeutschen soziopolitischen Systems durch das westdeutsche. Nur durch eine entschieden „alternative“ Vereinigungspolitik kann, nach Auffassung der Autoren, ein Prozeß selbstbestimmter Demokratisierung langfristig obsiegen.

I. Ausgangspunkt: Die große geschichtliche Chance

Abbildung: Bruttoinlandsprodukt Arbeitslosenquote, Unternehmenspleiten in den neuen Bundesländern 1992-1996 Quelle: Der Spiegel, Nr. 25 vom 17. 6. 1996, S. 97.

Seit am 9. November 1989 die Mauer aufgemacht wurde, ist immer wieder -und mit Recht -von der großen historischen Stunde gesprochen worden. In der Tat war die plötzlich aufscheinende und Tag für Tag greifbarer werdende Chance der Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands ein kaum zu fassendes, an ein Wunder grenzendes historisches Ereignis: „Wahnsinn!“ war das meistgebrauchte Wort. Und mit einer großen Emphase, Opferbereitschaft und Energie sind in jenen ersten Monaten Unzählige darangegangen, die Freiheit für die ostdeutschen Menschen in eine stabile gesellschaftliche und staatliche Form zu bringen.

Und gerade weil das so war und weil es immer noch unsere überragende politische Aufgabe ist, muß untersucht werden, warum bei dieser Vereinigungspolitik so vieles nicht nur „schief“, sondern verkehrt gelaufen ist, warum eine so tiefe Ernüchterung und Enttäuschung an die Stelle des großen Aufbruchs getreten ist. Es erweist sich als notwendig, in der politischen Theorie und Bildungsarbeit endlich gründlicher auch über die Schattenseiten der Vereinigungspolitik und über die politische Verantwortlichkeit Rechenschaft abzulegen, als dies in den vergangenen sechs Jahren -von wenigen Ausnahmen abgesehen -geschehen ist. Es kann nicht nur darum gehen, die Leistungen der Vereinigungspolitik herauszustellen, die teilweise katastrophalen Fehlleistungen aber und die damit im Zusammenhang stehende Gefahr einer Abwendung der Ostdeutschen vom demokratischen wie vom marktwirtschaftlichen Modell als unabänderlich -oder vorübergehend -hinzunehmen.

II. „Absturz Ost“ -kein nationales Thema?

Nicht ohne Grund betitelte Der Spiegel im Juni 1996 seinen Bericht des erneuten ökonomischen Rückschlags als „Absturz Ost“ Was in Fachzeitschriften schrittweise verfolgt werden konnte, wurde dem interessierten Bürger hier sehr konkret zusammenfassend präsentiert. Das Hamburger Magazin dokumentierte die bedrohliche Stagnation der Wirtschaftsentwicklung, die wieder ansteigende Massenarbeitslosigkeit, den damit zusammenhängenden, weit überdurchschnittlichen Anstieg der Bankrotte und Geschäftsaufgaben sowie die grassierende Wirtschaftskriminalität westdeutscher Unternehmens-aufkäufer. Und es resümierte die quantitativen Befunde: „Die industriellen Kerne sind zu Miniaturen verkommen. Schon 1991 warnte das Referat VI-IIb des Bonner Finanzministeriums vor einer . drohenden Deindustrialisierung 1 im Osten. . . Das interne Papier beschwor düster die Gefahr, , daß lediglich 20 Prozent der industriellen Arbeitsplätze im Beitrittsgebiet -das wären 700 000 von insgesamt 3, 4 Millionen Arbeitsplätzen -überle Millionen Arbeitsplätzen -überleben’ . . . Jetzt erweist sich diese pessimistische Prognose als noch zu optimistisch. . . . Die neuen Länder tragen gerade sechs bis sieben Prozent zur gesamten Industrieproduktion der Republik bei, nach ihrem Bevölkerungsanteil müßten es knapp 20 Prozent sein.“ 2 Auf dieser deindustrialisierten Basis aber sei kein Aufschwung Ost realisierbar.

Wir verweisen einleitend aus zwei Gründen so nachdrücklich auf den Spiegel-Titel und seine wichtigsten Ergebnisse: zum einen wegen der seltenen, nichts beschönigenden Radikalität seiner -auf dem neuesten Stand der empirischen Daten basierenden -Bestandsaufnahme; zum andern wegen der auch ihm eigenen intellektuellen Ohnmacht hinsichtlich der Ursachenanalyse und der politischen Alternativen, die geeignet wären, das Desaster der bisherigen ökonomischen Vereinigungspolitik zu überwinden -von den außerökonomischen Teilbereichen dieser Politik hier gar nicht zu reden. Diese Ohnmacht resultiert u. E. aus dem Ignorieren der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Interessen. Erst wenn man diese analysiert, erscheinen viele der verhängnisvollen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen als interessenpolitisch sehr verständliche (Selbst-) Rechtfertigungen bzw. höchst (eigen) nützliche Entscheidungen.

Um so mehr wäre es die Aufgabe der deutschen Sozialwissenschaften gewesen -vorab der Politologie -, zu leisten, was von einem Nachrichtenmagazin nicht verlangt werden kann: spätestens seit 1991 den Zusammenhang von Fehleinschätzungen/Fehlsteuerungen und Interessendurchsetzung westdeutscher Entscheidungsträger offenzulegen, die trotz gewaltiger Transferzahlungen insgesamt zum Mißlingen des „Aufschwungs Ost“ führen mußten. Aber das Unglaubliche geschah und geschieht seit einem halben Jahrzehnt: Die deutsche Sozial-und insbesondere die Politikwissenschaft verfertigt zwar massenhaft Detailrecherchen zum „Transformationsprozeß“, weigert sich aber, die bedrohlichen Fehlsteuerungen der Wiedervereinigung als ihre alles andere überragende wissenschaftliche, ja wissenschaftsethische Aufgabe zur Kenntnis zu nehmen. Von wenigen, sogleich zu benennenden Ausnahmen abgesehen, läßt sie das akute, offenkundig ungelöste existentielle Problem unserer Nation links liegen und betreibt business as usual, offenbar durch nichts aus den gewohnten Forschungs-und Karrieregeleisen zu bringen 3.

Nicht zuletzt versagte der angeblich so kritische Fachbereich der Freien Universität Berlin, vor dessen Haustür sich das Deutsche Drama vollzieht. An diesem „größten politologischen Fachbereich Europas“ haben sich zwar einige einzelne Politik-wissenschaftlerinnen sehr engagiert -der Fachbereich als Ganzes jedoch verharrte in Sprachlosigkeit, in einem „intellektuellen Winterschlaf“, wie eine der scharfsinnigsten deutschen (Wissenschafts-) Journalistinnen dies bereits am 7. Januar 1991 in einem fulminanten Leitartikel formuliert hat: „Die deutsch-deutsche Entwicklung trennt die Intellektuellen auf eine neue, bisher nicht bekannte Weise . . . Die Altlinken in der früheren Bundesrepublik, die einst jeden Hauch eines Berufsverbots’ . . . geißelten, schweigen zu den , Abwicklungsaktionen‘ in der ehemaligen DDR.

. . . Sie entwickeln zum Umbruch und Neuanfang kaum Ideen. . . . Statt dessen machen sich armselige Konkurrenzfurcht, Feigheit und Denkträgheit breit . . . Die Zahl der deutsch-deutschen , Brükkenbauer’ ist klein. Viel zu wenige . . . beteiligen sich an der gewaltigen geistigen und praktischen Anstrengung, wie aus einer ruinierten Planwirtschaft . . . eine soziale und regulierte Marktwirtschaft, wie aus einer zentralisierten Bürokratie eine mitbestimmte, föderale Demokratie werden kann . . . Durch Verschweigen und Verdrängen ist in Deutschland noch nie etwas zum Positiven gewendet worden. Es wird Zeit, den intellektuellen Winterschlaf zu beenden.“ 4 Und insgesamt muß man sagen: Wenn es so etwas wie einen wohlverstandenen (Verfassungs-) Patriotismus gibt, eine nationale Mitverantwortung gerade der führenden, „entscheidenden“ Kräfte in diesem Land, so muß man einem großen Teil nicht nur der wissenschaftlich Tonangebenden, sondern, wie zu zeigen sein wird, auch der politischen und vor allem der ökonomischen Entscheidungsträger den Vorwurf machen, ihrer -auch -nationalen Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein.

Eine Pilotstudie Der Versuch, eine kritische Bilanz zu ziehen, ist bislang auf die Analysen einzelner (Teams) beschränkt geblieben -eine kooperativ zu bewältigende wissenschaftliche Gesamtuntersuchung der Vereinigungspolitik und deren allgemein zugängliche Publikation steht noch aus

Auf der Basis eines vierjährigen Studienprojekts „Kritische Analyse und Alternativen des Einigungsprozesses“ (1991-1995), dessen Ergebnisse wir koordinierten, miterarbeiteten, im Herbst 1995 herausgaben und im Sommer 1996 ergänzten, können im folgenden einige der wichtigsten Problemschwerpunkte und kritischen Hypothesen eines solchen, u. E. unabdingbaren Forschungsprozesses umrissen werden. Im hier vorgegebenen Rahmen kann die Präsentation unserer Hauptergebnisse nur in Form von Thesen geschehen, die ihrerseits als Arbeitshypothesen für eine breit anzulegende wissenschaftliche Diskussion und kooperative Forschung dienen können. Ihre Anordnung folgt der dreigliedrigen Systematik des Sammelbandes. Die Belege mußten in die -notgedrungen sehr ausführlich geratenen -Fußnoten verlegt werden.

III. Schwerpunkte der Kritik

1. Methodische Prämisse Eine ernstzunehmende Kritik der bisherigen Vereinigungspolitik darf eine bestimmte „normative Kraft des Faktischen“ nicht verkennen, ihr nicht abstrakte Wünschbarkeiten gegenüberstellen Dies besagt allerdings nicht, daß es innerhalb der Vereinigungspolitik nicht grundlegend andere und bessere Politiken gegeben hätte. Vielmehr gilt es, von den im Rahmen vorgegebener soziopolitischer Sachzwänge zur Wahl stehenden Optionen politischen Handelns auszugehen und zu prüfen, inwieweit die von den politischen Akteuren gewählten Politiken die obersten Ziele der Wiedervereinigung -Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands unter demokratischen Bedingungen, Wohlstandssicherung, Achtung der Menschenwürde -verwirklichen oder verfehlen. Demgemäß gilt methodisch für jede angemessen gründliche kritische Analyse: Die Vereinigungspolitik kann nur als ein für Alternativen offener, nicht als ein sachzwanghaft-alternativloser Prozeß angemessen analysiert werden

Und das Fazit, das in den 21 Detailanalysen unserer Pilotstudie belegt wird, lautet im Gegensatz zu Lothar de Maizieres Selbstzufriedenheit Es war mehr erreichbar, es gab Alternativen! Wir werden die wichtigsten benennen. 2. Politische Unterordnung (1) Durch die Verhinderung der im westdeutschen Grundgesetz ausdrücklich vorgesehenen Abstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung wurde die gleichberechtigte Mitwirkung der Ostdeutschen an der Konstitution eines vereinigten Deutschland vereitelt. Statt dessen wurde die umstandslose Eingliederung der Bürger der DDR in das politische System der westdeutschen Republik verfassungsrechtlich besiegelt.

In unserer kritischen Analyse der Vereinigungspolitik geht es vor allem um die gründliche Reflexion, ob nicht aus lauter Angst, das Volk wolle vielleicht „mehr (und sozialere) Demokratie wagen“, die politischen Akteure in diesem Land ein grundlegendes Gebot der demokratischen Konstitution mißachtet haben" Gerade unser ostdeutsches Teilvolk hätte, nach so vielen Entmündigungen in der DDR-Zeit und leider auch nach 89, sein demokratisches Selbstbewußtsein in einem solchen Akt grundlegender Mitentscheidung -nicht zuletzt mit Blick auf einzufordernde soziale Grundrechte aus der DDR -wesentlich stärken können.

Daß die liberal-konservative Vereinigungspolitik eine selbstbestimmte demokratische Erneuerung in Ostdeutschland behinderte, ist in unserer Pilot-studie außerdem nachgewiesen worden durch die Analyse der Westanpassung des Parteiensystems: (2) Anstelle eines selbstbestimmten Prozesses der demokratischen Neuorientierung mußten von den vier Bündnisparteien der SED die CDU und die LDPD, bei Strafe des Untergangs, einen zwangs-haften Prozeß der Unterordnung unter die programmatischen und organisatorischen Strukturen der dominierenden Westparteien vollziehen

Angesichts der totalen Anpassung dieser beiden „bürgerlichen“ Parteien, des weitgehenden Unvermögens der Bürgerbewegungen der DDR, sich in der Kürze der Zeit parteipolitisch zusammenzu-schließen und der ostpolitischen Halbherzigkeit der SPD erscheint übrigens die Entwicklung und der relative Erfolg der PDS als einziger eindeutigen Vertreterin ostdeutscher Interessen in einem neuen Licht, nämlich auch als Ergebnis mangelnder ostdeutscher Orientierung der anderen Parteien. (3) Die -zweifelsfreie -Option der ostdeutschen Mehrheit für den westdeutschen Wohlstands-und Freiheitsstandard wurde von den politischen Akteuren als Blankoscheck für eine Übertragung sämtlicher wirtschafts-, sozial-, Verwaltungs-, bildungs-, medien-, gesundheits-und sonstiger politischer Strukturen genutzt -bei gleichzeitiger Liquidation auch -in freiheitlicher Form -erhaltenswerter soziopolitischer Strukturen der DDR.

Vielfach wird eingewendet, das Argument einer Vereinnahmung, Unterordnung oder gar Kolonialisierung der DDR entbehre schon deshalb der sachlichen Grundlage, weil die Ostdeutschen schließlich selbst, mit deutlicher Mehrheit, den Weg in die Vereinigung mit der westdeutschen Republik und insbesondere in die Währungsunion gewählt hätten. Dieser Einwand („Die Ossis haben es doch nicht anders gewollt“) ist nicht nur zynisch, sondern auch in der Sache unhaltbar (4) In der DDR wurden nicht nur die politischen Führungskader des SED-Regimes aus ihren Ämtern und Funktionen entfernt, sondern auch ein großer Teil der akademischen und Funktionseliten aus ihren Positionen in der Wirtschaft, der Verwaltung und -zu über 80 Prozent! -aus den wissenschaftlichen Einrichtungen.

Hier steht nicht zur Diskussion die selbstverständliche Entmachtung und -insofern strafrechtlich erfaßbar -Bestrafung der SED-Führungsschicht. Aber zur Debatte gestellt werden muß die Ausschaltung, „Abwicklung“ und rentenrechtliche Bestrafung von Hunderttausenden von Funktionsträgern in staatsnahen Positionen 3. Ökonomische Kolonialisierung Wir haben als „strukturelle Kolonialisierung“ vor allem eine Transformation der Wirtschaft im Interesse optimaler Gewinnchancen der dominanten Ökonomie (im alten Bundesgebiet) ermittelt Die Tatsache, daß die ostdeutsche Planwirtschaft wesentliche -von uns präzise benannte -Modernisierungsdefizite aufwies, wird von den politisch und ökonomisch Verantwortlichen nach dem katastrophalen Zusammenbruch großer Teile dieser Wirtschaft zur pauschalen ideologischen Selbst-rechtfertigung benutzt: sie sei eben marode gewesen. Verschwiegen wird, daß eine deindustrialisierte DDR, deren staatliche Handelsketten von privaten westdeutschen übernommen und fast ausschließlich mit westlichen Waren bestückt wurden, zu einem großen Markt „transformiert“ werden konnte, der der westdeutschen Wirtschaft zu einer jahrelangen Sonderkonjunktur verhalf und verhelfen wird. In unserer Pilotstudie haben wir die -im einzelnen nicht unbekannte, insgesamt aber bislang weitgehend vernachlässigte -Kritik vor allem in fünf Teilanalysen zusammengefaßt: (1) Infolge der -politisch-wahltaktisch und nicht ökonomisch motivierten -überstürzten Währungsunion ohne flankierende Stützungsmaßnahmen für die ostdeutsche Wirtschaft wurde deren finanzielle, Wettbewerbs-und insbesondere exportpolitische Basis weitgehend zerstört und damit die Deindustrialisierung Ostdeutschlands eingeleitet.

Daß die übergangslose Währungsunion für die ostdeutsche Wirtschaft katastrophale Folgen hatte, ist heute wissenschaftlich unbestritten -und dies gilt unabhängig von deren teilweise „marodem“ Zustand wie Jan Priewe und Rudolf Hickel mit Recht feststellten: „Auch ein einigermaßen stabiles Land in Westeuropa wäre durch diesen Aufwertungsschock in eine tiefe Anpassungskrise abgestürzt.“ Nicht so klar ist in der öffentlichen Diskussion, daß diese „ökonomisch wahnsinnige“, rein „politische“ Entscheidung, wie der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl resignierend feststellte, nicht verantwortungsbewußter Vereinigungspolitik entsprach, sondern primär wahlpolitischem Kalkül 14. Der gewiß nicht als „links“ einzustufende Ökonom Wilhelm Hankel stellte aufgrund dessen fest: „Das Versprechen des Bundeskanzlers, die DM . . . schon vor der deutschen Vereinigung im Gebiet der DDR einzuführen, sicherte seiner Partei .. .den grandiosen Wahlsieg vom März 1990.“

Der vielfach -insbesondere von Wolfgang Schäuble -vorgetragene Legitimierungsversuch, die rasche Währungsunion sei unabdingbar gewesen, um den Übersiedlerstrom einzudämmen -was auch gelungen sei -, erweist sich angesichts der vorliegenden Statistiken als unhaltbar: Der „Übersiedlerstrom“ ist durch den vorübergehenden „DM-Strom“ in die DDR keineswegs gebremst worden (2) Durch die Belastung der ostdeutschen Wirtschaft mit fiktiven -rechtlich nicht begründbaren -sogenannten Altschulden und mit dem Eigentums- vorbehalt wurden Substanz und Handlungsmög-Uchkeiten der ostdeutschen Wirtschaft weiterhin vermindert, der Deindustrialisierung weiter Vorschub geleistet.

Die Fiktivität dieser Altschulden der DDR-Unternehmen, daher die Unrechtmäßigkeit einer Belastung dieser Unternehmen mit solchen „Schulden“ und deren destruktive Wirkung auf die Sanierung zahlloser Firmen und Genossenschaften, ist in unserem Projekt Gegenstand einer besonderen Studie, die sich nicht zuletzt auf ein Gutachten von Rupert Scholz stützt Als weitere schwerwiegende Entwicklungsbremse erwies sich das im Einigungsvertrag festgeschriebene Prinzip der Eigentums-„Rückgabe vor Entschädigung“ das Investitionen in Ostdeutschland, wenn überhaupt, oft nur risikoreich nach langwierigen Verhandlungen (aufgrund des „Investitionsvorranggesetzes“) möglich machte und immer noch macht.

Altschuldenfiktion und Eigentumsvorbehalt trugen also wesentlich dazu bei, einen großen Teil der DDR-Unternehmen handlungsunfähig oder nur zu Ausverkaufspreisen verkäuflich zu machen. (3) Durch eine verfehlte Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt (entgegen ihrem gesetzlichen Auftrag, ostdeutsche Unternehmen zu sanieren und zu privatisieren) wurde ein Ausverkauf ostdeutscher Unternehmen um jeden Preis bewirkt, deren Erwerber häufig westdeutsche Unternehmer waren, die sich auf diese Weise ostdeutscher Konkurrenz entledigten.

Trotz zahlreich vorliegender, z. T. auch kritischer Darstellungen über die -ja keineswegs abgeschlossene, sondern nur in Nachfolgegesellschaften verlegte -Tätigkeit der Treuhandanstalt fehlt bis heute eine gründliche Gesamtanalyse, die diese Tätigkeit an der entscheidenden volkswirtschaftlichen Frage mißt: ob und inwieweit diese quasi staatliche Behörde nicht nur die Privatisierung, sondern, dem Treuhandgesetz gemäß, auch die Sanierung der ostdeutschen Unternehmen betrieben und damit der Modernisierung und Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft gedient hat. Wir weisen nach, daß sie dieser Aufgabe in keiner Weise gerecht wurde

Abschließend können wir aufgrund unserer Projektstudien sagen, daß die genannten Deindustrialisierungsfaktoren und darüber hinaus das Ausbleiben der (zugesagten) Investitionen der dazu daß Ostdeutschland Industrie führten, weitgehend zum -höchst lukrativen -Markt für die westdeutsche Industrie und zahllose Dienstleistungsunternehmen wurde. (4) Die deutsche Arbeitsmarktpolitik, die in den ersten Jahren geholfen hat, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, „Kurzarbeit Null“, eine großzügige Vorruhestandsregelung etc. die katastrophale Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland zu lindern, wurde nicht in Richtung auf einen ausgebauten Zweiten (staatlichen) Arbeitsmarkt weiterentwickelt, sondern wurde und wird im Zuge der Sparpolitik der Bundesregierung abgebaut, mit der Folge zunehmender Verelendung und Zukunftslosigkeit der A rbeitslosen.

Der -in diesem Umfang durchaus nicht zwangsläufige -Zusammenbruch des ostdeutschen Arbeitsmarktes, seine Schrumpfung von knapp zehn auf knapp sechs Millionen Erwerbstätige (1992, ohne seitherige nennenswerte Erholung), ist in unseren Studien zusammenfassend dokumentiert worden (5) Die gewaltigen Transferzahlungen (über eine Billion Mark) nach Ostdeutschland, finanziert vom (west-) deutschen Steuerzahler unter Inkaufnahme einer weit überdurchschnittlichen Staatsverschuldung, hat zwar den Absturz der Millionen Arbeitslosen, der Institutionen und (Kommunal-) Verwaltungen in die totale Armut verhindert und grundlegende Infrastrukturen (Verkehrswege, Telekommunikation) geschaffen, aber nur völlig unzureichend Investitionen zum wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht 4. Soziokulturelle Liquidation Wir sind in unseren Studien zu dem Ergebnis gekommen, daß es im Rahmen der Vereinigungspolitik massive Versuche gab, mit der „offiziellen Unkultur“ auch die „ganz persönliche politische Kultur“ der Bürger zu liquidieren, „ihre Aufbau-leistungen, ihre aktive, oft durchaus idealistische Mitarbeit in soziokulturellen Einrichtungen und insbesondere auch ihre progressiven gesellschaftlichen Gegenentwürfe in den systemkritischen Bürgerbewegungen“

Die weitgehende blichtzurkenntnisnahme, Leugnung oder sogar Herabwürdigung wissenschaftlicher, literarischer, künstlerischer, pädagogischer, gesundheits-und sportpolitischer wie auch -nicht zuletzt -sozialpolitischer Leistungen, die es in der DDR trotz der inhumanen Strukturen unter der SED-Herrschaft gab, haben Millionen von Bürgerinnen und Bürgern der DDR als Demütigung und Verletzung ihres Selbstbewußtseins erlebt: Nach sechs Jahren Vereinigungspolitik empfinden sich nachweislich noch vier Fünftel der Ostdeutschen als „Bürger 2. Klasse".

Eine Marginalisierung des soziokulturellen Systems geht immer einher mit einer Erschütterung des Selbstbewußtseins der in ihm lebenden Menschen In Ostdeutschland haben solche Versuche vielfach eine besonders kontraproduktive Wirkung gehabt. Die Auswertung von Meinungsumfragen in unserem Projekt hat -neben der genannten Diskriminierungserfahrung -ergeben, daß die zunächst vorhanden gewesene Bereitschaft, sich mit dem neuen (Gesamt-) Deutschland zu identifizieren, einer Rückwendung zur ostdeutschen Identität gewichen ist 5. Fazit: „Transformation“, „Demokratisierung“

oder „Kolonialisierung“ der DDR?

Im Gegensatz zur üblich gewordenen „wertfreien“ Bezeichnung des Vereinigungsprozesses als „Transformation“ halten wir die Interessen-und Wertorientierung, die Analyse und Beurteilung des Vereinigungsprozesses nach den Maßstäben des Cui bono sowie der realisierten Menschenwürde und Demokratisierung (demokratischer Selbstbestimmung der Menschen in Ostdeutschland) für unabdingbar, sollen überhaupt gesellschaftlich relevante Aussagen zustande kommen.

Nach skrupulösen Erwägungen haben wir -unbeschadet unserer Anerkennung gleichzeitig sich vollziehender Demokratisierungsprozesse! -die Summe der Entscheidungen, die nicht der Menschenwürde und demokratischen Selbstbestimmung der Ostdeutschen dienten, sondern den politischen, ökonomischen und kulturellen Dominanzinteressen westdeutscher (Macht-) Eliten und der Übertragung von deren sozioökonomischen Strukturen auf die des dominierten Systems, in dem Oberbegriff der strukturellen Kolonialisierung zusammengefaßt -einer besonders erhellenden Analyse zweier ZEIT-Ökonomen folgend.

Wir definierten: „Der Tatbestand der Kolonialisierung umfaßt mehr als die Prozesse der weltweiten europäischen Expansion vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Kolonialisierung bedeutet in ihrem Kern die politische, ökonomische und kulturelle Dominanz eines gesellschaftlichen Systems im Verhältnis zu einem anderen^ Aber: „Selbstverständlich beschreibt der Terminus Kolonialisierung nur eine Seite des Vereinigungsprozesses. Auf der anderen Seite gibt es den langfristig wirkenden Prozeß der Demokratisierung.“ Doch „die unzweifelhaft vorhandenen Bemühungen um die Demokratisierung Ostdeutschlands werden durch den gleichzeitig sich vollziehenden Kolonialisierungsprozeß aufs schwerste diskreditiert“ Insgesamt kann man also von konkurrierenden Prozessen der Demokratisierung und Kolonialisierung in der ehemaligen DDR sprechen und um so eher einer vorsichtigen Hoffnung Ausdruck verleihen, daß der Prozeß demokratischer Selbstbestimmung langfristig obsiegt wenn das kritische Selbstbewußtsein der Ostdeutschen sich weiter entwikkelt

IV. Ansätze einer alternativen Vereinigungspolitik

Wenn der Demokratisierungsprozeß in Zukunft die Oberhand gewinnen soll, so ist dazu die Besinnung auf die Alternativen zur bislang exekutierten Vereinigungspolitik und deren politisch-ökonomischer Umsetzung von großer Bedeutung. Im Rahmen dieses Resümees unseres Forschungsprojekts ist es allerdings nur möglich, auf einige der wichtigsten unerledigten Alternativkonzepte stichwort-artig hinzuweisen und Interessierte zu ermutigen, sich über unsere Befunde en detail zu informieren.

Gesamtdeutsche Verfassung: Die „vertane Chance der Verfassungsreform“ muß keineswegs für alle Zukunft als solche verstanden werden: Die von Lorenz Becker resümierten Vorschläge -insbesondere die für die Aufnahme sozialer Grundrechte und plebiszitärer Elemente in eine künftige deutsche Verfassung -werden wieder auf die Tagesordnung kommen, sobald die Notwendigkeit einer die Ostdeutschen ernstnehmenden partizipativen Demokratie als eine rettende Strategie angesichts gefährlich um sich greifender politischer Resignation und Apathie erkannt wird.

Umfassende Industriepolitik: Durch eine entschlossene bundes-und landespolitische Industriepolitik in und für Ostdeutschland, deren Essentials unser Projekt in mehreren Texten zur Sprache gebracht hat könnte eine Sanierung sowie die notwendige beschaffungs-und wettbewerbspolitische Privi-legierung (Wolfgang Thierse) zahlloser Unternehmen und speziell der „industriellen Kerne“ realisiert werden, die den bisher weithin ausgebliebenen „Aufschwung Ost“ in Gang bringt. Die Aufhebung der „Altschulden“ -Fiktion und die Kapitalbeteiligung der Länder spielen dabei eine wichtige Rolle.

Förderung partizipativer Unternehmensformen: Eine weitere essentielle Rolle spielt die Förderung partizipativer Unternehmensformen: Mit Hilfe von materieller und Entscheidungsbeteiligung der Belegschaften -von der THA viel zu spät und unzulänglich angeboten -könnten in großem Ausmaß Mitarbeitergesellschaften ermöglicht werden, die, wie Stephan Käppler dargelegt hat, durch hohe Motivation (und daher u. a. Inkaufnahme von zeitweiligen Lohneinbußen) wettbewerbsfähig werden.

Dasselbe gilt für genossenschaftliche Unternehmen, insbesondere in der Landwirtschaft. Nach unseren Untersuchungen haben die Agrargenossenschaften allen Diskriminierungen zum Trotz nicht nur als einzige „sozialistische“ Wirtschaftsform überlebt -sie haben sich auch als effizienter denn die durchschnittlichen westdeutschen Höfe erwiesen

Schaffung eines staatlichen Zweiten Arbeitsmarkts: Da nach übereinstimmender ökonomischer Analyse Wirtschaftswachstum, auch mit noch so verschwenderischen Subventionen und rigidem Lohnabbau forciert, nicht mehr Größenordnungen erreichen wird, die zum relevanten Abbau von Massenarbeitslosigkeit führen, ist anstelle des gegenwärtigen, insbesondere für Ostdeutschland katastrophalen Abbaus der Arbeitsmarktpolitik ein stabiler Zweiter (staatlicher, „gemeinwirtschaftlicher“) Arbeitsmarkt aufzubauen. Es geht darum, statt Arbeitslosigkeit Arbeit zu finanzieren, die nach den vorliegenden Berechnungen nur relativ geringe Mehrkosten verursacht, aber außergewöhnlich positive gesellschaftspolitische Ergebnisse zeitigt

Abbau der . Diskriminierungen: Durch die längst fällige Abschaffung des „Rentenstrafrechts“, durch das -im Widerspruch zur Rentengarantie des Einigungsvertrages -die Renten von ehemals in „staatsnahen“ Berufen Beschäftigten gekappt werden, sowie durch eine Wiedergutmachung bei Einstellungen, durch die in Universitäten und sämtlichen öffentlichen Institutionen bei gleicher Qualifikation Ostdeutsche bevorzugt (wieder) eingestellt werden, muß der Diskriminierung der Funktionseliten in der DDR gegengesteuert werden. Das wichtigste aber ist der Abbau des allgemeinen arroganten, diskriminierenden Verhaltens vieler Westdeutscher gegenüber der Biographie und Leistung der meisten Ostdeutschen, vor allem die Respektierung und kritische Aneignung des kulturellen Erbes: In konstruktiver Aufnahme der Forderung von Hans-J. Misselwitz -„Nicht länger mit dem Gesicht zum Westen“ -kann eine kritische Würdigung und Aufarbeitung der soziokulturellen Errungenschaften in der 40jährigen DDR-Geschichte wesentlich dazu beitragen, die Destruktion des Selbstbewußtseins vieler Menschen in Ostdeutschland wiedergutzumachen, die dazu geführt hat, daß sich heute 80 Prozent als „Bürger 2. Klasse“ einstufen

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Das Ende der Blütenträume. Absturz Ost, in: Der Spiegel, Nr. 25 vom 17. 6. 1996, S. 96-117.

  2. Das gilt auch für die zuständigen Wissenschaftsverbände, in deren langen Mitgliederlisten kaum ein bekannter Name fehlt. Von den ansonsten geradezu für ihre und von ihren Großkongressen lebenden Organisationen nahm keine die Herausforderung an, die Vereinigungspolitik einer kooperativen wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen. Die große „Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft“ mit ihren über 1 000 Mitgliedern hat hier völlig versagt.

  3. Jutta Roitsch, Frankfurter Rundschau vom 7. Januar 1991.

  4. Bei der Vorbereitung dieses wissenschaftskritischen Abschnitts haben wir, um der deutschen Politikwissenschaft nicht etwa Unrecht zu tun, eine Umfrage unter den etwa 60 bekannteren Kolleginnen gestartet, die eine eher sozialkritische, reformpolitische Position vertreten: Es ging uns darum herauszufinden, ob von ihnen oder in ihrem institutioneilen Umfeld Texte/Projekte vorliegen, die die kritische Analyse der Vereinigungspolitik zum Thema haben. Diese Nachfrage hat unsere These eines großen Defizits leider nicht falsifiziert, dagegen von elf Autorinnen bzw. Institutionen kritische Einzeluntersuchungen zutage gefördert. Wir möchten uns an dieser Stelle ausdrücklich für diese Informationen bedanken bei Martin Baethke u. a., Wolfgang Däubler, Antonia Grunenberg, Gerd Meyer, Dieter Müller u. a., Herfried Münkler, Rolf Reißig, Theo Schiller, Eva Senghaas-Knobloch, Michael Vester u. a., Ulrich Voskamp u. a. Herausragend ist dabei eine zumindest für einen wichtigen Teilbereich umfassende Untersuchung von Baethke u. a., die zu einer höchst skeptischen Bewertung der -ja mit gewaltigen Fördermitteln betriebenen -Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahmen in Ostdeutschland gelangt.

  5. Vgl. Wolfgang Dümcke/Fritz Vilmar (Hrsg.), Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995. Obwohl das Sammelwerk in den Medien mit beredtem Schweigen übergangen wurde (von wenigen, rühmlichen Ausnahmen -vgl. vor allem Die Zeit vom 8. 12. 1995! -abgesehen), erregte es als bisher einzige kritische Gesamtdarstellung soviel Aufmerksamkeit, daß der Verlag bereits nach einem halben Jahr die 3. (ergänzte) Auflage ausliefern konnte. Auf einige der Ergänzungen (incl. einer ca. 450 Titel umfassenden Gesamtbibliographie), die als ca. 260seitiges Typoskript per Adr. unseres Fachbereichs zur Verfügung stehen, wird an gegebener Stelle Bezug genommen (bibliographiert: „in: Ergänzungen ...“). An dieser Stelle soll auch auf die oben erwähnten „Ausnahmen" einer kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Vereinigungsprozeß verwiesen werden. Sie finden sich in der genannten 23seitigen „Gesamtbibliographie“ (Verf.: K. M. Müller) zu dem Sammelband der 21 Autoren, die aus Platzgründen in diesem Resümee auch nicht auszugsweise wiedergegeben werden kann. Lediglich die Verfasserinnen besonders wichtiger, dort bibliographierter Untersuchungen sollen -ohne Anspruch auf Vollständigkeit -hier genannt werden. Es verwundert nicht, daß von kritischen Ökonomen (statt von Politologen) bislang die relativ umfassendsten Kritiken und Alternativkonzepte vorgelegt wurden, nämlich von Rudolf Hickel (1991 ff.) und seinen Kollegen in der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ („Memorandum-Gruppe“) sowie von Herbert Schui (1991); kritisch und alternativ zur Öst-Wirtschaftspolitik auch einiges aus dem DIW und von seinem Präsidenten Lutz Hoffmann (1991 ff.). Des weiteren nenne ich Elmar Altvater (1992), Ulrich Albrecht (1992), Heinz L. Arnold/Frauke Meyer-Gosau (1992), Martin Baethke u. a., Peter Bender (1992), Peter Christ/Ralf Neubauer (1991), Marion Dönhoff u. a. (1992 f.), Christel Faber u. a. (1992), Rainer Frenkel (1991), Vera Gaserow (1993), Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (1992 ff.), Gert-Joachim Glaeßner (1993), Jörg Goldberg (1992), Günter Grass/Regine Hildebrandt (1993), Jürgen Habermas (1991; 1993), Wilhelm Hankel (1993), Wolfgang Hardtwich/August Winkler (1994), Horst Holzer (1993), Birgit Müller (1993), Renate Neubäu-mer (1993), Klaus Ott (1990 f.), Ulrich K. Preuß (1990). Rolf Reißig (1994), Wolfgang Richter (1994), Horst Röper (1990ff.), Helmut Schmidt (1993), M. Schneider (1990), Horst Siebert (1993), Gerlinde u. Hans-Werner Sinn (1991), Manfred Stolpe (1993), Eckhard Stratmann-Mertens/Norbert Roske (1992), Frank Unger (1993). Ausdrücklich verwiesen sei auch auf kritische Beiträge in „Beilagen" zur Zeitschritt Das Parlament: Vgl. Christian Brinkmann/Eberhard Wiedemann, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/94, Fred Klinger, in: ebd„ B 17/94, Ursula Schröter, in: ebd., B 20/95, Jan Priewe, in: ebd., B 43-44/94, Wolfgang Thierse, in: ebd., B 40-41/95.

  6. So ist -um an die seinerzeit in der Linken verbreitete Kritik zu erinnern, viel besser wäre statt der Vereinigung die Entwicklung eines Bundes zweier deutscher Staaten gewesen -eine solche Kritik politisch irrelevant, da es angesichts des überwältigenden Wunsches der Ostdeutschen nach einer Vereinigung mit der westlichen Bundesrepublik keine alternative, politisch „wählbare“ Option gab.

  7. Eine kritische Untersuchung der hinter uns liegenden sechs Jahre zeigt, daß die substantiellen Fehlsteuerungen des Einigungsprozesses, sein teilweise katastrophaler Verlauf nicht als unvermeidlich, als schicksalhaft hingenommen werden muß, wie die konservative Meinungsbildung seit Jahren zu suggerieren versucht (prototypisch bei Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991) und wie sie von Lothar de Maiziere fünf Jahre nach seiner Wahl nochmals bekräftigt wurde (Lothar de . Maiziere, Es gibt nur den Weg -er ist das Ziel, in: Märkische Allgemeine vom 18. 3. 1995, S. 6): „Ich glaube, wir haben unseren Auftrag relativ anständig gemeistert. Und mehr war zu dieser Zeit nicht zu erwarten. Wenn ich die Folgen sehe, ... dann ist da natürlich einiges, was mich bewegt. Zum Beispiel die Eigentumsproblematik. Aber dort war eben nicht mehr erreichbar.“

  8. Vgl. L.de Maiziere, ebd., S. 6.

  9. Unsere Zusammenfassung der Verfassungsdiskussion im Vereinigungsprozeß legt in der Tat, nach gründlicher Analyse der verfassungsrechtlichen Diskussion, den Schluß nahe, daß das Votum von Günter Grass, die Verweigerung einer Volksabstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung sei ein „Verfassungsbruch“, zutrifft: Jens Woelke, Analyse und Bewertung der verfassungsrechtlichen Kontroverse: Vereinigung nach Art. 23 oder 146 GG?. in: Ergänzungen (Anm. 6). Einen Überblick über die Verfassungskonzepte bietet Lorenz Becker, Die vertane Chance einer Verfassungsreform: Ein Kapitel ostdeutscher Identitätszerstörung, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 242 ff.

  10. In unserem Forschungsprojekt haben Dominique Weisheit/Andrea Witt nachgewiesen, daß bei beiden Block-parteien CDU und LDPD im Oktober/November 1989 erfolgreiche Ansätze einer Lösung aus der SED-Vormundschaft und der Neuorientierung erkennbar waren, daß sie aber anschließend unter massiven Druck der westdeutschen CDU bzw. F. D. P. auf deren Linie einschwenkten: Für die Unterstützung durch ihre westdeutschen Schwesterparteien waren CDU und LDPD dazu bereit, einen extrem hohen Preis zu zahlen: „Sie gerieten nach 40jähriger Bevormundung durch die SED nun ein weiteres Mal in ein Abhängigkeitsverhältnis. Dieses Mal waren es jedoch West-CDU und F. D. P., deren Diktat sich die ehemaligen . Blockflöten'unterwarfen.“ Dominique Weisheit/Andrea Witt, CDU und LDPD der DDR unter Anpassungsdruck, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Hrsg.) (Anm. 6), S. 78 ff., hier S. 92.

  11. Vgl. dazu Steffen Gutermann, Die Ohnmacht den Bürgerbewegungen, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 94 ff.

  12. Dies wird exemplarisch gezeigt durch die Dokumentation eines gescheiterten, entschieden-alternativen ostpolitischen Programms der Berliner SPD: Fritz Vilmar, Eine alternative Deutschlandpolitik, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6). S. 106 ff.; dort insb. Anm. 1, S. 106.

  13. Die Ostdeutschen haben als Wähler nicht nur eigenen blinden Hoffnungen, sondern auch permanent wiederholten politischen Verheißungen „blühender Landschaften“ und gesicherten, zunehmenden Wohlstandes durch die verantwortlichen Akteure Glauben geschenkt: „Niemandem wird es schlechter gehen als zuvor, dafür vielen, vielen aber besser“ (Helmut Kohl und Lothar de Maiziere in den Ansprachen anläßlich der Unterzeichnung des Staatsvertrages, nach: Frankfurter Rundschau vom 19. 5. 1990, S. 11); sie haben mit Sicherheit nicht für die Zerstörung ihrer industriellen Basen, einen Arbeitsplatzverlust von ca. 40 Prozent der Beschäftigten und eine ersatzlose Liquidation zahlloser ihrer sozio-kulturellen Einrichtungen votiert. Übrigens folgte die auch wahlpolitische Ernüchterung der ostdeutschen Bürgerinnen der 1990er Euphorie auf dem Fuß -zumindest in den ostdeutschen Landtagen gibt es, außer in Sachsen, starke Rückgänge der CDU, Verschwinden der F. D. P. und insgesamt Mitte-links-Mehrheiten, die sich allerdings, abgesehen von Brandenburg, nur auswirken, wenn und wo die SPD die PDS für bündnisfähig hält. Vgl. zur Wahlentwicklung seit 1990 Beatrix Fautz, Vereinnahmungsprozeß. Der Gang der Ereignisse, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 40 ff., bes. S. 48-57, sowie Markus L. Müller, Identitätsprobleme der Menschen in der DDR seit 1989/90, in: ebd., S. 209ff., bes. 231 ff., auf Wahlenthaltung und Protestwahl eingehend. Und Markus Müller hat nicht nur die schrumpfende Legitimationsbasis für die Bonner Vereinigungspolitik nachgewiesen, sondern auch das demokratietheoretisch weitaus Bedrohlichere: einen eklatanten Verlust an Vertrauen in das demokratische politische System Westdeutschlands, s. S. 230 f.

  14. Aus einer Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abg. Schumann (Kroppenstedt) und der PDS (Drucksache 12/4412 v. 19. 2. 1993, S. 7-9) ergibt sich: Nach einer Bereinigung von DDR-Daten konnten 140 567 Vollbeschäftigte in Forschung und Entwicklung für das Jahr 1989 ausgewiesen werden. Diese Zahl reduzierte sich bis Ende 1992 auf 23 600. Danach wären 83, 2 Prozent der Ost-Wissenschaftler „abgewickelt“ worden. Legt man die Daten der Statistischen Ämter der DDR zugrunde, so wäre sogar von einer Vollbeschäftigtenzahl von 195 073 in Forschung und Entwicklung auszugehen, der Anteil der Abgewickelten betrüge 87, 9 Prozent Diese Ausgrenzungs-und Diskriminierungsprozesse werden ausführlich dokumentiert in fünf „Weißbüchern“ der Ostberliner „Gesellschaft zum Schutz der Bürgerrechte und Menschenwürde“ (GBM), Berlin 1992-1995. Hans-J. Misselwitz, Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen. Das neue Selbstbewußtsein der Ostdeutschen, Bonn 1996, S. 60 f., liefert die folgende Gesamtübersicht: „Das eher undifferenziert gehandhabte Kriterium sogenannter . Staats-nähe 1 betraf aber in schwer nachprüfbarer Weise alle Mitarbeiter vormals staatlicher Institutionen: vom Staatsapparat über die sogenannten bewaffneten Organe (Armee, Polizei u. a.) bis zu den Apparaten der Parteien-und Massenorganisationen mit zusammen ca. 800 000 Personen. Durch institutioneile . Abwicklung* waren weiterhin im Medienbereich 40 000 Personen und im sogenannten Wissenschaftssektor etwa 170 000 Personen betroffen.“ Außerdem ist auf die beispielhaften Analysen von Lars v. Törne und Jeannine Apsel zu verweisen, in denen am Beispiel der handstreichartigen Abwicklung der ostdeutschen Funk-medien (anstelle der im Einigungsvertrag, Art. 16, geforderten Überführung in eine staatsunabhängige Rechtsform) und der hochgradigen (konservativ-) westdeutschen Dominanz auf der Leitungsebene die rigorose Auswechslung von Funktionseliten dargestellt wird: Vgl. Lars v. Törne, Mühlfenzl oder Eine westdeutsche Medienpolitik nach Gutsherrenart, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 299 ff., sowie Jeannine Apsel, Vom ost-konservativen DFF zum westkonservativen MDR, in: ebd., S. 318 ff.

  15. Vgl. Corrado Gini, Artikel „Kolonien“ im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 6, Göttingen 1959, S. 60 f.: „Die Ausbeutungskolonien können ihrer Natur gemäß zur Bereicherung des Mutterlandes (!) beitragen und zur Verarmung des kolonisierten Territoriums führen“. Aber durch die infrastrukturellen Investitionen, die „für die Tätigkeit der Kolonisten unentbehrlich sind, . . . kommt das Kolonisationswerk letzten Endes (!) auch dem kolonisierten Territorium und seiner Bevölkerung zugute“. Anmerkung der Redaktion: Zum Kolonialisierungsdiskurs siehe auch den Beitrag von Helmut Wiesenthal in diesem Heft, S. 52.

  16. Zusammenfassend dargestellt von Andreas Büttner, Die verheerende Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland in der Zeit von 1990-1994, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 117 ff., bes. 119f.

  17. Jan Priewe/Rudolf Hickel, Der Preis der Einheit. Bilanz und Perspektiven der deutschen Vereinigung, Frankfurt am Main 1991, S. 79.

  18. Unsere Untersuchungen (Anm. 6) -S. 29 f., 47 f., 106 f., 119f. -erwiesen die verheerenden Folgen und die wahl-taktischen Ursachen der Währungsunion. Für die Zusage des unabgesicherten, damit wirtschaftspolitisch unverantwortlichen DM-Transfers an die Ostdeutschen als wahl-taktische Maßnahme spricht auch das Timing, die überraschende Bekanntgabe am 6. Februar. Während Ende Januar 1990 Bundeskanzler Helmut Kohl und Finanzminister Theo Waigel noch die Idee einer alsbaldigen Währungsreform entschieden von sich wiesen (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Januar 1990; Die Welt vom 3. Februar 1990), wurden Umfrageergebnisse bekannt, nach denen die SPD im Blick auf die Volkskammerwahlen in der Wählergunst vorne lag: Anfang Februar wiesen Befragungen für die Parteien der späteren „Allianz für Deutschland“ lediglich 15 Prozent, dagegen für die SPD 53 Prozent der potentiellen Wählerstimmen aus (vgl. Peter Förster/Günter Roski, DDR zwischen Wende und Wahl, Berlin 1990, S. 138). Dies führte zu einer Kehrtwendung der konservativen Führung: Am 6. Februar, während das Bundeswirtschaftsministerium noch einen Stufenplan der ostdeutschen Währungsreform publizierte („einheitliche Wirtschafts-und Währungsunion ... am 1. 1. 1993“), versprach der Bundeskanzler den ostdeutschen Wählern, daß die DDR-Mark im Laufe der kommenden Monate abgeschafft und die DM auch in der DDR eingeführt würde (vgl. Frankfurter Rundschau vom 8. Februar 1990). In einer ergänzenden Studie von Roland Stübler, Die deutsche Währungsunion vom 1. Juli 1990 und ihre Alternativen, in: W. Dümcke/F. Vilmar, Ergänzungen (Anm. 6), Dok. IV, wird insbesondere auch die These widerlegt, es habe keine Alternativen zur Währungsunion gegeben.

  19. Wilhelm Hankel, Die sieben Todsünden der Wiedervereinigung, Berlin 1993, S. 27.

  20. Vgl. W. Schäuble. Der Vertrag (Anm. 8), S. 65, 78.

  21. Er betrug nach offiziellen statistischen Angaben im 2. Halbjahr 1990 über 200 000, dagegen im Halbjahr vor der Währungsunion 186 500; vgl. Fritz Vilmar, Eine alternative Deutschlandpolitik, in: . W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 108, Fn. 5.

  22. Vgl. Ilona Wiesejahn, Die Rolle der Bundesregierung bei der Definition und Abwicklung von sogenannten DDR-Altschulden, in: W. Dümcke/F. Vilmar, Ergänzungen (Anm. 6), Dok. VI. In ihr wird nicht nur die Unhaltbarkeit der Definition von Kreditzuweisungen in einem planwirtschaftlichen System als privatwirtschaftliche „Schulden“ dargetan -gestützt nicht zuletzt auf ein Gutachten von Rupert Scholz -, sondern auch der inzwischen den Bundes-rechnungshof beschäftigende Milliardengewinn beschrieben, den westdeutsche Geschäftsbanken durch billigen Einkauf ostdeutscher Banken und deren -staatlich abgesicherter! -Kreditforderungen gemacht haben: „Die Käuferbanken erwarben für 1-200 Millionen Mark , Altschulden‘-Forderungen von insgesamt 116 Milliarden Mark zuzüglich anfallender Zinsen“ (S. 9). Da schließlich die Treuhandanstalt (THA) fast alle diese fiktiven, von Finanzminister Waigel aber als real ins fiskalische Kalkül eingebrachten Schulden bei den von ihr zu privatisierenden Unternehmen übernehmen mußte, sind diese nun ein Teil der 270 Mrd. Schulden, mit denen die THA ihre Tätigkeit Ende 1994 (formell) beendete -mit anderen Worten: Der Steuerzahler muß in diesen Fällen für die fiktiven Altschulden aufkommen, deren Tilgung heute real den westdeutschen Banken zugute kommt.

  23. Wolfgang Richter spricht dabei von einem neuen großen Enteignungsprozeß: Kolonialisierung der DDR, in: Klaus Jürgen Schcrer/Ulrike Wasmuht (Hrsg.), Mut zur Utopie, Münster 1984, S. 98 ff.. Selbst de Maizire gesteht noch 1996 ein, diese von den Westdeutschen gegen seinen Willen durchgesetzte Entscheidung zur Eigentumsfrage: für das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung, sei ein wesentlicher Geburtsfehler der deutschen Einigung. Mit der „Wiederherstellung der alten Eigentumsordnung“ habe der Einigungsprozeß „einen in hohem Maße restaurativcn Charakter bekommen". (Lothar de Maiziöre, Anwalt der Einheit, Berlin 1996, S. 103.)

  24. Die sich ergänzenden, zusammenfassenden und exemplarischen Analysen unseres Projekts liefern starke Belege für die Schlußfolgerung, daß die THA mit ihrer „Ausverkaufspolitik“ -einer Privatisierung um jeden Preis ohne vorherige Sanierung -ihren gesetzlichen Auftrag und ihre volkswirtschaftliche Verantwortung verfehlt hat, statt dessen aber -vor allem: westdeutschen -Kapitalbesitzern weitgehende Chancen bot, die ostdeutsche Konkurrenz durch billigen Aufkauf oder Liquidierung auszuschalten -eine Konkurrenz, die zuvor schon durch die destruktive Regierungspolitik der Währungsunion und der „Altschulden“ -Belastung in ihrer Wettbewerbsfähigkeit stark erschüttert worden war (s. o.): Kay Wendel, Die Treuhandanstalt und die Deindustrialisierung Ostdeutschlands. S. 142 ff.; Gerhardt Christ, Treuhandanstalt: Privatisierung vor Sanierung?, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 154 ff.; Jakob Bothmann. Der Absturz der Interflug: Krise und Liquidierung der ostdeutschen Fluggesellschaft, in: ebd„ S. 188 ff.; Christof Dowe, SERO -abgewickclt und vergessen, in: ebd„ S. 195 ff. Anmerkung der Redaktion: Eine kritische Bilanz der Arbeit der THA ist in dem Themenheft Aus Politik und Zeitgeschichte B 43-44/94 zu finden.

  25. Vgl. A. Büttner (Anm. Ralf 17), S. ff. 125 und Ehlert, Eine alternative Wirtschaftspolitik -realisierbar, nicht realisiert. in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 130ff.; Jenny Niederstadt, Vereinigung zu Lasten der ostdeutschen Frauen, in: ebd., S. 255 ff., hat dabei insbesondere den „Verlust des Gleichstellungsvorsprungs“ (264 f.) der ostdeutschen Frauen im Vergleich zu ihrer Stellung in der Arbeitswelt der DDR herausgearbeitet; in einer besonderen, neueren Studie (Sieglinde Wagner, Auswirkungen der Vereinigungspolitik auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes in den Neuen Bundesländern, in: W. Dümcke/F. Vilmar, Ergänzungen [Anm. 6], Dok. VIII) wird speziell erläutert, warum trotz eines in der ehemaligen DDR immer noch vorhandenen Erwerbspersonenpotentials von knapp 9 Millionen Menschen die registrierte Arbeitslosigkeit „nur“ ca. 1, 2 Millionen beträgt, der entlastende Einsatz der genannten arbeitsmarktpolitischen Instrumente jedoch im Zuge der liberal-konservativen „Sparpolitik“ nicht etwa aus-, sondern seit 1993 von 50, 6 Mrd. DM abgebaut worden ist auf (1995) 38, 3 Mrd. DM (S. 29); und dies, obwohl diese arbeitsmarktpolitischen Ausgaben sich -unter Berücksichtigung aller fiskalischen Budgetwirkungen -zu mindestens zwei Dritteln refinanzieren (s. a. Anm. 38).

  26. Ein Hauptargument gegen die Behauptung einer in wesentlichen Bereichen kolonialistischen Struktur des Vereinigungsprozesses ist der Hinweis auf die inzwischen über eine Billion Mark, die in den vergangenen sechs Jahren nach Ostdeutschland geflossen sind. Diese Mittel sind jedoch weitgehend nicht investiv, sondern nur zur Abwendung einer sozialen und infrastruktureilen Katastrophe verwendet worden: Im Zeitraum 1991-1995 wurden insgesamt 981 Mrd. D-Mark nach Ostdeutschland transferiert. Davon entfielen 215 Mrd. D-Mark für Arbeitslose, 139 Mrd. D-Mark auf soziale Hilfen, 121 Mrd. D-Mark auf Defizitdeckung der THA, 109 Mrd. D-Mark auf die Infrastruktur. 28 Mrd. D-Mark auf DR/DB (ohne Investitionen) und 25 Mrd. D-Mark auf die Landwirtschäft (273 Mrd. D-Mark für „Sonstiges“). Lediglich 71 Mrd. D-Mark der gesamten Transfersumme wurden gewerblich, d. h. im eigentlichen Sinne investiv eingesetzt (Karl Lichtblau. Von der Transfer-in die Marktwirtschaft, Köln 1995, S. 53 u. 57. Ergänzt durch „Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft", Heft 21, 25. Mai 1995. S. 6 u. 7.).

  27. F. Vilmar (Anm. 13), S. 114.

  28. Wir haben dies -natürlich nur beispielhaft -zeigen können hinsichtlich der Verfassung: vgl. Lorenz Becker, Die vertane Chance (Anm. 10), S. 242 ff.; der politischen Neuorientierung von DDR-Parteien: vgl. D. Weisheit/A. Witt, CDU und LDPD (Anm. 11), S. 78 ff.; der organisierten Bewußtseinsbildung in Funk-und Printmedien: vgl. Lars v. Törne/Patrick Weber, Zeitungslandschaft Ost -monopolistische Medienkonzentration oder Pluralistischer Pressemarkt, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6). S. 276 ff.; L. v. Tome und J. Apsel (Anm. 15), S. 299ff. und 318ff.; der selbständigen Stellung der Frau: vgl. J. Niederstadt, Vereinigung (Anm. 26), S. 255 ff., und zusammenfassend durch die kritische Diskussion der angeblichen oder wirklichen „sozialistischen Errungenschaften“ der DDR, vgl. W. Dümcke/F. Vilmar, Kritische Würdigung der „sozialistischen Errungenschaften“, in: dies. (Anm. 6), S. 329 ff.

  29. Während 1990 noch 61 Prozent der DDR-Bürger angaben, sich „in erster Linie als Deutscher“ zu fühlen (32 Prozent: mehr als Ostdeutscher), war es 1992 genau umgekehrt (35: 60 Prozent). Vgl. Markus Müller in: W. Dümcke/E Vilmar (Anm. 6), S. 228. In seinem wichtigen Buch „Nicht länger mit ...“ (Anm. 15), hat Hans-J. Misselwitz, ein kritischer Insider (heute Leiter der brandenburgischen „Landeszentrale für politische Bildung“), diese Abwendung von einer als Fremdbestimmung erlebten (west-) deutschen soziokulturellen Dominanz ausführlich beschrieben.

  30. Mit der Übernahme des abstrakten Transformationsbegriffs folgt man dem Trend, sich jeder Interessen-erforschung und Wertung soziopolitischer Prozesse zu enthalten (ein Trend, der unüberbietbar in dem inflatorisch gewordenen, inhaltslosen Prozeßbegriff der „Modernisierung“ in Erscheinung tritt). Die Erläuterung und -sehr vorsichtige -Kritik der aus diesem Begriff entwickelten „Transformationsforschung“ findet sich in verschiedenen Aufsätzen von Rolf Reißig (vgl. z. B. Transformationsforschung zum [ost-]deutschen Sonderfall -Blockaden und Chancen theoretischer Innovation, in: Soziologische Revue, 18 [1995], S. 147 ff.). Reißig bemängelt die bloße Deskription von Transformationsvorgängen, „ohne daß die Ursachen, Mechanismen, Vermittlungen . . . hinreichend begründet oder theoretische erklärt werden . . . Die spannende Frage , Wer transformiert wen?'bleibt mehr oder minder ausgespart“ (S. 148).

  31. Vgl. Peter Christ/Ralf Neubauer, Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der fünf Bundesländer, Berlin 1991. Ihr Resümee: „Objektiv gesehen läuft alles auf eine Kolonialisierung der Wirtschaft und Gesellschaft der ehemaligen DDR hinaus. Schon die an die neuen Bundesbürger herangetragenen Erwartungen, die westlichen Werte, Lebens-und Arbeitsstile schleunigst zu verinnerlichen, entspringt kolonialer Denkweise“ (S. 216).

  32. Wolfgang Dümcke/Fritz Vilmar, Was heißt hier Kolonialisierung? Eine theoretische Vorklärung in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 14; Der Begriff der Dominanz in unserer etwas knapp ausgefallenen, aber detailliert erläuterten Definition impliziert die Elemente der sozioökonomischen Vorherrschaft, der Ausbeutung und der Eliminierung/Marginalisierung nicht nur der undemokratischen, sondern aller vorhandenen politischen, rechtlichen, ökonomischen und kulturellen Einrichtungen des dominierten Teilstaats. Dafür wurden die neudeutschen Umschreibungen „abwickeln“ und „plattmachen“ erfunden.

  33. C. Gini vertritt in seinem großen Artikel im quasi klassischen „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften“ (Anm. 16) über „Kolonien“ und „Kolonisationsprobleme“, S. 57 ff., bei seiner 5gliedrigen Kolonialtypologie sogar die These, daß die Entwicklung von der „Ausbeutungskolonie“ zur „Autonomen Kolonie“ „nach Ansicht der unterworfenen Völker in der Geschichte jeder Kolonie eintreten“ muß. „Dieser Prozeß des allmählichen Erwerbs der Freiheit durch die Kolonien dürfte sich mit größerer Aussicht auf Erfolg ... vollziehen, wenn die Bevölkerungen der Kolonie und des Mutterlandes verwandter Abstammung sind“ (S. 58).

  34. Abwegig ist übrigens der Einwand, daß der -der Epoche des europäischen Imperialismus entstammende -Kolonialisierungsbegriff nicht übertragbar sei. Entscheidend ist das Vorhandensein der genannten strukturellen Dominanz-phänomene. Wie gebräuchlich die übertragene Verwendung des Kolonisierungs-oder Kolonialisierungsbegriffs heute ist, mögen zwei Hinweise erhellen: Die sozioökonomische Dominanz der „weißen“ Bevölkerungsgruppen gegenüber den „farbigen“ in den USA wird in der kritischen Soziologie der Vereinigten Staaten allgemein als Prozeß der „inneren Kolonialisierung“ bezeichnet. Und: In der feministischen Soziologie wird verbreitet von der „inneren Koloni(ali) sierung“ der Frauen im Patriarchat gesprochen. So z. B. von Astrid Albrecht-Heide, in: Christian Büttner/Aurel Ende (Hrsg.), Die Rebellion der Mädchen. Weinheim u. Basel 1986, S. 51 ff. Die Autorin gibt dort, S. 52 f., in 8 Punkten auch eine genaue Bestimmung dieser spezifischen Kolonialisierung, die sich weitgehend von den „Frauen“ auf die „Ostdeutschen“ übertragen ließe.

  35. Fritz Vilmar hat bereits 1991 im Auftrag der Berliner SPD „Schwerpunkte einer alternativen Wirtschaftspolitik“ erarbeitet, in unserem Sammelband wieder abgedruckt unter dem (identischen) Titel: Eine alternative Deutschlandpolitik, S. 106 ff. Es handelt sich -im Kern durchaus aktuell -um „ein Investitions(förder) programm von ca. 100 Mrd. pro Jahr im kommenden Jahrzehnt“, die „Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit für ostdeutsche Unternehmen und Produkte“, die „Förderung von Mitarbeitergesellschaften und neuen Genossenschaften“ und die „Vorlage eines umfassenden arbeitsmarktpolitischen Programms“ -das Ganze mit einem alternativen, nicht auf Verschuldung basierenden Finanzierungsprogramm. -Weitere, meist diese Schwerpunkte präzisierende und ergänzende Konzepte lieferte vor allem die von Rudolf Hickel (Bremen) koordinierte „Arbeitsgruppe für Alternative Wirtschaftspolitik“, deren Ergebnisse zusammengefaßt wurden von Ralf Ehlert, Eine alternative Wirtschaftspolitik -realisierbar, nicht realisiert, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 130 ff.

  36. Vgl. Stephan Käppler, Alternative Wirtschaftskonzeptionen zur Strategie einer radikalen Privatisierung, in: W. Dümcke/F. Vilmar (Anm. 6), S. 170 ff. Käppler gibt nicht nur eine präzise Übersicht über die von der THA (schwächlich) angeschobenen Maßnahmen des sogenannten Management-oder Belegschafts-Buy-Out (S. 178 ff.), er kann auch aufgrund eigener Recherchen in den USA darauf verweisen, daß mit Hilfe steuerlicher Förderung dort über 10 000 Mitarbeiterunternehmen mit insgesamt 11 Millionen Beschäftigten existieren (S. 181 ff.). In die gleiche Richtung -Erträglichmachen geringerer (aber wettbewerbsgerechter) Löhne in Ostdeutschland durch materielle Beteiligung -argumentiert auch der Vorsitzende des Münchener „Center for Economic Studies“, Hans-Werner Sinn (vgl.sein -zusammen mit Gerlinde Sinn verfaßtes -Buch „Kaltstart“, München 1991, S. 141 sowie vor allem sein Interview im einleitend zitierten Spiegel (Anm. 1), S. 115 ff.: „Menschen am Vermögen beteiligen, um Toleranz für niedrigere Löhne zu erkaufen“); allerdings vertritt er die Meinung, die ostdeutsche Wirtschaftsmisere monokausal aus den von Anfang an zu hohen Löhnen ableiten zu können.

  37. Vgl. Joannis Stefanides, Entwicklung der ostdeutschen Agrarwirtschaft nach 1989, in: W. Dümcke/F. Vilmar, Ergänzungen (Anm. 6), Dok. X.

  38. Eine Hochrechnung der von Senatorin Christine Bergmann initiierten Berliner Studie ergibt, daß ABM für eine Million Menschen zwar brutto 38, 5 Mrd. D-Mark kosten, daß 25, 5 Mrd. D-Mark jedoch durch Steuereinnahmen, Einzahlungen in die Sozialversicherung und ersparte Zahlungen an Arbeitslose an die öffentlichen Hände zurückfließen, so daß realiter nur 13 Mrd. D-Mark aufgebracht werden müssen, um den außerordentlichen gesellschaftspolitischen Erfolg gemeinnütziger Tätigkeit und verhinderter Verelendung für einen so großen Teil der gegenwärtig Erwerbslosen zu erzielen: Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen (Senatorin Christine Bergmann) (Hrsg.), Initiative für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, Berlin 1993, S. 18.

  39. Einen im West-Ost-Dialog erarbeiteten Entwurf zu solcher kritischer Aufarbeitung haben wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts vorgelegt. Vgl. W. Dümcke/F. Vilmar, Kritische Würdigung (Anm. 29), S. 329ff.

Weitere Inhalte

Fritz Vilmar, Dr. phil., geb. 1929; Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin; Emeritierung 1995. Seit 1990 Gründer und Mitarbeiter einer kibbuzähnlichen Gemeinschaft in Ostdeutschland. Veröffentlichungen u. a.: Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1965; Strategien der Demokratisierung, 2 Bde., Darmstadt 1973; (zus. mit Karl-Otto Sattler) Wirtschaftsdemokratie und Humanisierung der Arbeit, Frankfurt am Main 1978; (zus. mit Brigitte Runge) Handbuch Selbsthilfe, Frankfurt am Main 1988; (Hrsg. zus. mit Wolfgang Dümcke) Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995. Wolfgang Dümcke, Dr. sc. phil., geb. 1953; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereichsinstitut Sozialwissenschaften der Humboldt Universität Berlin, Lehrbeauftragter am Fachbereich Politikwissenschaft der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Politische Bildung in den neuen Bundesländern, Hamburg 1991; (Hrsg. zus. mit Fritz Vilmar) Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995.