Die deutsche Einigung oder das Ausbleiben des Wunders. Sechs Jahre danach: eine Zwischenbilanz
Manfred Wegner
/ 21 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland verlief unter einmaligen Bedingungen und kann wegen seiner umfassenden Schocktherapie nur bedingt als Beispiel für andere osteuropäische Reformländer oder für Korea herangezogen werden. Die bisher erreichten Fortschritte sind jedoch beeindruckend. Neuerdings ist aber der Aufhol-und Anpassungsprozeß in den neuen Bundesländern nach einer mehrjährigen Phase kräftigen Wachstums ins Stocken geraten. Das gesamtwirtschaftliche Wachstum und die Investitionstätigkeit haben sich deutlich verlangsamt. Die wichtigste Ursache dafür liegt in der Abschwächung des Baubooms. Hinzu kommen die Rückwirkungen aus der strukturellen Anpassungskrise in den alten Bundesländern. Ein sich selbst tragendes Wachstum ist in den neuen Bundesländern noch nicht in Sicht. Die zentrale Schwachstelle des Aufbaus ist nach wie vor das Verarbeitende Gewerbe. Die Wettbewerbs-und Exportfähigkeit der vorwiegend mittelständischen Unternehmen bleiben unzureichend. Die Schwächen und Entwicklungshemmnisse der ostdeutschen Industrie äußern sich im Mangel an Liquidität und Finanzmitteln, an unzureichender Rentabilität und Eigenkapitalausstattung, unzulänglicher Innovationstätigkeit, drükkenden Lohnkosten und an der noch immer einseitigen Ausrichtung des Absatzes an lokalen Märkten. Der kapitale Fehler, die überzogene Anpassung der ostdeutschen Löhne an das westliche Niveau, muß korrigiert werden. Nur dann wird die Fortdauer der massiven staatlichen Transferzahlungen zu rechtfertigen sein. Der Erfolg der deutschen Einigung wird nicht zuletzt von der Stärke der westdeutschen Wirtschaft und von einer reformorientierten Wirtschaftspolitik in Deutschland insgesamt abhängen.
In jüngster Zeit häufen sich die negativen Schlagzeilen über die ostdeutsche Wirtschaft: Absturz Ost, zunehmende Pleiten, größere Defizite und steigende Arbeitslosenzahlen, auslaufende Förderprogramme und stockendes Waschstum. Von 1991 bis 1996 sind rund 900 Milliarden DM öffentliche Transfers nach Ostdeutschland geflossen, und ein nahes Ende der Transferlasten ist nicht in Sicht. Wird Ostdeutschland also zum Dauerkostgänger? Ist das Großexperiment der deutschen Einigung gescheitert, oder sind die schlechten Nachrichten über die ostdeutsche Wirtschaft nur Spiegel der wirtschaftlichen Malaise und Anpassungskrise in den alten Bundesländern?
I. Die Einigungsdebatte: zwischen Euphorie und Enttäuschung
Die Debatte über die deutsche Einigung und ihre Folgen hat bereits einige Höhe-und Tiefpunkte hinter sich. Die deutsche Einigung begann mit einer euphorischen Perspektive: In drei bis fünf Jahren sollten in Ostdeutschland „blühende Landschaften“ entstehen. Die Schwierigkeiten und Lasten der Einigung und des Aufbaus sind damals sträflich unterschätzt worden. Erst allmählich setzte sich eine realistischere Einschätzung der Anpassungslasten durch. Die finanziellen Hilfsprogramme wurden aufgestockt und die Anpassungszeiträume verlängert. Die Anfangserfolge nach 1992 haben allerdings dazu verleitet, die neuen Bundesländer als eine der wachstumsstärksten Regionen Europas zu betrachten und die damals erzielten jährlichen Wachstumsraten von sieben bis acht Prozent in die Zukunft zu verlängern. Seit 1996 hat sich das Entwicklungstempo jedoch merklich verlangsamt. Nicht mehr auszuschließen ist, daß der Aufholprozeß in den neuen Bundesländern 1997 ernsthaft ins Stocken gerät. Ist der Aufschwung Ost damit bereits am Ende? Es mag richtig sein, daß die Deutschen besonders wehleidig sind und das Jammern als eine Art deutsche Nationaluntugend betreiben. Die Beurteilung der Lage und Aussichten in den neuen Bundesländern erfordert Nüchternheit. Informationen über die erreichten Fortschritte sind nützlicher als Wehklagen und Schuldzuweisungen. Die wirtschaftspolitischen Grundfehler sind lange vorher gemacht worden. Und trotzdem muß der politische und finanzielle Kraftakt zugunsten der deutschen Einigung beeindrucken. Ebenso bewundernswert ist die Anpassungsleistung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern.
Die folgende Zwischenbilanz will weder die wirtschaftlichen Konzepte und den Ablauf der deutschen Einigung beschreiben, noch auf die unleugbaren Fehler bei ihrer Durchsetzung zurückkommen. Ausführliche und kritische Untersuchungen liegen in großer Zahl vor Das Thema der deutschen Einigung beginnt inzwischen die Regale der Bibliotheken zu füllen und wird noch lange die Ökonomen, Soziologen und Historiker beschäftigen. Eine unersetzliche Fundgrube sind die regelmäßigen Berichte von drei Wirtschaftsforschungsinstituten, die im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft den Wiederaufbau in den neuen Bundesländern von Anfang an kommentiert haben Den bisher vierzehn Berichten liegen die amtlichen Daten, aber auch umfassende Befragungen und zahlreiche Fallstudien zugrunde An dieser Stelle soll nach sechs Jahren eine knappe Übersicht über die zentralen Bereiche der wirtschaftlichen Entwicklung und die ungelösten Probleme vorgelegt werden mit dem Ziel, Klarheit darüber zu gewinnen, wieweit die schwierige Umwandlung der ostdeutschen Wirtschaft in Richtung auf eine wettbewerbsfähige Region gediehen ist und wie lange es noch dauern könnte, bis die neuen Bundesländer weitgehend auf eigenen Beinen stehen.
Die Probleme der deutschen Einigung liegen nicht allein in den ökonomischen Fehlern und Fehleinschätzungen seit 1990. Teilweise unbewältigt geblieben sind auch die Schwierigkeiten des abrupten Regimewechsels im sozial-gesellschaftlichen Gefüge, beim Erobern ausländischer Märkte und beim Erwerb von Managementfähigkeiten sowie bei der Übernahme von komplizierten Regelungen der Marktwirtschaft, die in spezifisch deutscher Ausprägung oft überperfektioniert sind. Die Mühseligkeiten des sozialen Lernprozesses wurden auf beiden Seiten unterschätzt, vernachlässigt oder sogar übersehen. Bei der deutschen Einigung standen anfänglich die materiellen Ziele und die finanziellen Hilfen im Vordergrund. So haben sich die Unterschiede in den Einkommen und der Ausstattung der Verbraucherhaushalte rasch verringert. Die Fremdheiten zwischen den West-und Ostdeutschen schwinden dagegen nur mühsam. Nach vierzig Jahren haben die jeweiligen politischen Regime vor allem bei der älteren Generation tiefgehende Verschiedenheiten in den sozialen Verhaltensmustern und Prioritäten hinterlassen, die sich nicht über Nacht auflösen lassen. Jahrzehnte der geduldigen Annäherung und des Zusammenwachsens werden notwendig sein, um diese Kluft zu überwinden.
II. Die Ausgangslage: marode Wirtschaft und radikaler Einigungsschock
Abbildung 2
Tabelle 2: Wirtschaftlicher Aufholprozeß in den neuen Bundesländern, 1991-1995 Westdeutschland = 100 Prozent Quellen: Statistisches Bundesamt (März 1996), Ifo-Institut (1995), Institut für Wirtschaftsforschung Halle (14. Anpassungsbericht, Juni 1996)
Tabelle 2: Wirtschaftlicher Aufholprozeß in den neuen Bundesländern, 1991-1995 Westdeutschland = 100 Prozent Quellen: Statistisches Bundesamt (März 1996), Ifo-Institut (1995), Institut für Wirtschaftsforschung Halle (14. Anpassungsbericht, Juni 1996)
Am Anfang eines Berichtes über die erzielten Fortschritte müssen zwei Rückblicke stehen. Zum ersten ist in Erinnerung zu rufen, daß die deutsche Einigung das einzige Beispiel für einen radikalen Umwandlungsschock in Osteuropa darstellt. Es ist heute ziemlich müßig, darüber zu rechten, ob die Schocktherapie eines „Big Bang“ wirklich notwendig war. Nirgendwo in Mittel-und Osteuropa sind die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen so umfassend und schlagartig geändert worden wie in den neuen Bundesländern. Die Übernahme einer neuen Gesellschafts-und Wirt-Schaftsordnung ist erfolgt, indem das westliche Regelwerk einer bisher umfassend gelenkten und manipulierten Bevölkerung übergestülpt wurde (und zwar mehrheitlich keineswegs gegen deren Wunsch). Ein Lernprozeß in umgekehrter Richtung fand so gut wie nicht statt. Mit der Übernahme des erprobten westdeutschen Währungs-, Rechts-und Sozialsystems und der westdeutschen Eigentumsordnung waren allerdings auch große Vorteile für den Umbau der ostdeutschen Wirtschaft verbunden. Zum zweiten wird allzu leicht vergessen, in welch marodem Zustand sich in den achtziger Jahren die ostdeutsche Wirtschaft und ihre Infrastruktur befunden haben und wie nahe die DDR 1989 vor dem wirtschaftlichen Bankrott stand. Sie war ein sozialistisches Industrieland, das trotz seiner Anführerrolle im Ostblock und trotz aller Anstrengungen unter der Innovationsträgheit seiner riesigen Industriekombinate, unter der fehlenden Effizienz und den mangelnden Leistungsanreizen einer starren, bürokratischen Kommando-wirtschaft und unter den verzerrten Preisen einer abgeschotteten Wirtschaft litt. Das sozialistische Lenkungssystem hat sich als extrem strukturkonservierend erwiesen. Es war jedenfalls nicht in der Lage, den Rückstand gegenüber den westlichen Industrieländern aufzuholen. Nach mehr als 40 Jahren sozialistischer Wirtschaftsführung hatten Strukturen und Eigentumsverhältnisse in der DDR mit denen der westdeutschen Wirtschaft fast nichts mehr gemein. Die vielfältigen Modernisierungs-und Strukturmängel der ostdeutschen Wirtschaft traten mit der deutschen Einigung dann offen und plötzlich zutage
Entgegen den früheren Einschätzungen westlicher Beobachter lag die Arbeitsproduktivität der alten DDR-Wirtschaft am Ende der achtziger Jahre nicht bei 50 oder 60 Prozent der westdeutschen Wirtschaft sondern weit darunter. Viele langlebige Konsumgüter, Autos und Investitionsgüter waren wegen ihrer Qualität und ihres technischen Rückstands international nicht wettbewerbsfähig. Der Kapitalstock der Industrie war überaltert, verschlissen und reparaturanfällig, die Infrastruktur seit Jahren obsolet und unmodern geworden; sie entsprach teilweise der eines Entwicklungslandes. Der Wohnungsbestand war heruntergekommen. Die DDR-Wirtschaft hat zuletzt weitgehend von der Substanz und auf Kosten ihrer Umwelt gelebt. Das extensive Wachstum hat katastrophale Umweltschäden hinterlassen. Erfahrungen mit der Funktionsweise und den Zwängen einer Wettbewerbswirtschaft fehlten völlig. Als Folge des abrupten Übergangs von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, das heißt der vollständigen Liberalisierung von Preisen, Märkten und Handelsbeziehungen, haben Produktion und Beschäftigung der ostdeutschen Wirtschaft einen dramatischen Kollaps erfahren. In den Jahren 1990 und 1991 schrumpfte das reale Bruttoinlandsprodukt zusammen um fast 40 Prozent, die industrielle Produktion sogar um 60 Prozent, wobei die Entwicklung in beiden Fällen statistisch wohl überzeichnet sein dürfte. Aussagekräftiger ist die Abnahme der Erwerbstätigen-zahl, die um ein Drittel sank, im Verarbeitenden Gewerbe sogar um die Hälfte. Die Gründe für diesen historisch einmaligen Absturz waren die vielfachen Transformationsschocks. Sie ergaben sich aus der plötzlichen Marktöffnung gegenüber Westdeutschland und dem westlichen Ausland, aus der schlagartigen Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Produkte durch einen Konversionskurs von 1: 1 bei der Übernahme der DM-Währung, aus den Präferenzen der ostdeutschen Verbraucher für westliche Güter und aus dem unerwarteten Wegbrechen der osteuropäischen Absatzmärkte.
III. Der gesamtwirtschaftliche Aufbau-und Aufholprozeß in Ostdeutschland
Abbildung 3
Schaubild 1: Bruttoanlageinvestitionen in den neuen Bundesländern, 1991-1996 (in Mrd. DM und in Prozenten des BIP) Quelle: ifo Schnelldienst, 7-8/1986 und 13/1996.
Schaubild 1: Bruttoanlageinvestitionen in den neuen Bundesländern, 1991-1996 (in Mrd. DM und in Prozenten des BIP) Quelle: ifo Schnelldienst, 7-8/1986 und 13/1996.
Das reale, also preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Industrieproduktion Ostdeutschlands haben erst ab 1992 wieder zugenom-men. Das reale BIP wuchs von 1992 bis 1995 jahresdurchschnittlich um gut sieben Prozent, dürfte aber 1996 nur noch höchstens um drei Prozent und 1997 vermutlich noch langsamer zunehmen. In den Jahren 1994 und 1995 ist die Zahl der Erwerbstätigen angestiegen. Die Tabelle 1 liefert einen Überblick über die gesamtwirtschaftlichen Fortschritte. Die hohen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten wurden von der raschen Expansion des Baugewerbes und der privaten Dienstleistungen angetrieben, die in dieser Phase zusammen mehr als 70 Prozent des realen BIP-Wachstums erklären können. Die reale Wert-schöpfung des Baugewerbes allein hat zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum von 1992 bis 1995 mit rund 30 Prozent beigetragen. Der prozentuale Anteil des Baugewerbes an der Bruttowertschöpfung ist damit fast dreimal so groß wie in den alten Bundesländern. Mit der Normalisierung der Baukonjunktur in den neuen Bundesländern hat dieser wichtige Wachstumsfaktor an Schubkraft verloren.
Mit der anfänglichen Wachstumsphase war ein ungewöhnlicher Aufholprozeß verbunden. Während die Bevölkerung der neuen Bundesländer rund 20 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung ausmachte, lag der Anteil des dort erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts (in jeweiligen Preisen) im Jahre 1991 bei nur 7 Prozent, 1995 aber bereits bei 11 Prozent des Gesamtprodukts. Wesentlich rascher verlief der Aufholprozeß beim privaten Verbrauch und bei den Einkommen der privaten Haushalte. Die Lücke zwischen den eigenen Produktivkräften und Gesamtausgaben sowie den verteilten Einkommen wird durch hohe Trans-15 ferzahlungen und Direktinvestitionen aus den alten Bundesländern geschlossen.
Die Produktionslücke, das heißt der Abstand zwischen den Gesamtausgaben für Investitionen und Verbrauch und der heimischen Gesamtproduktion, dem BIP, lag zuletzt bei gut 220 Milliarden DM. Diese Summe entspricht dem Ressourcen-und Kaufkraftvolumen, das pro Jahr aus den alten Bundesländern und dem Ausland in die neuen Bundesländer transferiert wurde. Oder anders ausgedrückt: Das in den neuen Bundesländern erstellte Bruttoinlandsprodukt deckt noch nicht einmal die Ausgaben für den privaten und staatlichen Konsum. Fast 40 Prozent der inländischen Gesamtausgaben werden also durch ein Importdefizit finanziert, ein Anteil, der allerdings allmählich abnimmt. Seit 1995 werden die Zahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für die Verbrauchs-und Investitionsausgaben in den neuen Bundesländern und damit für den gesamten Ressourcentransfer nicht mehr getrennt, sondern nur noch für die Bundesrepublik insgesamt ausgewiesen. Für die neuen Bundesländer liegen amtliche Zahlen nur noch auf der Entstehungsseite, das heißt für die Wertschöpfung nach Sektoren und für das Bruttoinlandsprodukt, vor.
Die Kluft zwischen Gesamtausgaben und heimischer Produktion ist ein Indiz dafür, daß ein selbst-tragendes Wachstum noch längst nicht erreicht ist. Wachstum und Einkommen in der ostdeutschen Wirtschaft sind noch immer transferabhängig. Die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Industrie ist weiterhin unzureichend.
IV. Stärken und Schwächen des Aufbaus in den neuen Bundesländern
Abbildung 4
Schaubild 2: Bruttoanlageinvestitionen in den neuen Bundesländern, gesamt und aufgesplittet nach Sektoren, 1991-1996 (in Mrd. DM und in jeweiligen Preisen) Quelle: Ifo-Institut, März 1996.
Schaubild 2: Bruttoanlageinvestitionen in den neuen Bundesländern, gesamt und aufgesplittet nach Sektoren, 1991-1996 (in Mrd. DM und in jeweiligen Preisen) Quelle: Ifo-Institut, März 1996.
Über den erfolgreichen Aufbau einer Industrie-wirtschaft entscheiden die Investitionen. Sie sind auch der Motor für den Aufbau und das Wachstum in den neuen Bundesländern. Das Investitionstempo seit 1991 ist beeindruckend und hat die meisten Erwartungen übertroffen. Von 1990 bis 1996 sind in den neuen Bundesländern insgesamt rund 900 Milliarden DM (in Preisen von 1991) investiert worden, wobei sich die Bauinvestitionen zwischen 1991 und 1995 mehr als verdoppelt haben und inzwischen reichlich 70 Prozent des Gesamtvolumens ausmachen. Die realen Bruttoanlageinvestitionen haben jährlich mit zweistelligen Raten -zwischen 1991 und 1995 im Durchschnitt um 17 Prozent -zugenommen. Die reale Zuwachsrate hat sich aber 1995 gegenüber dem Vorjahr um fast zwei Drittel vermindert. 1996 dürfte der Anstieg nur noch bei drei Prozent liegen. 1997 könnten die realen Anlageinvestitionen sogar sinken. Die Investitionsquote -der Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt -liegt heute bei über 50 bzw. 60 Prozent (je nachdem, ob man zu jeweiligen Preisen oder zu Preisen von 1991 mißt). In den alten Bundesländern betrug sie demgegenüber Anfang der neunziger Jahre nur 20 Prozent. Die ostdeutsche Investitionsdynamik wird darin sichtbar, daß im Jahresdurchschnitt 1994-1996 die Pro-Kopf-Investitionen in den neuen Bundesländern die in Westdeutschland um 40 Prozent übertrafen (Tabelle 2). Die Schaubilder 1 und 2 zeigen den Entwicklungsverlauf sowie die Aufteilung der Gesamtinvestitionen nach wichtigen Bereichen. Daraus geht hervor, daß gut zwei Drittel der gesamten Kapitalbildung (in jeweiligen Preisen) dem Aufbau und der Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur (Staat, Verkehr und Nachrichtenübermittlung) sowie der Energie-und Wasserversorgung und dem Wohnungswesen zugute kamen. Der Erneuerungsprozeß der ostdeutschen Wirtschaft wird also offensichtlich von den Infrastrukturinvestitionen angeführt. Sie sind eine notwendige, aber keineswegs ausreichende Bedingung für ein sich selbsttragendes Wachstum.
Das Gros der Infrastrukturinvestitionen dürfte aber -mit Ausnahme der Verkehrsinvestitionen -allmählich auslaufen. Ebenso werden sich die Investitionen im Gewerbe-und Bürobau verlangsamen, nachdem dort Überkapazitäten durch eine überzogene Förderpolitik entstanden sind. Die Modernisierung des Wohnungsbestands wird aber weiterlaufen Dämpfend wirkt auch das Auslaufen der Investitionswelle im Zusammenhang mit der Privatisierung durch die Treuhandanstalt.
Beunruhigen muß die relativ schwache Investitionstätigkeit im Verarbeitenden Gewerbe. Der Anteil der Anlageinvestitionen (zu jeweiligen Preisen) ist dort fortlaufend gesunken und liegt 1995 bei gut 13 Prozent (in den alten Bundesländern trotz der Rezession bei 15 Prozent). Der reale Zuwachs zwischen 1991 und 1995 fiel im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt um die Hälfte schwächer als in der Gesamtwirtschaft aus. Für 1997 wird hier sogar mit einem deutlichen Rückgang der Anlageinvestitionen gerechnet. Das Verarbeitende Gewerbe bleibt somit auch weiterhin die Schwachstelle im Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft. Die Beschäftigung hat hier zwischen 1989 und 1995 um fast 2, 4 Millionen, das heißt um zwei Drittel abgenommen und lag Anfang 1996 bei einer Million Beschäftigten und einem Anteil von 16 Prozent der Erwerbstätigenzahl Dieser Anteil liegt knapp unter der Beschäftigung im Baugewerbe. In den Betrieben des Verarbeitenden Gewerbes mit 20 oder mehr Beschäftigten waren Anfang 1996 nur mehr knapp 600 000 Personen tätig.
Die unübersehbare De-Industrialisierung in den neuen Bundesländern hat mehrere Ursachen. Einmal war der Industrieanteil der DDR-Wirtschaft übermäßig hoch -entsprechend unterbesetzt waren die Dienstleistungsbereiche. Zum anderen mußte die ostdeutsche Industrie nach der Öffnung der Grenzen mit dem dramatischen Aufwertungsschock um rund 400 Prozent, der schnellen Privatisierung der ehemals staatseigenen Mammutbetriebe und explodierenden Löhnen fertig werden.
Der massive Kosten-und Wettbewerbsdruck hat zwangsläufig zu einem raschen Beschäftigungsabbau und zu starken Produktionseinbrüchen geführt. In den neuen Bundesländern werden gegenwärtig nur gut sechs Prozent der industriellen Bruttowertschöpfung Deutschlands erstellt. Die Industriedichte -die Anzahl der Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe, bezogen auf die Wohnbevölkerung -ist inzwischen auf ein äußerst niedriges Niveau, nämlich im Durchschnitt auf 60 Prozent des westdeutschen Niveaus, gefallen. Selbst industrialisierte Regionen wie Sachsen und Thüringen erreichen gerade die Industriedichte von Schleswig-Holstein, einem vorwiegend landwirtschaftlich geprägtem Gebiet.
Der ungewöhnlich drastische Strukturwandel seit der deutschen Einigung hat -neben der Landwirtschaft und dem Bergbau -die Industrie zum großen Verlierer gemacht Massive Verluste sind vor allem in jenen Industriebereichen aufgetreten, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, wie Textilien und Bekleidung, Leder und Schuhe, Schiffbau und Maschinenbau. Sie haben sich noch nicht von den schweren Tiefschlägen der Vorjahre erholt und leiden nicht zuletzt unter der Billigkonkurrenz aus den mittel-und osteuropäischen Ländern. Die einstigen Vorzeigebranchen der DDR-Wirtschaft im Investitionsgüter-und Chemiebereich mußten beispiellose Einbußen hinnehmen. Dagegen haben jene Produktionsbereiche kräftig expandiert, die von der lokalen und regionalen Nachfrage, von der Produktionsnähe und vom Bauboom profitieren. Der Nahrungsmittelbranche kam die Rückkehr der ostdeutschen Verbraucher zu heimischen Produkten zugute. Seit 1993 ist die Nettoproduktion im Verarbeitenden Gewerbe um jährlich mehr als 13 Prozent angestiegen und lag 1995 um fast 50 Prozent über dem Ausgangsniveau von 1991. Produktionsausweitung, Umstrukturierung und Beschäftigungsabbau haben kräftige Produktivitätsschübe ausgelöst. In der Industrie (Bergbau und Verarbeitendes Gewerbe) hat sich die Arbeitsproduktivität (je Erwerbstätigen-stunde) von Anfang 1991 bis Ende 1995 ungefähr verdreifacht und dürfte damit gut 60 Prozent des westdeutschen Niveaus erreicht haben Aber auch hier sind Durchschnittswerte irreführend, weil sie die enormen Unterschiede in und zwischen den Industriebranchen verdecken. So dürfte die Pro-duktivität in den neuen Automobilwerken deutlich höher liegen als in Westdeutschland.
Die Schwächen und Entwicklungshemmnisse der ostdeutschen Industrie äußern sich im Mangel an Liquidität und Finanzmitteln, an unzureichender Rentabilität und Eigenkapitalausstattung, unzulänglicher Innovationstätigkeit, drückenden Lohn-kosten und an der noch immer einseitigen Ausrichtung des Absatzes an lokalen Märkten. Die Mängel in der ostdeutschen Wettbewerbsfähigkeit werden in den Lohnstückkosten deutlich, die noch um ein Drittel höher als in den alten Bundesländern liegen und sich seit 1993 nicht mehr verringert haben (Tabelle 2). Die unzureichende überregionale Orientierung kommt darin zum Ausdruck, daß die ostdeutsche Industrie nur mit rund zwei Prozent zur gesamtdeutschen Warenausfuhr beiträgt. Hinter diesem Direktanteil verbirgt sich allerdings die wachsende Verflechtung der westund ostdeutschen Industrieunternehmen, die eine Trennung des Außenhandels immer schwieriger macht. Oft aber ist der industrielle Mittelstand in den neuen Bundesländern zu klein, um auf überregionalen Märkten ernsthaft konkurrieren zu können. Ostdeutsche Betriebe sind nicht selten als Nischenproduzenten erfolgreich. Es reicht jedoch nicht aus, nur als Vorlieferant und verlängerte Werkbank für westdeutsche Unternehmen zu dienen Ohne eine wettbewerbsfähige Industrie und eigenständige Forschung werden die neuen Bundesländer nicht auf eigenen Beinen stehen können.
V. Eine neue mittelständische Unternehmenslandschaft
Abbildung 5
Tabelle 3: West-Ost-Transferzahlungen, 1991-1996 (in Milliarden DM und Anteile am BIP Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Juni 1996.
Tabelle 3: West-Ost-Transferzahlungen, 1991-1996 (in Milliarden DM und Anteile am BIP Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Juni 1996.
Trotz einiger Erfolge sind die Schwierigkeiten der ostdeutschen Industrie also noch keineswegs überwunden. Die wiedererstandene Unternehmens-landschaft in den neuen Bundesländern ist vor allem durch die Privatisierungsaktivitäten der Treuhandanstalt und durch die radikale Veränderung der Eigentumsverhältnisse geprägt worden. Der Umbruch der industriellen Landschaft ist noch längst nicht zu Ende. Die schmerzhafte Marktselektion ostdeutscher Betriebe ist im Baugewerbe bereits in Gang gekommen.
Das Urteil über die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt fällt ambivalent aus und bleibt weiterhin höchst umstritten. Beeindruckend ist das Tempo, mit dem die anfänglich 8 000 Staatsbetriebe (mit rund vier Millionen Beschäftigten) in die Hände von (weitgehend westdeutschen) privaten Eigentümern und Investoren überführt wurden Innerhalb von nur vier Jahren war der Verkauf von rund 15 000 Betrieben abgeschlossen. Hinzu kam bereits 1990 und 1991 die „Kleine Privatisierung“ von insgesamt 25 000 Ladengeschäften, Hotels, Gaststätten, Kinos, Buchhandlungen, Apotheken u. ä., die überwiegend in die Hände von ostdeutschen Bürgern übergingen.
Der Preis für die raschen Erfolge bei der Privatisierung war hoch. Die Arbeitsplatzverluste in den ehemaligen staatseigenen Betrieben beliefen sich auf rund 2, 5 Millionen. Statt der erwarteten Milliardenerträge aus den Verkäufen hat die Treuhandanstalt einen riesigen Berg von Netto-schulden in Höhe von rund 250 Milliarden DM als Folge von Finanzhilfen, Umstrukturierungskosten und niedrigen Verkaufspreisen hinterlassen. Allein 100 Milliarden DM gingen auf die Übernahme der Altlasten der DDR-Betriebe zurück. Die Hektik der Verkaufsaktivitäten in der neu geschaffenenen Treuhandbehörde haben kriminelle Mißbräuche erleichtert, wie der eklatante Fall der Bremer Vulkanwerft vorgeführt hat. Viele andere privatisierte Betriebe haben den Markttest noch nicht bestanden. Die ungewöhnlich rasche Privatisierung über Verkäufe hat allerdings die Umstrukturierung, die Investitionstätigkeit und den Transfer neuer Technologien und Markterfahrungen in der ostdeutschen Wirtschaft beschleunigt. Der Preis dafür war eine allzu einseitige Vermögenskonzentration zugunsten westdeutscher Eigentümer, die nicht zuletzt durch substantielle öffentliche Finanzhilfen zustande kam. Die Chancen für eine breite Vermögensbeteiligung ostdeutscher Bürger sind vertan worden An ihre Stelle trat die unheilvolle, explosiv verlaufende Lohnanpassung an das Westniveau, deren Akteure sich weder um die zurückbleibende Arbeitsproduktivität noch um Betriebsverluste scherten. Der Beschäftigungsabbau wurde damit drastisch beschleunig! und massive öffentliche Finanzhilfen erzwungen. Von ausländischen Beobachtern ist diese agressive Lohnpolitik als -kollektiver Selbstmord“ bezeichnet worden.
Die Treuhandanstalt war gezwungen, die Dinosaurier-Unternehmen der DDR-Wirtschaft aufzuspalten. um private Käufer zu finden. Damir und durch die Neugründung von Betrieben ist eine vorwiegend klein-und mittelständische Unternehmenslandschaft entstanden. In den neuen Bundesländern gibt es höchstens noch 50 Betriebe mit mehr als 1 000 Beschäftigten. Der Industrie der neuen Bundesländer fehlt also das Gemenge von Großunternehmen und Klein-und Mittelbetrieben, welches eine der Starken der westdeutschen Wirtschaft ausmacht Die Dynamik des ostdeutschen Aufbaus und die Schaffung von Arbeitspltzen manifestieren sich im Handw erk and in den Dienstleistungen In der Z e I von 1990 bis 1995 sind gut 13 Millionen Existenzgründungen im Handwerk, Handel. Gastgewerbe und in der Industrie entstanden Fast die Hälfte davon hat, allerdings wieder aufgegeben Die Beschäftigtenzahl erhöhte sich von 1989 bis 1994 von ungefähr -50 000 auf rund 12 Millionen Das Versorgungsniveau mit handwerklichen Leistungen ist heute zwischen Ost-und Westdeutschlandweitgehend angeglichen. Fast unvermeidlich war der Nachholprozeß im früher vernachlässigten Bereich der privaten Dienstleistngen. Hier haben sich weitgehend die konsumorientierten Dienstleistungen durchgesetzt. Vor allem das Banken- und Versicherungsgewerbe, der Einzelhandel, die Nachrichtenübermittlung, die Hotels und Restaurants, die Freien Berufe und der Tourismus haben kräftig expandiert. Beträchtlich waren auch die Investitionen im tertiären Bereich (einschließlich des Staates), auf die zwischen 1991 und 1995 fast 45 Prozent aller Anlageinvestitionen (ohne den Wohnungsbau)entfielen. Der Höhepunkt der Gründerwelle ist freilich bereits überschritten. Der tertiäre Sektor weist 1995 einen Beschäftigungsanteil von 62 Prozent aus und entspricht damh dem Anteil in den alten Bundesländern. Allerdings nimmt hierbei der personell überbesetzte Staatssektor ein bedeutendes Gewicht von fast 25 Prozent ein und wird künftig Stellen abbauen müssen.
Die regionale Entwicklung in den neuen Bundesländern tendiert dazu, das bereits früher bestehende wirtschaftliche Gefalle zwischen den südlichen Landesteilen und dem Norden zu verstarken. Das reale Wachstum in den neuen Bundesländern ward eindeutig von Thüringen angeführt dahinter felgen Sachsen und der Berliner Raum. Vieles spricht dafür, daß die regionalen Unterschiede in Ostdeutschland zunehmend größer als in den alten Bundesländern ausfallen werden.
VI. Die finanziellen Kosten der deutschen Einigung
Abbildung 6
Tabelle 4: Beschäftigung und Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern, 1991-1996 (Jahresdurchschnitte in 1 000 Personen) Quellen: Statistisches Bundesamt, Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung.
Tabelle 4: Beschäftigung und Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern, 1991-1996 (Jahresdurchschnitte in 1 000 Personen) Quellen: Statistisches Bundesamt, Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung.
Kaum ein Thema hat die Einigungsdebatte mehr bewegt als die bohrenden Fragen nach den finanziellen Kosten und Folgen der deutschen Einigung. In frühen Schätzungen wurde bereits 1990 der gesamte Investitionsbedarf für den Aufbau und die Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft auf rund 1,5 bis 2 Billionen DM veranschlagt. Sie würden erforderlich sein, um Ostdeutschland in 10 bis 15 Jahren an das Produktivitätsniveau der westdeutschen Wirtschaft heranzuführen.Die Transferzahlungen für die neuen Bundesländer belaufen sich zwischen 1991 und 1996 auf insgesamt 1, 1 Billionen DM. Nach Abzug von Steuer-rückflüssen in Ostdeutschland verbleiben netto rund 900 Milliarden DM (Tabelle 3). Der Großteil davon kam der Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik zugute. Die Hauptlast wird vom Bund getragen, auf den 1995 rund zwei Drittel der Bruttotransfers entfielen. Seit 1993 sind die Transferleistungen rückläufig; sie machen 1996 noch 137 Milliarden DM, damit aber immer noch fast 35 Prozent des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts aus. Nur ungefähr 40 Prozent der Transfers kann man investiven Ausgaben zurechnen. Allerdings wirft die Zuordnung auf investive Ausgaben sowie von Steuereinnahmen große Meßprobleme auf. Die Steuereinnahmen je Einwohner liegen in den neuen Bundesländern erst bei der Hälfte des westdeutschen Niveaus.
Ein großer Teil der Ausgaben für die Sozial-und Arbeitsmarktpolitik ist durch die hohe Arbeitslosigkeit verursacht worden. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen liegt noch immer weit über einer Million und damit bei rund 15 Prozent der Erwerbspersonen. Noch höher war lange Zeit die verdeckte Arbeitslosigkeit in Form von Personen im vorgezogenen Ruhestand, in der Fortbildung und Umschulung, in Kurzarbeit und ABM-Projekten, die anfangs bei fast zwei Millionen lag und erst neuerdings unter eine Million gefallen ist (Tabelle 4). Im Durchschnitt der neuen Bundesländer war also die effektive Arbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch wie die offizielle Rate; seit 1995 liegt sie bei rund 25 Prozent des Erwerbspersonenpotentials. Für die Sozial-und Arbeitsmarktpolitik wurde mehr als die Hälfte der staatlichen Transferzahlungen ausgegeben. Weil die sozialpolitischen Zahlungen mit den Löhnen zunehmen und exzessive Lohnanpassungen das Arbeitslosenproblem verschärfen. droht ein Teufelskreis zu entstehen, in dem ein wesentlicher Teil der staatlichen Transfers zum Krisen-und Reparaturinstrument einer verfehlten Lohnpolitik entartet.
Kostspielig war auch die Förderung des industriellen Aufbaus in den neuen Bundesländern. Sie war ausgerichtet auf den temporären Ausgleich der gewaltigen Standortnachteile in einer Umbruch-phase und konzentriert auf Investitions-und Gründungshilfen sowie auf die rasche Modernisierung der Infrastruktur. Die staatlichen Förderprogramme waren unabdingbar; wenig transparent und effizient war dagegen deren verwirrende Zahl, die sich Kennern zufolge auf mehrere Hundert beläuft. Ein Dilemma für die Schaffung von Arbeitsplätzen liegt darin, daß die Förderpolitik sachkapitalintensive Großprojekte in der Chemie, im Braunkohlenbergbau, in der Eisenschaffenden Industrie und der Mineralölverarbeitung bevorzugt, humankapitalintensive Produktionszweige (Elektrotechnik, Feinmechanik, Maschinenbau) dagegen relativ vernachlässigt hat. Bedenklich ist auch, daß Beihilfen oft Betrieben in schrumpfenden Branchen (Stahl, Schiffsbau) zugute kamen. Die Lohnpolitik hat das Tempo der Substitution von Arbeit durch Kapital zudem stark beschleunigt. Massive Kapitalsubventionen, die auf längere Zeit gewährt werden, drohen zu Fehlallokationen und Ressourcenverschwendung zu führen. Letzt- endlich muß sich die Lern-und Lebensfähigkeit von Betrieben auf dem Markt entscheiden.
VII. Die längerfristigen Perspektiven der neuen Bundesländer
Das Kanzlerwort von den „blühenden Landschaften“ hat fatale Erwartungen geweckt und zu falschen Weichenstellungen geführt. An der Fehleinschätzung der Ausgangslage und der Einigungskosten waren aber durchaus auch Ökonomen beteiligt. Viele andere warnten allerdings vor den Folgen der deutschen Einigung, die sie mit einer „Besteigung der Eigernordwand im Winter“ verglichen (Christian Watrin). Trotzdem wurde der Beginn des Aufschwungs Ost bereits für 1991 erwartet und mit jährlichen Zuwachsraten von rund 10 Prozent und mehr gerechnet. „Wenn es gelingt, die wachstumslimitierenden Engpässe zu beseitigen, ist es durchaus vorstellbar, daß in einzelnen Jahren Zuwachsraten von 15 bis 20 Prozent in den neuen Bundesländern erreicht werden“, schrieb Horst Siebert noch im Jahre 1992. Mit der kürzlich sichtbar gewordenen Verlangsamung der Wachstumsdynamik hat kaum jemand gerechnet
Die gegenwärtige Stockung im Aufhol-und Wachstumsprozeß der neuen Bundesländer ist das Ergebnis von internen Hemmnissen und Schwachstellen, die in der ersten Hektik der Aufbauphase überdeckt wurden. Hinzu kommen jedoch auch Rückwirkungen aus der strukturellen Anpassungskrise in den alten Bundesländern jenseits der Konjunkturschwäche. In der Bundesrepublik ist relativ spät erkannt worden, daß die deutsche Einigung, die Öffnung des Ostens und die Globalisierung der Industriestaaten zu umfassenden Anpassungen zwingt. Die Standortdebatte hat das Ausmaß der Reformen offengelegt. Die Politik hat auf die Herausforderungen bis jetzt nur zögernd reagiert.
In den ersten Jahren nach der Wende betrug die jährliche Wachstumsdifferenz der Arbeitss-Produktivität zwischen den neuen und alten Bundesländern rund fünf Prozentpunkte. Es ist unwahrscheinlich, daß dieser Abstand im Wachstumstempo über längere Zeit durchgehalten werden kann. Dies ist um so weniger wahrscheinlich, wenn die gegenwärtige Wachstumsschwäche in Westdeutschland anhalten sollte und die Transfer-und Investitionshilfen auslaufen oder eingeschränkt würden. Der Aufholprozeß in den neuen Bundesländern dürfte also noch 15 oder 20 Jahre dauern. Die meisten Ökonomen sind sich einig darüber, daß die Förderung fortzuführen ist -vor allem in der Phase eines stockenden Aufholprozesses. Strittig bleibt, ob es sinnvoll und effizient wäre, die Förderpolitik auf Unternehmen zu konzentrieren, die auf überregionalen Märkten operieren. Notwendig ist auf jeden Fall, die Förderhilfen zu konzentrieren und zu straffen sowie die einseitige Förderung der Sachkapitalbildung zu korrigieren. Ob ein Aufstocken möglich ist -wie von den wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten jüngst gefordert wurde -, muß angesichts der schwierigen Haushaltslage des Bundes, der Länder und Kommunen zweifelhaft bleiben. Einigkeit besteht darüber, daß die Engpässe in der Finanzausstattung beseitigt, die Investitionen im Verkehrsbereich beschleunigt und der Marktzugang für ostdeutsche Betriebe erleichtert werden müssen. Mehr und mehr setzt sich auch die Meinung durch, daß eine möglichst flächendeckende Regionalförderung durch die Konzentration der Förderung auf Wachstumspole ersetzt werden muß. Damit würde der regionale Ausgleich der sozialen Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern allerdings auf später verschoben werden. Ob allerdings der Kapitalfehler in der Lohnpolitik durch eine zeitliche Streckung der Lohnanpassung korrigiert werden kann, muß sich noch erweisen. Aber nur dann könnten mehr staatliche Transfers zu investiven Zwecken verwendet und so ihre Fortdauer gerechtfertigt werden.
Die Einmaligkeit der deutschen Einigung macht Prognosen äußerst schwierig. Auch Schlußfolgerungen müssen vorläufig bleiben. Die Einigungspolitik erfordert Weitblick und Flexibilität zugleich. Zu Beginn der deutschen Einigung gab es für einen kurzen Zeitraum die Erwartung, daß sich im Osten das deutsche Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre wiederholen würde. Diese Erwartung wurde enttäuscht, weil dafür keine der damaligen Voraussetzungen vorlagen. Die Behauptung von Lothar Späth: „Politisch wurde bei der Wiedervereinigung alles richtig, wirtschaftlich alles falsch gemacht“ ist zu kurz gegriffen. Die plötzliche politische Einigung hat viele Folgen der ökonomischen Schocktherapie erst ausgelöst. Der Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft ist mit gewaltigen staatlichen Hilfen in Gang gekommen. Die Fortschritte im Aufholprozeß können sich sehen lassen. Aber der Aufbau einer wettbewerbsfähigen Industrie ist noch längst nicht abgeschlossen. Da sich weder die Wirtschafts-noch die Lohnpolitik zu einer entschiedenen Umkehr ihrer Anpassungsstrategie durchringen konnten, müssen die kostspieligen Folgen auf längere Zeit durchgestanden werden. Es wird nicht zuletzt von der Stärke der westdeutschen Wirtschaft und ebenso von der Reformfähigkeit der Wirtschaftspolitik in Deutschland insgesamt abhängen, wie lange der Anpassungsprozeß in den neuen Bundesländern dauern wird. Auch hier gilt: Wunder geschehen selten.
Einige der zentralen Botschaften könnte man am Schluß wie folgt formulieren: Die deutsche Einigung hat weder ein neues Wirtschaftswunder gebracht, noch hat sie den wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands bewirkt. Gesamtdeutschland hat die gewaltigen Aufgaben des Neuaufbaus der ostdeutschen Wirtschaft jedoch lange unterschätzt. Es hat aber auch die Chance verpaßt, mit der deutschen Einigung eine Reihe von wirtschaftlichen Reformen in Gesamtdeutschland in Angriff zu nehmen. Das Hinauszögern ernsthafter und schmerzhafter Reformen wird auch den Anpassungsprozeß in den neuen Bundesländern erschweren. Es wird Zeit, daß sich Politik und Gesellschaft klar darüber werden, daß sie den neuen Herausforderungen nicht mehr länger aus dem Weg gehen können.
Manfred Wegner, Dr. rer. pol., geb. 1931; Wirtschaftsberater; 1963-1983 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel; 1984-1989 Vorstandsmitglied des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, München; 19921993 Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Die neuen Bundesländer in der EWG, Baden-Baden 1993; Produktionsstandort Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 17/94; Bankrott und Aufbau -Ostdeutsche Erfahrungen, Baden-Baden 1995.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.