I. Vorbemerkungen
Die politische Strafjustiz der DDR im Parteiauftrag, ihre Instrumentalisierung durch die Politbürokratie der SED ist schon vielfach thematisiert und problematisiert worden Die Summe aller Erkenntnisse kann dahin zusammengefaßt werden, daß es sich bei der Instrumentalisierung der Strafjustiz zum Herrschaftszweck in der DDR nicht um Mißbrauch gehandelt hat. Die Strafjustiz sollte nichts anderes als Herrschaftsinstrument der Politbürokratie sein, das war ihre systembedingte Funktion -womit ihr gelegentlicher, auf Willkür beruhender Mißbrauch keineswegs ausgeschlossen sein soll.
Die Instrumentalisierung der Strafjustiz in der DDR bewahrte die Strafrichter und Staatsanwälte in der DDR, die in politischen Strafsachen tätig wurden, auch kaum vor ihrem Unrechtsbewußtsein. Sie wußten, was sie taten. Wenn sie sich heute darauf berufen, etwa in Strafprozessen wegen Rechtsbeugung, seinerzeit geltende Gesetze angewandt zu haben, weshalb heute nicht Unrecht sein kann, was damals Recht war, so gleicht das jenen fadenscheinigen Rechtfertigungsversuchen, wie sie schon schuldige Richter aus der ersten deutschen Diktatur unternommen haben, ohne glaubwürdig zu sein.
Für die Vermutung, daß sich Richter und Staatsanwälte des Unrechts, das in Gerichtssälen der DDR manifest wurde, durchaus bewußt waren, lassen sich zahlreiche Indizien anführen. Allein die Tatsache, daß die meisten politischen Strafverfahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden haben oder, zum Beispiel, daß Anklageschriften und Urteilsausfertigungen nicht ausgehändigt, sondern quasi als , Geheime Verschlußsachen behandelt wurden, zeigt an, wer hier aus einem schlechten Gewissen heraus etwas zu verbergen hatte. Helmut Brandt, seinerzeit Staatssekretär im DDR-Justizministerium, ist 1950 wegen seines internen Protestes gegen die eklatanten Rechts-Verletzungen im Zuge der „Waldheimer Prozesse“ amtsenthoben und ins Zuchthaus gebracht worden Sein Protest wurzelte in der Erkenntnis des Unrechts, das mit den Prozessen in der Stadt an der Zschopau manifest geworden war. Selbst ein von der SED für die Verfahren in Waldheim nominierter Volksrichter namens Heinrich Dittberner wurde seinerzeit abberufen, weil er Entscheidungen der dort eingesetzten Sonderstrafkammern mitzutragen nicht bereit war. Das Unrecht jener Strafverfahren ist also schon damals in bewußter Opposition zur Justizpolitik der SED zur Sprache gebracht oder zumindest nicht widerspruchslos hingenommen worden. Unter diesen Voraussetzungen gebietet eine redliche Zeitgeschichtsforschung die Erinnerung daran, daß es unter DDR-Juristen auch Versuche gegeben hat, Unrecht zu verhindern oder zu mildern, gegen rechtswidrige Entscheidungen zu opponieren oder Widerstand in der Justiz zu leisten.
II. Flucht als Ausweg
In der Frühzeit der DDR, eigentlich schon im zeitlichen Vorfeld ihrer Gründung, stellte der politische Druck des Regimes auch und gerade die Juristen vor die Alternative, sich anzupassen oder sich aus der Arbeit zurückzuziehen. „Wir haben die Unabhängigkeit des Richters in der Ausübung seines Amtes in der Zone wiederhergestellt“, räsonierte Max Fechner, seinerzeit Präsident der Deutschen Justizverwaltung in der sowjetischen Besatzungszone, auf der 1. Parteikonferenz der SED im Januar 1949, „aber ich erkläre unmißverständlich, daß die Unabhängigkeit des Richters bei der Urteilsfindung kein Freibrief für eine antidemokratische Rechtsprechung ist.“ Freilich hieß „antidemokratisch“ in der Terminologie der SED jener Jahre soviel wie „antikommunistisch“ -Kritik an der sogenannten Volks-demokratie als einer Form der Diktatur des Proletariats etwa aus der Sicht der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie konnte daher ohne weiteres als „antidemokratisch“ gebrandmarkt werden. „Wer also das demokratische Gesetz beugt, wer als Richter oder Staatsanwalt das Recht nicht anwendet gegen die Feinde unserer demokratischen Ordnung, der, Genossen, hat auf einem Richterstuhl keinen Platz mehr.“ Die unüberhörbare Warnung richtete sich fraglos auch an die Anwaltschaft, wenn sie auch weniger offen angesprochen worden war und Rechner lediglich die Erwartung äußerte, daß sie „an dem Aufbau einer demokratischen Justiz ehrlich mitarbeitet“ Die Signale waren eindeutig.
Eindeutig war auch ihre Wirkung auf die „Justiz-kader“. Nach gewiß noch sehr vorläufigen Forschungsergebnissen entzogen sich in den Jahren 1954 bis 1962 insgesamt 194 Richter und Staatsanwälte sowie 704 Rechtsanwälte und Notare ihrem Dilemma in der DDR durch Flucht nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik
Einer der spektakulärsten Fluchtfälle betraf den seinerzeitigen Richter am Obersten Gericht, Alfred Trapp, der am 24. August 1952 die DDR verließ Seine Biographie schien ihn zu einem im Sinne des Regimes zuverlässigen Richter bestimmt zu haben. 1915 in Leipzig als Sohn eines Feintäschners und einer Stepperin geboren, ursprünglich kaufmännischer Angestellter, Soldat im Zweiten Weltkrieg, kehrte er 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft in seine Heimat zurück, die nun zur sowjetische Besatzungszone gehörte. Er wurde Mitglied der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) und besuchte 1947/48 einen neunmonatigen Volksrichterlehrgang in Bad Schandau. Danach am Amtsgericht und am Landgericht Chemnitz eingesetzt, wurde er 1950 zum Richter am Obersten Gericht der DDR gewählt.
In dieser Eigenschaft wirkte er im 1. Strafsenat als Beisitzer in einer Reihe großer Schauprozesse mit, so im Prozeß gegen Willi Brundert, Leo Herwegen und andere im April 1950, im Prozeß gegen „Zeugen Jehovas“ im Oktober 1950, im sogenannten Solvay-Prozeß im Dezember 1950 und in Prozessen gegen Mitglieder des Widerstandskreises deutscher Jugend im Februar 1952 und gegen Mitglieder der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit im Mai 1952. Seine Flucht war durch wachsende Gewissenskonflikte motiviert, ausgelöst hauptsächlich durch die barbarischen Strafen gegen zumeist schon in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur grausam verfolgte „Zeugen Jehovas“. Ein gegen ihn angestrengtes Verfahren wegen des Verdachts auf Rechtsbeugung vor dem Landgericht Berlin endete am 17. August 1995 mit der Einstellung des Verfahrens. Ein anderer Fluchtfall, der Schlagzeilen machte, betraf den Dresdner Rechtsanwalt Johannes Bohlmann Er war im Schauprozeß gegen den Olbernhauer Oberschüler Hermann Joseph Flade im Januar 1951 vor dem Landgericht Dresden bzw. im Revisionsverfahren vor dem Oberlandesgericht Dresden als Pflichtverteidiger beigeordnet gewesen. Nach seiner Flucht machte er das eklatante Fehlurteil gegen Flade in allen Details, belegt durch Dokumente, in West-Berlin bekannt und lieferte ein beredtes Beispiel dafür, wie die Unrechts-justiz im SED-Staat bloßgestellt werden konnte.
III. Der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen
Die Enthüllungen des Dresdner Rechtsanwalts über den Flade-Prozeß in den Zeitungen und im Rundfunk in West-Berlin wurden seinerzeit mit Unterstützung einer Institution publik, die selbst ihre Entstehung dem Gedanken an Widerstand in der DDR-Justiz zuzuschreiben hatte. Die Rede ist vom „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen der Sowjetzone“, wie sein Name ursprünglich lautete, der im Oktober 1949 seine Tätigkeit in West-Berlin aufnahm -wenige Wochen nach Gründung der Deutschen Demokratischen Republik Es war ein Rechtsanwalt aus Belzig, Horst Erdmann alias Dr. Theo Friedenau, der den UFJ ins Leben rief -als Körperschaft, die einem privaten Verein unterstellt war, der „Vereinigung Freiheitlicher Juristen der Sowjetzone“; zu ihr gehörten namhafte, vielfach aus der sowjetischen Besatzungszone bzw.der DDR stammende Juristen. Die Rechtskonstruktion des UFJ erklärte sich aus den Gegebenheiten der damaligen Zeit. Seinen Sitz nahm er im damaligen US-Sektor von Berlin, in Lichterfelde -später in Zehlendorf weshalb er auch einer Lizenzierung durch die amerikanischen Besatzungsbehörden, zum anderen durch den Magistrat von Groß-Berlin bedurfte, um tätig werden zu können. Lizenzträger waren drei Rechtsanwälte, ein Amtsgerichtsrat und ein ehemaliger Landrat. Erster Leiter des UFJ wurde sein Gründer.
Im wesentlichen sahen die selbstgestellten Aufgaben des UFJ die Erfassung von Informationen und Dokumenten aus Justiz und Verwaltung der DDR zwecks Untersuchung und Registrierung von Unrechtshandlungen „unter Ausnutzung hoheitsrechtlicher Funktionen auf Anweisung oder mit Billigung der augenblicklichen Staatsgewalt“ vor, ferner die Registrierung dieser Unrechtshandlungen, die Vorbereitung von Ermittlungs-und Strafverfahren gegen Personen, die sich derartiger Willkürakte schuldig gemacht haben sollten, den Entwurf von Anklageschriften und deren öffentliche Zustellung an Funktionäre in der DDR sowie die Veröffentlichung dieser Anklageschriften durch Flugblätter, Presse und Rundfunk. Finanziert wurde der UFJ, der in seinen besten Jahren rund 80 hauptamtliche Mitarbeiter zählte -Juristen, Verwaltungsexperten, Journalisten, Sekretärinnen usw. -aus amerikanischen Zuwendungen, darunter wohl auch solche des Geheimdienstes, und aus Mitteln des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen.
Der UFJ wollte das Unrecht, das er in der DDR registrierte, öffentlich machen, um die Verantwortlichen politisch und moralisch unter Druck zu setzen. Es war Widerstand, der hier initiiert werden sollte, provoziert durch die Zustände in der Justiz der DDR, beeinflußt freilich auch durch den Kalten Krieg damals auf deutschem Boden. Darüber hinaus führte der UFJ die Beratung von Ratsuchenden aus der DDR durch, soweit sie ihn in West-Berlin aufsuchten, und entfaltete zudem eine umfangreiche rechtspolitische Propaganda-und Publikationstätigkeit. Die von ihm herausgegebenen vier Dokumentationen „Unrecht als System“ gediehen zu Quellenwerken, die für Juristen und Historiker noch heute ihren Wert haben.
Es lag primär an den Verhältnissen im Staat der SED, wenn sich die Tätigkeit des UFJ in den fünfziger Jahren außerordentlich erfolgreich entwik-keile. Auch die Krise, in die er durch den wenig rühmlichen Rücktritt seines ersten Leiters im Juli 1958 geraten war -neuer Leiter wurde Dr. Walther Rosenthal, ein ehemaliger Oberrichter aus Potsdam, der dies bis zur Auflösung des UFJ im Juli 1969 blieb -, konnte seine Arbeit letztlich nicht beeinträchtigen. Allerdings minderte sich seine politische Bedeutung, als mit dem Bau der Berliner Mauer, Stichtag 13. August 1961, der Besucherstrom aus der DDR ziemlich abrupt endete.
Die Machthaber der DDR reagierten auf die „Verschwörung der Rechtlichen“ um so militanter, je wirksamer der UFJ zu agieren und sein Informationsnetz unter Staatsanwälten, Richtern und Rechtsanwälten in der DDR zu knüpfen vermochte. Um vor jeder Verbindungsaufnahme zum UFJ abzuschrecken, inszenierte das Regime eine Reihe von Strafprozessen vor Bezirksgerichten und vor dem Obersten Gericht der DDR, die zu erbarmungslos harten Freiheitsstrafen führten. Dagegen reichten die gegen den UFJ auf dem Territorium von West-Berlin eingesetzten „spezifischen Mittel“ der Staatssicherheit von Psychoterror und Zersetzungsmaßnahmen bis zur Durchdringung mit Inoffiziellen Mitarbeitern und zum Menschenraub.
IV. Zuchthaus für Staatsanwälte
Einer der ersten Juristen aus der DDR, die ihre Verbindung zum UFJ mit Jahren ihres Lebens hinter Gittern büßen mußten, war Staatsanwalt Hans-Joachim Schiebet aus Dresden. Der Fall muß für die Herrschenden in Ost-Berlin, zumal für die damalige Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, Hilde Benjamin, den damaligen Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer und Justizminister Max Fechner, besonders irritierend gewesen sein, weil sie in jedem Staatsanwalt einen Hüter der Gesetzlichkeit erblickt haben, die politisch entscheidende Schlüsselfigur der Strafjustiz.
Schiebel hatte sich als Staatsanwalt vor Gericht zu verantworten, weil er von 1949 bis 1952 mit dem Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen in Verbindung gestanden, das heißt Anklageschriften, Urteilsausfertigungen und Rundverfügungen weitergeleitet hatte, um über ihren Unrechtscharakter zu informieren. Am 2. Oktober 1952 wurde er festgenommen und ein halbes Jahr später mit vier Mitangeklagten, darunter seine Frau Brigitte, vor Gericht gestellt. Wörtlich hieß es in der Anklageschrift: „Der Beschuldigte Hans-Joachim Schiebel war von jeher ein Feind der Deutschen Demokratischen Republik. Als Anhänger des subjektiven Idealismus, einer äußerst reaktionären Ideologie, tarnte er sich raffiniert hinter seiner geschickten Tätigkeit als Staatsanwalt und hinter seiner Tätigkeit als Stadtbezirksvorsitzender der LDP, mit deren Zielen und Aufgaben er grundsätzlich in Widerspruch stand. Hinter diesem Aushängeschild eines demokratischen Bürgers und Funktionärs des Staatsapparates verübte er seine verbrecherischen Handlungen.“
Die Hauptverhandlung begann am 9. März 1953 unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Schiebel bestritt die Unrechtmäßigkeit seines Handelns, eine Auffasssung, die er auch in seinem Schlußwort noch einmal bekräftigte: „Ich habe nichts Strafbares getan, sondern nur die Wahrheit berichtet. Ich habe auch keinem Menschen einen Schaden zugefügt. Ich werde hier für meine Gesinnung bestraft, die kann ich aber nicht ändern. Ich bin nicht überzeugt, daß meine innere Einstellung falsch war.“ Durch Urteil des Bezirksgerichts Dresden vom 11. März 1953 wurde er antragsgemäß wegen „Spionage“ nach Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Erst nach rund zwölf Jahren -das Strafmaß war 1956 durch „Gnadenerweis“ auf 15 Jahre Zuchthaus herabgesetzt worden -wurde er am 1. September 1964 aus der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden entlassen. Seine seinerzeitigen Mitangeklagten hatten Strafen zwischen acht und 15 Jahren Zuchthaus erhalten. Ähnlich verhielt sich die Sache im Fall des Leipziger Staatsanwalts Lothar Cetti Zuletzt Staatsanwalt beim Stadtgericht Leipzig, auch er übrigens Mitglied der LDP, wurden Lothar Cetti und seine Frau Edith -eine Niedertracht besonderer Art -am 24. Dezember 1954 gegen 16 Uhr, also am Heiligen Abend, in ihrer Wohnung in Taucha festgenommen. Eine sachliche Notwendigkeit für die Festnahme zu diesem Zeitpunkt, die namentlich die beiden Kinder des Ehepaares schockiert haben muß, bestand in keiner Weise -sie war eine besondere Schikane der Staatssicherheit.
Cetti wurden Beziehungen zum Befreiungskomitee für die Opfer totalitärer Willkür, einem seinerzeit von Margarete Buber-Neumann mit Sitz in Frankfurt am Main und einem Büro in West-Ber lin begründeten antikommunistischen Zentrum, sowie zum Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen zum Vorwurf gemacht. Noch in der Nacht zum ersten Weihnachtstag begann in Berlin-Hohenschönhausen die getrennte Vernehmung der beiden Eheleute. Nach sechs Monaten Untersuchungshaft wurden sie nach Leipzig zurückgebracht und am 18. Juni 1955 vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichts nach Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung verurteilt. Unter anderem war dem ehemaligen Staatsanwalt vorgeworfen worden, im Zusammenwirken mit dem Befreiungskomitee die Entlassung politischer Häftlinge vorbereitet und juristische Dokumente nach West-Berlin verbracht zu haben. Im Strafvollzug in Torgau und Brandenburg-Görden bzw. in Halle mußten beide Eheleute neundreiviertel bzw.sechs Jahre ihrer Freiheit für ihren Widerstand in der Justiz opfern.
Schiebel und Cetti waren nicht die ersten Staatsanwälte, die in der DDR ins Zuchthaus kamen. Vor ihnen war bereits Dr. Erhard Formann, bis zu seiner Festnahme am 23. März 1951 in Dresden immerhin 1. Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt des Landes Sachsen, durch Urteil des Landgerichts Bautzen vom 1. September 1951 nach dem Anti-Sabotage-Befehl Nr. 160 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er habe „als Saboteur eine Reihe von Wirtschaftsstrafsachen nicht durchgeführt“ An der Hauptverhandlung mußten 89 Staatsanwälte und 75 Richter aus allen Teilen der Republik als Zuhörer teilnehmen. Kontaktaufnahme zum UFJ wurde Formann nicht angelastet.
Die Urteile gegen Schiebel und Cetti hatten sich gegen Juristen gerichtet. Andere Urteile wegen Verbindungen zum UFJ betrafen Bürger aus der DDR, die den Untersuchungsausschuß in West-Berlin aufgesucht hatten, um ihm Informationen über die inneren Verhältnisse zu überbringen oder um sich juristischen Rat zu holen. Wieviel Kontaktleute und Besucher des UFJ in der DDR der Verfolgung durch Staatssicherheit und Strafjustiz zum Opfer gefallen sind, „kann zur Zeit noch nicht zahlenmäßig belegt werden“, schreibt Siegfried Mampel in seiner Fallstudie, in der er als ehemals leitender Mitarbeiter des UFJ ausdrücklich hervorhebt: „Keiner der Verurteilten war vom UFJ von Berlin (West) in die SBZ/DDR mit Aufträgen geschickt worden. Alle hatten das Motiv, in Verantwortung für gerechte Zustände in der SBZ/DDR zu handeln, gewaltfrei, freiwillig und ohne Entgelt. Sie wußten auch, daß ihre Tätigkeit mit einem hohen Risiko behaftet war. Sie handelten trotzdem.“
Im Gegensatz zu den Geheimprozessen gegen die Staatsanwälte Schiebel und Cetti gestaltete der 1. Strafsenat des Obersten Gerichts ein Strafverfahren gegen sieben Angeklagte, die, jeder für sich, zum UFJ Verbindung aufgenommen hatten, zu einem zweitägigen Schauprozeß mit hohem Aufwand an Agitation und Propaganda aus. Das Urteil vom 26. Juli 1952 lautete auf lebenslänglich Zuchthaus gegen die beiden Hauptangeklagten Fritz Krefeld und Fritz Schmelzer, die fünf Mitangeklagten erhielten Strafen zwischen 12 und 15 Jahren Urteile dieser Art sollten einerseits abschreckend wirken, aber andererseits bezweckten sie auch die Diffamierung des UFJ als „Agentenzentrale“.
V. Der Fall Walter Linse
Das Stichwort Menschenraub ist im gegebenen Kontext bereits gefallen. Zweimal, 1952 und 1958, fielen hauptamtliche Mitarbeiter des UFJ planmäßig vorbereiteten und stabsmäßig organisierten Entführungsaktionen der DDR-Staatssicherheit zum Opfer. Der Fall Linse sollte internationales Aufsehen erregen. Walter Erich Linse, 1903 in Chemnitz geboren, promovierter Volljurist, wirkte zunächst im sächsischen Justizdienst als Amtsanwalt und als Hilfsrichter bei den Amtsgerichten Stollberg und Leipzig, ehe er sich ab 1934 als Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt niederließ. 1938 trat er in die Industrie-und Handelskammer Chemnitz ein. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Zwangsregimes blieb er seiner alten Wirkungsstätte als Geschäftsführer verbunden, bis er sich im April 1949 zur Flucht nach West-Berlin entschließen mußte, um seiner bevorstehenden Verhaftung zu entgehen. Er war rechtzeitig gewarnt worden In West-Berlin fand Linse eine Anstellung als Syndikus in einem Industrieunternehmen, eine Tätigkeit, die ihn offenkundig nicht befriedigt haben kann. Denn unter dem Datum des 4. November 1950 bewarb er sich um eine Einstellung beim Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen Seine Begründung: „Meine Bitte um Mitarbeit kommt aus jenem Glauben an den ewigen Bestand der rechtsstaatlichen Ideale ... Geleitet wird sie von der Überzeugung, daß der Kampf gegen die Rechts-und sonstige Not der Ostzone und für ihre Freiheit mit zunehmendem Nachdruck geführt werden muß.“ Diesem Kampf verschrieb er sich in voller Kenntnis der damit verbundenen Gefahren.
Die Bewerbung führte zu seiner Einstellung in den UFJ. Linse wurde, entsprechend seinen Fachkenntnissen und Erfahrungen, mit dem Aufbau und der Leitung der Abteilung Wirtschaftsrecht betraut.
Sein tragisches Schicksal ereilte ihn am 8. Juli 1952. An diesem Tag wurde er morgens gegen 7. 25 Uhr auf dem Weg zu seiner Dienststelle vor seinem Haus in der Gerichtsstraße in Berlin-Lichte-felde (damals amerikanischer Sektor) von vier Tätern, die ihm im Aufträge des MfS aufgelauert hatten, überfallen, überwältigt und in ein bereitstehendes Kraftfahrzeug gestoßen. Trotz verzweifelter Gegenwehr, die mit zwei Pistolenschüssen in die Beine des Opfers gebrochen wurde, passierte der Entführungswagen den nahegelegenen Grenzübergang nach Lichterfelde-Ost. Hier übernahm ihn eine Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Der so brutal Verschleppte wurde in das Zentrale Untersuchungsgefängnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen verbracht
Zu welchem Zeitpunkt der Entführte von der DDR-Staatssicherheit der sowjetischen Geheimpolizei ausgeliefert worden ist, konnte nicht recherchiert werden. Erwiesen ist hingegen, daß er von einem Militärtribunal der Truppeneinheit 48240 -wahrscheinlich in Ost-Berlin -am 23. September 1953 wegen „Spionage“, „antisowjetischer Propaganda“ und „Bildung einer antisowjetischen Organisation“ zum Tode durch Erschießen verurteilt wurde Nach Aktenlage wurde das Urteil noch am Tage seiner Verkündung vollstreckt. Vierundvierzig Jahre nach seiner Entführung wurde Walter Linse vom Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation rehabilitiert.
Nachfolger LinseS als Leiter der UFJ-Abteilung Wirtschaftsrecht wurde Erwin Neumann, ein Jurist des Geburtsjahrganges 1912. Sein Schicksal ist nicht minder tragisch. Während einer Segeltour auf dem Wannsee wurde er mit seinem Boot unter Mitwirkung eines Inoffiziellen Mitarbeiters dem Staatssicherheitsdienst in die Hände gespielt. Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Frankfurt an der Oder verurteilte ihn unter Ausschluß der Öffentlichkeit am 14. November 1959 wegen „Spionage im schweren Fall“ zu lebenslänglich Zuchthaus. Er starb, 55jährig, am 3. Juli 1967 in strenger Isolationshaft im Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen Seine Hinterbliebenen erfuhren davon erst nach der demokratischen Revolution in der DDR.
VI. Die Resistenz der Rechtsanwälte
Die relativ stärksten Impulse zu Nonkonformismus, Regimekritik und Opposition in der Justiz sind gewiß von Rechtsanwälten ausgegangen, auch wenn diese Feststellung nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß sich die meisten ihrer Zunft in ihrer Tätigkeit als Strafverteidiger von der SED als Statisten mißbrauchen ließen und dadurch vielen rechtswidrigen Verfahren einen Schein von Rechtmäßigkeit verliehen haben Sie waren natürlich auch besonderen Pressionen ausgesetzt, zumal seit 1953, seitdem sich in der DDR die Rechtsanwälte zu von der SED kontrollierten Anwaltskollegien zusammenzuschließen hatten.
Einzelne Rechtsanwälte suchten sich dem Druck zu widersetzen. Sie haben sich sogar am Aufstand vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin und der DDR beteiligt -zum Beispiel der Görlitzer Anwalt Carl-Albert Brüll. Er war, nachdem Demonstranten in das Görlitzer Gefängnis eingedrungen waren, an der Befreiung politischer Gefangener beteiligt. Durch das Urteil des Bezirksgerichts Dresden vom 12. August 1953 erhielt er dafür fünf Jahre Zuchthaus. „Es bedarf keiner besonderen Darlegung, daß die Aufruhrhandlung im Zusammenhang mit der , Erstürmung'der Haftanstalt bei der am 17. 6. 1953 von den faschistischen Provokateuren heraufbeschworenen Lage in Görlitz eine besonders große Gefährdung für die staatliche Ordnung weit über das Stadtbild von Görlitz hinaus bedeutete. Der Angeklagte, der aufgrund seiner Berufsstellung in besonderem Maße zur Wahrung dieser Ordnung berufen war, hat sich in völlig unverantwortlicher Weise auf die Seite der Feinde dieser Ordnung geschlagen und damit die Neutralität verlassen, in der er bis dahin sein politisches Heil gesehen hatte.“
In welche Konfliktsituationen ein Rechtsanwalt in der DDR sogar ungeachtet einer „fortschrittlichen“ Haltung geraten konnte, veranschaulicht die schier unglaubliche Erfahrung des Rechtsanwalt Herbert Schmidt aus Gotha Er war Vorsitzender des Rechtsanwaltskollegiums Erfurt und Mitglied der SED. 1955 übernahm er ein Mandat des Chef-tierarztes im Schlachthof Mühlhausen, der zusammen mit dem Kreistierarzt angeklagt war, aus „feindlicher Einstellung“ nichts gegen die Schweinepest in Thüringen unternommen zu haben. Ein von der Staatssicherheit manipulierter Belastungszeuge war später nach West-Berlin geflüchtet und hatte seine Aussagen in einem Brief an die Ehefrau des Cheftierarztes zurückgenommen. Rechtsanwalt Schmidt legte den Brief in der Hauptverwaltung dem Bezirksgericht Erfurt am 18. Juni 1955 als Beweismittel vor. Daraufhin wurde nicht etwa der Angeklagte freigesprochen, sondern der Anwalt und die Ehefrau des Angeklagten wurden ebenfalls verhaftet.
Die Konsequenz für Rechtsanwalt Schmidt hieß Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus nach Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung durch das Bezirksgericht Erfurt am 10. Dezember 1955. Seine Mitangeklagten, die Ehefrau des Cheftierarztes und ein weiterer Tierarzt, wurden zu je drei Jahren verurteilt. Das Urteil erging nicht zuletzt wegen der unverblümten Kritik, die Rechtsanwalt Schmidt an der Staatssicherheit dahingehend geübt hatte, „daß Häftlinge mißhandelt und geschlagen werden“, um Geständnisse zu erpressen. „Der Angeklagte Schmidt hat aber nicht nur vor seiner Inhaftnahme Hetze betrieben, sondern diese nach seiner Inhaftierung noch verstärkt“ (und) „in der Zelle in verschiedenen Diskussionen folgendes erklärt, für einen Angeklagten habe es keinen Zweck, sich einen Verteidiger zu nehmen, die Rechtsanwälte hätten vor Gericht sowie nichts zu sagen.“
Die kurze Zeit des „politischen Tauwetters“ im Sommer 1956, ausgelöst durch den XX. Parteitag der KPdSU mit den Enthüllungen Nikita ’ Chruschtschows über die Justizverbrechen Josef Stalins und durch die 3. Parteikonferenz der SED, die daraus die Folgerung zog, „die strikte Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit zu gewährleisten“ ermutigte den Leipziger Rechtsanwalt Kurt Schmuhl, Vorsitzender des Rechtsanwaltskollegiums, die Kassation des gegen seinen Kollegen Schmidt ergangenen Urteils anzuregen. Walter Ziegler, damals Vizepräsident des Obersten Gerichts, Unterzeichnete am 6. Oktober 1956 einen entsprechenden Kassationsantrag, dem stattgegeben wurde mit der Maßgabe einer erneuten Verhandlung vor dem Bezirksgericht Leipzig. Am 23. Februar 1957 erkannten die Leipziger Richter auf Freispruch wegen erwiesener Unschuld.
Als Herbert Schmidt, nunmehr freigesprochen, seine Wiederzulassung als Rechtsanwalt in Gotha beantragte, trat er eine Lawine von MfS-und SED-Aktivitäten los. Das Ende vom Lied, nach langem Hin und Her: Hilde Benjamin, mittlerweile Justiz-ministerin, wandte sich am 6. Dezember 1957 in einem denunziatorischen Schreiben an das Politbüro: „Die entscheidende politische und rechtliche Verantwortung für die Fehlentscheidung in diesem Verfahren (gegen Rechtsanwalt Schmidt) liegen beim OG. Es handelt sich dabei nicht um eine isoliert zu betrachtende Fehlentscheidung, sondern um eine Entscheidung, die sich aus der allgemeinen Situation beim OG ergeben hat.“ Hilde Benjamin bezichtigte den eben freigesprochenen Rechtsanwalt abermals der Boykotthetze und „empfahl“ eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren als angemessen. Es ergeht ein neuer Kassationsantrag, diesmal gegen das freispre. chende Urteil aus Leipzig, das Politbüro gibt grünes Licht, es kommt zu erneuter Kassation, und am 13. März 1958 wird Herbert Schmidt vom Bezirksgericht Leipzig erneut verurteilt -diesmal zu fünf Jahren Zuchthaus -allerdings in Abwesenheit. Der Rechtsanwalt war rechtzeitig gewarnt worden und nach West-Berlin geflüchtet.
VII. Der Justizminister und der 17. Juni
Eine gemäßigte Linie in der Justizpolitik hatte das Politbüro der SED schon einmal in Aussicht gestellt, am 9. Juni 1953, insoweit es in dem seiner-zeitigen historischen Beschluß über den Neuen
Kurs in der Generallinie der SED ausdrücklich auch die „Stärkung der Rechtssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik“ beschworen hatte. Bekanntlich hatte die Politbürokratie mit Hilfe des Neuen Kurses die heraufziehende revolutionäre Krise in der DDR, die sich am 17. Juni landesweit in einem Aufstand entlud, noch unter Kontrolle zu bringen versucht.
Als Justizminister Fechner nach dem gewaltsamen Ende der Juni-Erhebung in der DDR die Verhaftung Tausender, die sich an Streiks und Demonstrationen beteiligt hatten, zur Kenntnis nehmen mußte kamen dem ehemaligen Sozialdemokraten offenbar Bedenken. In einem Interview, das das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ am 30. Juni 1953 veröffentlichte, opponierte er offen dagegen mit einem Plädoyer für Mäßigung. „Es dürfen nur solche Personen bestraft werden, die sich eines schweren Verbrechens schuldig machten. Andere Personen werden nicht bestraft. Dies trifft auch für Angehörige der Streikleitung zu. Selbst Rädelsführer dürfen nicht auf bloßen Verdacht oder schweren Verdacht hin bestraft werden.“ Rachepolitik war seine Sache nicht.
Seine Stellungnahme kostete den Justizminister nicht nur Amt und Würden -das heißt, er wurde auf Beschluß des Politbüros vom 14. Juli 1953 „wegen partei-und staatsfeindlichen Verhaltens aus der Partei ausgeschlossen“ und „seiner Funktion als Justizminister enthoben“ sie kostete ihn auch die Freiheit. Fechner wurde unverzüglich in Untersuchungshaft genommen. Nach langwierigen Ermittlungen der Staatssicherheit, in denen er sich keineswegs schuldig bekannte, inszenierte der 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR am 24. Mai 1955, nach knapp zweijähriger Untersuchungshaft in totaler Isolation, einen Geheimprozeß, der zu seiner Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus führen sollte. Das Urteil basierte auf Art. 6 Abs. 2 der Verfassung in Verbindung mit Kontrollratsdirektive Nr. 38 und den §§ 175, 175 a, 73 und 74 des Strafgesetzbuches der DDR. Es war ein auf Diffamierung angelegtes Fehlurteil, in dessen Mittelpunkt Fechners Interview zum 17. Juni stand. Der Justizminister habe damit „Unsicherheit in der Rechtsprechung“ ausgelöst, las man in der Urteils-begründung „Auf diese Weise war es möglich, daß eine Reihe von übelsten Provokateuren aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, daß Strafverfahren unberechtigterweise eingestellt wurden oder mit einem Freispruch endeten und daß innerhalb der Bevölkerung erhebliche Unruhe entstand, wenn Provokateure verurteilt wurden. Diese Unsicherheit trug der Angeklagte insbesondere mit der Bemerkung in die Rechtsprechung, daß Angehörige der Streikleitung und selbst Rädelsführer nur dann bestraft werden dürften, wenn sie schwere Verbrechen begangen hätten.“ Das war eine mutige Wortmeldung, wenn Rechner es auch kaum für denkbar gehalten haben dürfte, daß er deswegen gestürzt und verurteilt werden würde
Wie tief die Verunsicherung unter Richtern und Staatsanwälten der DDR nach dem 17. Juni 1953 war, zeigten verschiedentlich Parteiausschlüsse und Amtsenthebungen wegen „kapitulantenhaften Verhaltens“, für das es am Bezirksgericht Halle einen besonders signifikanten Fall gegeben hatte: „Als ausgesprochene Feindin und Verräterin der Arbeiterklasse wurde die ehemalige Gen. Laube entlarvt, welche sich nicht nur weigerte, Verhandlungen gegen die Verbrecher vom 17. 6. durchzuführen, , da sie ihren Klassengenossen nicht in den Rücken fallen könne, sondern auch die bewußten Genossen als , Befehlsempfänger'und Strohpuppen der Partei'bezeichnete.“ Was sonst war dies -wenn nicht Opposition in der DDR-Strafjustiz? Weitere vier Richter des Bezirksgerichts Halle wurden übrigens in diesem Zusammenhang gemaßregelt.
VIII. Opposition beim Obersten Gericht?
Eine vergleichbare Verunsicherung der Justiz trat nur noch in der „Tauwetter“ -Periode des Jahres 1956 ein. Sie verschonte selbst das Oberste Gericht der DDR nicht. Walter Ziegler hatte als Vizepräsident des Obersten Gerichts schon in der Sache Herbert Schmidt bewiesen, daß er die „Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ ernst nehmen wollte.
In einem anderen Fall -es handelt sich um die Strafsache des Verfassers -wies Ziegler die vom Generalstaatsanwalt der DDR vorgelegte Anklageschrift als unzureichend zurück mit der Folge, daß sie politisch entschärft und das ursprünglich intern bereits präjudizierte Strafmaß von 15 Jahren auf vier Jahre Zuchthaus verringert wurde. Tatsächlich entschied der 1. Strafsenat des Obersten Gerichts am 11. Juli 1956 unter Zieglers Vorsitz in diesem Sinne.
Das geschah gleichsam in der Hochzeit des „Tau-wetters“. Damit nicht genug, richtete Ziegler am 13. Juli 1956, zwei Tage nach der Hauptverhandlung, ein Schreiben an den Generalstaatsanwalt, in dem er die überlange Dauer der Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit in dem gegebenen Fall rügte und den Untersuchungsorganen des MfS ihre Tag-und-Nacht-Vernehmungen als gesetzwidrig vorhielt: „Es kann unmöglich geduldet werden, daß Häftlinge eine Woche lang jeweils die ganze Nacht und dabei an 3 Tagen Tag und Nacht vernommen werden. Wenn solche Häftlinge ihre in derartigen Vernehmungen gemachten Aussagen widerrufen, halte ich es für unmöglich, unter solchen Umständen gemachte Aussagen als beweiskräftig anzusehen.“ Und weiter: „Obwohl ich überzeugt bin, daß nach dem XX. Parteitag der KPdSU und der III. Parteikonferenz der SED schon ein Teil der vorstehenden Mängel beseitigt worden ist, halte ich es doch mindestens für erforderlich, die vorstehenden Tatsachen auszuwerten und zu prüfen, ob und welche Maßnahmen erforderlich sind, um eine Wiederholung solcher oder ähnlicher Gesetzwidrigkeiten aufjeden Fall zu vermeiden.“
Zieglers Brief ist deshalb so interessant, weil hier ein hoher Justizfunktionär selbst auf die Auswirkungen des XX. Parteitages und der 3. Parteikonferenz auf die DDR-Justiz verwies. Aber er hatte damit den Bogen überspannt. Zwar hatte er sich als Vorsitzender des 1. Strafsenats in den Schauprozessen gegen Wolfgang Harich und andere sowie gegen Walter Janka und andere wieder als willfährig gezeigt aber es half ihm nichts mehr. Hilde Benjamin machte ihn für „Liberalisierungstendenzen“ unter den Richtern des Obersten Gerichts verantwortlich, sie sprach von „Aufweichung“ und zieh ihn sogar einer „gewissen Gegnerschaft gegen das MfS“ Aufgrund dieser Kritik wurde Ziegler 1957 nicht wieder als Vizepräsident des Obersten Gerichts gewählt, sondern zur Bewährung in die Provinz strafversetzt; Ziegler wurde Direktor des Bezirksgerichts Frankfurt an der Oder. Hier fiel er alsbald durch gnadenlos harte Urteile gegen Regimegegner auf -u. a. führte er den Vorsitz im Geheimprozeß gegen Erwin Neumann und die Politbürokratie verzieh: 1962 kehrte Ziegler als Vizepräsident des Obersten Gerichts nach Ost-Berlin zurück.
IX. Im Trend zur Anpassung
Angesichts solcher Erfahrungen und Verhältnisse konnten Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte in der DDR Hoffnungen auf Rechtssicherheit. und Rechtsstaatlichkeit nicht allzu lange hegen. Unter dem Eindruck des heißen polnischen Sommers 1956 und des ungarischen Volksaufstands im Herbst 1956 drehte sich auch im Staat der SED der Wind, das politische Klima vereiste zusehends, und Strafprozesse gegen oppositionelle Intellektuelle, Wissenschaftler und Studenten 1957/58 signalisierten, daß das Ende aller Liberalisierungshoffnungen gekommen war. Die „Babelsberger Konferenz“ eine „Staats-und rechtswissenschaftliche Konferenz“ in Babelsberg mit Walter Ulbricht als Hauptredner am 2. 1 3. April 1958, an der mehrere hundert Rechtswissenschaftler sowie Partei-, Staats-und Justizfunktionäre aus allen Teilen der Republik teilnahmen, hatte die Verhärtung in der Justizpolitik auch ideologisch zu fundieren und die „orthodoxe“ Staats-und Rechtstheorie sozusagen allgemeinverbindlich für die DDR festzulegen. Die von der Politbürokratie der SED gesteuerte Personalpolitik in der Justiz bewirkte in der Folgezeit das Ihrige: Nonkonformismus und Opposition von Staatsanwälten, Richtern und Rechtsanwälten gerieten zu extremen Ausnahmen. Die „Justiz-kader“ bewegten sich zauderfrei im Trend zur Anpassung. Eine der wenigen Ausnahmen verkörperte Udo Gemballa, Richter am Kreisgericht • Teterow, der 1958 auf einer Parteiaktivtagung der Justiz im Bezirk Neubrandenburg wegen seiner Entscheidungen ins Visier des Sektors Justiz im Zentralkomitee der SED geraten war. Als seine Stellungnahme nicht „selbstkritisch“ genug ausfiel. als er sich mit Sachargumenten rechtfertigte, wurde er vom Richteramt sofort beurlaubt, kurz darauf endgültig entlassen und in Untersuchungshaft genommen. Das Bezirksgericht Neubrandenburg verurteilte ihn am 3. November 1958 wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu anderthalb Jahren Gefängnis. Laut Urteil war er „ein Propagandist für die absterbenden kapitalistischen Verhältnisse auf dem Lande“ und „ein Gegner der sozialistischen Entwicklung“, eine Lektion vor Staatsfunktionären, die er gehalten hatte, wäre „objektiv geeignet“ gewesen, „in den Zuhörern die Meinung zu erzeugen, daß in der DDR Recht und Gesetzlichkeit weitgehendst zerstört sind“ Begriffen die Neubrandenburger Richter nicht, daß sie durch ihr Urteil eben diese Meinung Gemballas erneut bestätigt hatten?
Daß selbst ein Altkommunist wie Götz Berger, Mitglied der KPD seit 1927, Rechtsanwalt der „Roten Hilfe“, nach seiner Maßregelung durch die Nationalsozialisten emigriert -nach Frankreich, Spanien, in die Sowjetunion -, gegen erneute Maßregelung nicht gefeit war, charakterisiert die Zustände in der DDR. Berger, der in den fünfziger Jahren als Oberrichter am Ostberliner Stadtgericht auch für unverhältnismäßig harte Unrechtsurteile gegen Regimegegner verantwortlich war, war aus eigenem Willen aus dem Justizdienst ausgeschieden. Seit 1963 wieder Rechtsanwalt, wurde ihm 1976 vom DDR-Justizminister „wegen schwerwiegender Verstöße gegen anwaltliche Pflichten“ die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen Er hatte als Strafverteidiger des Regimekritikers Robert Havemann den Unwillen der Politbürokratie auf sich gezogen.
Es bedarf noch mancher justizgeschichtlicher Recherchen, um zu ergründen, wie viele Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte in vierzig Jahren DDR durch ihre Haltung dazu beigetragen haben, daß die Vorstellung vom „furchtbaren Juristen“ unter der Diktatur der SED nicht pauschal gelten kann, sondern durch differenzierende Korrekturen ergänzt werden muß. Indes ändern solche Korrekturen grundsätzlich nichts an der Charakteristik der DDR: „Sie war ein Unrechtsstaat. Den Versuch ihrer früheren politischen Elite, heute die DDR-Realität zum international Üblichen umzuinterpretieren, dürfen wir nicht zulassen.“