I. Die Debatte über die Standards der Zeitgeschichte in Deutschland nach 1989
Das unerwartete und abrupte Ende der DDR als Staat und die politische Entscheidung, nahezu ihre gesamte archivalische Hinterlassenschaft -ausgenommen die Akten zur Außenpolitik -sofort und nicht erst nach dreißig Jahren Sperrfrist für wissenschaftliche Forschung und journalistische Recherche zugänglich zu machen, haben eine ungewöhnliche Situation geschaffen. Vergleiche mit der Zeit nach 1945 drängen sich dabei auf, lassen aber sogleich erhebliche Unterschiede erkennen. Auch damals lagen -insbesondere dank der Materialien für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg -die arcana imperii offen. Selbst als bruchstückhafte Sammlung gaben die Nürnberger Dokumente aus den geheimsten Zentren des Herrschaftsapparats den Blick auf die grauenhafte Wirklichkeit von Massenverbrechen des Dritten Reiches frei, die zumindest in ihren Dimensionen auch aufmerksamen zeitgenössischen Beobachtern so weder erkennbar noch vorstellbar waren.
Allerdings standen die Akten keineswegs vollständig zur Verfügung: Soweit nicht vernichtet, waren sie von den Alliierten zunächst aus Deutschland abtransportiert worden und kamen erst in den sechziger Jahren in das Bundesarchiv in Koblenz. Die in den DDR-Staatsarchiven in Merseburg und Potsdam lagernden Akten standen nur wenigen Forschern offen. Die öffentliche Debatte um die Geschichte des Nationalsozialismus, in den späten vierziger Jahren in allen Zonen noch in kulturpolitischen Zeitschriften mit stark moralischen Impulsen geführt versandete in der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren und erhielt erst mit der Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle der Landes-justizverwaltungen 1958, den großen NS-Prozessen der frühen sechziger Jahre und der radikalen Kritik der Studentenbewegung neue Impulse.
Anders heute die DDR-Geschichte. Zwar wurde und wird auch hier immer wieder die Besorgnis laut, der Ruf nach dem „Schlußstrich“ könne dazu führen, daß sich die fatale Vergangenheitsverdrängung der Nachkriegszeit wiederhole Aber die Ausgangssituation ist bei näherem Hinsehen in vieler Hinsicht doch deutlich anders. Der Beschluß des Bundestages von 1992 zur Errichtung einer ersten Enquete-Kommission „Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ und der von der DDR-Volkskammer durchgesetzte Beschluß über das Stasi-Unterlagengesetz haben Signale gesetzt, die allein schon beträchtliche Wirkungen auf die Forschung und die öffentliche Diskussion auslösten. Sie sind, selbst wenn sich der Trend verlangsamen sollte, kaum noch rückgängig zu machen. Das wissenschaftliche und zum Teil auch öffentliche Interesse ist enorm. Im Rahmen der Enquete-Kommission wurde eine Bestandsaufnahme der laufenden Forschungen zur DDR-Geschichte in Auftrag gegeben, die 1994 (zum Erhebungszeitpunkt) 759 Projekte aufführte Schon angesichts der Größe des zu untersuchenden Staates -mit der Einwohnerzahl Nordrhein-Westfalens -ist das beachtlich. Bei aller Problematik einer eindeutigen Kategorisierung lassen sich thematische Schwerpunkte dieser Projekte deutlich erkennen: 123 Projekte wenden sich kulturgeschichtlichen und kulturpolitischen Fragen zu, 68 sozial-und lebensgeschichtlichen Themen, 51 der Kirchenpolitik und der Rolle der Religionsgemeinschaften, 53 dem Bereich Verfolgung und Opposition und 50 allgemein der politischen Geschichte. Die erste Enquete-Kommission hat im Rahmen ihrer dreijährigen Arbeit eine große Zahl von Zeitzeugen-Hearings abgehalten und Expertisen zu fast allen Bereichen der DDR-Geschichte vergeben, die mittlerweile in gedruckter Form vorliegen Vergleichbare politische Signale in der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich hat es in der alten Bundesrepublik nie gegeben. Von Verdrängungen und Parallelen zur „zweiten Schuld“ kann somit in der veröffentlichten Meinung keine Rede sein.
Wer die Stimmungslage bei der Bevölkerung in Ostdeutschland verfolgt, stößt hingegen schnell auf große Vorbehalte, apologetische Argumentationsmuster und verklärte Erinnerungen. Der demonstrative Rekurs der Enquete-Kommission auf den Begriff der totalitären Diktatur von konservativen Forschern ebenso wie von eher linksstehenden Bürgerrechtlern gefordert, produziert verbreitet eher Blockade und Ablehnung als Einsicht und Zustimmung. Der West-Ost-Konflikt als soziale Realität anstelle der noch Postulat gebliebenen „inneren Einheit“ verschärft die Fronten in der Debatte um die Vergangenheit.
Viel stärker als in den ersten Jahren nach 1945 wird die jüngste Zeitgeschichte im Fall der DDR in politische und parteipolitische Auseinandersetzungen einbezogen. Und hier besonders liegen die problematischen Seiten der freien Verfügbarkeit der Quellen. Der sensationelle Aktenfund, die erfolgreiche „Schnitzeljagd“ nach dem Schlüssel-dokument ersetzen häufig noch seriöse, abwägende historische Analysen. Der Verband der Historiker Deutschlands hat angesichts dieser Situation auf seiner Versammlung in Leipzig im September 1994 eine Resolution verabschiedet, die bestimmte Prinzipien wissenschaftlicher Geschichtsforschung nachdrücklich in Erinnerung ruft: die begrenzte Aussagekraft von Quellen, der Zusammenhang, in dem Äußerungen und Handlungen von Zeitgenossen zu sehen sind, die historische Differenz zwischen dem untersuchten Ereignis und dem Zeitpunkt der Untersuchung sowie die Standortgebundenheit der Interpreten
Die Erinnerung an selbstverständlich erscheinende Maximen wissenschaftlicher Arbeit hat die andauernden Kontroversen um die wissenschaftlichen Normen und minima moralia einer künftigen Zeitgeschichtsschreibung nicht beendet, die mit dem Umbruch in der DDR eingesetzt hatte. Eine erste Welle kritischer Selbstreflexion war von führenden Vertretern der DDR-Geschichtswissenschaft selbst ausgegangen, die in der Auflösungsphase des diktatorischen Regimes mit zunächst noch internen Änderungsforderungen hervortraten -sei es, um endlich das Joch wissenschaftlicher Gängelung abzuschütteln, sei es, um weitergehende Kritik aufzufangen und die bedrohte Existenz einer zweiten deutschen Geschichtswissenschaft zu retten. Mit dem schnellen Niedergang des staatssozialistischen Herrschaftssystems vermochten diese Manöver aber nicht Schritt zu halten.
Parallel zu ihnen formierte sich die Gegenposition einer Gruppe jüngerer oppositioneller Historiker der DDR, deren Glaubwürdigkeit nicht durch ihre bisherige Rolle im Wissenschaftsbetrieb des vergehenden Staates getrübt wurde. In scharfen Tönen nahm der von ihnen am 10. Januar 1990 formulierte Gründungsaufruf des Unabhängigen Historikerverbandes (UHV) die etablierte DDR-Geschichtswissenschaft aufs Korn, zu einer Zeit also, als eine deutsche Vereinigung noch keineswegs absehbar war: „Auf dem Gebiet der Geistes-wissenschaften herrscht eine erschreckende Situation. Jahrzehntelang erstickte ein ungenießbarer Brei aus Lügen und Halbwahrheiten jede freie geistige Regung. Scholastische Albernheiten und abgestandene Allgemeinplätze wurden als , einzige wissenschaftliche Weltanschauung ausgegeben. Pseudowissenschaftler schwangen sich auf den Richterstuhl marxistischer Allwissenheit und diffamierten in dümmlicher Arroganz ganze Epochen der modernen Geistesgeschichte. .. . Wie eine tödliche Krankheit legten sich Provinzialismus und eine oft bis ins Lächerliche gehende fachliche Inkompetenz über die sogenannten Gesellschaftswissenschaften. . . . Das traurigste Los aber traf die Geschichtswissenschaft.“ Schrille Töne kennzeichneten fortan auch die Auseinandersetzung in der Bundesrepublik um die „alte“ DDR-Forschung, gegen die 1992 Jens Makker mit seinem Buch „Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen“ zu Felde zog Die Kritik an der insbesondere von Peter Christian Ludz vertretenen „systemimmanenten Interpretation“ und an der Vernachlässigung oder Zurückweisung des Totalitarismuskonzepts führt bei Hacker zu einer ebenso pauschalen wie unhistorischen Verurteilung der westdeutschen DDR-Forschung, der ihre fehlende nationale Gesinnungstreue angekreidet wird Die anhaltende Diskussion verläuft nicht parallel zur alten Grenze zwischen Ost und West. Sie spielt $ich auch nicht ausschließlich im wissenschaftlichen Rahmen ab, sondern ist zugleich ein „Historikerstreit um Stellen, Strukturen, Finanzen und Deutungskompetenz“, wie eine Tagung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg im März 1994 zu der Frage „Wer schreibt die DDR-Geschichte“ sich selbst betitelte Allgemein wird der Charakter der anhaltenden Debatte um die wissenschaftlichen Standards der historischen Wissenschaft nach 1989 dadurch geprägt, daß sie oft kaum weniger der Identitätsbildung und Interessenvertretung der jeweiligen Historikergruppen dient als der fruchtbaren Auseinandersetzung um die Praxis einer historischen Wissenschaft unter den Bedingungen der politischen Diktatur. Vier allgemeine Charakteristika stechen in dieser Debatte hervor: Das erste ist ihr politisch-moralischer Grundzug und -damit einhergehend -ihre starke Personalisierung. „Haben Historiker, die mit dem DDR-Regime kollaborierten“, fragten die Gründer des UHV, „die wissenschaftliche und moralische Qualifikation, jetzt die Geschichte dieses Staates zu erforschen?“ Kennzeichnend für diese Sicht ist etwa das Bemühen, die Abkehr der früheren DDR-Forschung vom Totalitarismuskonzept mit der angeblichen Unterwanderung durch das MfS zu erklären oder die Kompatibilitätsprüfüng von Forschungsgegenstand und Forscher-biographie in moralischer Absicht: „Wenn Offiziere im besonderen Einsatz ... über den , Stalinismus, Inoffizielle Mitarbeiter des MfS die Geschichte der Denunziationen in der Nachbarschaft, SED-Funktionäre über das SED-Gewalt-regime 10 und Personen, die an politischen Verfolgungen beteiligt waren, über Dissidenz und Opposition in der DDR anfangen zu forschen, halte ich dies für eine moralische Verkommenheit und für eine abermalige Verhöhnung ihrer einstigen Opfer.“ Der zweite Grundzug der Debatte besteht in der verbreiteten Verwendung eines zumeist unreflektierten und oft erstaunlich naiven Wahrheitsbegriffs. Es ist gewiß nicht unangemessen, wenn ein in der Tradition der Bürgerrechtsbewegung stehender Historiker feststellt, daß sich jeder Fachkollege „grundsätzlich dann disqualifiziert [hat], wenn er wissentlich die Wahrheit verschwiegen, gelogen, seine Erkenntnisse entsprechend einer Parteilinie eingerichtet und trotz Quellenkenntnis weiße Flecke geschaffen hat“ Gleichwohl scheint in dem Glauben an eine eindeutige historische Wahrheit und in der Vorstellung von einem „verbindlichen Moralkodex“ für Wissenschaftler eine spezifische Diktaturerfahrung nachzuwirken: Dem jahrzehntelangen Oktroi der Parteilichkeit wird nun mit einem emphatischen Verständnis von historischer Wahrheit begegnet
Drittens verführt der Impuls zur Anklage oft zu dem, was im angelsächsischen Sprachraum spöttisch „instant history“ genannt wird, ein schnell aufgebrühtes Produkt, zum baldigen Verbrauch bestimmt. Ob es um die sozialdemokratische Ost-politik in den siebziger und achtziger Jahren, die Gründungsgeschichte der DKP oder die Hinterlassenschaft des MfS geht, immer sind publizistische Schnellschüsse und unkritische Quellenverwendung mit im Spiel, wenn es gilt, das schnell erwachende und schnell abflauende Informationsbedürfnis einer interessierten Öffentlichkeit zu befriedigen.
Viertens schließlich ist die Debatte um die Standards der Zeitgeschichte eine sehr deutsche Diskussion. In ihrer fortdauernden Verbissenheit bildet sie ein Phänomen, das andere postkommunistische Transformationsgesellschaften nicht kennen und das schwerlich denkbar ist ohne den Hintergrund einer unzureichenden „ersten Vergangenheitsbewältigung“ nach dem Ende des NS-Staates. Hinzu kommt der Umstand, daß es sich in Deutschland um die Transformation eines Teil-staates handelt, deren Verlauf sehr stark von außen, von der alten Bundesrepublik, gesteuert wird. Ausländische Beobachter stehen der Debatte um die Frage, von wem und wie DDR-Geschichte in Zukunft geschrieben werden dürfe, verblüfft, bisweilen verständnislos gegenüber und raten zu behutsamem Umgang. So hat Charles Maier mit Recht vom „Ansteckungsstaat“ gesprochen, der jeden, der aus der Schrebergartenidylle heraustreten wollte, zu oft schmutzigen Kompromissen zwang, und damit die Frage nach der Anwendbarkeit normativer A-priori-Werte aufgeworfen
II. Institutionen der DDR-Zeit-geschichtsforschung
Die westdeutsche sozialwissenschaftliche DDR Forschung hatte sich auf einem vorgeschobenen Beobachtungsposten zwischen Zeitgeschichte und Politikberatung etabliert und geriet daher zwangsläufig in den Strudel des Umbruches von 1989/90. Davon wurden sowohl ihr Selbstverständnis wie ihre Institutionen betroffen. Zwar haben vertraute Einrichtungen der DDR-Forschung das Ende der DDR überstanden: Nach wie vor erscheint -wenn auch nur noch zweimonatlich -das Deutschland Archiv, und auch die „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ besteht fort. Die jährlich stattfindenden DDR-Forschertage jedoch mußten aus Geldmangel eingestellt werden. Gleichzeitig wurden renommierte Bildungs-und Forschungseinrichtungen -wie das Institut für Gesellschaft und Wissenschaft in Erlangen oder das Gesamtdeutsche Institut in Bonn -nach jahrzehntelanger Existenz aufgelöst. Auch an den westdeutschen Hochschulen, besonders in Berlin und Mannheim, wurden etablierte Forschungsbereiche zur DDR-Forschung vor die Existenzfrage gestellt. Sie teilten das Schicksal, das die deutsche Vereinigung den außeruniversitären Geschichtsinstituten der DDR bereitet hatte, und räumten den Platz für eine Welle von Neugründungen und Umwidmungen, die das zeitgeschichtliche Forschungsterrain zu einem vielgestaltigen, aber unübersichtlichen Gelände umgeformt haben.
Die älteste zeithistorische Einrichtung, das renommierte Institut für Zeitgeschichte in München (IfZ), das ursprünglich allein zur Erforschung des Nationalsozialismus gegründet worden war, dann vor allem die westdeutsche Nachkriegsgeschichte in die Arbeit einbezogen hatte, besitzt seit 1993 eine eigene Außenstelle (zuvor in Potsdam, jetzt in Berlin). Mit der Erforschung der SBZ und DDR soll sie zu der programmatischen Absicht des IfZ beitragen, die verschiedenen Phasen und politisch-gesellschaftlichen Formationen der deutschen Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts zusammenzufügen und jenseits der politischen Epochenzäsuren die sozialen und mentalen Kontinuitäten wie Diskontinuitäten zu untersuchen Die gegenwärtig fünf Forschungsvorhaben der Berliner Außenstelle des IfZ konzentrieren sich allerdings ganz auf die Frühzeit der DDR und sind überwiegend politik-geschichtlichen Fragestellungen verpflichtet. Einen deutlichen Schwerpunkt bildet hierbei die sowjetische Deutschlandpolitik; zwei weitere Untersuchungen knüpfen an die spezifischen Ressourcen und Forschungsleistungen des IfZ in bezug auf die NS-Zeit an und sind der Herausbil-düng des „sozialistischen Rechts-und Justizwesens“ bzw. einer vergleichenden Analyse von FDJ und HJ gewidmet. Wenn es diesen Projekten gelingen sollte, die oft geforderte Perspektive des historischen Diktaturenvergleichs über die bloße Paralleldarstellung hinaus auch methodisch fruchtbar zu machen, versprechen sie zudem neue Aufschlüsse über die Reichweite des Totalitarismusparadigmas, das nach 1989 eine bemerkenswerte Renaissance erfahren hat.
In bisher unmittelbarer Nachbarschaft arbeitet das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), das zusammen mit sechs anderen Geisteswissenschaftlichen Zentren aus der Abwicklung der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften hervorgegangen war und vier Jahre lang als Forschungsschwerpunkt (FSP) Zeithistorische Studien unter dem Dach der Max-Planck-Gesellschaft angesiedelt war Ursprünglich zur Fortführung positiv evaluierter Forschungsprojekte bestimmt, die am Zentralinstitut für Geschichte der DDR beheimatet waren, beherbergt das Institut gegenwärtig rund zwanzig wissenschaftliche Mitarbeiter aus Ost und West und eine wechselnde Zahl von Gastwissenschaftlern, die an vier größeren Untersuchungskomplexen zur DDR-Geschichte arbeiten. Entstehung und Entwicklung dieser zeithistorischen Arbeitsstelle spiegeln selbst ein Stück Zeitgeschichte in der Phase der „Vereinigungskrise“ (Jürgen Kocka) nach 1990. Von vornherein hatte nur eine kleine Zahl, nämlich 15 der einst über 300 an der ostdeutschen Akademie tätigen Historiker, nach erfolgter Begutachtung ihrer Projekte durch eine Expertenkommission des Wissenschaftsrates in das neugeschaffene Institut wechseln können. Für die überwiegende Mehrheit blieb, soweit sie nicht in das Wissenschaftler-Integrationsprogramm der Universitäten Berlins und Brandenburgs einbezogen wurden, oft nur der Gang zum Arbeitsamt oder in den Vorruhestand. Doch weniger dies als vielmehr die Auswahl der zur Fortführung ihrer Arbeiten eingestellten Historiker ließen den Forschungsschwerpunkt alsbald zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung werden. In ihr mischten sich fachliche und außerfachliche Interessen, die die ungewöhnlich enge Gemengelage von Wissenschaft und Politik in der Zeitgeschichte schlaglichtartig beleuchteten.
Diese Gefechte sind Vergangenheit. Die Themen, die das ZZF bearbeitet, verbinden politik-und gesellschaftsgeschichtliche Zugänge und zielen auf die Grundspannung zwischen Diktaturcharakter und Erfahrungswirklichkeit der DDR. Das Institut strebt Diktaturvergleiche in seinen Untersuchungen an und bemüht sich um eine Integration der vierzigjährigen DDR-Vergangenheit in die historische Gesamtentwicklung des 20. Jahrhunderts, um Kontinuitäten und Veränderungen von Strukturen, Handlungsmustern, Mentalitäten und Erfahrungen genauer zu erfassen. Gegenwärtig untersucht eines der jeweils von mehreren Mitarbeitern bearbeiteten Forschungsvorhaben das Spannungsverhältnis zwischen sowjetischer Einwirkung und spezifischen SED-Interessen bei der Angleichung der SBZ/DDR an das sowjetische Modell, während ein anderer Projektverbund Führungsgruppen und Funktionsapparate des ostdeutschen Herrschaftsregimes analysiert, um den Elitenwechsel nach 1945, die Mechanismen der Kaderrekrutierung, die Politik-und Lebensstile der in der DDR entstandenen „Dienstklasse“ zu erhellen. Zwei weitere Institutsvorhaben beziehen in größerem Umfang kultur-und erfahrungsgeschichtliche Theorieangebote in ihr Untersuchungsfeld ein, nämlich ein auf die Region Brandenburg zugeschnittenes Projekt zu den Grenzen der staatlichen „Durchherrschung“ der DDR und ein vierter Projektverbund über den Umgang mit Geschichte in Wissenschaft, Literatur und Medien der DDR
Diese unterschiedlich konzipierten Forschungsrichtungen und -felder begegnen sich in der gemeinsamen Suche nach einer Erklärung für die langjährige Dauer und den plötzlichen Zusammenbruch des SED-Regimes. Ihr liegt die Annahme zugrunde, daß das von Sigrid Meuschel bezeichnete „Paradox von Stabilität und Revolution“ weder durch die Reduzierung der DDR auf den Status eines sowjetischen Satellitenstaates aufzulösen ist noch durch einen diktaturtheoretischen Ansatz, der die Differenz zwischen dem Anspruch totalitärer Herrschaft und der empirischen Realität nicht hinreichend reflektiert. Im Gegenteil scheinen alle Befunde darauf hinzudeuten, daß es dem Regime zu keiner Zeit gelungen war, die proletarisierte Gesellschaft auf dem Wege der sozialen Entdifferenzierung gleichsam zu verstaatlichen. Auch in der DDR fielen Macht und Herrschaft im Sinne Max Webers nicht umstands-los zusammen; zu der Gewalt der Bajonette trat immer auch die Fähigkeit des Regimes, Legitimitätsglauben über die engeren Grenzen politischer Überzeugtheit hinaus zu erzeugen und bis zum Ende der DDR aufrechtzuerhalten. Die im Pots damer Zentrum für Zeithistorische Forschung zusammengeschlossenen interdisziplinären Forschungsprojekte wollen dem spezifischen Charakter der SED-Herrschaft in ihrem Wandel und damit einem Begriff der modernen Diktatur näherkommen, der das vierzigjährige SED-Regime in eine wissenschaftlich ergiebige Beziehung zu anderen europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu setzen ermöglicht.
Die Bedeutung Potsdams für die zeitgeschichtliche Forschung wird dadurch unterstrichen, daß ein ursprünglich in Freiburg/Breisgau beheimatetes Institut in die brandenburgische Landeshauptstadt gezogen ist, zu dessen Aufgaben ebenfalls die Untersuchung der DDR gehört -wenn auch aus einem besonderen Blickwinkel: das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MOFA), das die Bestände des ehemaligen Militärgeschichtlichen Instituts der DDR in Potsdam übernommen hat. Nach der deutschen Vereinigung war auf das MGFA, eine dem Bundesministerium für Verteidigung unterstellte Forschungseinrichtung, die Aufgabe zugekommen, neben der westdeutschen auch die ostdeutsche Militärgeschichte zu bearbeiten. In der Folge wurde ein neues Sammelprojekt „Anfänge ostdeutscher Sicherheitspolitik“ aufgelegt, das sich in den ersten Jahren vor allem der Geschichte der Nationalen Volksarmee (NVA), der Kasernierten Volkspolizei und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zuwendet, aber auch die Einstellung der Öffentlichkeit zum Aufbau bewaffneter Organe in der DDR untersucht.
In einer auf andere Weise spezialisierten Forschungstradition arbeitet seit 1993 in Dresden das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT). Auf sechzehn wissenschaftliche Mitarbeiter konzipiert und eng mit der Technischen Universität Dresden (TU) verbunden, zielt das interdisziplinär besetzte Institut vor allem auf einen Vergleich zwischen national-und staatssozialistischer Herrschaftsform. Schwerpunkte der Arbeit bilden die Widerstands-und Transformationsforschung, aber auch wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen zu Mikroelektronik und Flugzeugindustrie. Inwieweit sich hierbei das im Namen des Dresdener Instituts festgeschriebene Totalitarismusparadigma als fruchtbare Herausforderung erweist, bleibt abzuwarten.
Eine größere Anzahl von universitären und außer-universitären Arbeitsstellen zur DDR-Geschichte ist in Berlin angesiedelt, was sich, wie im Falle Potsdams, nicht zuletzt aus der Nähe der für die Erforschung der DDR-Geschichte zentralen Archive ergibt. Eine von ihnen, nämlich die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR -nach ihrem Leiter kurz „Gauck-Behörde“ genannt -, hat sogar eine eigene Abteilung Bildung und Forschung ins Leben gerufen, die seit 1993 mit einer Vielzahl von Kolloquien und Veröffentlichungsreihen das Dunkel zu lichten sucht, in das die Staatssicherheit der DDR ihr Tun zu hüllen versucht hatte. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz bestimmte als Aufgabe der Abteilung die „Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes durch Unterrichtung der Öffentlichkeit über Struktur, Methoden und Wirkungsweise“ des MfS. Hierzu zählt unter anderem die Betreuung von Journalisten, Privatpersonen und Wissenschaftlern, die im Rahmen eines Arbeitsthemas Antrag auf Einsicht in die zumeist personenbezogenen Akten der Gauck-Behörde gestellt haben. Da das vor der Vernichtung bewahrte Aktenmaterial des MfS erst zu einem Teil erschlossen ist, ziehen Benutzungsanträge oft aufwendige interne Recherchen nach sich, bis aussagekräftige Unterlagen vorgelegt werden können. Vor ihrer Herausgabe muß weiterhin jede Akte auf schutzwürdige Daten Dritter geprüft werden; den Antragsteller erreicht sie in der Regel nur als anonymisierte Kopie. Mit bisher über vierzig selbständigen Veröffentlichungen von einem „Wörterbuch der Staatssicherheit“ bis zu Arbeiten über Opposition und Widerstand in der DDR versucht die Forschungsabteilung der Gauck-Behörde daneben ihrem Anspruch gerecht zu werden, notwendige Materialien und Informationen zur Beurteilung des MfS-Systems bereitzustellen.
An der Freien Universität Berlin hat sich 1992 ein „Forschungsverbund SED-Staat“ konstituiert, dessen Arbeiten sich auf die SED und ihren Herrschaftsapparat, die deutsch-deutschen Beziehungen und die Transformation Ostdeutschlands nach der Wende konzentrieren. Der aus Historikern, Politologen und Soziologen zusammengesetzte Forschungsverbund grenzt sich prononciert vom mainstream der alten DDR-Forschung ab, dem seine Leiter Klaus Schroeder und Manfred Wilke einen sozialgeschichtlich reduzierten Systemvergleich vorwerfen, der die grundsätzlich unterschiedlichen politischen Ordnungen von Demokratie und Diktatur sträflich vernachlässigt habe Entsprechend insistieren die bisher vorgelegten Arbeiten auf dem „methodische(n) Vorteil eines totalitarismustheoretischen Ansatzes“ und definieren die DDR als „zuallererst eine politische Gesellschaft, in der eine weitgehende Identität von privater und öffentlicher Sphäre herrscht, und in der es nahezu keine staatsfreien Räume geben sollte“
Weniger die durch begriffliche Unschärfe ermöglichte Identifizierung von Anspruch und Realität der diktatorischen Herrschaft hat dem SED-Forschungsverbund massive fachliche und öffentliche Kritik eingetragen als vielmehr eine an journalistische Enthüllungshistorie erinnernde Arbeitsweise, die das Ringen um die zeithistorische Deutungshoheit um einige besonders brachiale Zugriffe bereichert hat. Sie speisen sich vor allem aus einer nicht selten unkritischen Lektüre der SED-eigenen Aktenüberlieferung, der die Autoren des Forschungsverbundes getreu ihrem Ansatz mehr Aussagekraft über die DDR-Wirklichkeit einräumen als die Mehrzahl ihrer Fachkollegcn. Seine Arbeiten haben dem SED-Forschungsverbund in der Öffentlichkeit emphatische Zustimmung und kritische Ablehnung zugleich eingebracht. Sie konzentrieren sich entsprechend ihrem politikgeschichtlichen Ansatz auf die Gründung und Geschichte der totalitären Staatspartei. Ein Schwerpunkt der Untersuchungen gilt der Kirchenpolitik der SED, ein anderer ihren Westbeziehungen (besonders zur westdeutschen Sozialdemokratie), ein dritter der Rolle Ost-Berlins bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und der polnischen Oppositionsbewegung 1980/81. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die der SED-Forschungsverbund bislang erzielt hat, verdankt sich allerdings zu einem guten Teil nicht dem Akzent der Forschungen, sondern ihres Vortrags: Als „Kampfgelehrte“ traten insbesondere Schroeder und Staadt in die Arena, um ihr Publikum beispielsweise mit der Rolle von „SPD-Historikern“ als „Weißwäschern in der Schlammschlacht“ um die angebliche Wahlkampf-hilfe der SED für die SPD 1986/87 bekanntzumachen Kollegen in die Nähe von fellow travellers der ostdeutschen Kommunisten im Westen zu rükken Kritik an ihrem eigenen konzeptionellen Vorgehen aber als . inbrünstige Differenzierungs-sucht und . heroisches Gefuchtel. sozialdemokratischer Gesinnungsprüfer zu disqualifizieren
Nicht weniger polemisch, aber aus einer anderen Tradition heraus, argumentiert der schon erwähnte Unabhängige Historikerverband (UHV), der sich gemäß seiner zweiten Satzung von 1991 „insbesondere der Aufarbeitung der Geschichte der DDR, der Geschichte der Geschichtswissenschaft der DDR, ihrer Institutionen und politischen Zusammenhänge“ widmet Die Forschungspraxis des in Berlin angesiedelten Verbandes lehnt sich eng an die Zusammensetzung seiner Mitgliederschaft an, die überwiegend aus jüngeren DDR Historikern mit ausgeprägter Regimedistanz besteht. Er engagiert sich seit seiner Gründung für die Sicherung und Öffnung der einschlägigen Archive, propagiert besonders die Erforschung von Widerstand und Opposition gegen die SED-Diktatur und initiierte eine anhaltende Debatte um die Frage: „Wem gehört die DDR-Geschichte? , um zu verhindern, daß eine durch ihr Versagen in der DDR-Diktatur kompromittierte Historikerschaft nun an der Erforschung eben dieser Diktatur beteiligt würde In vielen Beiträgen haben Historiker des UHV die historiographische Selbstreflexion auf die Geschichte des eigenen Fachs in vierzig Jahren SED-Herrschaft vorangetrieben Dem gewählten Deutungsmuster und der öffentlichen Polarisierung entsprach es, daß dabei für Grautöne wenig Raum blieb und das historische Urteil über „Klio in der DDR 1sich allzuoft auf die bloße Entscheidung zwischen „Hure oder Muse“ verengte.
Ein Gegenstück zu dieser engagierten Forschung hat sich im Umfeld der PDS gebildet. Besonders für eine Vielzahl nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft entlassener DDR-Gesellschaftswissenschaftler bot die gewendete SED-Nachfolgepartei ein schützendes Dach, unter dem sich neben der Historischen Kommission beim Partei-Vorstand der PDS ein ganzes Netzwerk von Stiftungen, Bildungsvereinen, Forschungsinstituten und regelmäßig tagenden Kolloquien ansiedelte Die hier gestellten Fragen an die Geschichte sind nicht selten apologetisch und von dem Bestreben getragen, die Schuldigen am Scheitern des „sozialistischen Experiments“ dingfest zu machen Doch ebensooft belegen Tagungen und Publikationen dieser PDS-nahen Einrichtungen, daß die Identität des beteiligten Zeitzeugen mit dem reflektierenden Forscher auch dort wertvolle Bausteine zur Aufhellung der DDR-Geschichte bieten kann, wo das Ende der zweiten deutschen Diktatur vor allem als Niederlage erlebt wurde.
Die PDS steht mit ihrem historiographischen Engagement nicht allein. Auch andere Interessengruppen haben sich eigene Forschungsprofile und Publikationsorgane geschaffen -wie etwa die mit den Bürgerrechtsbewegungen in der DDR und Osteuropa befaßte Robert-Havemann-Gesellschaft, die den Nachlaß Robert Havemanns verwaltet, oder das in Erinnerung an den Sturm auf die Staatssicherheitszentrale in Berlin 1990 benannte Bürgerkomitee „ 15. Januar“, das eine eigene Zeitschrift mit dem Titel „Horch und Guck“ herausgibt
Bereits der Vergangenheit gehört eine Institution an, die trotz kontrovers beurteilter Kompetenz zur Entscheidung historischer Streitfragen umfängliches Material zur Erhellung der DDR-Geschichte veröffentlicht hat: die von 1992 bis 1994 existierende Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. Wenn auch die Arbeit dieser Kommission besonders in der Schlußphase deutlich unter parteipolitischer Instrumentalisierung litt, hat sie insgesamt durch öffentliche Anhörungen und Foren, durch Vergabe von Expertisen und Forschungsarbeiten unsere Kenntnisse über die DDR auf den von ihr untersuchten Themenfeldern beträchtlich vorange bracht. Methodische Innovationen waren von ihr freilich nicht zu erwarten. Die von der Enquete-Kommission bearbeiteten Themenfelder zeugen von einer deutlichen Affinität zu traditionellen politikgeschichtlichen Untersuchungsansätzen. Im Juni 1995 hat der Bundestag für die laufende Legislaturperiode eine neue Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ gebildet. Sie knüpft an die inhaltliche Ausrichtung der ersten Kommission an, zielt aber stärker auf die Probleme, die durch die Vereinigung entstanden sind.
III. Themenfelder, Kontroversen, Forschungsdesiderate
Welche bevorzugten Arbeitsfelder und Forschungstrends lassen sich für die deutsche Zeitgeschichte nach dem Umbruch von 1989 erkennen? Welche inhaltlichen Kontroversen zeichnen sich ab, und wo treten gravierende Defizite im bisherigen Forschungsstand, insbesondere für die DDR-Geschichte, hervor? Bei der Beantwortung dieser Fragen gilt es, verschiedene Ebenen voneinander zu trennen.
Erstens: Die eindrucksvolle Zahl der gegenwärtig betriebenen Forschungsprojekte zur DDR-Geschichte erweckt den Eindruck einer relativ „flächendeckenden“ und gleichmäßigen Erforschung der DDR-Geschichte. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Das Defizit an solider sozialhistorischer Forschung ist immer noch beträchtlich Dabei ist jede strikte Trennung von politischer und Sozialgeschichte künstlich und angesichts der besonderen Bedingungen einer vielfach „durch-herrschten Gesellschaft“ zudem völlig unmöglich. Gleichwohl unterscheiden sich sozialhistorische Zugangsweisen von politikhistorischen. Paul Erker hat nicht ohne Grund die Befürchtung geäußert, „daß mit der jetzt anlaufenden , neuen DDR/SBZ-Forschung wieder die alte Reihenfolge: zuerst Politikgeschichte, dann erst Sozialgeschichte, in Gang gesetzt wird und die Zeitgeschichtsforschung insgesamt dadurch in ihrer zunehmend sozialhistorischen Orientierung zurückgedrängt wird“ Dieser Befund ist wenig überraschend, hat es die Sozialgeschichte doch mit komplexen Fragen zu tun, die sich nicht mit schnellem Aktenstudium beantworten lassen. So wissen wir z. B. über das Leben der Arbeiter, der „führenden Klasse“ im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“, bislang immer noch wenig Evident ist hingegen der große Nachholbedarf in der Aufarbeitung des zweifellos erschrekkendsten und zugleich groteskesten Teils des SED-Herrschaftssystems, nämlich des hypertrophen Sicherheitsbedürfnisses und eines entsprechend ausgebauten Polizei-und Überwachungsapparates. Die Strukturen des Machtapparats, das dichte Netz von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und die Methoden der politischen Justiz haben daher zu Recht besondere Aufmerksamkeit gefunden und dürften ein bevorzugtes Forschungsfeld bleiben. Bereits in den Anfängen der DDR läßt sich mittlerweile der Aufbau eines Polizeistaats genau erkennen
Gegenwärtig am besten aufgearbeitet erscheint die Kirchenpolitik der SED Die spektakulären Aspekte der ungeahnten Verstrickung der Kirche, die 1989 als Heldin der Revolution erschien, in Stasi-Aktivitäten darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie selektiv das Bild bliebe, würde es primär auf diesen Aspekt konzentriert und aus der Sicht „von oben“ nachgezeichnet. Das Innenleben, die Resistenz und Veränderung kirchlicher Milieus, die lokal oft ganz unterschiedlichen Beziehungen von Gemeinden, Pfarrern, staatlichen Institutionen und oppositionellen Gruppierungen, die Sozialgeschichte von Pfarrhäusern als Mittelpunkt von Traditionspflege und Zentren nennens werter Alternativkultur bleiben daher eine wichtige und mühsam einzulösende Forschungsaufgabe
Zweitens: Politik-und sozialhistorische Themen lassen sich konzeptionell sinnvoll in einem Interpretationsrahmen miteinander verbinden, der mit dem Diktaturbegriff als Schlüsselkategorie arbeitet. Hier ist zweifellos eine deutliche Veränderung gegenüber der Zeit vor 1989 feststellbar. Zwar konnte auch jeder zeitgenössische Beobachter oder Besucher der DDR wissen, daß er es mit einer Parteidiktatur zu tun hatte, aber man sagte das zumindest nicht laut, weil es die zarte Pflanze der angestrebten Normalisierung im Verhältnis beider deutscher Staaten nur zu knicken drohte. Hier hat sich die Perspektive deutlich geändert. Sie zeigt, wie stark Interpretationsgeschichte ihre zeitgebundene politische Dimension besitzt. Den früher eher ungewohnten Diktaturbegriff als Rahmen zu akzeptieren dürfte ein zentraler Aspekt einer angemessenen Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit sein. Allerdings muß die Verwendung dieses Begriffs, soll sie wissenschaftlich ertragreich bleiben, in einer differenzierten Weise erfolgen; der Diktaturbegriff kann nicht als Generalschlüssel für die Lösung historischer Erkenntnisprobleme dienen. Dabei können vergleichende Aspekte zu einem differenzierenden Gesamtbild besonders viel beitragen, Vergleiche sowohl mit der nationalsozialistischen Diktatur als auch -und noch mehr -mit den osteuropäischen Staaten im sowjetischen Machtbereich.
Vergleichende Analysen der DDR und der osteuropäischen „Volksdemokratien“ gehören gleichwohl zu den auffälligsten Defiziten in der deutschen Zeitgeschichtsforschung. Angesichts der gemeinsamen Einbindung in das sowjetische Herrschaftssystem und in die Konstellation des Kalten Krieges können solche Vergleiche übergreifende Entwicklungen und nationalspezifische Abweichungen, Uniformierungsversuche und Resistenz-potentiale, Gemeinsamkeiten und Unterschiede am ehesten herausarbeiten. Daß solche systematischen Versuche bislang eher die Ausnahme blieben, hängt zum einen mit Sprachproblemen, zum anderen mit der in Deutschland besonders ausgeprägten institutionellen Trennung der Teildiszipli-nen DDR-Forschung und Osteuropa-Forschung zusammen.
Strittiger als der mittlerweile allgemein akzeptierte Diktaturbegriff dürfte das Totalitarismus-Paradigma sein. Es hat in den achtziger Jahren in der zeithistorischen Forschung, anders als in der Politikwissenschaft und in der politischen Bildung, keine Schlüsselrolle mehr gespielt Dies gilt für die Geschichte der DDR, aber -in abgeschwächter Form -auch für die des Nationalsozialismus. Neben dem Hinweis auf die völlig unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Traditionen und Zielsetzungen beider Systeme und Ideologien wurden zwei Haupteinwände ins Feld geführt. Der eine betrifft den statischen Charakter des Begriffs, der den Blick auf gesellschaftliche Veränderungen verstelle, der andere seinen normativen Gehalt, der den Blick auf empirische Differenzierungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit totalitärer Herrschaft erschwere und zudem mit der Projektion auf die Vergleichsfolie des demokratischen Rechtsstaates dem Koordinatensystem der einstigen Ost-West-Auseinandersetzung verhaftet bleibe.
Unbestreitbar weisen die verschiedenen Jahrzehnte der DDR-Geschichte tiefgreifende Unterschiede auf, die nicht hinreichend zu erfassen sind, wenn man die Gesamtentwicklung umstandslos unter „Totalitarismus“ oder „Stalinismus“ rubriziert Andererseits war George Orwells Negativ-utopie in der DDR der achtziger Jahre im Hinblick auf die Überwachungsdichte durch die Stasi viel eher realisiert als in der NS-Zeit, die doch in anderer Hinsicht das Modell einer totalitären Herrschaft bildet. Auch innerhalb der vierzigjährigen DDR-Diktatur selbst weisen die gesellschaftlichen Spielräume ebenso wie die staatlichen Verfolgungspraktiken erhebliche Unterschiede auf. Die Unterdrückung im Hochstalinismus der fünfziger Jahre war von anderer Brutalität als die in der Ära Honecker.
Zudem hat sich die Theorie totalitärer Herrschaft in unterschiedliche Richtungen entwickelt, die es fraglich erscheinen lassen, ob überhaupt noch von der Totalitarismustheorie gesprochen werden kann. So hat gegenüber der älteren politikhistori-sehen und primär auf eine Herrschaftstypologie ausgerichteten Tradition Sigrid Meuschel den totalitären Charakter der DDR-Diktatur vor allem in ihrer Fähigkeit gesehen, die Gesellschaft dem Staat unterzuordnen und sie funktional zu entdifferenzieren. Die DDR war demnach totalitär, weil in ihr „die Ausdifferenzierung von Politik, Ökonomie, Recht und Moral ... weitgehend rückgängig gemacht und die Gesellschaft auch sozialstrukturell annähernd homogenisiert“ wurde
Gegen diese These hat sich allerdings Widerspruch erhoben. Kann die DDR wirklich als gleichsam stillgelegte Gesellschaft beschrieben werden? Wie wären unter diesen Umständen, so fragt Ralph Jessen mit Recht, das Versagen der Wirtschaftsplanung, der verbreitete Rückzug in gesellschaftliche Nischen, die Entstehung neuer sozialer Ungleichheit, die permanenten Mobilisierungsrituale zur Überwindung von Fehlern und Schwächen zu erklären Der Blick von oben bedarf daher der komplementären Ergänzung, die Analyse der Herrschaft als politischer Anspruch muß durch die Untersuchung von „Herrschaft als sozialer Praxis“ erweitert werden. Nur wenn die Grenzen der „Durchherrschung“, die Interaktionen zwischen Herrschenden und Beherrschten mit ihren wechselseitigen Abhängigkeiten, der „Eigen-Sinn“ der DDR-Bevölkerung thematisiert werden, ergibt sich ein umfassendes und differenziertes Gesamtbild der ostdeutschen Vergangenheit zwischen 1945 und 1989/90.
Drittens: Diese Forderung verweist auf eine grundsätzliche Kontroverse, die im Kontext der NS-Historiographie entstanden ist, aber auch für einen angemessenen Zugang zur DDR-Geschichte bedeutsam ist. Das Stichwort dazu hat Martin Broszat mit dem Begriff „Historisierung“ geliefert Die Forderung nach Historisierung zielte darauf ab, für ein angemessenes Verständnis des Dritten Reiches das Nebeneinander von monströsen Verbrechen und geradezu beklemmender Normalität zu akzeptieren und auszuhalten. „Die lautstarke Distanzierung, die so lange erfolgte und noch geschieht“, lautete ein Schlüsselsatz Broszats, „muß verträglich gemacht werden mit einer recht verstandenen historischen Aneignung dieser Zeit, die kritisches und verstehendes Vermögen verbin det.“ Historisierung in diesem Sinne bedeutet keineswegs Relativierung, wie im Zusammenhang des „Historikerstreits“ befürchtet wurde, sondern zielte auf ein komplexeres, letztlich aber viel „politischeres“ und beängstigenderes Diktaturbild. Den Hintergrund bildete die mühsame Entwicklung der westdeutschen Zeithistorie von einer stark personalistisch gefärbten Politikgeschichte zur Sozial-, Mentalitäts-und Alltagsgeschichte. Nicht mehr Hitlers Person und die im Grunde übergeschichtliche Kategorie des Dämonischen standen im Vordergrund, sondern die viel drängendere Frage nach dem inneren Zustand einer Gesellschaft, die bis zuletzt sowohl freiwillig wie unter Zwang ihrem Führer folgte und für das Funktionieren der Kriegs-und Vernichtungsmaschinerie sorgte. , Kritisches und verstehendes Vermögen als Kern einer solchen Historisierung ist auch für die in ihren Dimensionen völlig anders geartete zweite deutsche Diktatur angebracht. Die Erfüllung dieses Anspruchs gestaltet sich hier jedoch insofern viel schwieriger, als diese Diktatur vierzig Jahre dauerte, keinen Krieg vom Zaune brach, keine Massenvernichtungen durchführte und auf der internationalen Bühne immer mehr an Reputation zu gewinnen schien. Das Bewußtsein vom repressiven und verbrecherischen Charakter des politischen Systems war in den achtziger Jahren weniger entwickelt als in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, und darin trafen sich die Wahrnehmungen von außen durchaus mit denen der großen Mehrheit der DDR-Bevölkerung. Die Hoffnung auf Entwicklung, auf graduelle Veränderung, auf allmähliche Normalisierung verstellte den Blick auf die strukturellen Systemdefekte und die amoralische Basis der Herrschaft. Daß die DDR zum „Untergang auf Raten“ verurteilt war, wie der Titel eines Buches von Armin Mitter und Stefan Wolle lautet war eben gerade nicht das dominierende Wahrnehmungsmuster der siebziger und achtziger Jahre. Eine solche Perspektive ist aber die unausgesprochene Basis der Argumentation, daß jeder seine Glaubwürdigkeit verloren habe, der diesem System diente. Um Vielfalt und Komplexität eines „Lebens in der Diktatur“ sowohl aus der Binnen-wie aus der Außenperspektive muß es aber gehen, wenn man sich ein realistisches Gesamtbild im Sinne kritischer Historisierung zum Ziel setzt. Eine DDR-Geschichte, die diesem Anspruch genügen will, läßt sich weder allein von ihrem Anfang her als gescheitertes sozialistisches Experi-ment schreiben noch von ihrem Ende her als Verfallsgeschichte einer Diktatur mit vorherbestimmtem Ausgang, sondern bedarf der struktur-orientierten Rekonstruktion gleichsam aus ihrer „Mitte“ heraus, wie dies Konrad Jarausch jüngst vorgeschlagen hat
Viertens: Durch den revolutionären Umbruch von 1989 hat sich aber nicht nur die Sicht auf die DDR-Geschichte einschneidend verändert. Auch die deutsche Nachkriegsgeschichte insgesamt erscheint in einem andersartigen Rahmen. Wenn die erste Enquete-Kommission zur SED-Diktatur Expertisen über Adenauers Deutschland-Politik in Auftrag gab, so stand dahinter die neubelebte publizistische Kontroverse um das Verhältnis von Westintegration und Wiedervereinigung. Diese Kontroverse ist auch nach 1989 keineswegs entschieden, wenn man nicht einfach suggestiven deterministischen Denkfiguren wie der „Magnet-theorie“ folgen will Das gleiche gilt für den Streit um die Zielsetzungen und die Auswirkungen der sozialliberalen Deutschland-und Ostpolitik. Der Streit darum ist schärfer geworden und hat stark parteipolitische Akzente erhalten. Zeitgeschichte als Wissenschaft kann versuchen, Bedingungsfaktoren und mögliche Auswirkungen detailliert zu analysieren und Argumente gegeneinander abzuwägen. Sie wäre aber mit dem Anspruch überfordert, die kontroverse Debatte aus einem veränderten Zeithorizont und mit neu zugänglich gewordenen Quellen eindeutig entscheiden zu können.
Ein eng verwandtes Themenfeld dürfte sich in Zukunft mit Sicherheit verändern: die deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte und die Konzeption einer deutschen Nachkriegsgeschichte insgesamt. Ziel einer kritischen Historiographie kann in Zukunft nicht sein, DDR-Geschichte umstandslos in eine gesamtdeutsche Geschichte einzugliedern, die gewissermaßen teleologisch auf das Datum der Wiedervereinigung von 1990 hin ausgerichtet ist. Ebensowenig aber läßt sich die eingebürgerte historiographische Trennung zweier Staaten fortführen. Beide Staaten waren, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht, in ein dreifaches Koordinatensystem eingefügt: Sie waren in der globalen Konstellation des Kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts erstens von ihren jeweiligen Super machten abhängig. Ihre Politiker betrieben aber zweitens auch eine eigenständige Politik, und ihre Gesellschaften entwickelten eine nicht nur von außen gesteuerte Dynamik. Und drittens blieben schließlich beide Staaten und Gesellschaften durch Konfrontation und Kooperation gleichermaßen stärker miteinander verflochten, als sie selbst wahrhaben wollten. Diese deutsch-deutsche Verflechtung und die jeweilige Negation des Konkurrenzstaates machen den stärksten Unterschied im Vergleich der DDR mit den strukturell ähnlich konstruierten kommunistischen Diktaturen in Ost-mitteleuropa aus.
Das deutsch-deutsche Verhältnis blieb stets von einer starken Asymmetrie geprägt, aber es bestimmte die innere und äußere Geschichte beider Staaten nachdrücklich, und das Verständnis für diesen Sachverhalt ist nach der Vereinigung von 1990 gewachsen. DDR-Geschichte ist ohne das Magnetfeld der politisch und ökonomisch starken Bundesrepublik überhaupt nicht verständlich. Umgekehrt wirkten aber auch die Existenz eines kommunistischen deutschen Staates und seine vielfältigen Versuche der Einflußnahme auf die inneren Verhältnisse in der Bundesrepublik zurück, bestimmten die Durchsetzbarkeit politischer Entscheidungen, den Stil öffentlicher Auseinandersetzungen und prägten in mancher Hinsicht das Profil ihrer politischen Kultur
Die historiographische Verbindung beider Teilgeschichten muß nicht in eine neue Nationalgeschichte mit dem Ziel der Identitätsstiftung mün den. Sie sollte vielmehr zunächst einmal die Dialektik von Abgrenzung und Verflechtung empirisch auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Beispielen genauer erforschen. Die Gewichte zwischen den drei genannten Faktoren werden sich in Zukunft wahrscheinlich verschieben. Wechselwirkungen, Abgrenzungen und fortbestehende Verbindungen zwischen beiden Teilen Deutschlands stärker in den Vordergrund historischer Analysen zu rücken legt schon die schwierige politische Aufgabe nahe, die gern als Herstellung der „inneren Einheit“ umschrieben wird. Dafür, daß diese sperrige gemeinsame Nachkriegs-geschichte nicht'stromlinienförmig geglättet wird, kann und muß Zeitgeschichte als wissenschaftliche Disziplin ihren Beitrag leisten.
Der Weg, den die deutsche Zeitgeschichtsforschung seit ihrer Wiederbegründung nach 1945 zurückgelegt hat, ist lang. Ähnlich wie die nach dem Ende des „Dritten Reiches“ zur Verfügung stehenden Quellenmassen zunächst die Gefahr einer „Verinselung“ der NS-Historiographie gefördert haben, zeichnen sich solche Gefahren gegenwärtig auch für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ab. Sie lassen sich aus den spezifischen Orientierungsbedürfnissen einer allmählich zusammenwachsenden deutschen Nation erklären. Das Ziel muß jedoch die Erweiterung des Blickfeldes durch systematische Vergleiche und durch Einbeziehung der DDR-Geschichte in größere Zusammenhänge der politischen und sozialen Entwicklung des „kurzen 20. Jahrhunderts“ sein. Die Entwicklungstrends und die methodischen Standards der zeithistorischen NS-Forschung können dabei wichtige Orientierungshilfen liefern.