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Der Volksaufstand in Ungarn 1956. Eine Nation wehrt sich gegen die sowjetische Diktatur | APuZ 37-38/1996 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 37-38/1996 Der Volksaufstand in Ungarn 1956. Eine Nation wehrt sich gegen die sowjetische Diktatur Stalinistischer Terror. Genese und Praxis der kommunistischen Gewaltherrschaft in der Sowjetunion 1917-1953 Sowjetische Hegemonie und Kommunismus in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg Schauprozesse und Parteisäuberungen in Osteuropa nach 1945

Der Volksaufstand in Ungarn 1956. Eine Nation wehrt sich gegen die sowjetische Diktatur

Peter Gosztony

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Volksaufstand in Ungarn 1956 war im sowjetischen Machtbereich die erste umfassende politische, militärische und gesellschaftliche Erhebung, die sich nicht nur auf einzelne Städte, sondern auf das ganze Land ausdehnte. Innerhalb von 48 Stunden hörte die „volksdemokratische“ Ordnung in Ungarn auf, und dies (ausgenommen Budapest) mit wenig Blutvergießen. Seit dem denkwürdigen 20. Parteitag der KPdSU in Moskau, als Chruschtschow seine Geheimrede über Stalins Terrorherrschaft gehalten hatte und diese verdammte, gärte es in Ungarn. Im Herbst 1956 spitzte sich die internationale politische Lage zu. In Warschau kam es zu einer Krisensituation, im Nahen Osten drohte die Inbesitznahme des Suez-Kanals durch Präsident Nasser, den Verbündeten Moskaus, in einen Krieg auszuarten. Aus Ungarn erreichten den KGB nur alarmierende Nachrichten. Die Sowjets mußten handeln. Ihre Vorstellung, die Lage in Ungarn durch militärische Machtdemonstration zu meistern, schlug fehl. Rasch steigerten sich die Demonstrationen gegen die sowjetische Vorherrschaft zu einem Volksaufstand und schließlich zu einem Freiheitskampf. Dem neuen Premier Imre Nagy gelang es zunächst, die Lage durch Zugeständnisse zu beruhigen. Die ungarische Bevölkerung glaubte schon, gewonnen zu haben. Außenpolitische Faktoren bereiteten aber sehr bald schon dem fast greifbaren Sieg ein Ende: Der am 29. Oktober 1956 ausgebrochene Nahost-Krieg sowie das politische Desinteresse der USA an Ungarn ließen im sowjetischen Politbüro die „Falken“ handeln. Am 4. November 1956 begann unter Marschall Konjew die militärische Überrumpelung der bis dahin von den Sowjets anerkannten Regierung Nagy. Gleichzeitig ließ Chruschtschow eine neue, prosowjetische Marionetten-Regierung unter Jänos Kädär als Stadthalter sowjetischer Interessen in Ungarn einsetzen. Mitte November 1956 war der militärische Widerstand der Magyaren gebrochen; 16 sowjetische Divisionen kontrollierten das Land. Eine neue politische Epoche nahm ihren Beginn: die Ära Kädär. Sie war in den ersten sechs Jahren durch Staatsterror gekennzeichnet, durch massive Verfolgungen der Aufständischen und entsprechend durch Massenflucht in den Westen. Dann kam die Zeit des „Gulaschkommunismus“, die Schritte der kleinen Freiheiten. Kädär proklamierte eine eigene Ideologie des Klassenkampfes. „Wer nicht gegen uns ist -ist mit uns!“ 1990 brach das Regime unblutig zusammen. Im Juni 1991 verließen die letzten Sowjetsoldaten Ungarn. Ein historischer Abschnitt -mit nicht wenig Blut und Leid verbunden -fand damit sein Ende.

Im Jahr 1956 befand sich die Volksrepublik Ungarn, jenes Land mit knapp zehn Millionen Einwohnern im Herzen des Donauraumes, in einer äußerst kritischen politischen und moralischen Lage. 1945 war Ungarn von der Roten Armee besetzt worden. Nach der Vereinbarung der Siegermächte in Jalta und Potsdam wurde es wie alle seine Nachbarstaaten -ausgenommen Österreich der sowjetischen Einflußzone zugeordnet. Nach dem Krieg festigte die ungarische Kommunistische Partei mit Aufwand, aber beharrlich, ihre Position im Lande. Entgegen der Erwartung der Bevölkerung verließ die Rote Armee auch nach Inkraftreten des Friedensvertrages Ungarn nicht. Moskau berief sich dabei auf seine Rechte, weiterhin Truppen in Rumänien und Ungarn zu unterhalten, und zwar zur Sicherung der Verbindungen zu seinen im Ostteil Österreichs stationierten Besatzungstruppen. Heute wissen wir, daß vor dem Volksaufstand 1956 in Ungarn vier sowjetische Divisionen dort ihre ständigen Garnisonen hatten

Ungarn wird Volksdemokratie

Im Zuge der Entwicklung des Kalten Krieges beschleunigte die Kremlführung die Eingliederung der als Kriegsbeute erhaltenen europäischen Gebiete in ihren Machtbereich. Allein Marschall Titos Jugoslawien weigerte sich, die Moskauer Vorhaben zu erfüllen. In Ungarn wurde am 20. August 1949 die Volksdemokratie nach sowjetischem Muster proklamiert, und die ungarische KP übernahm die Ausübung der gesamten Macht im Lande. Ihre bisherigen Koalitionsparteien wurden vorerst in einem politischen Sammelsurium, genannt „Volksfront“, vereinigt und danach liquidiert. Der aus dem Moskauer Exil nach Ungarn zurückgekehrte KP-Führer Mätyäs Räkosi kopierte mit Hingabe die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Einrichtungen der UdSSR in allen Details, um seine Ergebenheit dem Kreml gegenüber zu beweisen. Die Folgen zeigten sich rasch, und sie waren für Ungarn verheerend: Die verordnete Planwirtschaft brachte das Land binnen weniger Jahre an den Rand einer Wirtschaftskrise; die Bauern zwang man in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, womit sie jegliches Interesse an der „Produktion“ verloren -etwa zehn Prozent der gesamten Ackerbodenfläche Ungarns lag 1955 brach Die „Rentabilität“ der Industrie ließ sich nur in Defizit-Zahlen ausdrücken. Eine getarnte Kriegsindustrie mußte rasch aus dem Boden gestampft werden. Zwischen 1949 und 1953 rechnete man in Moskau mit einem weltweiten Krieg, wobei Stalin auch Offensivpläne gegen das aus seinem Imperium ausgeschiedene Jugoslawien hegte

Ungarn war infolge seiner geopolitischen Lage somit zum „Frontstaat“ geworden. Die Ungarische Volksarmee mußte ab 1949 ausgebaut werden und hielt 1954 über 200 000 Soldaten unter Waffen Dazu kamen noch die Grenzwache (etwa 20 000 Mann) und die Ordnungskräfte des Staatssicherheitsdienstes (ca. 14 000 Mann). Diese Aufrüstung hatte ihre Konsequenzen im ständig sinkenden Lebensstandard der „werktätigen Bevölkerung“. Dieser ging trotz aller Versprechungen der KP ständig zurück und lag schließlich unter dem Niveau der Vorkriegsjahre. Noch schlimmer aber stand es aber um die Rechte der Staatsbürger. Die KP hatte nicht nur die Polizei und die Volksarmee unter ihrer „Obhut“, sondern verfügte auch über eine eigene Hausmacht, den Staatssicherheitsdienst (AVH) Diese Institution war dem Generalsekretär der KP, Mätyäs Räkosi, unmittelbar unterstellt und de facto jeglicher Kontrolle entzo-gen. Während der siebenjährigen Herrschaft von Räkosi (1949 bis 1956) füllten sich die Kerker. Internierungslager und Arbeitslager wurden errichtet; die „Volksgerichte“ hatten mit der Verhängung von Todesstrafen viel zu tun.

Ab 1949 häuften sich in Ungarn die politischen Prozesse. Mit ihnen wollte man Macht demonstrieren und die Bevölkerung einschüchtern, was den Verantwortlichen auch gelungen ist. Sowohl Angehörige des hohen Klerus, sozialdemokratische Funktionäre, bürgerliche Politiker aller Schattierungen, der Wirtschaftssabotage angeklagte Ingenieure als auch führende Mitglieder der amtierenden Kommunistischen Partei (die „gestern“ noch Ministerposten inne hatten und „treue Genossen“ gewesen waren) wurden verhaftet und mußten sich in „Schauprozessen“ verantworten. Nach späteren offiziellen Angaben wurden allein zwischen 1952 und 1955 1 136 434 Menschen vor Gericht gestellt und davon etwa die Hälfte zu kürzeren oder längeren Freiheitsstrafen verurteilt Etwa ein Viertel der Bevölkerung war in dieser Zeit Polizeiverfolgungen und Schikanen seitens der Behörden ausgesetzt Über diese „Epoche“ kommunistischer Herrschaft in Ungarn schrieb schon 1961 in Budapest ein ehemals führendes Mitglied der Partei, Sändor Nögrädi, in seinen Erinnerungen: „Die Mitglieder des Politbüros wurden niemals über die Zahl der Inhaftierten, Internierten und Deportationen in Kenntnis gesetzt. Für solche Maßnahmen hatten wir auch keine gesetzliche Grundlagen gehabt. Räkosi jedoch hielt sie für eine natürliche Folge der bisherigen revolutionären Entwicklung. Er vertrat die Ansicht, es gebe keine , revolutionäre Gesetzlichkeit’. Die Leute sollen einfach lernen, daß wir hier die Diktatur des Proletariats haben.“ Und ein noch berühmterer Politiker urteilte: „Die Führungsclique des Landes, im Monopolbesitz der Gewaltorgane, hielt es nicht mehr für erforderlich, daß Partei und Regierung das Vertrauen und die Unterstützung der werktätigen Massen für eine Politik erwarben, die angeblich das Interesse Ungarns und des Volkes berücksichtige und sich dieses Vertrauen mit ihrer tagespolitischen Aktivität immer wieder vom neuen sichere. Diese Politik ist kein Weg der Volksdemokratie mehr, sondern der Weg des Bonapartismus.“

Diese Sätze stammen aus der Feder des ungarischen Kommunisten Imre Nagy, selber Moskauer Emigrant und seit 1945 wieder in Ungarn und Mitglied des Führungsgremiums der Parteileitung. Nach Stalins Tod 1953 wurde er für anderthalb Jahre -auf Moskaus Geheiß -Ungarns Ministerpräsident; er verfocht während seiner Amtsperiode eine humane sozialistische Politik. Er war eine Art Vorgänger von Alexander Dubcek in Prag 1968. Unter Imre Nagy schien der Stern Räkosis zu verblassen, obwohl es dieser verstand, die Führung der KP weiterhin diktatorisch auszuüben. Während Nagys Amtszeit wurden etliche Reformen verfügt, die das Alltagsleben in der Volksrepublik erträglicher machten. Imre Nagy (18961958) genoß echte Popularität im Lande. Unter ihm hörten die üblen Machenschaften des Staatssicherheitsdienstes auf. Die Mitglieder des „ancien regime“ durften ihre Zwangssiedlungen verlassen. Nagy verkündete 1954 bei der Neugründung der „Ungarischen Volksfront“: „Wir sind alle Ungarn, ohne Unterschied, aus welchen Schichten wir stammen!“

Diese Aufgabe des Klassenkampfs nutzte Räkosi für seine Intrigenkampagne gegen Nagy in Moskau, den er im Kreml als „Abweichler von der Parteilinie“ bezeichnete. Im Frühjahr 1955 „siegte“ Räkosi in Moskau. Beeinflußt durch etliche weltpolitische Ereignisse -so die Ratifizierung der „Pariser Verträge“ der Westmächte, die u. a.der Aufstellung einer westdeutschen Armee den Weg ebneten -war Chruschtschow von seinen Widersachern im Politbüro gezwungen worden, dominanter in den europäischen Volksdemokratien aufzutreten. In Ungarn wurde Imre Nagy geopfert: Er mußte im April 1955 seine Demission einreichen. An seiner Stelle trat eine Kreatur von Räkosi -der 33jährige Parteifunktionär Andräs Hegedüs. Nagy wurde nicht nur aus der Regierung entfernt, sondern auch aus der Partei. Im November 1955 wurde Nagy sogar unter Hausarrest gestellt. Er verfaßte diverse Denkschritten an das Politbüro der ungarischen KP, in denen er seine Reformpolitik vor der Partei zu rechtfertigen suchte Die Räkosi-Führung hingegen, die sich nun im Besitz der Macht und Gunst Moskaus wähnte, glaubte ihre Herrschaft für die Ewigkeit gesichert.

Stalins Verdammung in Moskau und deren Auswirkung auf Ungarn

In Moskau geschah aber etwas Unvorhergesehenes. Im Februar 1956 wurde der XX. Parteikongreß der sowjetischen KP abgehalten. Es war der erste Kongreß nach Stalins Tod. Das Hauptreferat hielt der Generalsekretär der KP, N. S. Chruschtschow -ein Ukrainer, der die „Erbschaft“ des Verstorbenen übernommen hatte. Am letzten Tag des Kongresses, als die offiziellen Redner nach kommunistischen Ritualen ihre Pflichtübungen vor den Delegierten absolviert hatten und sich für die Abreise vorbereiteten, wurden sie von Chruschtschow unerwartet zu einer zusätzlichen Sitzung zusammengerufen. Dies sollte eine Geheimsitzung sein -unter Ausschluß der Medien und der Öffentlichkeit. Man durfte auch keinerlei Notizen machen. Chruschtschow sprach vier Stunden lang zu den Versammelten, und was er sagte, verschlug manchen Zuhörern regelrecht den Atem: Chruschtschow rechnete an diesem 25. Februar 1956 mit dem bis jetzt als „Gott“ verehrten J. W. Stalin und seinen Führungsmethoden scharf ab. Anhand von bis dahin als Kremlgeheimnisse aufbewahrten Dokumenten entlarvte er seinen Vorgänger als Massenmörder, als blutrünstigen Diktator, der die UdSSR über 17 Jahre lang grausam regiert und Lenins Erbe verraten habe

Die Rede wurde bald im ganzen Sowjetimperium bekannt. Die Bevölkerung traf Chruschtschows Kritik an dem früheren „Gott“ der Sowjetunion hart. Und auch westliche Medien sorgten dafür, daß diese sensationelle Geheimrede bald mit den Einzelheiten der begangenen Verbrechen in den osteuropäischen Volksdemokratien publik wurde. Die dortigen spürten den offenbar bevorstehenden Kurswechsel in der Sowjetpolitik, waren aber unfähig, sich den neuen Anforderungen anzupassen.

Am 30. Juni 1956 begannen Unruhen in der polnischen Messe-Stadt Posen. Arbeiter und Studenten rebellierten gegen die Regierung. Nur mit Brachialgewalt und nach etwa 41 Toten konnte die Volksarmee zusammen mit dem Staatssicherheitsdienst die Ordnung wieder hersteilen. Im Oktober 1956 kam es innerhalb der polnischen KP-Führung zu einer gefährlichen Spaltung zwischen „Falken“ und „Tauben“, letztere befürworteten eine reformfreudige Politik. Sie wünschten auch den National-11 kommunisten Wladyslaw Gomulka (der seit 1951 verhaftet war) als neuen Parteichef sowie ein Ende der Sowjetisierung der Polnischen Volksarmee, in welcher beinahe 40 Prozent der höheren Chargen mit sowjetischen Generälen besetzt waren. Sogar der polnische Verteidigungsminister und Vize-Ministerpräsident war ein Sowjetmarschall: K. K. Rokossowski.

Die politische Krise in Warschau nahm Mitte Oktober 1956 ein solch gefährliches Ausmaß an, daß der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Schukow die in Polen stationierten Sowjettruppen für eine eventuelle Intervention in Richtung Warschau in Marsch setzte. Chruschtschow kam mit großem Gefolge -uneingeladen -am 18. Oktober 1956 nach Warschau und versuchte dort, mit Zugeständnissen die Lage zu meistern: Gomulka wurde am 20. Oktober als Parteichef von Chruschtschow bestätigt und die Polnische Volksarmee durfte sich von ihren sowjetischen Befehlshabern „verabschieden“. Daraufhin kehrten die Sowjetdivisionen in ihre Garnisonen zurück.

Rumänien und die Tschechoslowakei verhielten sich zu dieser Zeit noch ruhig. Die politischen Führungen dort verstanden es, jegliche Regung von Oppositionellen mit polizeilichen Maßnahmen zu verhindern. Ganz anders lagen indessen die Dinge in der Volksrepublik Ungarn. Schon im Frühjahr 1956 und insbesonders im Frühsommer war aus den Reihen der Studenten, Schriftsteller und anderen Intellektuellen im Rahmen des „Petöfi-Kreises“ (eine Art Diskussionsforum unter Obhut des Kommunistischen Jugendverbandes) heftiger Protest gegen Räkosi, seine Politik und seine Führungsmethoden erhoben worden. Man forderte eine rasche und radikale Durchführung der soge-nannten „Entstalinisierung“ in Ungarn, die auch mit dem Wunsch verbunden war, Räkosi sollte endlich seinen Hut nehmen und abdanken. Er war in den Augen der Reformkommunisten ein „abgewirtschafteter Politiker“.

In Moskau hatte man ein erstaunlich klares Bild von der politischen Lage in Ungarn. Seit einiger Zeit amtierte in Budapest als Sowjetbotschafter Jurij Andropow, der spätere KGB-Chef der Sowjetunion. Er riet seinen Vorgesetzten, Räkosi nach Möglichkeit von seinem Posten abzuberufen, um damit die rebellierenden Gemüter im Lande besänftigen zu können. Zwei sowjetische Politbüromitglieder -Anastaz Mikojan und Mihail Suslow -reisten daraufhin im Juli 1956 nach Budapest. Das Fazit ihrer Mission war: Räkosi mußte seinen Posten räumen und wurde sicherheitshalber nach Moskau gebracht. Er starb im sowjetischen Exil am 2. Februar 1971

Nun machten jedoch die Moskauer Emissäre einen verhängnisvollen politischen Fehler: Statt Imre Nagy oder den damals noch wenig bekannten Jänos Kädär zum Chef der ungarischen KP zu machen, setzten sie an Räkosis Stelle seinen Stellvertreter (und Vertrauten Moskaus), den 58jährigen Ernö Gero ein, der keinerlei Popularität in der ungarischen Bevölkerung hatte. Gleichwohl versuchte er sich „reformfreudig“ zu geben und baldige Erfolge zu erzielen. Unter seiner Führung wurde eine Flinwendung zu Marschall Tito und die Versöhnung mit Jugoslawien eingeleitet, mit dem das kommunistische Ungarn seit 1949 in einem „kalten Krieg“ gelebt hatte. Gero war bereit, dafür alle finanziellen Forderungen Belgrads an die Ungarn zu begleichen. Auf Drängen der Reformkommunisten wurde im August der Rehabilitierungsprozeß mit neuem Elan angegangen; Hunderte politische Gefangene konnten die Gefängnisse verlassen

Der prominenteste der KP-Märtyrer, der als „Titoist“ im Oktober 1949 hingerichtete Läszlö Rajk, und seine Genossen wurden ebenfalls rehabilitiert. Am 6. Oktober 1956 wurde in Budapest für Rajk und drei seiner Hauptmitangeklagten ein großes Staatsbegräbnis organisiert. Es war eine gespenstische Szene: Die Trauerreden hielten dieselben Genossen, die 1949 im Politbüro für die Verurteilung Rajks und seiner Gefährten gestimmt hatten. Etwa 80 000 Ungarn nahmen an diesem Staatsakt teil -beängstigend für die Machthaber, denn die Menschen standen als lebendes Mahnmal, um gegen die bisherige Politik der KP zu demonstrierten. Am selben Tag ließ Gero vier Staatssicherheitsdienst-Offiziere verhaften Sie sollten als späte Sündenböcke für Rajks Verhaftung zur Rechenschaft gezogen werden. Damit hoffte Gero die Massen zu besänftigen. Er irrte sich jedoch gewaltig. All diese Gesten der neuen Führung kamen zu spät und zu spärlich. Sie beeinflußten die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht mehr. Überall wurden kleine „PetöfiKreise“ gebildet -Debattierklubs, wo die Unzu­ friedenen ihre Sorgen um die Zustände im Lande offen kundtun konnten-Auch die Parteiversammlungen wurden dramatisch.

Die treibende Kraft in dieser vorrevolutionären Periode war zweifellos die Studentenschaft. Am 15. Oktober hatten Studenten aus Szeged in Süd-Ungarn ihren Austritt aus dem von der KP gesteuerten „Verband der Werktätigen Jugend“ erklärt und eine eigene Studentenvereinigung gegründet. Die politische Monopolstellung der KP wurde damit infrage gestellt. Am 22. Oktober schlossen sich die Budapester Studenten ihren Kommilitonen von Szeged an und formulierten ihre Forderungen an die Partei und Regierung in Form eines 16-Punkte-Programms. Darin verlangten sie nicht nur Reformen und Demokratisierung staatlicher Institutionen, sondern auch grundlegende politische Änderungen in Ungarn, u. a.freie Wahlen unter Einbeziehung demokratischer Parteien und vor allem -nach dem Beispiel Österreichs -den Abzug aller sowjetischen Truppen aus Ungarn.

Um ihren Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen, beschlossen sie am folgenden Tag eine Massendemonstration vor dem Denkmal des polnischen Generals Joseph Bern (in ungarischen Diensten während des Freiheitskampfes gegen Habsburg 1848/49) abzuhalten. Es sollten auch Jungarbeiter und Offiziersschüler an dieser Manifestation teilnehmen. Die Einladungen wurden durchwegs positiv beantwortet.

Der Kollaps der Machthaber

Ernö Gero kam am Tag der Demonstration von einem Besuch Titos nach Budapest zurück. Hastig erklärten die Genossen dem Generalsekretär die innenpolitische Lage. Geros erste Maßnahme war, die Demonstration durch Innenminister Läszlö Piros verbieten zu lassen. Die Sicherheitslage war kritisch: Die Ungarische Volksarmee befand sich im Herbst in einer Phase völliger Reorganisation. Durch die Verminderung der Zahl der Offiziere und die Auflösung einzelner Garnisonen war die Stimmung bei der Armee auf dem Nullpunkt angelangt Der Budapester Polizeipräsident, Oberst Sändor Kopäcsi (ein Anhänger von Imre Nagy), erklärte klipp und klar: Die städtische Polizei sei nicht gewillt, mit Brachialgewalt gegen die Demonstranten vorzugehen Was den Staatssicherheitsdienst betraf, so befanden sich in Budapest lediglich drei, aufgrund der staatlichen Sparmaßnahmen unvollständig aufgefüllte Ordnungs-Bataillone. Der Chef des Staatssicherheitsdienstes, Oberst Istvän Härs, war erst einige Tage in seinem Amt. Gero versuchte dennoch, auf seine Art, die Lage zu meistern: Einerseits ließ er über den Rundfunk am Nachmittag des 23. Oktober die Aufhebung des Demonstrationsverbotes verkünden, andererseits wandte er sich um Hilfe an die Budapester Sowjetbotschaft. Gero bat um militärische Unterstützung, indem er den Einsatz von Teilen der in Ungarn stationierten sowjetischen Divisionen nach Budapest anzuordnen wünschte.

Die Sowjets beobachteten seit Spätsommer 1956 mit stets größerer Sorge die innenpolitische Lage in Ungarn. Nicht nur Andropow alarmierte die Moskauer Zentrale, auch der Chef des KGB, Generalleutnant Iwan Serow, kam im August 1956 insgeheim nach Ungarn. Im Herbst 1955 war die Zahl der in Ungarn stationierten drei sowjetischen Divisionen auf vier angewachsen, wozu noch eine Reihe Sondertruppen kam Diese Verbände wurden in einem ,, Besonderem Armeekorps“ zusammengefaßt und dem sowjetischen Generalstab in Moskau direkt unterstellt. Ungarn war wegen seiner geopolitischen Lage -von Moskau aus betrachtet -der „weiche Unterleib des Sowjetimperiums“, hatte es doch gemeinsame Grenzen mit dem (bürgerlichen) Österreich und dem (unberechenbaren) Jugoslawien. Die Offiziere im Stabe des „Besonderen Armeekorps“ spürten höchstpersönlich die feindselige Stimmung der Ungarn ihnen gegenüber sowie vor allem die angespannte politische Lage in der Volksrepublik

Heute, da die Moskauer Archive über die Ereignisse von 1956 größtenteils Forschern zugänglich sind, wissen wir, daß Chruschtschow in den frühen Abendstunden des 23. Oktober durch eine direkte telephonische Leitung mit Ernö Gero gesprochen hatte und zur Kenntnis nahm, daß dieser wegen der angespannten Lage in Ungarn am Moskauer Treffen der Chefs der osteuropäischen KP’s nicht teilnehmen könne. Der sowjetische Generalstab ließ das Oberkommando des „Besonderen Armee-korps“ in Stuhlweißenburg schon in den Vormittagsstunden des 23. Oktober 1956 in den Alarmzu­ stand versetzen. Der sowjetische Operationsplan „Kompaß“ -im Sommer 1956 ausgearbeitet -trat in seine erste Phase Die Sowjets waren also rechtzeitig vorbereitet -sie rechneten allerdings bei ihren Aktionen mit einer kraftvollen Unterstützung seitens der ungarischen bewaffneten Kräfte.

Von der Revolution zum Freiheitskampf

Am Nachmittag des 23. Oktober kam es in vielen Teilen der Hauptstadt zu Demonstrationen. Arbeiterdelegationen und Abordnungen der Offiziersschüler beteiligten sich daran. Flugblätter mit dem 16-Punkte-Programm der Studentenschaft wurden verteilt; ihr Inhalt fand überall Zustimmung. Die roten Fahnen, die hier und dort noch zu sehen waren, verschwanden; die Fahnen mit den ungarischen Nationalfarben dominierten Die Stimmung der bis zum Spätabend in der Hauptstadt versammelten etwa 300 000 Menschen war fröhlich und zuversichtlich. Die Polizei griff nirgendwo ein; sie hatte auch keinen Grund dazu. Auf Veranlassung des Innenministers war das Versammlungsverbot doch wieder zurückgenommen worden.

Vor dem Parlamentsgebäude warteten etwa 100 000 Menschen auf das Erscheinen Imre Nagys, dessen Äußerungen zu den Ereignissen sie hören wollten. Er kam, als es schon dunkel war. Von den Geschehnissen offensichtlich überwältigt, schien er verwirrt; in seiner kurzen Ansprache versuchte er, die Menge zu beschwichtigen. Am 13. Oktober war er wieder in die KP aufgenommen worden. Er fühlte sich, obwohl er in dieser Stunde noch keinerlei Parteifunktionen besaß, der Parteidisziplin bereits verpflichtet. So versprach er, für die Forderungen der Studentenschaft im Politbüro, wo man ihn schon erwartete, ein gutes Wort einzulegen und bat die Bevölkerung, „Ruhe und Ordnung“ zu bewahren. Die Versammelten nahmen Nagys Rede mit sichtlicher Enttäuschung auf. Man folgte seiner Bitte nicht: Ein Teil der Versammelten zog in Richtung Stadtpark, wo ein riesiges Stalin-Standbild, für die Ungarn ein Symbol der kommunistischen Unterdrückung, noch am selben Abend von seinem Sockel gestürzt wurde.

An jenem Abend kam es zu ersten Gewalttätigkeiten. Der Staatssicherheitsdienst bot zur Bewachung des Rundfunkgebäudes seine Ordnungskräfte auf. Etwa 300 AVH-Leute versuchten, ohne eine andere Möglichkeit zu erwägen, das Rundfunkgebäude mit wiederholten Gewehrsalven gegen die immer größer werdende Menge zu verteidigen. Dies war der Funke im Pulverfaß für die sich nun rapid entwickelnden Ereignisse. Die Belagerer des Rundfunkgebäudes ließen sich auch von den Schüssen nicht verjagen. Der Staatssicherheitsdienst war ohnehin bei allen Schichten der Bevölkerung bar jeglicher Popularität. Zivilpersonen beschafften sich innerhalb einer Stunde Waffen und Munition aus naheliegenden Polizeiposten und Kasernen bzw. bis Mitternacht aus Waffen-und Munitionsfabriken in Budapester Vororten. Auch die Nachtschicht der Arbeiter eilte geschlossen ihren Landsleuten zur Hilfe. Die bis 19 Uhr am 23. Oktober noch friedfertige Menge vor dem Rundfunkgebäude wurde nun zur bewaffneten Stoßtruppe der Revolution. Man wollte das Gebäude besetzen, um das 16-Punkte-Programm der Studentenschaft, jetzt zu einem National-Programm geworden, dem ganzen Lande bekanntzugeben

Ernö Gero ließ nun die Ungarische Volksarmee alarmieren. Als wäre die Parteileitung plötzlich ins Jahr 1917 zurückversetzt, ließ das Politbüro noch in der selben Nacht ein Partei-Militär-Komitee bilden. Nicht der Innen-und der Verteidigungsminister, sondern dieses Komitee von „hartgesottenen (und wie die Fakten zeigten: völlig unfähigen) Bolschewiken“ sollte die Unruhen in kürzester Zeit mit Brachialgewalt beenden. Das Chaos bei den Regierenden wurde damit aber nur noch größer. Befehle und Anordnungen kreuzten sich und bewirkten letztlich eine Stärkung der Position der revoltierenden Budapester.

Die ersten Heereseinheiten der Ungarischen Volksarmee, die um Mitternacht in Budapest eintrafen und zum Rundfunkgebäude dirigiert wurden, kamen zwar mit gepanzerten Fahrzeugen an, führten aber, auf Anordnung ihrer Befehlshaber, keine Munition mit sich. Sie wollten ohne Anwendung von Gewalt Herr der Lage werden. In den Augen der Machthaber versagten sie aber jämmerlich. Die Soldaten versuchten nämlich erst gar nicht, die Befehle ihrer Kommandanten auszuführen. Vielmehr gingen sie auf die Seite der „Aufständischen“ über. Auch für sie war der Staatssicherheitsdienst eine verabscheuungswürdige Institution.

Daraufhin ließ Gero die Sowjettruppen nach Budapest beordern. Die ersten Panzer des Besonderen Armeekorps erreichten Budapest in den frühen Morgenstunden des 24. Oktober. Sie irrten vorerst in den dunklen Straßen der Stadt herum, denn ein genauer Einsatzplan und entsprechende Befehle fehlten. Sogar die Karten, die die Einheitskommandeure vom Budapester Straßennetz mit sich führten, stammten noch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und waren -angesichts der vielen neuen Straßen-und Platznamen in der Hauptstadt -für sie völlig nutzlos Als in den Vormittagsstunden des 24. Oktober die Sowjets endlich das Rundfunkgebäude erreicht hatten, war dieses schon von den Ordnungstruppen des Staatssicherheitsdienstes aufgegeben worden und ungarische Volksarmisten bewachten das leere Gebäude. Die Sendeanlage war in der Nacht zerstört worden. Die aufständischen Sieger konnten mit dem Rundfunkhaus nichts anfangen -sie gingen einfach auseinander.

Die sowjetischen Truppen in Budapest -vorerst nur acht Regimenter -erhielten erst um ca. elf Uhr Schießbefehl. Bis zu diesem Zeitpunkt begnügten sie sich damit, auf den Ringstraßen der Hauptstadt „Flottenparade“ abzuhalten, also ihre Stärke zu demonstrieren. Sie waren überzeugt, daß -wie kurz vorher im Juni 1953 in Ost-Berlin -die geballte Masse einiger sowjetischer Panzer-Regimenter genügen würde, die ungarische Bevölkerung zu erschrecken und einzuschüchtern. Alles weitere sollte dann die Aufgabe des ungarischen Staatssicherheitsdienstes sein -so wie der Staats-terror gegen die eigene Bevölkerung auch in der DDR praktiziert worden war.

Aber Generalleutnant Laschtschenko irrte sich. Die Budapester Zivilisten -meist junge Leute: Arbeiter, Angestellte und Studenten -waren bereits am 24. Oktober größtenteils bewaffnet. Sie holten ihre leichten Infanteriewaffen aus den Kasernen der Volksarmee und aus den Waffenfa-briken in den Vororten von Budapest. Als die Russen in Budapest auftauchten, wurden sie noch aufgebrachter; jetzt war auch ihr nationaler Stolz verletzt: Was sie mit „ihrer Regierung“ vorhatten, ging die Russen nach ihrer Meinung überhaupt nichts an. Sie wollten mit der Partei wie mit dem verhaßten Staatssicherheitsdienst abrechnen. Die jungen Ungarn griffen daher die ihre Macht demonstrierenden Sowjets an. Deren Kommandeur Laschtschenko befahl seinen Truppen, ohne vorher in Moskau zu fragen: „Wenn ihr unter Feuer genommen werdet -schießt zurück!“ Damit begann der Kampf. Die Revolution in Ungarn wurde gleichzeitig zum Freiheitskrieg zwischen Magyaren und Sowjetrussen.

Alsbald staunte man in Moskau nicht wenig darüber, daß Zivilisten militärisch so geschickt gegen fremde Truppen Vorgehen konnten. Man vermutete allen Ernstes, daß „westliche, imperialistische Diversanten“, ehemalige königliche Offiziere -also militärisch ausgebildete Führer -von Österreich her im Herbst 1956 nach Ungarn eingeschleust, die Kommandeure der „bewaffneten Banditen“ wären. Sowjetoberst Malaschenko, der seinen Befehlsstand im Gebäude des ungarischen Generalstabes im Regierungsviertel einrichtete, verlangte von seinen Aufklärern, solche „westliche Diversanten“ ausfindig zu machen und gefangen-zunehmen. Er selbst wollte sie verhören. Er wunderte sich dann sehr, als die ihm im Laufe des 24. Oktober vorgeführten ungarischen Gefangenen junge Männer waren: Arbeiter und Studenten. Man hatte anscheinend in Moskau und bei der Sowjetarmee vergessen, daß die Sowjets es selber waren, die großen Wert darauf gelegt hatten, der ungarischen Jugend zwischen 1949 und 1956 für einen „kommenden Krieg“ eine solide militärische Grundausbildung und insbesondere Partisanentaktik zu vermitteln. Kein einziger westlicher „Diversant“ oder Ex-Offizier der 1945 untergegangenen königlichen Armee konnte in Ungarn während der Dauer des Volksaufstandes von ungarischen oder sowjetischen Stellen ausfindig gemacht werden. Es gab nämlich keine.

Mit dem Erscheinen der sowjetischen Militäreinheiten in Budapest änderte sich der Charakter der ungarischen Ereignisse. Sie wurden zu einem Volksaufstand und gleichzeitig zu einem Freiheitskampf gegen die fremden Invasoren. Überall in der Millionenstadt, vor allem in den von Arbeitern bewohnten Vorstädten, wurden kleinere oder größere bewaffnete Gruppen freiwillig gebildet. Sie wurden geführt von demokratisch gewählten Per-sonen, die sich in der Gruppe Autorität hatten verschaffen können. Nicht nur Arbeiter, Studenten und Angestellte waren in diesen bewaffneten Kampfformationen, sondern auch Volksarmee-Offiziere und einfache Soldaten der ungarischen Armee. Diese Tatsache unterscheidet den Ungarn-Aufstand ganz wesentlich vom 17. Juni 1953 in der DDR, wo die dortige Volksarmee sich bedingungslos den fremden Besatzern wie dem Partei-Terror fügte.

Bereits im Laufe des 24. Oktober konnten seitens der Aufständischen Erfolge erzielt werden. Sie stellten Fallen für sowjetische Panzereinheiten auf; sie bewirkten mit selbstgebastelten Brandflaschen („Molotow-Cocktails“) schwere Ausfälle an Menschen und Material und erbeuteten massenweise sowjetisches Kriegsgerät. Es kamen nicht nur Handfeuerwaffen, sondern auch Panzerabwehr-Geschütze, später sogar intakte Panzer und zwei Raketenwerfer in ihre Hände. Offiziere und Soldaten der Sowjettruppen waren überrascht von einer solchen Abwehrkraft und Abwehrmoral. In der ganzen Stadt begannen die Kämpfe. Laut Oberst Malaschenko hatte die Sowjetarmee auch am 25. Oktober lediglich acht Regimenter in Budapest. Die Ungarische Volksarmee hielt sich auffallend von jeglichen Kampfhandlungen fern, und auch die Polizei verschwand aus dem Straßenbild. Die Truppen des Staatssicherheitsdienstes zogen sich nach ihrer Schlappe beim Rundfunkgebäude in ihre Kasernen zurück. Nicht wenige von ihnen verließen eigenmächtig ihre Einheit und desertierten

Die ungarischen Machthaber verließen sich jetzt vollends auf die sowjetische Unterstützung. Am 25. Oktober trafen in Budapest, aus Moskau eingeflogen, die Politbüromitglieder Suslow und Mikojan ein. Mit ihnen kam auch der stellvertretende Chef des sowjetischen Generalstabes, Generaloberst Mihail Sergejewitsch Malinyin und Generalleutnant des KGB, Iwan Serow. In den Moskauer politischen und militärischen Kreisen wollte man einfach nicht glauben, daß die mittlerweile zehn sowjetischen Regimenter unfähig seien, in Budapest die „Ordnung“ wiederherzustellen. Inzwischen flammten die Kämpfe auch außerhalb von Budapest auf. In verschiedenen Gegenden des Landes kam es zu Zusammenstößen zwischen Sowjets und Ungarn, zwischen Zivilisten und der Staatssicherheit. Insbesondere wurde in „sozialistischen“ Industriezentren erfolgreich gekämpft. Seit dem 24. Oktober 1956 zerfiel Tag für Tag das ungarische kommunistische Regime. Die KP mit ihren 900 000 Mitgliedern löste sich einfach auf. Der Staatssicherheitsdienst -nachdem er noch einige Blutbäder in diversen Provinzstädten inszeniert hatte -fiel vollends auseinander. Imre Nagy verhandelte permanent mit den sowjetischen Emissären, die ihrerseits durch ihre Budapester Botschaft ständig mit dem sowjetischen Politbüro in Verbindung waren. In Moskau tagte es seit dem 24. Oktober ununterbrochen; es kam dort zu heftigen Debatten, um das weitere Vorgehen in Ungarn zu bestimmen Die Protokolle dieser Sitzungen sind erst 1995 im Kremlarchiv gefunden und 1996 in Budapest durch einen russischen Historiker veröffentlicht worden

Die Scharfmacher im sowjetischen Politbüro wollten in Ungarn mit militärischer Gewalt siegen. Marschall Schukow ließ vorsorglich ab dem 27. Oktober etwa zehn Divisionen (zwei Feldarmeen) um Ungarn herum aufmarschieren, darunter auch Elite-Einheiten der Luftstreitkräfte der Sowjetarmee. Andere Politbüromitglieder wiederum hätten -im Schatten des sich anbahnenden Nahostkrieges gegen Ägypten -es lieber gesehen, wenn man die Lage in Ungarn lediglich mit „politischen Mitteln“ beherrschen würde. Am 28. Oktober sah es noch so aus, als ob die „Tauben“ im Politbüro den Sieg errungen hätten. Nagy bekam durch das noch immer in Budapest weilende Politbüromitglied Anastas Mikojan freie Hand, die Lage in Ungarn auf möglichst „friedlichem Wege“ zu meistern. Daraufhin wechselte Nagy sofort sein Hauptquartier, verließ die Parteizentrale und zog ins nahegelegene Parlamentsgebäude, um von dort aus sein Regierungsamt ausüben zu können. Er fühlte sich somit in erster Linie als ungarischer Staatsmann. Nagy sprach am 28. Oktober im Budapester Rundfunk zur Bevölkerung. Er verkündete triumphierend, die Revolution habe gesiegt. Er sei bereit, die meisten wichtigen Forderungen der Aufständischen zu erfüllen. Der Staatssicherheitsdienst werde mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Die Sowjets hätten versprochen, ihre Truppen innerhalb von zwei Tagen aus Budapest abzuziehen. Verhandlungen würden in den nächsten Tagen geführt, um den Abzug der Sowjet-Armee aus Budapest und später aus ganz Ungarn zu erreichen. Ein Waffenstillstand wurde verkündet. Die Schaffung einer neuen Ordnungspolizei wurde proklamiert. Ihre Mitglieder würden aus Vertretern der Polizei, der Armee und aus den aufständischen bewaffneten Gruppen bestehen.

Im ganzen Land wurden diese Mitteilungen mit Jubel begrüßt. Das Oberkommando des sowjetischen Besonderen Armeekorps begann in der Tat am 29. Oktober, die Truppen aus einzelnen Budapester Bezirken abzuziehen, und am Abend des 30. Oktober räumten die fremden Truppen Budapest gänzlich. An diesem Tage schaffte Imre Nagy das bisherige Einparteisystem ab und verkündete die baldige Bildung einer breiten Koalitionsregierung unter Einbeziehung von bürgerlichen und sozialdemokratischen Politikern. Am gleichen Tag wurde der von den Kommunisten 1949 zu lebenslänglicher Haft verurteilte und in den letzten Jahren in einem Landhaus in der Nähe von Budapest festgehaltene Kardinal Joseph Mindszenty von einer ungarischen Panzereinheit befreit und nach Budapest gebracht.

Politisches Intermezzo mit tragischen Konsequenzen

In den Nachmittagsstunden des 29. Oktober begann im Nahen Osten der Krieg zwischen Israel und Ägypten -letzteres damals ein Verbündeter der Sowjetunion. Israelische Truppen stießen bis zum Suez-Kanal vor. Briten und Franzosen schickten sich an, auf Seiten Israels den ägyptischen Staatspräsidenten Nasser zu einem Waffenstillstand zu zwingen und zugleich die Neutralisierung des Suez-Kanals zu erreichen. Ihr Ziel war die Wiederentstehung der „Suez-Kanal-Gesellschaft“, die Nasser im Juli 1956 enteignet hatte. Es war nun klar, daß diese Staaten die politische Krise der Sowjets in Ungarn zu nutzen gedachten, um ihrer Aktion gegen Ägypten zum Siege zu verhelfen. Die sowjetische Haltung gegenüber Ungarn und Imre Nagys Reformpolitik wurde daraufhin in Moskau Ende Oktober erneut überprüft. Das Politbüro tagte permanent. Am 31. Oktober wurde die Entscheidung getroffen. Chruschtschow hatte vor den Anwesenden betont: „Wenn wir jetzt, da der Westen im Nahen Osten seine eigene . Politik macht, Ungarn räumen würden, stellten wir uns nur bloß. Unsere Partei würde nie verstehen, daß wir unsere Position nicht nur in Ägypten, sondern auch in Ungarn den westlichen Imperialisten aus­ liefern.“ Marschall Schukow hatte sofort zugestimmt. Man überlegte, wie man in den nächsten Tagen in Ungarn Vorgehen sollte: Man müßte Zeit gewinnen und geeignete Leute für eine neue pro-sowjetische Regierung finden, die mit sowjetischer Unterstützung bereit und in der Lage wären, rasch die „volksdemokratische Ordnung“ wiederherzustellen. Insbesondere die sowjetischen Militärs befürchteten, daß, sollte Ungarn aus dem Sowjetimperium ausscheiden, dies bei den anderen Volksdemokratien einen „Domino-Effekt“ hervorrufen würde Chruschtschow hatte sich noch in dieser Sitzung dahingehend geäußert, daß man Imre Nagys Popularität bei der Bevölkerung nützen sollte. In der neu zu bildenden prosowjetischen Regierung könnte man ihn vielleicht -wenn er „mitmacht“ -als Vize-Ministerpräsidenten verwenden.

Die Organisation einer „Arbeiter-und Bauern-Regierung“ nach sowjetischem Muster wurde sofort in Angriff genommen. Nach langem Hin und Her hatte man als Chef dieser Marionetten-regierung“ Jänos Kädär gewinnen können. Er war seit dem 25. Oktober 1956 Generalsekretär der ungarischen KP und Minister in der Nagy-Regierung.

Marschall Iwan Konjew, Oberbefehlshaber des Warschauer Paktes, erhielt den Befehl, den Truppenaufmarsch gegen Ungarn zu intensivieren. Er begab sich am 1. November nach Ungarn. Losschlagen wollte man am 4. November. Konjew ließ aus dem Karpatischen Militärbereich eine Schützen-und eine Panzer-Armee apfmarschieren. Der Operationsplan „Wirbelsturm“ (Ungarns militärische Niederwerfung) wurde in größter Eile ausgearbeitet. Demnach sollten am 4. November 1956 nicht weniger als 16 Divisionen gegen das „sozialistische Bruderland“ Ungarn losschlagen.

Am 1. November 1956 begab sich Chruschtschow mit Malenkow und Molotow insgeheim auf eine Reise. In Brest besprach er die „Lösung der ungarischen Frage“ mit Gomulka, Ulbricht und dem tschechischen Parteichef Nowotny. Molotow reiste anschließend nach Bukarest und unterrichtete die rumänischen und bulgarischen Genossen über die bevorstehende Intervention in Ungarn. Chruschtschow und Malenkow konferierten auf der Adria-Insel Brioni in einer Nachtsitzung vom 2. auf den 3. November auch mit Marschall Josip Broz Tito, um seine „Genehmigung“ zu Ungarns militä-rischer Niederwerfung einzuholen -die sie von Tito auch erhielten Hier erreichte Chruschtschow überdies die Nachricht, daß es seinen Budapester KGB-Agenten gelungen sei, Jänos Kädär dazu zu bewegen, alle Verbindungen zu Imre Nagy abzubrechen; Kädär sei schon unterwegs nach Moskau. Dort hatte man eigentlich leichtes Spiel in Ungarn: Die Westmächte reagierten nur mit leeren Worten auf die Ereignisse in Budapest. Für sie war und blieb Ungarn „sowjetisches Interessengebiet“.

Zum ungarischen Freiheitskampf sind heute auch die Akten der USA einsehbar. Aus ihnen geht hervor, daß Washingtons diesbezügliches Interesse beschämend minimal war Am 25. Oktober ließ Präsident Eisenhower in einem Pressekommunique zwar die „Freiheitsliebe“ der Ungarn öffentlich rühmen; am 27. Oktober sagte Außenminister Dulles Ungarn wirtschaftliche Unterstützung zu, schloß aber gleichzeitig jegliche militärische Hilfe aus. Er deklarierte eindeutig: Die amerikanische Militärdoktrin, kommunistischen Aggressionen mit einer Nuklear-Drohung entgegenzutreten, könne „selbstverständlich“ nicht in jeder Situation angewendet werden

Der sowjetische Aufmarsch

Dem Aufmarsch der sowjetischen Truppen, der bereits in vollem Gange war, wollte die Regierung Nagy vorerst mit diplomatischen Mitteln entgegenwirken. Nagy selbst verkündete Ungarns Austritt aus dem Warschauer Pakt, um somit Moskau das Recht zu nehmen, Truppenkonzentrationen auf dem Gebiet eines „Bruderlandes“ vorzunehmen. Er proklamierte am 1. November auch Ungarns Neutralität parallel zum österreichischen Staatsvertrag von 1955 und verlangte, die „Ungarnfrage“ auf die Tagesordnung der UNO zu setzen. Er besprach sich mehrmals mit Botschafter Andropow und wartete auf ein Zeichen aus Moskau. Andropow wich jedoch stets aus; seine Aufgabe war, Nagy zu beruhigen, um für die Realisierung des Operationsplans „Wirbelsturm“ Zeit zu gewinnen. Endlich überraschte er Imre Nagy mit der „freudigen“ Nachricht: Eine hochkarätige sowjetische Militärdelegation sei in Budapest eingetroffen, die den Auftrag habe, mit Regierungsvertretern über die Modalitäten des sowjetischen Truppenabzugs aus Ungarn zu verhandeln.

Die Verhandlungen begannen in der Tat vielversprechend. Da alle Fragen am 3. November zwischen den beiden Delegation nicht geklärt werden konnten, schlug Armeegeneral Malinin, der Chef der sowjetischen Delegation, vor, man solle die Verhandlungen abends im sowjetischen Hauptquartier unweit von Budapest in Tököl fortsetzen. Die Ungarn zögerten, doch dann gaben sie nach. Kaum waren die Ungarn im Verhandlungsraum von den Sowjets empfangen worden, wurden sie durch KGB-General Iwan Serow verhaftet. Damit verloren die ungarischen bewaffneten Kräfte auf einen Schlag ihr gesamtes Führungsgremium.

Am frühen Morgen des 4. November 1956 gab Marschall Konjew den Befehl zur Auslösung der Operation „Wirbelsturm“ Mit wenigen Ausnahmen wurden alle ungarischen Kasernen ohne Waffengewalt eingenommen, die Volksarmisten entwaffnet und in ihren Quartieren eingesperrt. Die Flughäfen waren schon 48 Stunden vorher von sowjetischen Panzern umstellt worden. Jeglicher Flugverkehr mit dem Ausland -es handelte sich hier um Hilfsleistungen aus dem Westen -mußte eingestellt werden. Der Angriff auf Budapest wurde um 4. 30 Uhr ausgelöst. Konjew rechnete auch hier mit nur geringem Widerstand, den er mit dreieinhalb Divisionen unter Generalleutnant Laschtschenko innerhalb von wenigen Tagen bezwingen wollte. Er irrte sich. Der ungarische Generalstab konnte zwar im sowjetischen Hauptquartier festgesetzt und somit jeglicher organisierter militärischer Widerstand ausgeschaltet werden, aber die Kämpfe in der Hauptstadt dauerten länger als eine Woche. Die Aufständischen -hauptsächlich Zivilisten und einzelne Armeeangehörige -fügten dabei den Sowjets empfindliche Verluste zu

Imre Nagy räumte am 4. November seinen Amtssitz im Parlamentsgebäude und versuchte, mit Botschafter Andropow in Kontakt zu treten. Als dies mißlang, nahmen er und seine Mitarbeiter das von Botschafter Soldatic angebotene Asyl in der jugoslawischen Botschaft in Budapest an. Er wußte nicht, daß auch dies eine Falle, ein zwischen Tito und Chruschtschow vorher ausgehandeltes „Spiel“ war: Man wollte vorerst Nagy von den Ereignissen im Lande fernhalten, ihn auf neutralen Boden locken und politisch ausschalten.

Am 11. November hörte der militärische Widerstand in Budapest auf, am 13. November auch auf dem Lande. Die sowjetische militärische Übermacht hatte gesiegt. Die westliche Öffentlichkeit, die Politiker wie die intellektuelle Elite, tat, was sie bis in die jüngste Gegenwart immer tat: Sie protestierte heftig und ging den Konsequenzen aus dem Wege. Die internationale Diplomatie bemühte sich -nachdem Präsident Eisenhower am 4. November wiedergewählt worden war und die USA ihre außenpolitische Tätigkeit erneut voll aufgenommen hatten -, den Nahost-Krieg so rasch wie möglich zu beenden, was ihr auch, zugunsten von Präsident Nasser, bis Ende Dezember 1956 gelang.

Was Ungarn betraf, so lagen hier die Dinge anders. In den Vereinten Nationen wurde die Ungarn-Frage im Interesse der Koexistenzpolitik der Großmächte geschickt verzögert, diplomatisch verschleppt und Ende des Jahres 1957 auf ein „Nebengeleis“ geschoben, um sie schließlich zu vergessen. Der Westen hatte ganz offensichtlich kein Interesse daran, nationale Freiheitsbewegungen an den Rändern des sowjetischen Imperiums zu unterstützen.

Das Kädär-Regime

Die Regierung Kädär war anfänglich nur als Provisorium gedacht. Chruschtschow hatte eine ungünstige Meinung über ihn: „Bei uns könnte ein solcher Mann nicht einmal Rayon-Partei-Sekretär sein!“, meinte er Ende November 1956, als er insgeheim nach Budapest gekommen war Die Kädär-Regierung bestand entweder aus Altstalinisten der Räkosi-Ära oder aus unbedeutenden Funktionären, die im Land überhaupt kein Anse-hen hatten. Imre Nagy weigerte sich, an dieser Marionettenregierung teilzunehmen und damit den Volksaufstand vor aller Welt zu desavouieren. Aus denselben Gründen weigerte er sich, offiziell zu demissionieren.

Obwohl nach der militärischen Niederwerfung des Volksaufstandes der passive Widerstand breiter Schichten der Bevölkerung noch monatelang anhielt, Streiks organisiert wurden und es immer wieder zu Massendemonstrationen gegen die Regierung Kädär kam, so erschien ein anhaltender Widerstand aufgrund der Weltlage wie der rasch zunehmenden innenpolitischen Repressionen als letztlich hoffnungslos. Am 1. Mai 1957 konnte sich Kädär bereits vor einer großen Menge „Werktätiger“ zeigen: Er verdammte den Volksaufstand als „Gegenrevolution“ und verkündete die Festigung der „volksdemokratischen Ordnung“ in Ungarn. Imre Nagy saß zu dieser Zeit der wiederbeginnenden sozialistischen „Ordnung“ mit seinen Anhängern in einem Budapester Gefängnis. Kädärs feierliches öffentliches Versprechen, man würde niemanden wegen seiner Teilnahme an den „Oktober-Ereignissen 1956“ zur Rechenschaft ziehen war längst „vergessen“. Justizwesen und Innenministerium waren inzwischen von reformfreudigen Elementen administrativ und polizeilich gesäubert worden. Kädär konnte bereits einen Rachefeldzug gegen seine eigenen Landsleute beginnen -und zwar ohne daß Moskau dies besonders gewünscht hätte.

Es sollen dazu hier nur die ersten offiziellen, im Jahre 1990 publizierten Angaben zitiert werden, die nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Ungarn bekannt wurden und keineswegs als endgültige Rechenschaft gelten: Zwischen 1956 und 1961 wurden etwa 300 Personen hingerichtet darunter auch Imre Nagy und General Päl Maleter. 26 Offiziere und Soldaten endeten ihr Leben am Galgen, auch 14 Frauen wurden in der kommunistischen Terror-Justiz gehenkt Zu langjährigen Haftstrafen wurden etwa 20 000 Menschen verurteilt; 15 000 kamen für kürzere oder längere Zeit in Internierungslager. Von der „antifaschistischen“ Linken in Westeu­ ropa wurden die Verbrechen des „roten Faschismus“ weitgehend ignoriert. Noch vor der Sperrung der Staatsgrenzen nach Westen und Süden, also nach Österreich und Jugoslawien im März 1957, verließen nicht weniger als 211 000 Ungarn ihre Heimat, um den politischen Verfolgungen im kommunistischen Ungarn zu entgehen *Die Verfolgungen wurden auch auf Familienmitglieder der Opfer ausgedehnt. Nach Nazi-Manieren wurde „Sippen-Haft“ eingeführt. 1963 gewährte das Kädär-Regime eine Amnestie für die aus politischen Gründen Verhafteten und Internierten -aber nur deswegen, weil die Regierung von der westlichen Staatengemeinschaft (vor allem von den USA) politisch akzeptiert werden wollte. Man brauchte dringend westliche Kredite, um die marode ungarische Volkswirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Kädär -bis zu diesem Zeitpunkt ein politisch verhaßter Mann in Ungarn -wandelte sich in den nächsten Jahrzehnten zu einer Art Landesvater. Mit westlichen Krediten -die eigentlich der ungarischen Wirtschaft hätten zugute kommen sollen -ließ Kädär den Lebensstandard der „Werktätigen“ stabilisieren, dann erhöhen. Der ungarische „Gulaschkommunismus“ wurde Ende der sechziger Jahren geboren. Und Jänos Kädär verkündete lautstark seine politische Parole: „Wer nicht gegen uns ist -ist für uns!“ In der Gesellschaft und bei den Massenmedien ließ er einen frischeren Wind wehen, westliche Auslandsreisen wurden genehmigt, und er machte die siebziger Jahre zu einer relativ repressionsfreien Zeit in Ungarn.

Trotz eines gewissen eigenständigen politischen Kurses wurden die Bindungen zu den Sowjets nicht lockerer, sondern eher enger. Ein Truppen-abkommen vom Mai 1957 regelte die „provisorische Stationierung“ sowjetischer Truppen in Ungarn. Dieses „Provisorium“ dauerte bis zum Juni 1991. Sowjetische Wirtschaftsfachleute mischten sich in die ungarische ökonomische Entwicklung ein. Die wirtschaftlichen Reformpläne der Ungarn Ende der sechziger Jahren wurden vorerst gestoppt -nur langsam, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, duldete man deren Fortsetzung. Ungarn mußte die sowjetischen politischen Expansionsabsichten in Afrika und in Nordvietnam finanziell massiv unterstützen, obwohl es bereits Mitte der siebziger Jahren begann, alle ökonomi-sehen Reserven zu verschwenden und mit stets größerem Tempo in eine allgemeine Wirtschaftsund Finanzkrise zu geraten.

Politisch schlug Kädär einen klugen Weg ein: Er schloß in den siebziger Jahren mit breiten Schichten der Bevölkerung einen „Burgfrieden“. Diese ließ die Kommunisten nach ihrer Fagon politisieren, dafür durfte sie sich an der allgemeinen Korruption in der Volkswirtschaft ihren Anteil sichern. Es entstanden Privathöfe, auf denen die Bauern für Gewinn arbeiteten, während die Felder der Genossenschaft nur nebenbei bearbeitet wurden. Mit einiger Geschicklichkeit und „sozialistischen Nepotismus“ wurden Tausende von Wochenend-Häusern aus staatlichen Mitteln gebaut, Pkws eingekauft -dies alles zu Lasten der sozialistischen Volkswirtschaft, die zur „nationalen Kuh“ der cleveren Bevölkerung wurde. Die stillschweigende Zulassung all dessen durch das Regime lieferte die Grundlage für die Bewertung Jänos Kädärs im Volksmund als „Unser guter König Jänos“. Ungarns Auslandsschulden jedoch kletterten in den Jahren von 1974 bis 1978 von einer Milliarde US-Dollar auf acht Milliarden, um schließlich im Jahre 1990 20 Milliarden US-Dollar zu erreichen

Die große politische Wende in Ost-und Mitteleuropa 1989 traf die KP-Spitzen dieser Länder wie ein Paukenschlag. Unfähigkeit, Chaos und Panik-Stimmung beherrschte die Szene. Jänos Kädär mußte miterleben, daß der Volksaufstand 1956 neu bewertet wurde Er galt seit März 1989 nicht mehr als „reaktionäre Gegenrevolution“, sondern als eine von einer breiten Bevölkerungsschicht getragene Volkserhebung, ja als eine Revolution! Die KP begann wieder, sich aufzulösen; massenhaft verließen die Mitglieder die „Ungarische Sozialistische Arbeiter-Partei“. Kädär wurde abgelöst Lediglich das Ehrenamt eines Parteipräsidenten besaß er noch. Sein geistiger Zustand wurde von Tag zu Tag schlechter.

Imre Nagy und alle, die zwischen 1957 und 1961 von Kädärs Schergen hingerichtet worden waren, wurden im Mai 1989 exhuminiert und nach einem würdevollen öffentlichen Staatsakt am 16. Juni 1989 feierlich bestattet. Kädärs Parteifreunde wollten diese Szene dem KP-Veteranen ersparen; er sollte Ungarn für diese Zeit verlassen. Kädär lehnte ab. Zur selben Stunde, da Ungarns Oberstes Gericht den gesamten Nagy-Prozeß von 1958 als Farce für null und nichtig erklärt bzw. Nagy und seine Gefährten -einschließlich der Hingerichteten -öffentlich rehabilitiert hatte, -am 7. Juli 1989 -verstarb Kädär, 77 Jahre alt, geistig völlig verwirrt in einem Budapester Hospital.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ignäc Romsics, Magyarorszäg es a nagyhatalmak a 20. szäzadban (Ungarn und die Großmächte im 20. Jahrhundert), Budapest 1995, S. 167.

  2. Vgl. Jänos Berecz, Ellenforradalom tollal es fegyverrel 1956 (Gegenrevolution mit Feder und Waffen 1956). Buda pest 1981, S. 31.

  3. Vgl. Charles Gati, Hungary and the Soviel block. Durham 1986.

  4. Vgl. Jänos Takäcs, A Magyar Honvedseg 1945 es 1956 között, az 1956 evi forradalom es szabadsägharc (Die Ungarische Armee zwischen 1945 und 1956. Die Revolution und Freiheitskampf 1956), Budapest 1994, S. 81.

  5. Bis jetzt wurde in Ungarn nur eine Monographie über den Staatssicherheitsdienst publiziert: Mihäly Berki, Az Ällamvedelmi Hatosäg, Budapest 1993.

  6. Vgl. J. Berecz (Anm. 2), S. 29.

  7. Vgl. die Zahlenangaben von Ivan Berend in: Törtenelem es Közgondolkodäs. Tudomänyos tanäcskozäs, Eger, 1982 junius 16. -18. (Geschichte und öffentliche Meinung. Wissenschaftliche Tagung, Eger, 16. -18. Juni 1982), S. 179.

  8. Sändor Nögrädi, Törtenelmi lecke (Historische Lektion), Budapest 1961, S. 400.

  9. Imre Nagy, On Communism. In Defense of the New Course, New York 1957, S. 288.

  10. Zu Einzelheiten siehe Der Ferenc (Red.), Nagy Imre. Egy magyar miniszterelnök (Imre Nagy. Ein ungarischer Ministerpräsident), Pecs 1993.

  11. Vgl. Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren, hrsg. von Strobe Talbott, Reinbek 1992, insbes. die Geheimrede, S. 489-546.

  12. Siehe die neueste Biographie über Räkosi: Pünkösti Ärpäd, Räkosi a csücson (Räkosi, an die Spitze der Macht), Budapest 1996.

  13. Vgl. Peter Gosztony, Föltämadott a tenger . . . 1956 (1956: Das Meer hat sich erhoben), München 1981, S. 58.

  14. Vgl. Vladimir Farkas, Nincs mentseg (Es gibt keine Entschuldigung), Budapest 1990, S. 438.

  15. Sändor Petöfi (1825-1849), ungarischer Dichter, Freiheitskämpfer gegen Habsburg, gefallen gegen russische Trupen im Juli 1849 am Ende des Freiheitskampfes in Siebenbürgen.

  16. Vgl. J. Takäcs (Anm. 4), S. 122 (Ungarns Volksarmee zählte im Oktober 1956 nur 120 000 Mann).

  17. Mitteilung von Sändor Kopäcsi an den Verf., Toronto, Oktober 1979.

  18. Insgesamt befanden sich etwa 50 000 Rotarmisten in Ungarn.

  19. Oberst i. G. Malaschenko (heute pensionierter Generalleutnant der Ex-Sowjetarmee in Moskau) gegenüber dem Verf. in einem Gespräch vom März 1992.

  20. In diesem Operationsplan war bestimmt worden, wie das „Besondere Armeekoprs“ im Falle von eventuellen Unruhen in Budapest vorzugehen hätte. Kern der Planung war: Die ungarischen Ordnungstruppen sollten mit den Rebellen „aufräumen“, während einzelne sowjetische Truppenteile die ungarischen bewaffneten Kräfte nur durch ihre Machtdemonstration unterstützen sollten. Generalleutnant a. D. Malaschenkos Mitteilung gegenüber dem Verf. in Moskau, März 1993.

  21. Über die Ereignisse dieses Tages berichtet detailliert Läszlö Varga, Az elhagyott tömeg (Die verlassene Menge), Budapest 1994.

  22. Vgl. dazu ausführlich: György Litvän/Jänos M. Bak (Hrsg.). Die Ungarische Revolution 1956. Reform, Aufstand, Vergeltung, Wien 1994. Es ist zur Zeit das beste und ausführlichste Buch über Ungarns Volksaufstand in deutscher Sprache.

  23. Über den Einsatz der sowjetischen Truppen in Ungarn 1956 siehe Peter Gosztony, Szovjet csapatok Magyarorszägon 1956 (Sowjetische Truppen in Ungarn 1956), in: Tärsadalmi Szemle, (1993) 1, 5. 65-80.

  24. Mitteilung Malaschenkos an den Verf., März 1993.

  25. So die Mitteilung eines ehemaligen AVH-Leutnants (1990 AVH-Generalmajor, heute Pensionär) an den Verf., 1993.

  26. Vgl. Hegedüs B. Andräs (Hrsg.), Döntes a Kremiben 1956. A szovjet pärtelnökseg vitäi Magyarorszägröl (Beschlüsse des Kremls 1956. Die Debatten des sowjetischen Politbüros über Ungarn), Budapest 1996.

  27. Diese aufregende Dokumentensammlung hatte ein junger russischer Historiker, Wjatscheslaw Sereda, unlängst -im Winter 1995/96 -in Moskau zufällig entdeckt.

  28. H. B. Andräs (Anm. 26), S. 62.

  29. Vgl. Anatoli Gribkow, Der Warschauer Pakt. Geschichte und Hintergründe des östlichen Militärbündnisses, Berlin 1995, S. 30.

  30. Vgl. Veljko Micunovic, Tito követe voltam Moszkväban 1956-1958 (Ich war der Botschafter von Tito in Moskau 1956-1958), Budapest 1990, S. 11.

  31. Vgl. John P. Glennon (Hrsg.), Foreign Relations of the United States, 1955-1957. Volume XXV. Rastern Europe, Washington 1990.

  32. Vgl. Läszlö Borhi, Az Egyesült Allamok 6s a szovjet zöna, 1945-1990 (Die USA und die sowjetische „Zone“, 1945-1990), Budapest 1994, S. 56.

  33. Vgl. E. I. Malaschenko, Osobyj Korpus v ogne Budapesta (Das Besondere Armeekorps im Kampf um Budapest), in: Woennoj istoriceskij zumal, (Moskau), (1994) 1, S. 30-36.

  34. Nach ungarischen -inoffiziellen -Angaben: Über 300 Tote und 1 000 Verwundete; etwa 300 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge wurden meistens mit Brandbomben („MolotowCocktails“) vernichtet. Nach sowjetischen offiziellen Angaben aus dem Jahr 1993 betrugen die sowjetischen Militär-verluste zwischen dem 23. Oktober und dem 15. November 1956: 669 Gefallene, 1 540 Verwundete, 51 Vermißte (Offiziere und Soldaten). (Vjacseszlav Szereda/Alekszandr Sztikalin (Red.): Hiänyzö lapok 1956 törteneteböl. Dokumentumok a voll SZKP KB leveltäräböl [Fehlende Blätter aus der Geschichte von 1956. Dokumente aus dem Ex-Archiv der KPdSU], Budapest 1993, S. 142.)

  35. Chruschtschow erinnert sich (Anm. 11), S. 328.

  36. Vgl. Regierungsprogramm der „Ungarischen Revolutionären Arbeiter-und Bauernregierung“ (Kädär-Gruppe) vom 4. November 1956 in Szolnok; insbesondere Abschnitt Nr. 3, in: 1956 plakätjai es röplapjai (Die Plakate und Flugblätter von 1956), Budapest 1991, S. 345.

  37. Nach dem letzten Stand der Forschung (Juli 1996) wurden 402 Personen hingerichtet, drei starben im Kerker.

  38. Vgl. Tibor Geliert/Attila Burilläk, Szolgälatteljesites közben eletüket äldoztäk, 1945-1980 (Sie opferten ihr Leben während ihrer militärischen Dienstzeit, 1945-1980), Budapest 1989, S. 68-69.

  39. Vgl. G. Litvän/J. M. Bak (Anm. 22), S. 158; ferner Peter Gosztony, A magyar Golgota. A politikai megtorläsok väzlatos törtenete Magyarorszägon 1849 -töl 1963 -ig (Das ungarische Golgata. Skizzenhafte Aufarbeitung der politischen Verfolgungen in Ungarn von 1849 bis 1963), Budapest 1993, insbesondere das Kapitel: „ 1956“.

  40. Vgl. Andreas Oplatka, Der Eiserne Vorhang reißt. Ungarn als Wegbereiter, Zürich 1990.

  41. Zu Einzelheiten vgl. Imre Pozsgay, 1989. Politikus-pälya a pärtällamban es a rendszervältäsban (1989. Politiker-Laufbahn im Parteistaat und in der Zeit des Regimewechsels), Budapest 1993.

  42. Vgl. Andräs Kanyö (Red.), Kädär Jänos-Vegakarat (Jänos Kädär-Testament), Budapest 1989.

Weitere Inhalte

Peter Gosztony, Dr. phil., Dr. nat. oec, geb. 1931 in Budapest; 1956 als Reserve-Offizier der Ungarischen Armee Teilnahme am Volksaufstand; 1957 Flucht nach Österreich und in die Schweiz; seit 1963 Leiter der Schweizerischen Osteuropa-Bibliothek. Veröffentlichungen u. a.: Endkampf an der Donau 1944/45, Wien 1968; Deutschlands Fremde Heere, Düsseldorf 1975; Die Geschichte der Roten Armee, Wien 1979; Stalins Fremde Heere, Bonn 1991.