I. Allzu Herkömmliches und allzu Gewagtes
Martin Luther sagte: „Es ist gut, daß Gott den Ehestand eingesetzt hat, sonst sorgten die Eltern für die Kinder nicht, die Haushaltung läge darnieder und zerfiele; darnach würde auch der Polizei und des weltlichen Regiments, desgleichen der Religion nicht geachtet; also ginge es alles dahin und würde ein wüst, wild Wesen in der Welt“ -und damit hatte er sicherlich recht. Die Familie ist der Kern aller Einrichtungen, die „das wüst, wild Wesen in der Welt“ zurückdrängen; wie in einer Zwiebel legen sich um diesen Kern verschiedene Schalen, die demselben Zweck dienen: Gruppierungen von Menschen -„Gemeinschaften“ -, die das Auseinanderfallen des Ganzen verhindern: Nachbarschaften, Freundschaften, Betriebe, Schulen, Vereine, Kirchengemeinden und so weiter. Als die äußerste Schale kann man den Staat ansehen, der viel, zu viel zu tun hätte, wenn nicht die enger um das Individuum herumliegenden Schichten bereits Strukturen bildeten, die die Gesellschaft zusammenhalten. -Das ist der Grundgedanke des Kommunitarismus.
Die traditionelle Weise, ihn zu formulieren, ist das Subsidiaritätsprinzip, das 1931 in einer päpstlichen Enzyklika vorgetragen wurde und sich auf die Soziallehre Thomas von Aquins beruft. Das Bild der Zwiebel, mit der der gesellschaftliche Aufbau verglichen wird, stammt aus dieser Tradition. „Subsidiarität“ ist eine Aufforderung an den Staat, er möge sich für die sozialen Probleme nicht in vorderster Linie verantwortlich fühlen, sondern lediglich „daruntersitzen“ (= subsidere), d. h. notfalls und hilfsweise eintreten, damit die gesellschaftlichen Eigenkräfte nicht erschlaffen.
Der Kommunitarismus beschränkt sich aber nicht auf diesen harmlosen Gedanken Er gewinnt erst dann ein Profil, wenn man ihn vor einen Hinter-grund stellt, von dem er sich abhebt: wenn man erkennbar macht, wovon sich diejenigen abwenden, die jetzt hinter seiner Fahne herlaufen. Eine solche Konturierung, die den Kommunitarismus erst interessant macht, wird in seiner deutschen Rezeption vermieden, so daß er bei uns keine ernsthafte Kontroverse ausgelöst hat, sondern nur eine ziemlich langweilige Reihung von wohlmeinenden Texten, die ein solide von unten her aufgebautes Gemeinwesen fordern -Texten, denen jeder nur zustimmen kann.
Nicht nur vermeidet man in der deutschen Kommunitarismusrezeption, die Gegenposition zu konturieren, sondern gibt sich auch bewußt unhistorisch -so, als habe es noch nie eine Debatte über das Thema gegeben Beides hängt miteinander zusammen. Wollte man seinen kommunitaristischen Standpunkt historisch-politisch einordnen und seinen Gegner bezeichnen, so käme man -zumal in Deutschland -in Bedrouille. Dieser Gegner nämlich ist die moderne Demokratie mit ihren Prinzipien Rechtsstaat und Repräsentation, und man müßte seine Nähe zur katholischen Sozial-lehre des Mittelalters, zur politischen Romantik der Restaurationszeit, zur Zivilisationskritik zu Beginn dieses Jahrhunderts und zum Konservatismus der Fünfziger Jahre bekennen.
Tatsächlich fühlen sich die Kommunitaristen diesen Strömungen nicht zugehörig, und man täte ihnen auch Unrecht, wenn man sie dort einordnete. Sie stammen ja zum größten Teil aus der halblinken, von Basisdiskursen begeisterten Ecke, in der man sich himmelweit entfernt fühlt von rechtskonservativen Ideen. Aber sie stellen sich nicht der Anforderüng, sich von diesen Ideen durch klare theoretische Trennlinien abzugrenzen. Wollte der Kommunitarismus nämlich in substantiellen politischen Theoremen Farbe bekennen, so würde sein Widerspruch zum westlichen Demokratieprinzip deutlich. Soweit er sich aber zu dessen Grundsätzen -Rechtsstaat und Repräsentation -bekennt, bleibt vom kommunitaristischen Ansatz nichts übrig als die herkömmliche Subsidiaritätsidee und eine Art „Seid-nett-zueinander“ -Kampagne; eine moralische Aufrüstung, die nützlich ist, aber in der politischen Theorie nichts zu suchen hat.
In Amerika wurde die Diskussion um den Kommunitarismus kontroverser geführt. Dort wagte sich der Kommunitarismus als Antimodernismus hervor, und die Debatte wurde als „Liberal-Communitarian Debate" geführt, während in Deutschland von Antiliberalismus keine Rede ist. In Amerika hat der Antiliberalismus nicht die böse Tradition wie bei uns, und seine Gedanken, die auf den ersten Blick tatsächlich sehr anziehend sind, können wie ein Morgenrot auftauchen -ohne die gefährliche Glutfarbe des Unterganges, die sie in Deutschland bekommen haben.
II. Das Besondere wirft sich gegen das Allgemeine auf
Was in Amerika „Liberalismus“ heißt, entspricht freilich nicht dem deutschen Begriff. Wir verstehen unter Liberalismus die staatliche Zurückhaltung gegenüber der Marktwirtschaft, während man in Amerika damit demokratische Prinzipien bezeichnet wie die Rule of Law, die abstrakte Gleichheit der Menschen und die Delegation von politischen Entscheidungen an den Staat -Rechtsstaat und Repräsentation also.
Dem Rechtsstaat liegt die Gleichheitsidee zugrunde, die Vorstellung, daß alle Menschen in gleicher Weise mit unveräußerlichen, angeborenen Rechten ausgestattet sind und jeder unabhängig von seiner Herkunft Herr seiner selbst ist. Ortega y Gasset fand für diese Idee das gute Wort: die Souveränität des unqualifizierten Individuums. Ihre Grundlage ist eine radikale Abstraktion: das Absehen von allem Besonderen.
In Amerika wagte sich der Kommunitarismus mit der Behauptung hervor, es gebe solche ewigen, all-gemeingültigen Grundsätze, nach denen sich jede Gesellschaft auszurichten hat, nicht; vielmehr brächte jede Gesellschaft in eigener Tradition und Kultur das für sie jeweils Richtige hervor. Freiheit und Gleichheit seien abstrakte Sätze, die nicht in einen konkreten Kontext eingebettet seien und deshalb in der Luft schwebten. Der abstrakte Mensch sei eine Schimäre; der wirkliche Mensch gehöre einer speziellen, partikularen Kultur an, und wolle man ihn davon unabhängig verstehen, so begünstige man die Vereinzelung und das Auseinderfallen der Gesellschaft.
Dieser Gedanke wurde so vorgetragen, als handele es sich um eine frische neue Idee. Alasdair MacIntyre konnte seine Mitbürger mit der Frage „Whose Justice? Which Rationality?" überraschen -eine Frage, die sich gegen die Meinung richtete, Gerechtigkeit und Rationalität seien ubiquitäre, universale Konzepte, die der ganzen Menschheit angehörig sind; und er beantwortete seine Frage so, daß sie wirklich nur partikulare Gültigkeit für die Kultur haben, die sie selbst hervorgebracht hat. Tatsächlich aber ist dieser Gedanke die Grundidee der Romantik, die sie der Französischen Revolution entgegenhielt. Freiheit und Gleichheit -Prinzipien, die die Aufklärung für universal gültig angesehen hatte -wurden als aufgesetzt und künstlich diskreditiert; das jeweils organisch in seinem Kontext Entstandene (als das man die Adelsherrschaft ansah) wurde statt dessen gefeiert. Den Anfang hatte Herder gemacht, der die verschiedenen „Stimmen der Völker“ -und handele es sich auch um den asiatischen Despotismus -in ihrer eigentümlichen Schönheit gewürdigt hatte; Edmund Burke hatte schon vor der Französischen Revolution die diese dann tragenden Ideen mit einem Text bekämpft, der hieß: A Vindication of Natural society or, a View ofthe Miseries and Evils arising to Mankind from every species of Artificial society. „Künstlich“ war für Burke eine nach bestimmten Maximen planvoll eingeführte Verfassung, wie sie die Revolution dann tatsächlich einsetzte.
Von deutscher Seite wurden die Ideen von Freiheit und Gleichheit als französisches Importgut zurückgewiesen und in den Napoleonischen Kriegen auch militärisch bekämpft. Hegel propagierte gegenüber der Souveränität des unqualifizierten Individuums wieder die Idee des Standes: „Darunter, daß der Mensch etwas sein müsse, verstehen wir, daß er einem bestimmten Stande angehöre; denn dies , etwas will sagen, daß er alsdann etwas Substantielles ist. Ein Mensch ohne Stand ist eine bloße Privatperson und steht nicht in wirklicher Allgemeinheit. Von der anderen Seite kann sich der Einzelne in seiner Besonderheit für das Allgemeine halten und vermeinen, daß, wenn er in einen Stand ginge, er sich einem Niedrigeren hingebe. Dies ist die falsche Vorstellung, daß, wenn etwas ein Dasein, das ihm nötig ist, gewinnt, es sich dadurch beschränke und aufgebe.“ Einen Rückgang in diese Betrachtungsweise fordern jetzt die amerikanischen Kommunitaristen. In genauer Nachzeichnung der Linie der Romantik wenden sie sich gegen das abstrakte Menschenbild der Revolution, gegen die Abstraktion eines durch keine ethnische, religiöse oder sonstige partikulare Eigentümlichkeit eingefärbten, aus seinen Bindungen losgelösten Individuums, das der Ausgangspunkt für den modernen Rechtsstaat ist. Michael Walzer kritisiert das „Selbstporträt des liberalen Individuums, dessen einziges Konstituens seine private Willkür ist und das, frei von allen Bindungen, keine gemeinschaflichen Werte, keine festen Beziehungen, keine gemeinsamen Sitten und Gebräuche oder Traditionen kennt -das sich ohne Augen, ohne Zähne, ohne Geschmack, ohne alles präsentiert“
Diesem Angriff gegen das abstrakte Menschenbild muß entgegengehalten werden: Es ist der Besonderheit nicht etwa feindlich, sondern hat sich als das Besondere schützend erwiesen. Jede partikularistische Einfärbung des einer Gesellschaft zugrundeliegenden Menschenbildes wirkt sich benachteiligend auf Abweichungen aus, und seine Entfärbung ist nicht etwa eine Entseelung, wie die gegenwärtige Neoromantik behauptet, sondern die Voraussetzung dafür, daß in einer Gesellschaft kosmopolitische Vielfalt möglich ist. Die abstrakt-formale Gleichheitsidee schützt das tatsächlich Ungleiche. „Läßt man sich auf die Besonderheiten ein, dann gelangt man unvermeidlich in den Sog einer atomisierenden Tendenz, für die sich im Leben der Staaten die Bezeichnung Balkanisierung'eingebürgert hat. Denn innerhalb einer Besonderheit wird man immer neue, feinere Besonderheiten entdecken -, das zwangsläufige Ergebnis der Tatsache, daß die Menschen von Natur aus eben nicht gleich, sondern verschieden sind.“
Die kommunitaristische Kritik an der Vorstellung vom abstrakten Menschen wurde vom feministischen Flügel des Kommunitarismus aufgegriffen. Das abstrakte Individuum zeigt sich nämlich in seiner Konkretion als „white male property owners and family heads“. Der Feminismus greift die formalen Abstrakta der Moderne an, weil er sie für Verschleierungen der tatsächlichen, konkreten Ungleichheit hält. „Kinship was better for women“, behauptet Nancy Fraser, weil sie meint, daß in der traditionellen Stammesgesellschaft den Menschen noch nicht durch die Lüge der abstrakten Gleichheit Sand in die Augen gestreut wurde. Dabei wird übersehen, daß aller Fortschritt, den die Frauenbewegung in den letzten hundert Jahren gemacht hat, darauf beruht, daß sich in der Aufklärung die Vorstellung von der Souveränität des unqualifizierten Individuums durchgesetzt hat, d. h.des Menschen, der weder Mann noch Frau ist.
Charles Taylor kritisiert, daß der moderne Rechtsstaat nicht von solidarisch verbundenen * Menschengruppen ausgeht, sondern von Individuen, die sich antagonistisch zueinander verhalten und ihre Rechte gegeneinander und gegen den Staat durchsetzen. Das Verbindende unter den Menschen werde ignoriert und das Trennende unterstützt. Diese auf den ersten Blick einleuchtende Kritik an unserem (aus dem Römischen Recht stammenden) System entspricht genau derjenigen, die vom Totalitarismus beider Einfärbungen vorgetragen wurde Die Nationalsozialisten lehnten die individuellen Rechte als „romanische Importation“ ab und strebten zurück zu den germanischen Gefolgschaften, während die Kommunisten sie als Ausdruck bourgeoisen Besitzstrebens verstanden. In beiden Fällen bemühte man sich um eine Rechtsordnung, die das Kollektiv und dessen Gliederungen an die Stelle des Individuums setzte.
Eine Auseinandersetzung mit der totalitären Rechtstheorie fehlt im Kommunitarismus völlig. Seine Angriffe gegen den Atomismus und die Seelenlosigkeit eines in individuelle Rechtspositionen zerfallenden Ganzen lassen sich nur in Unkenntnis dieser Denkgebäude vortragen: Die Folgen, die die individuelle Rechtlosigkeit und die Betonung der ethnischen Zusammengehörigkeit im Nationalsozialismus hatten, brauchen nicht geschildert zu werden; der Sozialismus brach vor unseren Augen von innen heraus zusammen, weil den Menschen die subjektiven Rechte (zum Beispiel Freizügigkeit) verweigert wurden.
Die Erfahrung des Nationalsozialismus hat im Nachkriegsdeutschland eine Staatslehre begünstigt, in der die jetzt vom Kommunitarismus wieder vorgetragenen, individualitätsfeindlichen Strömungen bewußt überwunden sind. Sie muß jetzt wieder in Erinnerung gebracht und der Kritik an den rationalistischen Abstraktionen entgegenge-halten werden: „Subjekt des Staates ist der Mensch, der sich allen seinen Besonderheiten gegenüber freigemacht und eine allgemeine Seite entwickelt hat, die unter einem Gesichtspunkt und mit einem Ergebnis entwickelt wurde, die -anders als die Besonderheiten -jeder andere Mensch der Gruppe zu teilen vermag . . . Wenn er neben aller Individualität nicht auch eine Schicht der Allgemeinheit in sich bildet, kann es keinen Staat, ohne Staat aber keine Freiheit geben. Wer daher nur seine Besonderheit will, setzt seine Existenz aufs Spiel. Der Kult der Natürlichkeit ... ist eine der Ursachen, die die Schicht der Allgemeinheit abbauen und dadurch dem totalitären Staat den Weg ebnen, dessen Wesen darin zu sehen ist, daß er eine Besonderheit absolut setzt und damit allen anderen Besonderheiten, also der Freiheit, den Boden entzieht.“
III. Amerika, du hast es besser
Trotz seiner Ausfälle gegen den „Liberalismus“ aber kann man dem amerikanischen Kommunitarismus nicht durchgehend antidemokratische Tendenzen nachsagen. Denn er fordert eine Rückkehr zu den jeweils eigenen Traditionen, zu den „Habits of the Heart" wohlgemerkt, und das ist -in Amerika -nun einmal die liberale Demokratie.
Der amerikanische Kommunitarismus vollzieht folgende Denklinie: Zunächst wird in postmoderner Manier gezeigt, daß es keine universalen, all-gemeingültigen Ideen gibt, daß vielmehr jede Kultur in eigener Tradition sich Maximen geben kann, die alle -in ihrem Kontext -berechtigt sind. In postmodernem Relativismus betrachtet man die Menschenrechtsidee als eine Erzählung (narrative), die genauso viel Aufmerksamkeit verdient wie der Stammesmythos beispielsweise der Cashinana. Für die amerikanische Kultur, die die romantische Unterminierung der universalistischen Auffassung nicht erlebt hat, handelt es sich dabei um eine überraschende Sichtweise: Die von Kind auf gepflegte Überzeugung davon, daß man in seinem Land nach Regeln lebt, die richtiger-weise in der ganzen Welt zu gelten hätten, wird erschüttert. Im Anschluß an diese Erschütterung wird man aber ermuntert, das jeweils der eigenen Kultur Zugehörige als das für die eigene Gesellschaft Richtige anzusehen, sich damit zu identifizieren und auf diese Eigentümlichkeit stolz zu sein. Und so kommt man -als Amerikaner -wieder an bei den liberal-demokratischen Grundüberzeugungen der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert das Gesicht der Vereinigten Staaten geprägt haben. Man hat eigentlich nur einen Ausflug gemacht in das wilde Denken und sich eine Ahnung von dem Abenteuer der Kontingenz verschafft, um dann wieder in die gewohnte Häuslichkeit zurückzukehren. Ähnlich ging es Edmund Burke, der sich trotz seiner Abneigung gegen ewige Vernunftprinzipien für die Freiheit einsetzte -„aber nicht um eines Prinzips willen, sondern weil sie unserer Tradition entspricht“
In Deutschland müßten die kommunitaristischen Gedanken, wenn sie konsequent durchgeführt würden, zu ganz anderen Ergebnissen führen, denn bei uns ist das Eigene, autochthon Gewachsene etwas durchaus anderes: nicht die liberale Demokratie, sondern im Gegenteil das Ausscheren aus dem okzidentalen Rationalismus; nicht die prinzipielle Gleichberechtigung der Menschen, sondern das Festhalten an einer vom Status bestimmten, hierarchisch gegliederten Gesellschaft. Als deutscher Kommunitarist müßte man sich konsequenterweise wieder auf den deutschen Sonderweg begeben -was die Neuen Rechten, die sich auf Michael Walzer berufen auch tun. So wenig man ihnen eine theoretische Absicherung ihrer Position gönnt: Im Unterschied zu den Linken gewinnen sie im Kommunitarismus eine konsistente ideologische Basis.
IV. Kosmopolitische Ethik
Dem Versuch, die allgemeine Menschenrechtsidee in einen zu engen historischen Kontext zu bringen, sie etwa nur dem 18. Jahrhundert und der Aufklärung zuzuschreiben oder sogar als französische Eigentümlichkeit kleinzumachen (wie man es in Deutschland gern getan hat), muß ihre viel ältere Tradition entgegengehalten werden, die sie zwar nicht dem abendländischen Rahmen, aber doch einer allzu engen Kontextualisierung entzieht. Sie begann mit der griechischen Stoa, und schon mit Diogenes von Sinope steht den Kommunitaristen ein Antagonist gegenüber: Sein Bemühen, sich in Anschauung, Kleidung, Benehmen so weit wie möglich von seinen attischen Mitbürgern zu unterscheiden und ein Gehabe zu finden, das nicht den Konventionen, sondern lediglich den Anforderungen der Natur angepaßt ist, war das Greifen nach Universalität. Nicht Polisbürger, sondern Kosmopolit zu sein war sein Ziel; das Postulat der Autarkie, die sich in seinem Rucksack versinnbildlichte, der ihn zu einem „omnia sua secum portans“ machte, diente der Herausbildung der individuellen Persönlichkeit, die ihr Selbstbewußtsein im Gegensatz zu dem des Adligen oder Bürgers nicht dem Stand oder dem Staat verdankt Sein Nachfolger Krates von Theben, der seine Besitztümer aufgab und ebenfalls Stock und Ranzen nahm, brachte die Individuierung in die Worte: „Krates gibt Krates von Theben frei, dank dir, o Tyche, Lehrerin des Guten!“
Die kosmopolitisch eingestellte Stoa war eine prinzipielle Erweiterung des polisbezogenen aristotelischen Denkens, in dessen Grenzen der Kommunitarismus jetzt zurückstrebt. „Während der politisch-sociale Zusammenhang, in dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die Einzelperson, und die Heran-bildung des Individuums zu dem Ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschließlich zur Aegide der stoischen Praxis, daß der Zusammenhang der Individuen untereinander nur als Mittel zu jenem idealen individualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische Ideal bildet, hat jeder Mensch Teil; sie schlingt, über alle Schranken der Nationalität und der socialen Abgrenzung hinweg, ein Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um alles, was Mensch heißt.“
In diesen Worten von Georg Simmel wird deutlich, daß der individualisierende, atomisierende Ansatzpunkt keineswegs so seelenlos, egoistisch und kalt ist, wie ihn die Sozialromantiker aller Zeiten sehen wollten. Die Stoa -und in ihrem Anschluß die Aufklärung -hat eine Ethik eigener Art herausgebildet, die den immer nur die eigene Gruppe zusammenhaltenden Werten, die im Kommunitarismus verehrt werden, keineswegs unterlegen ist. Die Achtung des „Menschen an sich“ bildet einen loseren, ethisch aber nicht weniger wertvollen Zusammenhalt als die naturwüchsigere gemeinschaftliche Verkittung.
Allerdings ist dem Kommunitarismus zuzugeben, daß es gefährliche Übergangszustände gibt -und durch einen solchen Zustand ist unsere Epoche gekennzeichnet -, in denen die alte, gemeinschaftliche Kohäsion schon zusammenbricht, bevor die neue, an den abstrakten Menschen anknüpfende gesellschaftliche Ethik aufgebaut werden konnte. Einen solchen Zustand hatte Schiller vor Augen, als sich die Französische Revolution in Greueln auflöste (Sein Text wird verständlich, wenn man für „problematisch“ das Wort „abstrakt“ setzt und unter „Gesetz“ die moderne Ethik versteht): „Nun ist aber der physische Mensch wirklich, und der sittliche nur problematisch. Hebt also die Vernunft den Naturstaat auf, wie sie notwendig muß, wenn sie den ihrigen an die Stelle setzen will, so wagt sie den physischen und wirklichen Menschen an den problematischen sittlichen, so wagt sie die Existenz der Gesellschaft, an ein bloß mögliches (wenn gleich moralisch notwendiges) Ideal von Gesellschaft. Sie nimmt dem Menschen etwas, das er wirklich besitzt, und ohne welches er nichts besitzt, und weist ihn dafür an etwas an, das er besitzen könnte und sollte; und hätte sie zu viel auf ihn gerechnet, so würde sie ihm für eine Menschheit, die ihm noch mangelt und unbeschadet seiner Existenz mangeln kann, auch selbst die Mittel zur Tierheit entrissen haben, die doch die Bedingung seiner Menschheit ist. Ehe er Zeit gehabt hätte, sich mit seinem Willen an dem Gesetz fest zu halten, hätte sie unter seinen Füßen die Leiter der Natur weggezogen.“
V. Die Eule der Minerva
Der Kommunitarismus kann sich nützlich machen, wenn er diese „Leiter der Natur“ noch eine Weile festhält -so lange, bis sich eine universalistische, kosmopolitische Ethik durchgesetzt hat. Er will aber keine Übergangsfunktionen wahrnehmen, sondern hält sich für eine Zukunftsvision. Darin ist er allerdings schon wieder veraltet: Das Milieu fürsolche Visionen ist im Schwinden. Die Eule der Minerva hat ihren Flug mal wieder in der Dämmerung begonnen.
Der Kommunitarismus hinkt aus zwei Gründen hinter der Zeit her. Er ist der politische Ausdruck der ., Small is beautiful" -Bewegung zwischen 1975 und 1985, des Graswurzel-Ansatzes, der sich von der großen Politik abwandte und meinte, alles Gute müsse von unten her aus den Nischen hervorwachsen. Im Zuge dieser Bewegung wurden Elterninitiativen und Arbeitslosenselbsthilfen gegründet, Food-Coops und Straßenfeste organisiert -und so weiter. So gute Wirkungen dieser Aufschwung von unten hatte, so hat er doch seinen Höhepunkt schon hinter sich; als universales Konzept hat der Gedanke der Selbstorganisation seine Attraktivität verloren, und angesichts der massenhaften sozialen Probleme ist Resignation eingetreten. Das mikrobische Kleinstleben, der Humus den der kommunitaristische Ansatz voraussetzt, ist zu knapp.
Angesichts von millionenfacher Bedürftigkeit war die staatliche Organisation der Pflegeversicherung angesagt, und angesichts von millionenfacher Arbeitslosigkeit ist wiederum der Staat aufgerufen, Arbeit zu beschaffen. Es besteht keine Aussicht, daß sich die Kräfte der Gesellschaft von selbst regenerieren und dieses Problem durch gesteigerten Gemeinsinn lösen. Man kann nicht mehr, wie vielleicht noch 1980, hoffen, daß sich arbeitslose Jugendliche zu Kooperativen zusammentun, die ihnen ein Einkommensminimum und einen befriedigenden Alltag sichern. Wo solche Initiativen entstanden sind, sind sie fast überall wieder eingegangen, genauso wie die Wohngemeinschaften, die eine alternative Lebensweise in außerfamilialen Bindungen versprachen.
Und dies ist der zweite Grund, aus dem der Kommunitarismus seine beste Zeit hinter sich hat: Er war eine Wendung gegen den Staatsinterventionismus, die inzwischen unangebracht ist. Im Anschluß an die Studentenbewegung -nachdem man vom Sozialismus vernünftigerweise nichts mehr erwarten konnte -wurden die Linksintellektuellen durch eine staatsabwehrende Haltung zusammengefaßt, die teilweise anarchistische Züge trug; durch die Hoffnung, daß sich außer-oder unterhalb des „Systems“ eine lebendige, fröhliche „Lebenswelt“ entwickelt, die nur dann gedeiht, wenn sie nicht durch Intervention gestört wird. Die Diskurstheorie war ein Ausdruck dieser Epoche: Sie war darauf aus, „Gegenöffentlichkeiten“ zu pflegen, die von unten her den kolonisierenden Wirkungen der staatlichen Instanzen entgegenwirken sollten. Inzwischen ist von diesen Gegenöffentlichkeiten zwar immer noch viel die Rede, weil sich der große personelle Apparat der Diskurstheorie auf diese Weise am Leben hält, aber die empirische Basis für dieses Konzept ist weggebröckelt. Die alternativen Korporationen der Alt-Hippies sind verschwunden, und man drängt theoretisch staatliche Einmischung zurück, ohne daß man noch angeben könnte, welche Räume man auf diese Weise eigentlich staatsfrei hält.
Was meint Gerd Mielke, der selbst in einer Staats-kanzlei tätig ist, wenn er noch neuerdings von einer „Krise des Staatsinterventionismus als Hintergrund der Kommunitarismusdebatte“ spricht? Mittlerweile kann eher die Rede von einer Krise des Staatsquietismus die Rede sein. Der Staat hat sich schon weitgehend verkrochen und ist, so wie auch die Systemtheorie ihn zu sehen wünscht, ein Teilsystem unter vielen geworden, das im freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte umhergeschubst wird. Wenn noch immer von einem zu starken Staat die Rede ist, so liegt das daran, daß den wirtschaftlichen Kräften das Laissez-faire noch immer nicht ausreicht und sie sich von noch weniger staatlicher Regulierung höhere Profite versprechen. Tatsächlich aber ist der Staat nicht einmal potent genug, gegen diese Kräfte die unter allen Gesichtspunkten gebotene Geschwindigkeitsbegrenzung durchzusetzen oder -um ein neueres Beispiel zu nennen -die Fütterung von Rindern mit Tierkadavern zu verbieten. Der Thatcherismus -das heißt, die Kapitulation des Staates vor der Wirtschaft -hat sich auch in Deutschland in einem Maße durchgesetzt, daß nicht der Staatsinterventionismus in einer Krise ist, sondern im Gegenteil der Thatcherismus.
Dagegen spricht auf den ersten Blick das große Ausmaß an staatlichen Regulierungen und Sozialleistungen. Es handelt sich in beiden Fällen aber lediglich um Quantität: Tatsächlich gibt es einen undurchdringlichen und der Wirtschaft hinderlichen Dschungel von Gesetzen und Verordnungen, und tatsächlich werden unkontrolliert Unsummen von Sozialleistungen ausgeschüttet. Demgegenüber ist es aber nicht richtig, Staatseinmischung zurückzudrängen. Es muß im Gegenteil ein klares, selbstbewußtes politisches Handeln gefordert werden, das nicht durch Quantität, sondern durch Qualität ausgezeichnet ist. Ein solcher, mit der Gesellschaft nicht, untrennbar vermischter, sondern ihr antagonistisch gegenübergestellter Staat, der sich als Hüter des Allgemeinwohls ansieht, würde mit knappen, aber eindeutigen Regeln auskommen, und er würde es nicht zulassen, daß Millionen arbeitsfähiger junger Menschen dumpf auf Kosten der Sozialhilfe vegetieren.
Dem Staat wird Intervention nicht abverlangt, weil der Gedanke der Repräsentation zur Zeit kein Prestige besitzt. Das (am schärfsten von Lorenz von Stein konturierte) Staatsmodell, das einen aus der Gesellschaft deutlich ausdifferenzierten und ihr antagonistisch gegenübergestellten Staat kennt, ist aus der Mode gekommen. Diese repräsentationsfeindliche Grundhaltung wird vom Kommunitarismus gestützt, der „Partizipation“ auf seine Fahnen geschrieben hat. Damit ist er gut eingebettet in den Zeitgeist (tatsächlich hat es schon Versuche gegeben, ihn mit der Diskurstheorie zu vermählen); dieser ist noch immer gegen das staatliche Gewaltmonopol eingenommen, weil man sich zuviel von Bürgerbewegungen verspricht und den Bürgerkrieg zu wenig fürchtet. Rechtsradikale Ausschreitungen haben an dieser Haltung -jedenfalls soweit sie als Gesellschaftstheorie auftritt -noch nicht viel geändert.
Man steht weiter gegen Hobbes, dessen Werk die Staatsmonopolisierung gefördert hat, auf der Seite von Rousseau und setzt sich für die Volkssouveränität ein, die im Idealfall nicht durch repräsentierende Instanzen mediatisiert wird, sondern unmittelbar die Politik bestimmt. Greift man Carl Schmitts Polarität zwischen „Identität“ und „Repräsentation“ auf, so steht man -mit Schmitt -der Identität näher als der Repräsentation. Damit befindet man sich im Widerspruch zum westlich-liberalen, nicht-totalitären Staatskonzept, das Wert darauf legt, daß die Macht nicht vom Volk unmittelbar, sondern durch Repräsentation vermittelt ausgeübt wird In dieser rousseauistisehen Haltung wirkt sich (trotz der Anstrengungen Hannah Arendts, ihn zu beseitigen) der Irrtum aus, eine hypertrophierte Staatsmacht sei Grundlage des Nationalsozialismus gewesen; dort habe sich die Gewalt zu scharf von der Gesellschaft abgegrenzt und sie zu sehr entmachtet; dem müsse man durch partizipatorische Modelle entgegenwirken. Tatsächlich aber hat im Totalitarismus eine gesellschaftliche Bewegung den Staat aufgeschluckt und die beiden Sphären -Staat und Gesellschaft -zu einer Ganzheit verschmolzen
VI. New Deal gegen Coop
Die beiden hier entgegengesetzten Pole -die von der gesellschaftlichen Basis herkommenden selbsttätigen Kräfte und die von oben eingesetzten, staatlich geplanten Maßnahmen -standen in Rivalität zueinander, als Roosevelt in den dreißiger Jahren im Rahmen des „New Deal“ durch groß angelegte staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Arbeitslosigkeit bekämpfte. Es handelte sich bei diesen Maßnahmen im Prinzip um nichts anderes als den Arbeitsdienst Adolf Hitlers, der ebenfalls ursprünglich nicht nationalsozialistischem Gedankengut entsprang, sondern bereits vor 1933 ausgearbeitet worden war. In den USA wurden nicht Autobahnen gebaut, sondern das Tennessee Valley industrialisiert. Die Arbeitspflicht, die der New Deal verhängte, stieß sich oft mit neu entstandenen fruchtbaren selbstinitiierten Ansätzen, die -so, wie es sich der Kommunitarismus wünscht -an der Basis der Gesellschaft entstanden waren; mit Kooperativen von der Art, wie sie die Graswurzelbewegung der siebziger/achtziger Jahre im Auge hatte. Dabei kam es zu schweren Konflikten, die Upton Sinclair in seinem Buch Coop beschrieben hat. Der New Deal überrollte wie eine Dampfwalze alles, was sich an arbeitsträchtigen Ansätzen am Boden gebildet hatte. In solchen Konflikten -das lehrt das Subsidiaritätsprinzip, und das ruft der Kommunitarismus jetzt mit Recht wieder in Erinnerung -sollte der Staat zurückweichen. Denn in der Tat ist er nicht imstande, durch seine Maßnahmen einen Ersatz zu liefern für die gesellschaftlichen Eigenkräfte, und in der Tat „ginge es alles dahin und würde ein wild, wüst Leben“, wenn man auf die gesellschaftlichen Eigenkräfte verzichten würde. Jetzt ist aber nicht der richtige Zeitpunkt, die Einflußsphäre dieser Kräfte zu verstärken. Es kommt im Gegenteil darauf an, den Staat an seine Verantwortung zu erinnern.