I. Der strukturelle Zusammenhang von Sozialstaat und Bevölkerung
Demographische Themen, vor allem der wachsende Anteil alter Menschen an der Bevölkerung, haben derzeit Konjunktur. Dies war nicht immer so. Obwohl im Vorfeld der großen Rentenreform von 1957 schon einmal angesprochen wurden die Folgen demographischen Wandels für Politik und Gesellschaft erst in den achtziger Jahren ein zentrales Thema der Politik Umfassende Diskussionen fanden statt im Vorfeld der Verabschiedung der „Rentenreform 1992“ am 9. November 1989 Im Zusammenhang mit der Sorge um den „Standort Deutschland“ in einem härter werdenden weltwirtschaftlichen Wettbewerb hat die Debatte seit 1993 eine neue Qualität angenommen: Demographischer Wandel gilt nicht mehr nur als ein Kostenfaktor neben anderen, dem durch Reformen der Institutionen sozialer Sicherung beizukommen sei, sondern er ist zu einer Überlebensfrage des Sozialstaats als Ganzes geworden. Die abzusehenden Lasten gelten in Teilen der politischen Öffentlichkeit als nicht tragbar und belegen in dieser Sicht einmal mehr, daß ein Rückbau des Sozialstaats oder gar seine Ersetzung durch private Formen der Daseinsvorsorge auf der politischen Tagesordnung stehen, wobei der Staat sich auf Mindestsicherungen beschränken soll.
Es wird also mittlerweile wahrgenommen, daß demographischer Wandel nicht nur ein begrenztes finanztechnisches Problem des Sozialstaats darstellt. Tatsächlich gibt es einen tiefgreifenden, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Zusammenhang zwischen staatlicher Sozialpolitik und dem Strukturwandel der Bevölkerung. Demographischer Wandel, hier vor allem die Umwälzung der Altersstruktur der Bevölkerung, ist nicht nur Ursache von Problemen des Sozialstaats -so die vorherrschende und durchaus zutreffende Sicht; er ist umgekehrt auch durch Entstehung und Ausbau des Sozialstaats (mit) verursacht Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert hat die soziale Gesetzgebung den Bevölkerungsprozeß beeinflußt: Die Lebenserwartung erhöhte sich durch Gesundheitswesen, öffentliche Hygienemaßnahmen und Armutsabbau, mit der Folge, daß immer mehr Menschen ein hohes Alter erreichen. Zugleich entstand eine soziale Strukturierung von Altersgruppen -Alte wurden zu Rentnern, Kinder zu Schulpflichtigen. Erst dadurch erhielten die biologischen Lebensphasen Alter und Kindheit die uns heute vertraute soziale Gestalt. Schließlich hat der Bildungsboom seit den sechziger Jahren besonders den Bildungsstand von Frauen erhöht, wodurch sich die Motive der Erzeugung von Nachwuchs nachhaltig verändert haben.
Umgekehrt hat der wachsende Anteil alter Menschen an der Bevölkerung den sozialen Sicherungssystemen große Teile ihrer Klientel beschert und damit eine Grundlage ihrer Expansion gelegt. Der Sozialstaat bewerkstelligt nicht so sehr eine Umverteilung von oben nach unten als vielmehr zwischen verschiedenen Altersgruppen, besonders von den erwerbstätigen Personen mittleren Alters zu den Alten. Es besteht also ein struktureller Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Bevölkerungsentwicklung, eine Beeinflussung in beiden Richtungen. Heute stellt sich die Frage: Schlägt die bisher produktive gesellschaftsgeschichtliche Wechselwirkung zwischen Sozialstaat und Bevölkerungsentwicklung in eine destruktive Beziehung um, wird sie zu einer Falle gesellschaftlicher Modernisierung? Hat sich der Sozialstaat über-lebt? Haben die politischen Stimmen recht, denen zufolge demographischer Wandel zu einer Überlebensfrage des Sozialstaats geworden ist?
Dazu ist im folgenden zu fragen: Auf welche Weise stellt demographischer Wandel die sozialstaatliche Ordnung und ihre Legitimität in Frage? Und: Sind die Institutionen sozialer Sicherung reformierbar, um demographische Lasten zu bewältigen, vor allem: Lassen sich die mit dem Sozialstaat verbundenen Werte sozialer Gerechtigkeit unter erschwerten Bedingungen aufrechterhalten? Schließlich: Welche Funktion hat vor diesem Hintergrund die Rede von demographischen Problemen im politischen Prozeß?
II. Die Illegitimität des Sozialstaats: Stellt demographischer Wandel die sozialstaatliche Ordnung in Frage?
Bevölkerungsveränderungen sind in westlichen Gesellschaften von Beginn an eine Hauptursache der Expansion staatlicher Sozialausgaben gewesen Dieser Sachverhalt ist in der Bundesrepublik Deutschland jedoch lange nicht in das öffentliche Bewußtsein getreten, vor allem, weil nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die siebziger Jahre ein politisch vorangetriebener Ausbau des Sozialstaats in Form sich ausweitender Leistungsgesetzgebung im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Andere, strukturelle kostentreibende Faktoren wurden dadurch überlagert. Auch ohne sozialgesetzgeberischen Ausbau führt jedoch ein zunehmender Altenanteil an der Bevölkerung -aber auch andere Faktoren wie die Kostenexplosion im Gesundheitswesen -quasiautomatisch dazu, daß Sozialausgaben steigen. Außerdem war die Expansion der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik eingebettet in ein stetiges Wirtschaftswachstum, das es ermöglichte, ein wachsendes Ausmaß von Umverteilungsströmen politisch zu verkraften.
Etwa Mitte der siebziger Jahre war der Ausbau des Sozialstaats vorläufig beendet -aus fiskalpolitischen Gründen, aber auch, weil die Sozialversicherungssysteme einen kaum noch steigerungsfähigen Deckungsgrad von 90 Prozent der Bevölkerung erreicht hatten -, so daß seither jene strukturellen, quasiautomatisch wirkenden Wachstumsfaktoren stärker in den Vordergrund gerückt sind. Insofern kann wirklich von einem „Altern“ -wenn auch nicht von einem „Veralten“ -des Sozialstaats gesprochen werden.
Demographischer Wandel ist ein Testfall für die Werte und Leistungszusagen des Sozialstaats. Ein wachsender Anteil ökonomisch „Inaktiver“ in der Bevölkerung -alte Menschen, aber auch Arbeitslose und arme Kinder -hat zur Folge, daß gleich-bleibende Zusagen von Einkommenssicherheit, medizinischer Versorgung und psychosozialer Wohlfahrt teurer zu stehen kommen als zuvor. Politisches Eintreten für die Werte des Sozialstaats ist nicht mehr wohlfeil, Wertkonflikte brechen auf. Demographische Probleme sind ein willkommener Aufhänger für diejenigen, die schon immer die Freiheit des Marktbürgers durch die organisierte Solidarität des Sozialstaats bedroht sahen. Andere halten sozialstaatlich verbürgte soziale Gerechtigkeit „an sich“ für wünschenswert, sehen Einschränkungen jedoch als zwingend an, um die deutsche Wirtschaft in der weltweiten „Standortkonkurrenz“ zu stärken. So würden Arbeitsplätze geschaffen, was letztlich dem Wohlstand der Massen mehr diene als übersteigerte staatliche Versorgung. Speziell in bezug auf den demographischen Wandel wird argumentiert, daß die Solidarität zwischen den Generationen unter veränderten Bedingungen in Ungerechtigkeit umschlage, insoweit die heutige erwerbstätige Generation im Alter keine ausreichende „Rendite“ für ihre Sozialbeiträge erwarten könne. Eine Benachteiligung alter Menschen -eine altersbezogene „Rationierung“ sozialer Leistungen -bis zum selektiven „Gerontozid“ durch Verzicht auf Ausschöpfung des medizinisch Möglichen im Alter sind bereits gängige und auch in Deutschland -hier eher latent -praktizierte Formen der Einschränkung universeller sozial-staatlicher Teilhabeziele.
Schon seit den Anfängen staatlicher Sozialpolitik haben verschiedene gesellschaftliche Kräfte Fundamentalkritik an den Prinzipien des Sozialstaats geübt. Demographischer Wandel trägt bei zu einer neuen Phase der Infragestellung sozialstaatlicher Politik, verschärft das immer schwelende Legitimitätsproblem des Sozialstaats. In der Debatte geht es nicht nur um sachliche Lösungen -Umlageverfahren versus Kapitaldeckung, beitragsbasierte Zwangsversicherungsgemeinschaft versus private Lebensversicherung, versicherungsmathematische Ausgestaltung von Rentenhöhe und Zugang usw. -, sondern immer auch um Werthaltungen und grundlegende ordnungspolitische Überzeugungen, die relativ unabhängig von konkreten Problemlagen sind.Wenn sich demographische Probleme im Sozialstaat als Folge einer wechselseitigen Beeinflussung von Politik und Bevölkerungsentwicklung darstellen. wie im ersten Teil skizziert, so ergeben sich rein logisch vier Möglichkeiten, die kritisch gewordene Beziehung zwischen den beiden Größen Sozialstaat und Bevölkerung neu zu regeln: 1. „Bevölkerungsabbau“'. Kappung der problematischen Beziehung zwischen den beiden Größen durch Reduktion der einen, der Bevölkerung, also selektive Dezimierung, besonders der Gruppe der alten Menschen.
2. Sozialstaatsabbau: Reduktion der anderen Größe, des Sozialstaats, also Rückzug auf einen „residualen“ Sozialstaat, der sich auf Mindestleistungen beschränkt, wie es weitgehend in den USA der Fall ist oder wie es der FDP oder Minderheiten in der CDU (Kurt Biedenkopf)
vorschwebt. Der Sozialstaat wird damit als evolutionär nicht durchhaltbar -oder schon von jeher nicht wünschenswert -angesehen.
3. Aktive Bevölkerungspolitik, um demographisch günstigere Bedingungen für die staatlichen Sicherungssysteme zu schaffen, vor allem durch staatliche Geburtenförderung und eine Einwanderungspolitik.
4. Institutioneile Reform des Sozialstaats zwecks Anpassung an den demographischen Wandel.
Dieser wird damit als vorgegebene Größe akzeptiert und für bewältigbar gehalten. Das „Projekt Sozialstaat“ gilt in dieser Sicht als überlebensfähig auch in Zeiten tiefgreifenden, teilweise selbst verursachten Wandels. Das Rentenreformgesetz 1992 stellt den Versuch einer solchen „immanenten“ Antwort auf demographische Herausforderungen dar.
Die beiden ersten, radikalen Strategien zielen jeweils nur auf eine Seite der Beziehung Sozialstaat -Bevölkerung, während die anderen beiden, besonders die vierte, auf eine bessere Abstimmung zwischen beiden Seiten hinauslaufen. Die beiden radikalen, reduktiven Strategien (mit Abstrichen auch die dritte Strategie) stellen die Legitimität des Sozialstaats bzw. die Legitimität der aktuellen Bevölkerungsentwicklung systematisch in Frage. Unausgesprochen liegt die Vorstellung einer „halbierten Moderne“ zugrunde, bei der soziale Bürgerrechte und das für moderne Gesellschaften typische Altern der Bevölkerung als Fremdkörper in einer deregulierten Welt erscheinen, einer Welt, in der junge, leistungsstarke, keiner sozialen Hilfe bedürfende Aktive den Ton angeben. Bevor die vierte Strategie, die Reform und Anpassung des Sozialstaats, in Teil III näher analysiert wird, sollen die anderen Strategien kurz erläutert werden. 1. Strategien des Bevölkerungsabbaus:
die Illegitimität des Alterns Offene Bevölkerungsdezimierung ist in zivilisierten Gesellschaften nachhaltig moralisch diskreditiert und daher nicht ohne weiteres denkbar. Gleichwohl sollte man das Humanitätspotential unserer Gesellschaft nicht überschätzen. Einschränkungen medizinischer Behandlung speziell für alte Menschen werden bereits praktiziert und unter dem Stichwort „Gerontozid“ diskutiert. Auch die selektive Auswanderungspolitik für Rentner in der DDR war eine Form, sich „unproduktiver“ Elemente der Gesellschaft zu entledigen. Die Infragestellung der Legitimität des Alterns ist zugleich eine Infragestellung der Legitimität universaler sozialstaatlicher Teilhaberechte. Denn Ungleichheiten können im Sozialstaat nicht durch zugeschriebene, persönlich nicht zurechenbare Merkmale wie Alter, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit begründet werden. 2. Strategien des Sozialstaatsabbaus:
die Illegitimität des Sozialstaats In der Frage staatliche versus nichtstaatliche Antworten auf demographische Probleme der Alterssicherung gehen die wissenschaftlichen Meinungen auseinander. Besonders einige liberale Ökonomen favorisieren Modelle vom Typus private Lebensversicherung mit Kapitaldeckung, während andere -prominent etwa der Vorsitzende des Sozialbeirats, Winfried Schmähl -seit langem betonen, daß auch private Versicherungen grundsätzlich von Veränderungen der Altersstruktur betroffen sind. Zumindestens dann, wenn private Sicherungsformen nicht nur für Minderheiten Anwendung finden, seien Privat-und Sozialversicherung volkswirtschaftlich äquivalent: Während in Zeiten eines „Rentnerberges“ bei letzterer Beiträge erhöht und Renten gesenkt werden müssen, ergibt sich bei ersterer ein ähnlicher Effekt, weil der Kapitalstock massiv aufgelöst werden müßte und diese Auflösung auf eine demographisch ausgedünnte mittlere Altersgruppe (die Erwerbstätigen) als Käuferschicht träfe In institutioneller und politischer Hinsicht sind gesetzliche Rentenversicherung und private Versicherung dagegen verschieden. Gert Wagner sieht in den Konstruktionsprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung gerade eine höhere, nicht niedrigere Anpassungskapazität Die in beiden Systemen notwendigen Anpassungsmaßnahmen in Zeiten demographischer Umwälzungen finden im (para-) staatlichen System öffentlich, also politisch kontrollierbar statt; zudem ist im staatlichen System eine präzise Bedarfsorientierung möglich, nämlich Anpassung der drei Hauptgrößen -Rentenhöhe, Beitragssatz, Staatszuschuß -an veränderte Bedingungen im Rahmen des Umlageverfahrens. Dabei sind bedarfs-bezogene Normen wie die Rentenhöhe eines „Eckrentners“ (mit durchschnittlichem Lohn und 40 bzw. 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren) handlungsleitend. Dieses System produziert nicht unter allen Bedingungen die -ökonomisch gesehen -optimale Rendite, jedoch produziert es besser und berechenbarer als andere Verfahren das Gut „Sicherheit“.
Der Bezug auf eine „Rendite“ in der Diskussion über die Alterssicherung ist ohnehin weitgehend fiktiv, da die im Rahmen einer bevölkerungsweiten privaten Kapitallebensversicherung erreichbare individuelle Rendite volkswirtschaftlich nicht bestimmbar ist und bei demographischem Druck in ähnliche Probleme geraten würde wie das real-wirtschaftlich äquivalente Umlageverfahren. Entscheidend ist schließlich: In dem Maße, wie private Versicherungen durch demographische Ungleich-gewichte destabilisiert werden, müssen staatliche Versicherungsaufsicht und der Verbraucherschutz verstärkt regelnd eingreifen (mehr als dies ohnehin schon der Fall ist), um Leistungszusagen zu sichern. Auch Selbstregulierungen durch die Versicherungsgesellschaften werden dann erforderlich, um die Akzeptanz durch die Versicherten zu gewährleisten, was aktuell in der privaten Krankenversicherung bereits im Gange ist. Letzter Bürge ist zwangsläufig der Sozialstaat. In dem Maße, wie staatliche Maßnahmen private Versorgungssysteme rechtlich, organisatorisch und programmatisch flankieren (und in Notzeiten auch finanziell ergänzen), nehmen diese Systeme einen „öffentlichen“ Charakter an. Es wird eine Frage des ideologischen Bekenntnisses, ob man auf einem angeblich „privaten“ Charakter insistieren will. In diesem Sinne sind „private“ Systeme im Sozialstaat immer nur Formen der Delegation öffentlicher Verantwortlichkeit.
Wir können folgern, daß manches dafür spricht, daß der Sozialstaat auch in bewegten Zeiten seinen Bürgern Sicherheit gewähren kann. Ein Über-gang zu anderen Sicherungsformen würde nicht aus den demographischen Engpässen herausführen. Ausschlaggebend sind letztlich weltanschauliche Überzeugungen und Wahrnehmungen sowie pragmatische Überlegungen dazu, wie Lasten durch eine Kombination unterschiedlicher institutioneller Sicherungsstrategien -staatlich, parastaatlich, betrieblich, privat, -familial -am besten aufzufangen sind. 3. Strategien aktiver Bevölkerungspolitik:
die Illegitimität des demographischen Alterns Geburtenfördernde Maßnahmen sollen die „naturale“ Grundlage der gesetzlichen Rentenversicherung garantieren, daneben auch dem Gespenst einer schrumpfenden Bevölkerung wehren, sei es durch Maßnahmen wie Kindergeld, verbesserte Dienstleistungsangebote für Familien oder durch verminderte Beiträge Kinderreicher in der Rentenversicherung. Einige frauen-und familienpolitische Maßnahmen der Regierung Kohl können in diesem Sinne interpretiert werden. Die Wirkungen geburtenfördernder Maßnahmen sind allerdings nicht sicher kalkulierbar Auch eine aktive Einwanderungspolitik ist kritisch einzuschätzen, da sie nur einmal wirkt und langfristig neue Nachfrage nach öffentlichen Leistungen sowie soziale Integrationsprobleme mit sich bringt. Auch können Konflikte mit anderen, gesellschaftspolitisch ebenfalls beachtlichen Zielen auftreten: Ohne eine Stärkung der traditionellen Rolle der Frau, also ohne Eindämmung der wachsenden Teilhabe von Frauen an Bildung und Erwerbsarbeit, wäre eine drastische Erhöhung der Zahl der Geburten wohl nicht zu haben. Eine Vereinbarung von Eltern-schäft und Beruf -der bessere Weg -scheint jedenfalls nicht in Sicht zu sein. Zudem kann ein Rückgang der Kinderzahlen und damit der Bevölkerung aus ökologischen Gründen (Verringerung der Besiedlungsdichte) gerade erwünscht sein. Grundsätzlicher kann argumentiert werden, daß Eingriffe in die Privatsphäre der Familie in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht akzeptabel sind. Strategien aktiver Bevölkerungspolitik stellen die Legitimität gewählter Kinderlosigkeit und damit im Grunde auch der Familie als Bereich freier Lebensgestaltung in Frage. Auch der Sozialstaat wird in diesem Zuge, zumindest in seiner heutigen Gestalt, als illegitim und ungerecht eingeschätzt: Familienpolitische Aktivisten fordern einen gigantischen Lastenausgleich zugunsten kinderreicher Familien als neuen Kernbereich des Sozialstaats, der sich in seiner jetzigen Form zu sehr auf eine umfassende Versorgung alter Menschen verlegt habe und dabei die neue soziale Ungleichheit unserer Zeit -die Benachteiligung kinderreicher gegenüber kinderlosen Familien -ausblende. Alles in allem erweisen sich die Auffassungen, die demographischen Wandel zum Anlaß nehmen, die sozialstaatliche Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen, als eher weltanschaulich begründet denn als auf Analysen realer Funktionsprobleme sozial-staatlicher Institutionen fußend. Zugrunde liegt das Gesellschaftsbild einer „halbierten Moderne“, das die universalistischen und pluralistischen Grundlagen unserer Gesellschaft eng auslegt: Strategien des Sozialstaatsabbaus sehen staatlich verbürgte soziale Teilhaberechte nicht als Bestandteil von Modernität; Strategien einer Bevölkerungsdezimierung wie auch Strategien aktiver Bevölkerungspolitik stellen den Wert des Alters bzw. die Legitimität frei gewählter Kinderlosigkeit in Frage und rechtfertigen entsprechende Negativsanktionen. Zugleich zeigt sich, daß die abzusehende Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung auch nichtstaatliche institutioneile Arrangements der Alters-und Daseinsvorsorge vor große Probleme stellt.
III. Die Legitimität des Sozialstaats: Chancen einer „sozialen“ Bewältigung demographischen Wandels
Wenn radikale politische Strategien des Umgangs mit demographischem Wandel sich als kritisch erweisen -sowohl, was die Funktionsfähigkeit der angebotenen Lösungen als auch die normativen Begründungen angeht so bleibt zu fragen, ob eine reformerische Strategie in Form einer konstruktiven Anpassung sozialstaatlicher Institutionen an die geänderten demographischen Rahmenbedingungen umsetzbar ist. Insoweit demographische Probleme nicht nur eine Frage einer zweckmäßigen Verteilungsmechanik zwischen Jung und Alt sind, sondern das Problem der wert-haften Begründung des Sozialstaats verschärfen und dazu führen, daß es sich neu stellt, ist vor allem zu fragen: Welche Werte sind es, die Sozial-staatlichkeit ausmachen? Inwieweit sind diese durch demographischen Wandel gefährdet? Welche Wertkonflikte, welche Wertentscheidungen stehen an? Und: Reichen die alten Wertorientierungen und Normen aus, oder müssen in einer neuen gesellschaftsgeschichtlichen Situation neue Werte und Normen gefunden werden?
Zu den Schwierigkeiten, aber auch Chancen einer Begründung und Neubegründung der Wertebasis des Sozialstaats möchte ich drei Thesen formulieren:
1. Unterschiedliche Institutionen sozialer Sicherung verkörpern unterschiedliche Werte und Normen, die auf jeweils unterschiedliche Weise von den Folgen demographischer Umwälzungen betroffen sind (Werteheterogenität\ 2. Ob die Auswirkungen des Alterns der Bevölkerung auf Generationenvertrag und Rentenversicherung negativ zu bewerten sind, hängt von den Kriterien ab, anhand derer Gerechtigkeit zwischen den Generationen beurteilt wird.
Mehrere, konkurrierende Kriterien kommen in Frage (Wertkonflikte). 3. In der Zeit des forcierten Ausbaus sozialstaatlicher Leistungen orientierte sich staatliche Sozialpolitik an festen Werten wie Gleichheit, Sicherheit und Solidarität. Im Zeichen tiefgreifenden strukturellen Wandels der Gesellschaft bedarf es jedoch neuer, zusätzlicher Normen, die regeln, wie etablierte Institutionen unter Wahrung der sozialstaatlichen Grundwerte, also auf für die Betroffenen „sozialverträgliche“ Weise, an veränderte Rahmenbedingungen angepaßt und unter Umständen „rückgebaut“ werden können (Prozeßnormenfl. 1. Werteheterogenität Der Sozialstaat weist eine differenzierte normative Programmatik auf. Vor allem konkurrieren die Leitwerte „Gleichheit“ und „Sicherheit“, wobei „Sicherheit“ im bundesrepublikanischen Fall insgesamt vorherrscht. Die Sicherheitsmaxime schlägt sich zum einen nieder in der rechtlichen Garantie eines Existenzminimums für alle Bürger, vor allem durch die Sozialhilfe, zum anderen in der Sicherung eines im Erwerbsleben erworbenen Status in Form der lohnbezogenen Rente (Äquivalenzstandard, also ein relativer Maßstab). Was für den einzelnen Sicherheit im Lebensverlauf bedeutet (was Ungleichheit unter den Rentnern einschließt), beinhaltet für das Verhältnis der Altersgruppen als Ganze eine (annähernde) Gleichstellung von Alten und Mittelalten, also von Rentnern und (noch) Erwerbstätigen.
Demgegenüber ist das Gesundheitswesen und in gewisser Weise auch das Bildungswesen auch in bezug auf den einzelnen stärker egalitär orientiert, also auf Gleichheit angelegt. Hier wird prinzipiell von der Vorstellung ausgegangen, die beste verfügbare Leistung für jeden Klienten zu erbringen (Optimalstandard, also ein absoluter Maßstab). Dies schließt eine kollektive Gleichstellung von Altersgruppen ein, zielt darüber hinaus jedoch auch auf individuelle Gleichheit, genauer: basiert auf der Annahme der Gleichwertigkeit der körperlichen Existenz aller Menschen. Die Entwicklung der Leistungshöhe folgt bei Äquivalenzleistungen typischerweise der Steigerung der Löhne der Erwerbstätigen („Dynamisierung“), während Optimalleistungen keine solche Bindung kennen und stärker von dem technisch und sozialtechnisch Möglichen abhängen.
So sehr die Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957 unter Wertgesichtspunkten als sozialpolitische Errungenschaft angesehen werden kann, insofern sie eine Steigerung gemäß den Einkommensfortschritten der Erwerbsbevölkerung garantiert, so wird doch leicht übersehen, daß damit zugleich eine Steigerungsbegrenzung der Renten institutionalisiert ist, die die Entwicklungen der Leistungssätze abschätzbar macht. Die aktuelle Besorgnis, daß bei sinkenden Nettolöhnen auch die Renten erstmals gesenkt werden müßten, verweist auf diesen Zusammenhang. Faktisch hat das Nettorentenniveau (also das Verhältnis von Renten zu Nettolöhnen, bezogen auf einen „Mo-dellrentner" mit durchschnittlichem Lohn und 40 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren) bis 1975 den Ausgangswert von 1957 nicht überschritten und liegt seitdem etwas höher. Die Leistungshöhe als solche stellt in der Rentenversicherung also keine Quelle politisch schwer zu kontrollierender Ausgabenexpansion dar. Als relative Größe ist das Rentenniveau prinzipiell immer garantierbar -sofern es politisch gewollt ist. Die rechtlich-administrativen Hebel dazu stehen zur Verfügung, im wesentlichen die Veränderung von Beitragssätzen, Rentenhöhe und Bundeszuschuß. Die Rentenformel im Rentenreformgesetz 1992 enthält einen Regelmechanismus, der in Zeiten demographischer (und anderer struktureller) Umwälzungen diese drei Stellgrößen der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechend adjustiert. Die Werte individuelle Sicherheit im Lebensverlauf und kollektive Gleichheit von Altersgruppen sind also auch unter erschwerten Bedingungen durchhaltbar.
Im Bereich sozialer Dienstleistung ist die Leistungsentwicklung dagegen wesentlich durch exogene, politisch nicht direkt beeinflußbare Größen und Entwicklungsdynamiken bestimmt. Zu nennen ist vor allem der sogenannte „tertiäre Kostendruck“, also die fortschreitende relative Verteuerung sozialer Dienstleistungen und die nicht minder unbegrenzte Dynamik medizinisch-technischen Fortschritts. Dieser Kostenfaktor hat an sich mit demographischem Wandel nichts zu tun, er ist ein allgemeines Problem staatlicher Sozialpolitik. In der Praxis des Sozialstaats richten sich Rationierungsvorschläge jedoch verstärkt auf die besonders kostenintensive Gruppe der alten Menschen, wodurch die Gleichheit medizinischer Versorgung aller Altersgruppen in Frage gestellt wird. Im Unterschied zu Kürzungen von Geldleistungen führen Einschränkungen medizinischer Leistungen leicht zu einer vermeidbaren Senkung der Lebensdauer bis hin zum Tod, so daß der Ausdruck „Gerontozid“ in unterschiedlichem Ausmaß angewendet werden kann. Hier liegt in der Tat ein Problem des Durchhaltens grundlegender Werte unserer Gesellschaft. Anders als im Bereich der Rentenversicherung sind überzeugende Lösungen nicht absehbar. 2. Wertkonflikte In der Rede, daß heutige oder zukünftige Generationen unter veränderten demographischen Rahmenbedingungen in der gesetzlichen Rentenversicherung systematisch benachteiligt werden, das Solidarprinzip der Sozialversicherung also in soziale Ungerechtigkeit umgeschlagen sei, verquikken sich unterschiedliche Bedeutungen des Wortes „Generation“, ohne daß dies immer bewußt ist Je nachdem, auf welche Bedeutung Bezug genommen wird, liegen unterschiedliche, ja konkurrierende Gerechtigkeitsnormen hinsichtlich des Austausches zwischen den Generationen zugrunde. Drei Bedeutungen können unterschieden werden: Altersgruppen; Kohorten oder Generationen im engeren Sinne; und „zukünftige Generationen.
Altersgruppen: Altersgruppen sind Generationen, wie. sie sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Bevölkerung gegenüberstehen. Die Wohlfahrt der Angehörigen verschiedener Altersgruppen ist ein Kernanliegen sozialstaatlicher Politik, wobei die grundlegende Norm, wie erläutert, die Gleichheit zwischen Altersgruppen ist (was in der Rentenversicherung allerdings erst im Jahre 1957 im Leistungsrecht verankert wurde). Diese Gleichheit ist prinzipiell herstellbar, in der Rentenversicherung zur Zeit auch nicht gefährdet. In der Krankenversicherung bröckelt diese Zielgröße bereits.
Kohorten (Generationen im engeren Sinne): Diese Auffassung von „Generation“ meint Geburtsjahr-gänge und deren kollektiven Lebensverlauf in einer Längsschnittperspektive. Wer sich von privater Kapitalanlage eine bessere „Rendite“ als in der gesetzlichen Rentenversicherung verspricht, bringt damit zum Ausdruck, daß er den Generationen-vertrag für ungerecht hält, da seine Kohorte gegenüber früheren Kohorten, für die die gesetzliche Rentenversicherung ein gutes Geschäft war, benachteiligt sei. Sozialpolitik erzeugt also Ungleichheiten zwischen Kohorten, was deren kollektive Lebensbilanz angeht, das lebenslange Verhältnis von Leistungen und Gegenleistungen.
Die Frage ist allerdings, ob das Schicksal von Kohorten in diesem umfassenden Sinne Gegenstand staatlicher Politik sein kann. Kriterien vergleichender Bewertung der kollektiven Lage von Kohorten sind bislang kaum entwickelt Zentraler Wert wäre hier der Ausgleich der Lebensbilanzen von Kohorten, was allerdings zu Ungleichheiten zwischen Altersgruppen führen kann und sich insoweit mit dem diesbezüglichen Gleichheitswert des Sozialstaats stößt. So müßten die Renten im Jahr 2030 zu Lasten der Beitragszahler überproportional erhöht werden, um die Lebensbilanz der heutigen Beitragszahler auszugleichen. Umgekehrt müßten die hohen Beitragssätze des Jahres 2030 gesenkt werden, da diese Beitragszahler kaum eine entsprechende Rente erwarten können. Mit Ungleichheitsfolgen ist auch zu rechnen, wenn einige bessergestellte Sozialversicherte heute darauf dringen, aus der Versicherungspflicht entlassen zu werden, um sich eine profitablere private Altersversicherung aufzubauen. Dadurch würden Mittel für die aktuellen Rentenzahlungen abgezogen und zudem für die Zeit des eigenen Ruhestands ein persönlicher Vorteil erwirtschaftet, wobei das höhere Renditeversprechen privater Sicherung nur funktioniert, wenn kleine Gruppen und nicht die Gesamtbevölkerung diesen Weg geht („Rosinenpicken“). „Zukünftige Generationen“: Wenn von der „Verantwortung für zukünftige Generationen“ die Rede ist, so sind damit „entfernte“, sich nicht mit den gegenwärtig lebenden überlappende Generationen gemeint Ursprünglich wurde eine solche Verantwortlichkeit vor allem im Hinblick auf Umweltzerstörungen gefordert, die wir unseren Nachkommen hinterlassen. Seit einiger Zeit wird auch die Verschuldung öffentlicher Haushalte unter diesem Gesichtspunkt diskutiert. Auch im Bereich Sozialpolitik wirft das Verhältnis zu „entfernten“, zukünftigen Generationen ethische Probleme auf. Das liegt unter anderem an der Eigenart demographischer Prozesse, in langen Wellen zu verlaufen, und an der Langfristigkeit des Austausches von Leistungen und Gegenleistungen im Rahmen des Generationenvertrags der Sozialversicherung Einbrüche in der Geburtenhäufigkeit zeitigen kumulative Effekte über Jahrzehnte hinweg und beeinflussen damit die Größenverhältnisse zwischen Altersgruppen im sozialpolitischen Umverteilungsprozeß. Für die sich für entfernte Generationen stellenden ethischen Fragen gibt es noch weniger Anhaltspunkte oder gar sozialpoli-tische Einwirkungsmöglichkeiten als im Fall von Ungleichheiten zwischen Kohorten.
Kritische Stimmen, die den Sozialstaat in Zeiten demographischen Wandels für nicht mehr tragbar halten, beziehen sich vor allem auf die beiden letztgenannten Bedeutungen des Wortes Generation. Bestimmte Geburtsjahrgänge sowie zukünftige Generationen gelten als systematisch benachteiligt. Wie erläutert, gibt es jedoch derzeit keine Werte und Normen, die es erlauben würden, Ungerechtigkeiten gegenüber Generationen in diesem Sinne genau zu erfassen und zu bewerten. Eine Schwierigkeit liegt darin, daß solche Normen sehr weit über historische Zeiträume ausgreifen müßten. Unsere Beispiele zum Ausgleich zwischen Kohorten zeigen zudem, daß widersprüchliche Schlußfolgerungen auftreten können. Vor allem würden sich solche Normen jedoch mit den Grundwerten des Sozialstaats stoßen, denn langfristige Gerechtigkeit für Geburtsjahrgänge und für zukünftige Generationen ginge auf Kosten des gerechten Austauschs zwischen den heute lebenden Generationen: Die Gleichheit bzw. Gleichwertigkeit zwischen den Altersgruppen wäre gefährdet und damit der Zentralwert der Verbürgung von Sicherheit und Kontinuität im individuellen Lebenslauf, insbesondere im Übergang vom Erwerbsalter ins Rentenalter. Wenn der einzelne Bürger nicht mehr die Sicherheit und Gleichheit vom Sozialstaat erhält, die er von ihm erwartet, ist dessen Akzeptanz in der Bevölkerung gefährdet.
Die Vorstellung eines „gerechten“ Abgeltens von „Lebensleistungen“ (und nicht eine maximale wirtschaftliche Rendite) ist aber, wie empirische Studien zeigen, Teil der „Moralökonomie“ des Generationenvertrags in unserer Gesellschaft
Von einigen Bevölkerungswissenschaftlern und Wirtschaftswissenschaftlern wird eine solche Einschränkung herkömmlicher sozialstaatlicher Werte trotzdem befürwortet. Die eine Variante wird vor allem von Demographen, Versicherungsmathematikern und familienpolitischen Aktivisten vertreten, wurde aber auch von den intellektuellen Vätern der (nicht ganz nach ihren Vorstellungen vollzogenen) Rentenreform von 1957 (Wilfrid Schreiber und Oswald von Nell-Breuning) gestützt. Sie plädierten dafür, Kohorten, die nicht genügend Nachwuchs für die Rentenversicherung aufgezogen haben, in der einen oder anderen Weise zu „bestrafen“, etwa durch höhere Beiträge als für Kinderreiche. Auch Kinder als „naturaler Beitrag“ (von Nell-Breuning) werden hier als Teil einer Lebensleistung gesehen, die in einer biographischen Gesamtbilanz durch Gegenleistungen auszugleichen sei. In einer anderen Variante, vor allem von einigen liberalen Wirtschaftswissenschaftlern propagiert, wird, wie beschrieben, die zu erwartende „Rendite“ in der gesetzlichen Rentenversicherung als unzureichend und ungerecht für die betreffenden Kohorten angesehen und daraus die Forderung eines Rückbaus staatlicher Alterssicherung abgeleitet In kritischer Distanz zu solchen Vorstellungen könnte argumentiert werden, daß alle Kohorten ein gleiches Interesse an der Erhaltung eines sozialen Sicherungssystems haben (sollten), das das Problem der Umverteilung und Lebensstandardsicherung zwischen Altersgruppen zufriedenstellend löst. Insofern müßten „benachteiligte“ Kohorten bereit sein, ihre Benachteiligung als „Systemkosten“ in Zeiten demographischer Umwälzungen zu akzeptieren, um die Existenz eines insgesamt vorteilhaften Systems zu sichern. 3. Prozeßnormen Wenn es stimmt, daß Generationenvertrag und Sozialversicherung die Umverteilung zwischen Altersgruppen und die Kontinuitätssicherung von Lebensverläufen bisher befriedigend bewerkstelligt haben, so bleibt die Frage, welche „Kosten“ der Anpassung dieser bewährten Institutionen an den demographischen Wandel hinnehmbar sind. Welcher Grad an Abweichung von den bisherigen Zielgrößen und welche Nebenfolgen dürfen auftreten? Anpassungsmaßnahmen werden erleichtert durch die Offenheit und Flexibilität der Normen, die es in schweren Zeiten durchzuhalten gilt, im Kern soziale Teilhabe und Sicherheit im Lebensverlauf. Wir haben am Beispiel des Rentenniveaus gezeigt, daß dieses auch bei notwendig werdenden Renten-kürzungen gesichert werden kann, nämlich als relative Größe, die das Einkommen der Rentner in ein Verhältnis zum Einkommen der Erwerbstätigen setzt. Wenn das Einkommen beider Gruppen sinkt, bleibt ihr Verhältnis gleich.
Vier Kriterien scheinen von Bedeutung zu sein, um sicherzustellen, daß politische Anpassungsmaßnahmen die maßgeblichen sozialstaatlichen Normen im Grundsatz respektieren und zugleich eine Hinnahme von Änderungen in der Bevölkerung wahrscheinlich machen: Erstens sollten Veränderungen nicht abrupt, sondern graduell und kontinuierlich angelegt sein. Dies ist im Rentenreformgesetz 1992 und bei den aktuellen rentenpolitischen Vorhaben gegeben: Altersgrenzen werden nicht von heute auf morgen erhöht, sondern gestreckt auf einen Zeitraum von mehreren Jahren; Beitragssätze werden schrittweise erhöht in dem Maße, wie wir uns dem Rentenberg im nächsten Jahrtausend nähern.
Zweitens ist das Ausmaß von Änderungen zu begrenzen, was unter anderem dadurch erreicht werden kann, daß Belastungen auf mehrere Bereiche und Gruppen aufgeteilt werden. So sind in der Rentenreform ‘ 92 Belastungen auf mehrere Kenngrößen und damit auch Personengruppen verteilt worden: auf Rentenhöhe/Rentner, Beiträge/Beitragszahler und Bundeszuschüsse/Steuerzahler sowie auf die Stellgröße Altersgrenze.
Drittens sind Anpassungskosten gerecht auf soziale Gruppen zu verteilen. So erreicht die Rentenreform eine ungefähre Gleichverteilung der Lasten auf die Gruppen Rentner, Beitragszahler und Steuerzahler. Sie ist darüber hinaus jedoch wenig sozial ausgewogen, insofern Beamten und Selbständigen -bis heute -keine Opfer abverlangt werden. Dagegen erscheint es zweifelhaft, ob der Vorschlag einer stärkeren Belastung Kinderloser durch nach Kinderzahl gestaffelte Beiträge zur Sozialversicherung als gerecht anzusehen ist und in der Bevölkerung auf Akzeptanz treffen würde.
Viertens sollten Reformmaßnahmen auch in bezug auf Individuen (also nicht nur in bezug auf soziale Gruppen) gerecht und sozial ausgewogen sein. Dieser Punkt ist in der Rentenreform kritisch: Durch relative Rentensenkungen könnte mittelfristig Armut im Alter wieder ein beachtliches Phänomen bei Kleinrentnern werden. Auch ist die Reform wenig frauenfreundlich.
In der Politik wird es zunehmend wichtig werden, derartige Normen für Änderungen in den Institutionen der sozialen Sicherung zu diskutieren. Denn die Sicherheitsgarantie des deutschen Sozialstaats muß zunehmend die Dimension historischer Zeit berücksichtigen, wenn -wie es derzeit der Fall ist -gesellschaftliche Umwälzungen demographischer und anderer Art dazu führen, daß innerhalb der Lebensspanne eines einzelnen Bürgers oder einer einzelnen Bürgerin wesentliche Kürzungen sozialstaatlicher Leistungszusagen vorgenommen werden.
IV. Fazit: Demographischer Wandel als „Politik“
Demographischer Wandel, hier vor allem: der zunehmende Anteil alter Menschen an der Bevölkerung, ist nicht nur eine institutionentechnische Frage für Fachleute der Sozialversicherung; er ist aber auch kein übermächtiger Faktor, der ohne weitere Überlegungen, gleichsam subjektlos, eine Aufgabe des „Projekts Sozialstaat“ erzwänge. Vielmehr gibt es bei der Bewältigung demographischer Herausforderungen einen ordnungspolitischen Gestaltungsspielraum, der Wertentscheidungen erforderlich macht. In diesem Sinne ist demographischer Wandel „Politik“ und nicht „Sachzwang“. Die Werte, um die es hier geht, und die Entscheidungen zwischen konkurrierenden Werten sind offenzulegen, statt sie hinter vermeintlichen Erfordernissen überlasteter sozialer Sicherungssysteme oder weltweiter „Standortsicherung“ zu verstecken. Es gilt zu klären, wie das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Familien zu regeln ist, was als „sozial“ zu gelten hat, welche Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit heranzuziehen sind -zwischen Alt und Jung, Männern und Frauen, Einkommensschwachen und Besserverdienenden -und nicht zuletzt: was für die Bevölkerung annehmbar und erwünscht erscheint. Die derzeit anstehenden demographischen Probleme verschärfen nur Probleme der Begründung von Sozialstaatlichkeit, die staatliche Sozialpolitik von ihren Anfängen an begleitet haben und immer nur phasenweise in den Hintergrund rücken.
Die Deutung der im nächsten Jahrhundert bevorstehenden demographischen Umwälzungen als Sozialpathologie, die radikale Einschnitte in das Gewebe der sozialstaatlichen Demokratie erforderlich mache, basiert auf ahistorischen Normalitäts-und Gleichgewichtsvorstellungen in bezug auf die Bevölkerungsstruktur und die Finanzlage der Rentenversicherung. Bestimmte Konstellationen der Altersstruktur der Bevölkerung und der Beitragssatzhöhe gelten als „unnormal“ und Anlaß zu Gegensteuerung. Welche Verhältnisse jedoch „normal“ sind, ist schlechthin nicht angebbar. In den fünfziger Jahren gab es schon einmal Stimmen, denen zufolge ein heute längst erreichter Altenanteil an der Bevölkerung untragbar schien. Bereits 1953 äußerte Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung Besorgnis über das zunehmende Altern der Gesellschaft was sich bis zuder Rede von der „katastrophalen demographischen Entwicklung“ und deren „katastrophalen Folgen“ in den frühen Regierungserklärungen von Helmut Kohl durchzog. Die Beschwörung einer unerträglichen Altenlast kann offenbar unabhängig von den demographischen Zahlen erfolgen: Adenauer bezog sich auf einen Bevölkerungsanteil von nur neun Prozent Alten zu seiner Zeit. Ähnlich gab es in der sozialpolitischen Diskussion der fünfziger Jahre Besorgnis im Hinblick auf den Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zu erwartenden Rentenberg, obwohl sich dieser aus heutiger Sicht, verglichen mit dem in 30 Jahren zu erwartenden Berg, als bedeutungslos ausnimmt (und in der Politik ohne großes Aufheben bewältigt wurde).
Jede Gesellschaft muß das Wohl ihrer historisch gegebenen Bevölkerung verfolgen, sei es mit geringem oder mit hohem Altenanteil. Die Rede von demographischen Problemen des Sozialstaats kann auch in diesem Sinne „Politik“ sein, nämlich Vorwand für andere Zwecke und Interessen, die auf eine Transformation der sozialstaatlichen Demokratie zielen. Demographische Umwälzungen betreffen grundsätzlich auch „private“ -marktliche und familiale -Formen sozialer Sicherung. Es gibt keinen Weg aus unserer Gesellschaft heraus. Demographischer Wandel ist Teil des sozialstaatlichen Wegs in die Moderne.