I. Paradigmenwechsel
Seit einigen Jahren ist in der internationalen Debatte über die Neugestaltung der Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges die alte Lebensweisheit „Vorbeugen ist besser als Heilen“ wiederentdeckt worden. Spätestens seit der Propagierung der „Präventiv-Diplomatie" in der UN„Agenda für den Frieden“ von 1992 hat der Gedanke der Prävention politisch-rhetorische Hochkonjunktur, bei internationalen Organisationen und nationalen Regierungen ebenso wie bei Nichtregierungsorganisationen (NROs) sowie in der Friedens-und Entwicklungsforschung Dies deutet auf beginnende Lernprozesse, aber auch auf neue Legitimationsbedürfnisse hin.
Ausgelöst wurden diese offensichtlich durch die Schockwirkungen der Ereignisse in Jugoslawien, Somalia und Ruanda und das dortige Versagen des herkömmlichen „Krisenmanagements“. Kriege, Hungersnöte, „ethnische Säuberungen“ und Völkermord waren trotz frühzeitiger Warnungen nicht nur nicht beizeiten verhindert worden, selbst nach Ausbruch der Krisen erwiesen sich die Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft als weithin untauglich zur Eindämmung und Beendigung der Gewaltakte und Greueltaten. Zugleich wurden immense Summen für die reaktive Konfliktbearbeitung und die Konfliktnachsorge verausgabt, für teure Militäreinsätze, humanitäre Hilfe und Wiederaufbaumaßnahmen. Das im Kontext von Großmacht-Rivalität und Staatenkonflikten entwickelte diplomatische und militärisch gestützte Krisenmanagement war angesichts neuartiger Herausforderungen durch Bürgerkriege, Staatszerfallsprozesse und ethnisch geprägte Auseinandersetzungen offenbar selber in eine Krise geraten.
Auf diesem Hintergrund wurde in der Sicherheitsund Friedenspolitik nun der Gedanke der Prävention wiederentdeckt, der in anderen gesellschaftlichen Handlungs-und Problemfeldern wie der Präventivmedizin, der Kriminalprävention und der Katastrophenvorbeugung schon länger eine Rolle spielt Bei diversen internationalen Organisationen, die mit Sicherheits-und/oder Entwicklungsfragen befaßt sind -wie etwa der UNO, der OSZE, der EU, der WEU, aber auch bei etlichen nationalen Regierungen -, kam es zu konzeptionell-organisatorischen Anpassungsbemühungen im Bereich der Früherkennung von Konflikten und der Krisenvorbeugung
In vielen Ländern waren auch im Bereich der Wissenschaft und bei zahlreichen NROs, wie z. B. „International Alert“ (London), rege Aktivitäten zu verzeichnen in Gestalt von Seminaren, Konferenzen, Forschungsprojekten, Netzwerkarbeit und der Neugründung von Frühwarneinrichtungen In dieser verstärkten Beschäftigung mit Präventionsfragen läßt sich durchaus ein Element der Neuorientierung der internationalen Sicherheits-und Friedenspolitik in einer veränderten Weltordnung erkennen: die Suche nach einer den neuen Konflikten und Krisen angemesseneren, effektiveren und kostengünstigeren Strategie und Bearbeitungsform Manche Befürworter von mehr Präventionspolitik forderten gar einen konsequenten Paradigmenwechsel vom reaktiven Interventionismus zur Krisenprävention, von „harten“ (militärischen) zu „weichen“ (zivilen) Instrumenten, und mahnten eine qualitativ neue, auf den Vorbeugungsgedanken orientierte Sicherheitspolitik zur Überwindung der „Antiquiertheit" des bisherigen Umgangs mit Konflikten an Prävention sei die beste Friedenspolitik, hieß es: Sie sei allemal humaner als die nachträgliche Eindämmung von Konflikten, weil den Menschen unnötiges Leid erspart bliebe Sie sei auch politisch wirksamer, da sich zu einem frühen Zeitpunkt die Konfliktfronten noch nicht verhärtet hätten. Prävention sei auch kostengünstiger als die meist enorm aufwendige reaktive Krisenbearbeitung in Gestalt teurer Militäreinsätze und Wiederaufbaumaßnahmen Schließlich läge die Prävention auch im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Länder, im Interesse von mehr Kooperation und Friedfertigkeit in einer komplexer werdenden, interdependenten
Welt.
Doch trotz dieser augenfälligen Plausibilität der Argumente für mehr Präventionsbemühungen warnten Skeptiker vor zu viel Optimismus und einer Überstrapazierung des Vorbeugungsgedankens und wiesen auf vielfältige Hindernisse hin, die einer Präventionspolitik entgegenstünden Weder sei das Konzept der Prävention bisher systematisch durchdacht worden, noch verfüge man bereits über größere praktische Erfahrungen damit. Prävention sei bislang kaum mehr als eine „Idee auf der Suche nach einer Strategie“ ihre Umsetzung von einem Slogan in praktische Politik stünde noch weithin aus.
Die nachfolgenden Ausführungen versuchen einen Abriß zu Stand und Perspektiven der internationalen Präventions-Debatte in Politik und Wissenschaft zu geben. Da vieles im Fluß ist, kann es sich dabei nur um eine Zwischenbilanz handeln, die gleichwohl bemüht ist, die Probleme, Möglichkeiten und Grenzen von Präventionspolitik aufzuzeigen.
II. Zur Genese des Präventionsgedankens in der Sicherheits-und Entwicklungspolitik
Auffällig ist, daß es bisher noch zwei relativ getrennte Debatten über Präventionspolitik gibt -eine in der Sicherheitspolitik und eine in der Entwicklungspolitik. Wichtig wäre die Zusammenführung dieser Debatten, um zu einem komplexen Präventionskonzept und zu einer kohärenten Präventionspolitik beider Politikfelder zu kommen. Die sicherheitspolitische Debatte über Prävention weist wiederum zwei Diskussionsstränge auf -einen staatszentrierten Diskurs über Kriegsverhütung und Krisenmanagement, der seine Träger in nationalen Regierungen und zwischenstaatlichen Organisationen hat; und einen gesellschaftszentrierten Diskurs über „zivile Konfliktbearbeitung“ mit seinen Trägern in NROs, in der Friedensbewegung und in großen Teilen der Friedensforschung. Der staatszentrierte Diskurs geht auf Verkehrsformen im neuzeitlichen europäischen Staatensystem zurück, auf Kriegsverhütungsformen, die in Konzepten des Mächtegleichgewichts, der Allianzbildung, der Diplomatie und der militärischen Abschreckung ihren Ausdruck fanden. Im Kontext des Ost-West-Konflikts sollten hochtechnisierte militärische Frühwarnsysteme, die atomare Abschreckung und das nach dem Schock der Kubakrise entwickelte „Krisenmanagement“, ergänzt um Elemente der Abrüstung und Rüstungskontrolle, der Entspannungs-und Kooperationspolitik sowie der Regimebildung, einen dritten, nuklearen Weltkrieg verhüten Doch nach dem Ende des Kalten Krieges erwiesen sich diese Konzepte und Mittel gegenüber ethno-politischen Konflikten, Staatszerfallsprozessen und Bürgerkriegen wie in Jugoslawien und Somalia als weithin untauglich. Eine gravierende „konzeptionelle Lücke“ in der Sicherheitspolitik wurde sichtbar die „postkonfrontative Sicherheitspolitik“ bedurfte offensichtlich angepaßter Konzepte und Instrumente Beim Umgang mit einer neuen „Subkultur von Kriegen“ in einer „subkritischen Sicherheitslandschaft“ konnte man nicht mehr auf Lehren zurückgreifen, die man aus dem Management der Berlin-oder Kubakrise gezogen hatte
Der gesellschaftszentrierte Diskurs über Prävention erwuchs aus der Kritik der militärisch gestützten Gleichgewichts-und Abschreckungspolitik und zielte vor allem auf die Erarbeitung und Erprobung von Konzepten und Methoden einer „zivilen Konfliktbearbeitung“. Spätestens seit dem Streit zwischen „Bellizisten" und „Pazifisten“ im Kontext des zweiten Golfkrieges, vor allem aber seit dem sich abzeichnenden Scheitern des staatlichen Krisenmanagements in Jugoslawien und Somalia, kam eine neue Dynamik in die friedens-politische NRO-Szene, die nunmehr größere Chancen und Handlungsspielräume bei der nicht-militärischen Konfliktbearbeitung erkannte Deutlich hoben die NROs ihre komparativen Vorteile und besonderen Kompetenzen im Umgang mit historisch tief verwurzelten, ethnisch-nationalistisch aufgeladenen gesellschaftlichen Konfliktlagen hervor, die sie durch geduldige Mediationsarbeit, Dialogförderung und Konsensbildung schon im Vorfeld gewalttätiger Konfliktentladung transformieren und entschärfen wollten.
In der entwicklungspolitischen Diskussion wurde schon sehr früh der Bekämpfung von Armut und der Verbesserung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse eine präventive Bedeutung im Sinne langfristiger Friedenspolitik zuerkannt, also ein allgemeiner Zusammenhang von Entwicklung und Frieden behauptet. Erhard Eppler beklagte bereits Anfang der siebziger Jahre eine kommende „Dekade der Gewalt“ und plädierte dafür, dieser mit Hilfe von Entwicklungspolitik vorbeugend Einhalt zu gebieten In den großen Nord-Süd-Berichten der siebziger und achtziger Jahre beschwor man die wachsende Interdependenz zwischen Industrie-und Entwicklungsländern, um die Notwendigkeit von Entwicklungspolitik für den Erhalt des Weltfriedens zu begründen. Hier schließt sich der Kreis zu Slogans aus den neunziger Jahren, die in der Entwicklungszusammenarbeit „Friedens-und Überlebenssicherung in einem“, „globale Strukturpolitik“ oder „vorausschauende Weltinnenpolitik“ sehen. In einem konkreteren und operativeren Sinne entwickelten in Teilbereichen der Nord-Süd-Beziehungen vor allem einige Organisationen des UN-Systems Konzepte der Frühwarnung und der Prävention, so etwa die Welternährungsorganisation FAO im Bereich von Nahrungsmittelkrisen und sich anbahnenden Hungersnöten und die Weltflüchtlingsorganisation UNHCR bei der Vorbeugung von Fluchtbewegungen
Doch erst nach den Schocks von Somalia und Ruanda kam es in der entwicklungspolitischen Diskussion zu einem systematischeren Nachdenken über mögliche gezieltere Beiträge der Entwicklungszusammenarbeit zur Verhütung von Krisenprozessen, Gewaltausbrüchen, Bürgerkriegen und Staatszerfall In diesem Sinne ist die aktuelle Debatte in der Entwicklungspolitik über Prävention tatsächlich neu. Die Entwicklungszusammenarbeit schien immer öfter zu einem „Reparaturbetrieb“ zur Beseitigung von Kriegsschäden zu werden und mußte immer mehr Mittel für die kurzfristige Not-und Katastrophenhilfe zu Lasten der langfristigen Entwicklungshilfe bereitstellen. Nunmehr erkannte man den Frieden als eine notwendige Voraussetzung für Entwicklung.
Eine Mischung aus schlechtem Gewissen, Legitimationsproblemen und der Beobachtung der engen Grenzen eines rein diplomatisch-militärischen Krisenmanagements führte zu einer gründlicheren Reflektion über den Gedanken der Prävention in der Entwicklungspolitik. Die Einbeziehung von Elementen einer präventiven Sicherheitspolitik in ein umfassenderes Konzept von Entwicklungspolitik legte auch die neuere internationale Debatte über Konzepte einer „nachhaltigen Entwicklung“, der „menschlichen Entwicklung“ und der „menschlichen Sicherheit“ nahe. Beim UN-Entwicklungsprogramm UNDP wurde zur präventiven Krisenbearbeitung die „Prevision-Prevention-Preparation (PPP)“ -Strategie entwickelt Insbesondere nahm die Entwicklungspolitik nun stärker die gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen für Entwicklungsprozesse in den Blick -namentlich solche, die für die sozio-politische Stabilität von besonderer Bedeutung waren, wie die zivile Kontrolle von Militär und Polizei, die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Strukturen.
III. Konzeptionelle Probleme von Prävention
Die Debatte über Präventionspolitik bedarf der weiteren Klärung der Begrifflichkeit, des operativen Zugriffs sowie der Akteure und Mittel: -Zunächst muß die unscharfe, diffuse Begriffsverwendung moniert werden, die eine genauere Bestimmung der Begriffe erschwert, „weil sie weder an bestimmte Subjekte des Handelns noch an bestimmte Institutionen, Normen oder Methoden gebunden sind“ Da ist die Rede von „Konfliktprävention“, „Krisenvorbeugung“, „Gewaltprävention“, „Präventiv-Diplomatie“, „Kriegsverhütung“ und „präventiver Konfliktbearbeitung“. Bekanntermaßen ist der Begriff der „Krise“ äußerst schillernd und vieldeutig. Problematisch erscheint auch die Verbindung von „Konflikt“ und „Prävention“. Kritiker verweisen darauf, daß ja nicht gesellschaftliche Konflikte per se verhütet werden sollen, sondern deren gewalttätiger Austrag; insofern bevorzugen sie den Begriff der „Gewaltprävention“. Der Begriff der „Präventiv-Diplomatie“ wiederum hat sich im Kontext der UN-Debatte über Sicherheitspolitik entfaltet und ist im spezifischen Aktionsbereich internationaler Organisationen zu verorten -Unklar bleibt auch, zu welchen Zeitpunkten und in welchen Phasen der Konfliktentwicklung Prävention stattfinden soll. Etliche Präventionskonzepte favorisieren ein sehr weitgefaßtes, dynamisches Verständnis, das Maßnahmen sowohl vor dem Ausbruch von Gewalt als auch während und sogar nach dem Ende der Auseinandersetzungen vorsieht. Präventive Konfliktbearbeitung wird hier auf einem Kontinuum von Eskalations-und Deeskalationsprozessen angesetzt. Doch muß dann die Frage gestellt werden, ob es dabei nicht zu einer Strapazierung oder gar Inflationierung des Präventionsgedankens kommt? Im Kern sollte und müßte sich dieser doch wohl auf die Phase vor dem Ausbruch von Gewalt konzentrieren, die es ja primär zu verhindern gilt.
Friedenspolitische Aktivitäten während und nach gewaltsamer Konfliktaustragung sind zwar enorm wichtig und können auch präventive Bedeutung (im Hinblick auf eine mögliche Verschlimmerung der Lage oder ein Wiederaufleben der Auseinandersetzungen) haben, sind aber nicht mehr eigentlich genuine Präventionsmaßnahmen, sondern eher Bemühungen zur Dämpfung, Eindämmung und Beendigung oder friedlichen Transformation gewalttätiger Konflikte sowie zur Konsolidierung von Friedensprozessen. Manche Autoren sind sich dieser Problematik durchaus bewußt und sprechen daher auch von Prävention im engeren Sinne (Vorphase) und im weiteren Sinne (Austragungsund Nachsorgephase)
Vielleicht könnte man in Anlehnung an die Präventivmedizin von Primär-, Sekundär-und Tertiärprävention sprechen: Ist der Ausbruch einer Krankheit durch Primärprävention nicht verhütet worden, scheint eine exakte Differenzierung zwischen präventiven und kurativen Maßnahmen kaum mehr möglich, da sich ja, die Krankheit noch immer weiter verschlechtern könnte. Zu Recht ist aber auf eine fundamental wichtige Differenz bei der Terminierung präventionspolitischer Maßnahmen hingewiesen worden: In der Vorphase eines gewaltträchtigen Konfliktgeschehens ergeben sich infolge der noch vorhandenen politischen Gestaltungsfähigkeit relevanter Akteure -namentlich von Regierungen -sowie noch weitgehend intakter staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen in der Regel günstigere Handlungsvoraussetzungen als in der manifesten, durch Gewalt-Diffusion gekennzeichneten Austragungsphase -In verschiedenen Varianten werden immer wieder zwei grundlegende operative Stoßrichtungen von Präventionspolitik angeführt: zum einen die eher langfristig orientierte Prävention, die an den fundamentalen Ursachen, Nährböden und Strukturen gewaltträchtiger gesellschaftlicher Fehlentwicklungen ansetzen will; zum anderen die eher mittel-bis kurzfristig ausgerichtete Prävention, der es vor allem um die friedenspolitische Beeinflussung des Verhaltens relevanter Konfliktakteure geht. In gewisser Weise spiegelt sich hier die Unterscheidung zwischen einer „early prevention“ und einer „late“ oder „last minute prevention“ wider, wie sie in der UN-Debatte über Prävention eine Rolle spielt Die erstere zielt auf die Herausbildung stabiler Gesellschaften und verläßlichfriedlicher Konfliktaustragungsmodi, also auf die Beförderung von „Zivilisierungsprozessen“. Die letztere will in einer konkreten Krisensituation -notfalls im letzten Moment -potentiell gewalttätige Akteure zu einem friedfertigen Verhalten bewegen.
Zwischen beiden Zielsetzungen kann durchaus ein gewisses Spannungsverhältnis bestehen, denn nicht selten „sind Konflikte derart komplex, daß eine Klärung der eigentlichen Ursachen nicht mehr möglich ist. Und schon gar nicht ist von den beteiligten Konfliktparteien zu erwarten, daß sie sich einvernehmlich auf eine Feststellung der wesentlichsten Konfliktursachen einigen . . . Ohne die Ursachen geklärt und damit die Chance zu ihrer Beseitigung eröffnet zu haben, bleibt nur die Option, die Instrumentarien des gewaltsamen Konfliktaustrages zu ächten: Kriegerische Gewalt sollte analog zur Gewaltkriminalität bekämpft werden, weil sich die Gesellschaft darauf zivilisatorisch verständigt hat. Jedoch wäre eine Problemlösungsstrategie, die nur auf die Vernunftbegabtheit und den guten Willen der Beteiligten setzt, naiv; nicht-militärische Problemlösungsstrategien und erst recht Friedensstrategien bedürfen auch der nutzentheoretischen Begründung.“
Analog zur Verbrechensvorbeugung könnte man vielleicht den eher allgemein und langfristig orientierten Ansatz als Generalprävention bezeichnen und den konkreten und kurzfristigeren Ansatz als Spezialprävention. -Welche Akteure sollen und können mit welchen Mitteln Präventionspolitik betreiben? Bei den Staaten und zwischenstaatlichen Organisationen (zumindest in dem Maße, wie es deren Mitgliedstaaten zulassen) findet sich die größte Häufung von „harten“ Machtmitteln und materiell-finanziellen Ressourcen für Präventionspolitik. Diese Akteure können bei den staatlichen Strukturen und den Machteliten von Krisenländern ansetzen, mit Diplomatie, Tatsachenermittlung und Vermittlungsbemühungen sowie mit „Zuckerbrot und Peitsche“, also mit positiven Anreizen wie mit Sanktionsandrohungen.
Wie bereits erwähnt, stößt dieser Mitteleinsatz allerdings seit geraumer Zeit angesichts neuartiger Konfliktlagen an enge Grenzen. Als neue Instrumentarien auf staatlicher Ebene gelten u. a.: diplomatische Langzeitmissionen (z. B.der OSZE im Baltikum), die internationale Wahlbeobachtung (z. B. in Südafrika), die präventive Entsendung von Blauhelmen (z. B. in Mazedonien), die Umwandlung herkömmlicher militärischer und polizeilicher Ausbildungs-und Ausstattungshilfe in eine Art von „Demokratisierungshilfe“ sowie die Verfeinerung von Einmischungsformen und Sanktionierungsmethoden, mit deren Hilfe gezielter strategische Elitegruppen von Konfliktparteien beeinflußt werden könnten. Die bi-und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit hat ihre komparativen Vorteile im Bereich der langfristigen Förderung gedeihlicher politischer, sozialer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Stabilität. Strukturelle Armutsbekämpfung, die Unterstützung von Demokratisierung, Menschenrechtsschutz und zivilgesellschaftlichen Kräften vor Ort sowie Hilfe bei der zivilen Kontrolle von Sicherheits-und Militärapparaten und eine von Fall zu Fall „konditionierte“ Zusammenarbeit mit Regierungen von Krisenländern sind dabei die wesentlichen Instrumente.
Die NROs wiederum verfügen vor allem über „weiche“ Machtmittel und Methoden der „zivilen“ Konfliktbearbeitung und langfristigen Konflikt-transformation wie Mediation, Kommunikation, Dialog, Konsens-und Vertrauensbildung, die vor allem -insbesondere auch bei schleichendem Verfall staatlicher Strukturen -auf der zivilgesellschaftlichen Ebene und bei Partner-NROs angesetzt werden Je arbeitsteiliger, koordinierter und kooperativer die Präventionspolitik der jeweiligen Akteure gestaltet wird, desto größer könnte der Synergie-Effekt sein. Je kohärenter eine komplexe Präventionspolitik auf verschiedenen Ebenen angesetzt würde, desto größer wären deren vermutbare Erfolgschancen.
IV. Probleme der Früherkennung und Frühwarnung
Prävention beruht auf der Annahme, frühzeitig bedenkliche gesellschaftliche Problemlagen und Entwicklungen erkennen und entsprechend gegensteuern zu können. Präventives Handeln setzt also die Früherkennung von Konflikten und eine auf dieser aufbauende Frühwarnung an relevante Akteure voraus. Früherkennung geht davon aus, daß gewalttätige Konflikte nicht gleichsam über Nacht überraschend „ausbrechen“, sondern in der Regel eine lange Vor-und Entwicklungsgeschichte haben, die beizeiten erkennbar, analysierbar und prognostizierbar ist. Früherkennung bedarf daher fundierter Kenntnisse über potentielle Krisenländer und der Einsicht in die Genese und Dynamik von gesellschaftlichen Krisen-und Konfliktprozessen.
Da jede krisenhafte Entwicklung in einer Gesellschaft bereits frühzeitig (Warn-) „Signale“ -wie z. B. wachsende Menschenrechtsverletzungen, politische Repression und soziale Desintegration -aussendet ist es die Hauptaufgabe eines Früherkennungs-und Frühwarnsystems, solche Signale wahrzunehmen, zu analysieren und zu bewerten. Je früher auch noch „schwache“ Signale aufgefangen werden, desto größer ist die mögliche Reaktionszeit und ‘das präventive Aktionspotential; je „stärker“ das Signal ist, desto mehr verkürzt sich die Reaktionszeit. Damit wird die Reaktionszeit vom konkreten Signal bis zum Krisenausbruch zum „Engpaß eines Früherkennungssystems“
In der Diskussion über angemessene Früherkennungs-und Frühwarnsysteme wird eine Reihe noch ungeklärter konzeptioneller und methodi-, scher Probleme thematisiert Der vorhandenen Quantität von Daten -einer „Informationsflut“, gespeist aus Datenquellen von Regierungen, Geheimdiensten, internationalen Organisationen, NROs, Medien und wissenschaftlichen Einrichtungen -entspricht nicht unbedingt immer deren Qualität. Unklarheit besteht ferner bei der Bestimmung relevanter, aussagekräftiger Indikatoren, mit deren Hilfe (Warn-) Signale empfangen werden sollen. Skeptiker verweisen zudem auf die eingeschränkte Prognosefähigkeit der sozialwissenschaftlichen Analyse von komplexen Gesellschaftsentwicklungen In der Forschung bestehen Kontroversen über die Vor-und Nachteile diverser Analysemodelle, bei denen Kausal-und Sequenz-modelle dominieren Ferner fehlt es an einer besseren Systematisierung und Synthetisierung der bisherigen Anstrengungen sowie an der Etablierung global vernetzter Früherkennungs-und Frühwarnsysteme. Die Daten und Analysen bedürfen des Austausches, der Standardisierung („common language") sowie einer Strukturierung ihrer Bewertung („frameworks for assessment“). Die Schlüsselfrage der Früherkennung und Frühwarnung, „wie die richtigen Informationen zur rechten Zeit den richtigen Leuten zur Kenntnis gebracht werden können“ bleibt daher noch unbeantwortet.
V. Die Lücke zwischen Frühwarnung und präventivem Handeln
Als Hauptproblem von Präventionspolitik wird jedoch in der Regel nicht die noch ausstehende Optimierung von Früherkennung und Frühwarnung angesehen, sondern das „warning-response“ -Problem also die Lücke zwischen „early warning“ und „early action“ -die Diskrepanz zwischen erfolgender Frühwarnung und ausbleibendem präventiven Handeln Eine solcne Lücke war beispielsweise in den Krisenfällen Jugoslawien, Somalia und Ruanda zu beobachten, wo mögliche Präventionschancen nicht genutzt wurden („missed opportunities"). Wie ist dieses zentrale Problem von Präventionspolitik zu erklären? Man könnte grob zwischen primären und sekundären Restriktionsfaktoren für präventives Handeln auf staatlicher Ebene unterscheiden, die bei einer realistischen Thematisierung von Präventionskonzepten berücksichtigt werden müssen: -Als primäre Hemmfaktoren können gelten die unklare Definition von Interessen im Hinblick auf Präventionsmaßnahmen bei gleichzeitiger unsicherer Kosten/Nutzen-sowie Risiko-Kalkulation; ferner die Zurückhaltung bei der Einmischung in innere Angelegenheiten angesichts der noch immer dominanten Prinzipien von Souveränität und Nichteinmischung sowie der unklaren normativ-rechtlichen Grundlage bei der Behandlung von Fragen des Staatszerfalls, der Sezession, des Selbstbestimmungsrechts der Völker und ethno-nationa-ler Ansprüche; schließlich die Furcht, bei frühzeitiger Einmischung ohne eine sichere Erfolgschance immer tiefer in fremde Konflikte verstrickt zu werden, und ganz allgemein die Überlastung der Politik durch zu viele Krisenfälle gleichzeitig.
Gegenüber dem humanitären Argument (Vermeidung von unnötigem Leid) für Prävention wird angeführt, daß sich eine breite politische Unterstützung für Hilfsmaßnahmen in der Regel erst dann einstellt, wenn bereits menschliches Leid in Form von Gewalt und Blutvergießen manifest geworden und über die Medien transportiert worden ist („No One Cares Until It’s War!“) Gegen das Kostenargument wird eingewendet, daß Prävention vielleicht längerfristig tatsächlich kostengünstiger sei als die reaktive Nachsorge, aber nicht unbedingt kurzfristig, da unklar bliebe, ob ein relativ geringer Mitteleinsatz tatsächlich den gewünschten Erfolg erzielen würde oder nicht, er jedoch in jedem Fall Folgekosten nach sich zöge Ob ein frühes präventionspolitisches Engagement generell effektiver sei als eine spätere Einmischung, wird bezweifelt, da Konfliktparteien oftmals gar nicht willens seien, sich auf frühzeitige Präventionsmaßnahmen einzulassen, sondern eher auf eine Eskalation der Gewalt setzen. Zurückgewiesen wird auch ein allgemeines, durch Interdependenzerfordernisse begründetes Interesse an Prävention; dies gelte allenfalls selektiv und von Fall zu Fall und hänge von sehr konkreten Definitionen der Situation und der Interessen ab. -Als sekundäre Hemmfaktoren für Präventionspolitik können Restriktionen im Kontext bürokratischer Strukturen und komplexer Entscheidungsprozesse angeführt werden Hierzu gehören die Abkopplung der Fachkompetenz von Frühwarnern von der politischen Entscheidungsebene; persönliche und institutionelle Rivalitäten zwischen Spitzenbeamten, Politikern, Geheimdiensten und Bürokratien sowie offenkundiges Fehlverhalten in Gestalt von Verdrängung, Fehlwahrnehmung, Wunschdenken oder Mangel an Voraussicht.
Vorherrschend ist ein „skeptischer Reflex“ von Politikern gegenüber der Eintrittswahrscheinlichkeit eines vorhergesagten Ereignisses. Dies führt zu dem „ständigen Dilemma“ des Frühwarners, dessen Warnungen für um so unwahrscheinlicher gehalten werden, je früher er warnt. Bei möglichen Fehlprognosen besteht die Gefahr des Vorwurfs der Unglaubwürdigkeit und Unseriosität. Für den Entscheidungsträger ist daher oft „die Versuchung groß (und angesichts anderweitiger Probleme häufig überwältigend), abzuwarten und zu hoffen, das Problem löse sich doch noch von selbst“ Diese Einstellung macht Präventionspolitik zu einem recht schwierigen Geschäft, dessen „Aktionsbasis nicht auf bereits eingetretenen Ereignissen wie etwa einer militärischen Angriffshandlung beruht, sondern auf Besorgnissen, Vermutungen, Prognosen über potentielle Entwicklungen, die man voraussehen, über deren künftigen Verlauf man sich aber gleichwohl nicht völlig sicher sein kann“
Aus all diesen primären und sekundären Hemmfaktoren resultiert dann das, was man oft den „mangelnden politischen Willen“ für Präventionsbemühungen oder das „warning-response“ -Problem nennt. So ist oft selbst bei sachgerechter Früherkennung und funktionierender Frühwarnung eine rechtzeitige und angemessene politische Reaktion nicht garantiert. Dies belegen auf eindringliche Weise Ex-post-Analysen der Krisenfälle Irak/Kuwait, Jugoslawien, Somalia und Ruanda, in denen trotz vorliegender Frühwarnungen Präventionschancen nicht oder nicht ausreichend genutzt wurden
VI. Herausforderungen für Politik und Wissenschaft
Aus der bisherigen Erörterung von Defiziten und Problemen der Prävention lassen sich einige Her-ausforderungen für die politische Praxis und die wissenschaftliche Forschung ableiten: -Das größte Augenmerk sollte der Primärprävention gewidmet werden, also der Verhinderung einer Ausbreitung von Gewalt und kriegerischem Konfliktaustrag überhaupt. Dies ist sicherlich ein schwieriges Unterfangen, das oft genug infolge einer sukzessiven Verschlechterung von gesellschaftlichen Verhältnissen auf eine synchrone Mischung von genuin präventiver und schon eher reaktiv-kurativer Krisen-und Konfliktbearbeitung hinausläuft. -Der Generalprävention, also der allgemeinen und langfristigen, ursachenorientierten Vorbeugung im Sinne der These „Präventionsarbeit = Zivilisierungsarbeit" ist zwar über längere Zeiträume hinweg eine generelle präventive Wirkung zuzusprechen nicht aber immer und überall auch mittel-bis kurzfristig. Zweifellos ist Prävention nicht als „quick fix“ zu haben, doch wenn Gefahr im Verzüge ist, ist im Interesse gefährdeter Menschen auch eine „late“ oder „last minute prevention" unabdingbar, wenn auch nur als „Notbehelf“ -In diesem Sinne ist daher auch die eher mittel-bis kurzfristige Spezialprävention systematisch auszubauen, die sich zeitlich und räumlich konkreter mit zielgerichteten Handlungsstrategien in operativer Weise auf akute Krisenfälle einläßt. Hierfür ist allerdings eine Effektivierung von Früherkennungs-und Frühwarnsystemen erforderlich, eine Selektion der Fälle und eine Prioritätensetzung für Regionen und Länder nach Intensitäts-und Dringlichkeitsstufen sowie die Erarbeitung von spezifischen Krisenreaktionsplänen und projektorientierten Präventionsansätzen -Aufgabe einer systematisch zu entfaltenden Präventionsforschung wäre es, genauere Einblicke in die Genese und Dynamik von Krisen-und Konfliktprozessen zu gewinnen, namentlich in die Formationsphase von Gewaltträchtigkeit ferner plausible und praxisrelevante Erklärungs-und Prognosemodelle für die Früherkennung und Frühwarnung zu erarbeiten. Insbesondere sollte sie auch versuchen, genauer den „entry point“ für präventionspolitische Maßnahmen und die politischen Rahmenbedingungen für erfolgsträchtiges präventives Handeln zu bestimmen Dabei wären durch komparative Untersuchungen auch „Lehren“ zu ziehen aus Krisenfällen mit verpaßten Präventionschancen und „Erfolgsgeschichten“ von Prävention (u. a. Baltikum, Mazedonien, Südafrika) Das mindeste, was die Wissenschaft den Opfern nichtstattgefundener Prävention schuldig wäre, ist eine seriöse nachträgliche Untersuchung der Gründe für das präventionspolitische Versa-gen -Aufgabe der Politik wäre es, die monierte „Lücke“ zwischen der Frühwarnung und dem präventiven Handeln zu reduzieren bzw. zu schließen. Hierzu bedarf es eines konzeptionellen Umdenkens von der Reaktion zur Prävention, des ausdrücklichen politischen Willens zum präventiven Handeln sowie erheblicher institutionell-organisatorischer Anpassungen und Umschichtungen von Ressourcen aus dem diplomatisch-militärischen in den präventionspolitischen und entwicklungspolitischen Bereich Konkret ginge es dabei um Reformen im Bereich der Planung, der Beratung und operativen Durchführung, um die Förderung von mehr „weicher“, „ziviler“ Konfliktbearbeitung, um mehr Kooperation mit NROs, um mehr präventives „contingency planning", mehr „intelligence sharing“, um mehr gemeinsames „assessment“ von Informationen und Analysen, um mehr konsensuale Entscheidungs-und Handlungsfähigkeit sowie um eine bessere Institutionalisierung von Früherkennungs-und Frühwarnsystemen. Am wichtigsten aber wäre ein größeres Maß an Verbindlichkeit und Förmlichkeit präventiven Handelns und die ausdrückliche Bereitschaft, auch Risiken jenseits der unmittelbaren Betroffenheit eigener Interessenlagen einzugehen.
Insgesamt ist die Entwicklung eines politischen Rahmenkonzeptes erforderlich, das sich auf den Ausbau von operativen Möglichkeiten und Mitteln für Zwecke der Prävention konzentriert und in das alle Politikbereiche, Ressorts und Akteure einschließlich der NROs integriert sind. Es geht um die Erarbeitung und Erprobung eines kohärenten Gesamtkonzeptes von Präventionspolitik, das traditionelle und neue Instrumente von Diplomatie, Außen-und Entwicklungspolitik sowie NRO-Elemente ziviler Konfliktbearbeitung im Hinblick auf bestimmte Gesellschaften in bestimmten, kritischen Situationen zu bündeln vermag.
VII. Auf dem Wege zu einem internationalen Präventions-Regime?
Noch ist fraglich, ob die bisherigen Schocks und Lernprozesse für eine substantielle Stärkung des Präventionsgedankens ausreichen werden. Eine reine Neuetikettierung dessen, was Diplomatie und Entwicklungspolitik schon immer gemacht haben, als „Prävention“, ist selbstverständlich ungenügend. Die gegenwärtige Hochkonjunktur der Präventionsdebatte scheint durchaus mehr zu sein als eine aktuelle Modeerscheinung oder der Ausdruck einer zeitweiligen Verunsicherung der traditionellen Sicherheits-und Friedenspolitik. Dennoch muß vor allzu großem Optimismus gewarnt werden. Zum einen wirken die genannten Hemmfaktoren für präventives Handeln namentlich auf staatlicher Ebene weiter fort. Zum anderen bedarf es günstiger politischer Rahmenbedingungen, eines elementaren Willens der Konfliktparteien vor Ort zum friedlichen Dialog und zur Kooperation sowie angemessener und tauglicher Instrumente, um Präventionserfolge zu erzielen. Darauf deutet der schwierige Krisenfall Burundi hin, der nach dem Völkermord in Ruanda zu einem Testfall für erfolgreiche internationale Präventionspolitik werden sollte und wo trotz etlicher -wenngleich vielleicht nicht ausreichender -Bemühungen ein „schleichender Völkermord“ stattfindet Vielfach sehen sich Präventionsbemühungen komplexen, relativ eigendynamischen gesellschaftlichen Prozessen gegenüber, die auch bei bestem Willen und erheblichem Mitteleinsatz womöglich nur begrenzt friedenspolitisch zu steuern und zu kontrollieren sind. Dennoch gibt es keine vernünftigen Alternativen zu einem internationalen Präventions-Regime für das durch Aufklärung, öffentliche Mobilisierung und Lobbyarbeit der politische Wille gestärkt werden muß. Selbst wenn nicht immer und überall ein präventionspolitischer Erfolg gegeben wäre, könnte man doch zumindest sagen, man habe nach bestem Wissen und Gewissen das Mögliche zur Verhütung von Gewalt, Krieg und menschlichem Leid getan.