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Entwicklung und Demokratisierung in Südkorea. Kleine Schritte nach dem großen Sprung | APuZ 30-31/1996 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 30-31/1996 Vietnam an der Schwelle zum asiatisch-pazifischen Jahrhundert. Gesellschaftlicher Umbruch und kultureller Wandel Entwicklung und Demokratisierung in Südkorea. Kleine Schritte nach dem großen Sprung Kambodscha. Drei Jahre nach dem Ende des UNO-Mandats Indien nach den Parlamentswahlen 1996. Innenpolitische Entwicklung und regionale außenpolitische Interessenlage

Entwicklung und Demokratisierung in Südkorea. Kleine Schritte nach dem großen Sprung

Boris Holzer

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Südkorea gehört zu der Gruppe ostasiatischer Staaten, die als die „vier kleinen Tiger“ bezeichnet werden. Diese Länder -Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong -haben in den letzten 30 Jahren eine schnelle Industrialisierung und erstaunliche Wachstumsraten erreicht. In Südkorea war dieser Erfolg das Ergebnis langfristiger Wirtschaftspolitik unter einem autoritären Regime. Nach dem Militärputsch im Jahr 1961 verfolgte die politische Führung eine exportorientierte Industriepolitik, und die inländische Industrie wurde durch gezielte Interventionen auf Weltmarktniveau gebracht. Seit 1987 steht Südkorea im Zeichen einer demokratischen Transformation. Es wurden freie Präsidentschafts-und Parlamentswahlen durchgeführt, und der ehemalige Dissident Kim Young Sam wurde 1993 der erste zivile Staatspräsident seit über 30 Jahren. Er leitete eine Anti-Korruptions-Kampagne ein und ermöglichte eine Anklage gegen die beiden letzten Präsidenten aus den Reihen des Militärs. Die öffentliche Debatte und die moralische Empörung können dabei als Indikatoren für eine wichtige Etappe in der demokratischen Entwicklung gewertet werden.

I. Südkorea und die Entwicklungstheorie: kleiner Tiger, schwarzes Schaf?

Internationale Beobachter haben ihre Schwierigkeiten mit der facettenreichen Entwicklung Südkoreas. Der bemerkenswerte wirtschaftliche Aufschwung, den das Land seit den sechziger Jahren genommen hat, weckte das Interesse Dies galt um so mehr, als dieser Erfolg sich bald von der Stagnation im kommunistisch regierten Nordkorea abhob. Die wohlwollende Aufmerksamkeit war jedoch keineswegs von uneingeschränktem Beifall begleitet -schließlich war Südkorea nicht gerade ein Musterbeispiel für freie Marktwirtschaft und Demokratie. Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte ist zugleich eine Geschichte autoritärer Regierungen.

So kann es nicht weiter verwundern, daß die Ansichten über Südkorea auseinandergingen -und sich immer wieder veränderten. Lange Zeit wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, ausgerechnet Südkorea als Beispiel erfolgreicher Industrialisierung anzuführen. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die sechziger Jahre hinein waren die internationalen Entwicklungsagenturen der Ansicht, Südkorea sei ein eher hoffnungsloser Fall Politische Instabilität und ein beinahe ausschließlich fremdfinanziertes Wachstum verhießen wenig Gutes für die Zukunft des Landes. Nach einem Militärcoup im Jahr 1961 änderte sich das Bild: Das Militärregime setzte eine neue Entwicklungsstrategie durch, und Südkorea wurde zu einem der dynamischen Schwellenländer Ostasiens, die als die „vier kleinen Tiger“ (neben Südkorea sind dies Hongkong, Singapur und Taiwan) von sich reden machten. Doch die Dauerhaftigkeit des Militärregimes trübte das neue Erfolgsimage -trotz wirtschaftlichen Auf-schwungs ließ die erhoffte Demokratisierung auf sich warten.

Man sprach bereits von den Grenzen der südkoreanischen Erfolgsgeschichte und von einer „entwicklungspolitische(n) Sackgasse“ als 1987 die Demokratisierung eingeleitet wurde. Eine neue Verfassung stand am Anfang, und im weiteren Verlauf schien sich die demokratische Transformation Schritt für Schritt fortzusetzen. Südkorea konnte einhellige Anerkennung für seine „stille Revolution“ verbuchen. Der trügerische Eindruck eines sanften Übergangs wurde jedoch korrigiert, als die beiden letzten Präsidenten aus den Reihen des Militärs, Roh Tae Woo und Chun Doo Hwan, in weißer Häftlingskleidung vor ein weltweites Fernsehpublikum traten und sich beim eigenen Volk entschuldigten. Sie werden für brutale Übergriffe gegen die Opposition in den achtziger Jahren und langjährige Korruption verantwortlich gemacht. Das Ausmaß des Machtmißbrauchs erstaunte nicht nur die südkoreanische Öffentlichkeit: In den beiden Fällen geht es um Bestechungssummen von über 500 Millionen (Roh) bzw. sogar 1, 35 Milliarden DM (Chun).

Gänzlich unerklärlich sind die Verfehlungen der beiden ehemaligen Präsidenten allerdings nicht. Die Ursprünge von Korruption und Machtmißbrauch sind in den Strukturen eines bürokratischautoritären Entwicklungsstaates zu suchen, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Südkorea herausbildeten.

II. „Südkorea, Inc.“: Eine Erfolgsstory mit Schönheitsfehlern

1. Ein schlechter Start unter guten Vorzeichen

Eine eigene politische Entwicklung begann für Korea erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Davor war es jahrhundertelang von China abhängig und befand sich zwischen 1910 und 1945 unter japanischer Kolonialherrschaft. Nach der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg wurde Korea in die nationale Unabhängigkeit entlassen und sah sich nun mit dem Erbe des Kolonialismus konfrontiert. Dieses bestand aus vielen Altlasten, aber die japanische Besatzungsmacht hatte -neben vielen Zerstörungen -auch eine industrielle Infrastruktur hinterlassen, die zu den besten in der sogenannten „Dritten Welt“ gehörte Die forcierte Industrialisierung bewirkte, daß Korea wirtschaftlich und kulturell aus seiner stationär-agrarischen Wirtschaftsform herausgerissen wurde

Als souveräne „Nation“ blieb Korea zunächst ein Spielball der politischen Interessen der damaligen Hegemonialmächte. Die Supermächte USA und UdSSR entdeckten die koreanische Halbinsel für ihre strategischen Interessen Die Aufteilung in zwei Verwaltungszonen, die jeweils der Kontrolle der USA bzw.der UdSSR unterstanden, sollte eigentlich im Rahmen einer für das Jahr 1948 vorgesehenen, international überwachten Wahl beseitigt werden. Dazu kam es jedoch nie, statt dessen entstanden zwei eigenständige Staaten: die (sozialistische) Volksrepublik Korea im Norden und die (kapitalistische) Republik Korea im Süden des Landes. Durch den wenig später ausgebrochenen Krieg zwischen beiden Staaten (1950-1953) wurde Südkoreas wirtschaftliche Infrastruktur schwer geschädigt. Nur die großzügige ökonomische Aufbauhilfe der USA verhinderte, daß die Wirtschaft völlig zusammenbrach. Die Hilfe belief sich auf sechs Milliarden US-Dollar zwischen 1945 und 1978 -soviel wie für den gesamten afrikanischen Kontinent innerhalb des gleichen Zeitraums

Auf der Basis dieser Finanzmittel begann die Entwicklungsphase der sogenannten primären Import-Substitution (1953-1960), in der vor allem einfache Konsumgüter für den Eigenbedarf hergestellt wurden. Die inländische Industrie wurde durch Zölle geschützt und durch den Import hochwertiger Industriegüter unterstützt. Die üppigen Finanzmittel wurden von der Staatsbürokratie unter dem Präsidenten Syngman Rhee allerdings nicht nur zum Ausbau der Industrie genutzt, sondern dienten auch der persönlichen Bereicherung Die Effizienz der Hilfsgüterverteilung sank, und die USA kürzten ihre Leistungen. Die schlechten wirtschaftlichen Aussichten beeinträchtigten die Chancen des selbstherrlich regierenden Syngman Rhee auf eine Wiederwahl. Der Versuch, sich durch Wahlfälschungen zu retten, führte im Wahljahr 1960 zu Studentenunruhen und schließlich zum Sturz des Präsidenten. Die neue Regierung brachte zwar einige wichtige Reformen auf den Weg fortgesetzte wirtschaftliche Schwierigkeiten untergruben jedoch ihre Legitimität und Handlungsmöglichkeiten.

2. Der „große Sprung“ und der Weg zur Entwicklungsdiktatur

Wirtschaftliche Turbulenzen waren die Rechtfertigung für den Militärputsch am 16. Mai 1961. Eine Militärclique um den Offizier Park Chung Hee ergriff die Macht, löste das Parlament auf und erklärte das demokratische Experiment vorerst für beendet -Südkorea solle seine Kräfte nicht auf die Demokratie verschwenden, sondern auf die wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren: „Food comes before politics.“ Das Militärregime setzte nun auf eine rigorose Wirtschaftssteuerung, womit die Erfolgsgeschichte Südkoreas begann.

Doch dieser Erfolg hatte seinen Preis: Demokratische Entwicklung und die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten am Wohlstand waren zunächst nicht vorgesehen Alle Parteien und politischen Organisationen wurden verboten; eine ganze Generation von Politikern wurde durch das „Gesetz zur Läuterung von politischen Aktivitäten“ mit einem sechsjährigen Verbot politischer Betätigung belegt Auf Druck der USA mußte das Militärregime zwar die Rückkehr zur Demokratie versprechen, aber nach dem knappen Sieg Parks bei den Wahlen im Jahr 1963 setzten sich die Repressionen gegen die Opposition fort. Um dem wachsenden Widerstand zu begegnen, erklärte Park Chung Hee 1972 schließlich das Kriegsrecht und setzte eine neue Verfassung in Kraft: die soge-nannte „Yushin-“ (Erneuerungs-) Verfassung. Die entscheidende „Neuerung“ dieses Gesetzeswerks bestand darin, daß der Präsident von nun an nicht mehr vom Volk, sondern von einer regierungsergebenen „Nationalen Konferenz für Wiedervereinigung“ bestimmt wurde und keiner Beschränkung seiner Amtszeit mehr unterlag.

Parks Herrschaft fand einige Jahre später ein gewaltsames Ende. Er wurde am 26. Oktober 1979 vom Chef seines eigenen Geheimdienstes KCIA

(Korean Central Intelligence Agency) ermordet.

Der General Chun Doo Hwan sicherte sich die Unterstützung wichtiger Teile der Armee und übernahm die Macht. Sein Regime sollte zu einem Synonym erneuter Unterdrückung werden, die ihr deutlichstes Symbol in der brutalen Niederschlagung eines Aufstands in der Stadt Kwangju fand. Dort wurden im Mai 1980 Hunderte von Demonstranten bei Straßenschlachten getötet.

3. Wirtschaft und Politik: enge Verbindung mit Distanz

Die Machtübernahme durch das Militär markiert den entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung Südkoreas. Reichliche Finanzmittel zum Aufbau der Wirtschaft standen bereits vorher zur Verfügung, wurden aber nicht effektiv eingesetzt. Erst die klar exportorientierte Wirschaftspolitik des Militärregimes nutzte die beiden großen Chancen jener Zeit: die gute Finanzausstattung und die expandierenden Binnenmärkte der westlichen Industrieländer, die optimale Absatzmöglichkeiten für typische Produkte der Leichtindustrie boten Die neue Wirtschaftspolitik setzte auf den komparativen Vorteil niedriger Lohnkosten, um die eigenen Produkte auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu machen.

Die Tatsache, daß das südkoreanische Wirtschaftswachstum der sechziger Jahre dem massenhaften Export von arbeitsintensiven Gütern der Leichtindustrie zu verdanken ist, führt gelegentlich zu einem Mißverständnis. Südkorea profitierte zwar von den Vorteilen eines offenen Welthandels, kann aber dennoch kaum als Musterbeispiel einer liberalen Wirtschaftspolitik gelten. Ganz im Gegenteil: Die Entwicklungschancen in einem liberalen ökonomischen Umfeld konnten gerade dadurch genutzt werden, daß der Staat in die nationalen Marktmechanismen aktiv intervenierte -etwa indem er zur „Verzerrung“ der relativen Preise beitrug, um günstige Investitionsbedingungen zu schaffen Es wurde eine staatliche Wirtschaftsplanung eingeführt und in einem ersten Fünfjahresplan (1962-1966) erprobt. In diesem fand bereits die Strategie einer exportorientierten Industrialisierung (etwa 1963-1972) ihren Niederschlag: Arbeitsintensive Produkte der Leichtindustrie (z. B. Textilien) sollten vor allem den ausländischen Markt bedienen.

Zu Beginn der siebziger Jahre veränderte sich das ökonomische Umfeld. Südkorea als aufstrebendes Schwellenland sah sich mit dem sogenannten „Sandwich“ -Problem konfroniert: Von „oben“ drohte der Protektionismus der westlichen Industrieländer und von „unten“ die Niedriglohn-Konkurrenz anderer Entwicklungsländer (z. B. Malaysia und Indonesien). Im dritten Fünfjahresplan (1972-1976) wurde deshalb die Entwicklungsstrategie modifiziert. Die exportorientierten Industriezweige sollten weiter ausgebaut, daneben aber die einheimische Schwerindustrie gefördert werden Der Stahl-und Chemieindustrie wurde höchste Priorität eingeräumt. Dieser Schritt zu größerer industrieller Selbständigkeit wurde von amerikanischer Seite mit Argwohn beobachtet, drohte er doch die Bedeutung des Wirtschaftspartners USA zu verringern. Auf die finanzielle Hilfe der Vereinigten Staaten war Südkorea zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr im bisherigen Ausmaß angewiesen. Die Lage der internationalen Finanzmärkte in den siebziger Jahren erlaubte es, diese Entwicklung durch billige Kredite zu finanzieren Beide Entwicklungsphasen -die Exportorientierung der sechziger und die schwerindustrielle Entwicklung der siebziger Jahre -entstanden nicht durch das Engagement einzelner Unternehmer, sondern durch die „Marktlenkung“ der Staats-bürokratie Um die Rahmenvorgaben der Fünfjahrespläne zu formulieren und umzusetzen, entwickelte sich ein institutionelles Geflecht von Unternehmen und Staatsbürokratie. Sein zentrales Element sind die großen Industrie-und Handelsfirmen -die sogenannten Chaebois -und ihre Kooperation mit der Staatsbürokratie. Die Chaebols sind zwar äußerst potente Unternehmenskonglomerate, aber dennoch auf die politische Führung angewiesen -vor allem durch den lange Zeit staatlich geleiteten Finanzsektor in Südkorea. Durch die gezielte Vergabe günstiger Kredite und andere ökonomische Anreize wurden die Unternehmen für Entwicklungsvorhaben, die als strategisch bedeutsam beurteilt wurden (zum Beispiel die Automobilproduktion), mobilisiert: Mit Förderung und Unterstützung konnte nur rechnen, wer sich in den von der Staatsbürokratie vorgesehenen Bereichen engagierte. Die Mißachtung derartiger Richtlinien konnte unangenehme Folgen haben -beispielsweise penible Betriebsprüfungen oder Kreditrückforderungen

Eine wichtige Rolle spielte dabei das Economic Planning Board (EPB), ein Äquivalent zum japanischen

MITI (Ministry of International Trade and

Industry) Ähnlich wie in Japan sollte diese einzelne Behörde jedoch nicht zu einer zentralen Planungs-und Steuerungsinstanz, die der gesamten Volkswirtschaft die Marschrichtung vorgibt, hoch-stilisiert werden. Beide Behörden setzten ihre Ziele nicht „per ordre de Mufti“ durch, sondern über eine ausgedehnte Netzwerkstruktur öffentlicher und privater Stellen. Um ihre Entwicklungsziele verwirklichen zu können, mußte die Staats-bürokratie stets auf die gesellschaftlichen Interessengruppen Rücksicht nehmen. Die Unternehmer wurden deshalb nicht einfach mit zu erfüllenden „Planvorgaben“ konfrontiert, sondern in den Entscheidungprozeß selbst miteingebunden

Der Einfluß einzelner Firmen blieb jedoch begrenzt, und das hatte seinen Sinn. Eine erfolgreiche Entwicklungsstrategie ist zwar auf breite Unterstützung und Legitimation durch die relevanten Gruppen angewiesen -in der Regel kann sie aber kaum als Kompromiß aus allen in Frage kommenden Interessen entstehen Die Entwicklungsbürokratie muß deshalb eine gewisse Autonomie gegenüber widerstreitenden Interessen, ihre „politische Abgeschlossenheit“ gegenüber den unterschiedlichen Gruppen behaupten können. In Südkorea wurden einige Voraussetzungen für eine relative Autonomie des Staatsapparates in der japanischen Besatzungszeit geschaffen: Die Großgrundbesitzer wurden während dieser Zeit weitgehend marginalisiert, und die anschließende, kurze Periode industrieller Entwicklung konnte das Wachsen eines politisch bedeutsamen Bürgertums nicht wirksam fördern Dies führte zu einer wenig differenzierten Sozialstruktur, in der es -außer dem Militär -kaum strategische Gruppen gab, die einen Gestaltungsanspruch anmelden konnten. Das Aufkommen neuer sozialer Gruppen, etwa einer organisierten Industriearbeiterschaft, wurde mit allen Mitteln verhindert. Ansprüche an den Entwicklungsprozeß, die das Konzept des Militärregimes in Frage stellen wollten, wurden im Ansatz unterbunden, etwa durch die Denunzierung als pro-kommunistische Propaganda.

Um sowohl die Autonomie der Bürokratie als auch Unterstützung für die Entwicklungspläne sicherzustellen, gilt es, eine delikate Balance von enger Zusammenarbeit mit und nötiger Distanz zu einzelnen Interessengruppen zu halten: Zum einen muß die Formulierung einer stringenten und von partikularen Interessen unabhängigen Entwicklungsstrategie möglich sein, zum anderen die Umsetzung durch eine dezentral verankerte institutionelle Struktur gesichert werden; alle Entwicklungsvorstellungen der Bürokratie sind aussichtslos, wenn sich keine wirtschaftlichen Akteure finden, die sie auch verwirklichen Die Kooperation von Staat und Unternehmern in Südkorea konnte diese Anforderungen erfüllen. Offenbar war der bürokratisch-autoritäre Staat in der Lage, mögliche Widersprüche zwischen einer geplanten Wirtschaftsentwicklung und den Profit-interessen einzelner Unternehmen zu entschärfen -„to have one’s cake and eat it too“ Die enge Verflechtung von Staatsbürokratie und Unternehmen bei der Umsetzung der Entwicklungsstrategie brachte dafür neue Probleme mit sich: Zwar genossen die Beamten gegenüber den auf Kredite angewiesenen Unternehmen einen strukturellen Vorteil, den sie zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen (und natürlich auch zur Korruption) zu nutzen wußten. Aber der Staat wurde seinerseits immer abhängiger von den großen Chaebois, da deren Wohlergehen über Gedeih und Verderb der südkoreanischen Volkwirtschaft entschied „So bildeten ... Regierung und Großunternehmen zusammen quasi einen noch größeren Konzern: War es die Regierung, die den Vorsitzenden der Südkorea Inc.'stellte, so besetzte die Wirtschaft einige der Direktorenposten.“ Die Beteiligung der Belegschaft in der Firma Südkorea, Inc. war dabei lange Zeit kein Thema.

4. Gewinnbringender Verzicht der Bevölkerung

Die für beide Seiten einträgliche Verbindung von Staatsbürokratie und Industrie läßt eine entscheidende Komponente vermissen: diejenigen Teile der Bevölkerung, die das Wirtschaftswachstum in den Fabriken erarbeiten sollten. In der Gleichung der Staatsbürokratie tauchten sie tatsächlich nur als Restgröße auf, nämlich als Arbeitskosten, die im Sinne komparativer Vorteile möglichst gering zu halten waren. Kleingehalten wurde dementsprechend auch die organisierte Arbeitnehmervertretung, und das Problem der Arbeitsbeziehungen wurde „hauptsächlich dem KCIA und der Polizei überlassen“ Gewerkschaften wurden staatlich kontrolliert, Streiks verboten und der inländische Konsum beschränkt. Das bedeutete für die Bevölkerung eine unterproportionale Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung. Auch wenn Südkorea im internationalen Vergleich eine egalitäre Einkommensverteilung aufwies und die Reallöhne stiegen, war die Benachteiligung der unteren Schichten offensichtlich: Südkorea galt als Spitzenreiter bei den Arbeitszeiten und immer noch als Schlußlicht bei den Löhnen für unqualifizierte Tätigkeiten, der Sicherheit am Arbeitsplatz und den Sozialleistungen.

Angesichts dieser Bedingungen drängt sich die Frage nach dem Widerstand der Bevölkerung auf. In der Tat gab es immer wieder Proteste, denen zum Teil mit repressiven Mitteln begegnet wurde. Doch Gewalt alleine wäre kein probates Mittel gewesen, wenn sich breite Teile der Arbeiterschaft zum Protest entschlossen hätten -dieser blieb jedoch aus. Die objektive materielle Benachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen reicht offensichtlich nicht aus, damit kollektiver Widerstand entstehen kann. Die Betroffenen müssen dazu ein subjektives Gefühl von Ungerechtigkeit entwicklen, das sie erst zum Auf-begehren motiviert Dieses Gefühl blieb in Südkorea überwiegend unterhalb der kritischen Schwelle. Eine wichtige Rolle spielte dabei die offizielle Propaganda: Mit der vom Militärregime Park ausgegebenen nationalen Entwicklungsparole wurde sehr geschickt ein kollektiver „sense of backwardness“ gegenüber den westlichen Industrienationen inszeniert, um persönliche Opfer für eine gewisse Zeit zu rechtfertigen. Das Versprechen von künftigem Wohlstand und die sichtbaren Erfolge der wirtschaftlichen Entwicklung, zusammen mit einem traditionell tief verankerten Vertrauen in die Kraft der Regierung, trugen zur Vertagung sozialer Verteilungskonflikte bei

Der Wirtschaftswissenschaftler Albert O. Hirsch-man hat dieses Phänomen als den „Tunneleffekt“ gesellschaftlicher Entwicklung beschrieben Dieser Effekt kann dann eintreten, wenn ein beginnender Aufschwung bei einigen bevorzugten Gruppen den bisher benachteiligten das Gefühl vermittelt, auch man selbst käme in naher Zukunft in den Genuß eines höheren Lebensstandards. Hirschman verdeutlicht dies am Beispiel eines Staus: „Nehmen wir einmal an, ich fahre durch einen Tunnel mit zwei Spuren in gleicher Richtung und gerate in einen langen Stau. So weit mein Auge reicht (und es reicht nicht sehr weit), steht der Verkehr auf beiden Spuren still. Ich befinde mich auf der linken Spur und bin deprimiert. Nach einiger Zeit beginnen die Autos auf der rechten Spur wieder zu rollen. Meine Stimmung steigt natürlich beträchtlich, denn ich weiß, daß der Stau sich aufzulösen beginnt und auch die Schlange auf meiner Seite jetzt jeden Moment in Bewegung kommen wird. Und obwohl ich immer noch regungslos dasitze, fühle ich mich aufgrund der Erwartung, daß es gleich weitergehen wird, viel besser als vorher.“ Eine relative Benachteiligung kann deshalb für eine gewisse Zeit problemlos hingenommen werden, wenn die Aussicht auf eine Entschädigung für das Warten besteht.

Die entscheidende Frage bei der Betrachtung des Tunneleffekts ist nun: Wann werden die benachteiligten Gruppen aufbegehren, wann werden sie das Gefühl haben, auch sie seien nun endlich an der Reihe? Für Südkorea kann diese Frage inzwischen beantwortet werden.

III. Regeln der Politik -alt und neu

1. Von der Legitimitätskrise zur Demokratie

Ende der achtziger Jahre erzwang die südkoreanische Bevölkerung in zum Teil blutigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär die Demokratisierung. Unter dem Eindruck einer langen Protestwelle zum Ende der Amtszeit Chun Doo Hwans schlug im Juni 1987 der Ex-General und Chun-Vertraute Roh Tae Woo überraschend eine

Liberalisierung im Rahmen einer Verfassungsänderung vor Nach einem langen Aushandlungsprozeß zwischen Regierung und Opposition fanden im Dezember 1987 tatsächlich freie Wahlen statt, die der Regierungskandidat Roh Tae Woo angesichts einer zersplitterten Opposition gewann. Es war der erste formell korrekte und friedliche Machtwechsel in der Geschichte Südkoreas. Die nächste freie Wahl gewann der ehemalige Dissident Kim Young Sam. Er wurde 1993 der erste zivile Staatspräsident.

Der beherzte Protest, der zur Demokratisierung geführt hatte, erstaunte viele Beobachter -war man doch lange davon ausgegangen, der Autoritarismus wäre in der koreanischen politischen Kultur tief verankert In der konfuzianischen Tradition des Landes bedeutete die Macht des Fürsten viel, die Meinung der Untertanen dagegen wenig. Die etablierte Ordnung in Frage zu stellen galt als anstößig und widersprach dem grundlegenden Harmoniestreben in allen sozialen Umgangsformen. Doch unter der harmonisch wirkenden Oberfläche schwelte in Südkorea schon lange die Legitimitätskrise politischer Herrschaft Von den ersten „Unsauberkeiten“ unter Präsident Syngman Rhee in den fünfziger Jahren über die Militär-coups von Offizier Park Chung Hee (1961) und General Chun Doo Hwan (1979) bis zu den demokratisch bestimmten Präsidenten Roh Tae Woo (1987) und Kim Young Sam (seit 1993) hatten und haben alle damit zu kämpfen, daß ihrer Herrschaft nicht bedingungslose Geltung zugestanden wurde.

Die Opposition hat immer wieder versucht, die traditionellen Moralansprüche gegen das autoritäre Regime zu wenden, indem sie die fehlende Legitimität der Machthaber anprangerte Lange schien es, als könnten sich die autoritären Herrscher durch den Verweis auf den wirtschaftlichen Erfolg und die kommunistische Gefahr aus dem Norden an der Macht halten. Daß es letztlich zum Ausbruch der Legitimitätskrise kam, verweist auf die zunehmende Akzeptanz einer neuen Deutung sozialer Wirklichkeit.

Ein Indikator dafür ist die erhebliche Konjunktur der sogenannten Minjung-Bewegung seit Beginn der achtziger Jahre Der Minjung-Begriff wurde ursprünglich von protestantischen Theologen geprägt und hatte von Anfang an politische Implikationen. Er steht für die jahrhundertelange Unterdrückung und Ausbeutung der „unteren Schichten“, die als das zentrale Problem der koreanischen Geschichte identifiziert wird. Die Minjung-Bewegung und andere Kräfte der Demokratiebewegung kritisierten die gesellschaftliche Situation als ungerecht -und untergruben die Legitimität der Entwicklungsdiktatur. Konnte man bisher immer noch voraussetzen, „daß hinlänglich viele der Regierten den Eindruck haben, daß unter den je gegebenen Umständen das relativ Beste für sie getan wird“ so war nun das Warten auf Wohlstand in Frage gestellt. Zusammen mit der politischen Transformation erreichte die Bevölkerung deutliche Lohnsteigerungen -und wandte sich dann der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zu.

2. Vom Nutzen der Korruption

Lediglich „traditionelle Schenkungen“ habe er erhalten, die zudem einer „lange überlieferten politischen Praxis“ entsprochen hätten - so entschuldigte sich der ehemalige Präsident Roh Tae Woo zunächst im Fernsehen und später vor Gericht in Seoul. Der Ex-General gab zu, während seiner Amtszeit von 1988 bis 1993 mehr als 560 Millionen DM an Bestechungsgeldern angesammelt zu haben. Der Weg vom Präsidentensessel auf die Anklagebank wurde ihm von seinem Nachfolger Kim Young Sam geebnet, als dieser -wie schon einige Präsidenten vor ihm -die Korruption zum „Staatsfeind Nr. I“ erklärte und eine Anti-Korruptions-Kampagne einleitete. Der Kampf gegen die Korruption in der Beamtenschaft hat in der südkoreanischen Politik mittlerweile eine nahezu genauso lange Geschichte wie das Feindbild Kommunismus: Bereits Park Chung Hee nannte ihn als einen Grund für den Militärputsch 1961. Auch in anderen (Entwicklungs-) Ländern gehört der Kampf gegen Korruption zum Begründungsrepertoire jedes Regimewechsels: „In den weniger entwickelten Ländern ist "Korruption" eine der ersten Anklagen der Putschisten gegen das bisherige Regime. Und im allgemeinen ist die Anklage zutreffend.“

Der wesentliche Unterschied zu den vorangegangenen Beteuerungen war, daß unter Kim tatsächlich-und unter lebhafter Anteilnahme der Öffentlichkeit -Maßnahmen gegen korrupte Beamte, Militärs und Unternehmer einsetzten. Das überraschte viele Beobachter, die dieses (symbolische) Ritual eines Regimewechsels bereits zu kennen glaubten. Weniger überraschend war, daß sich die Verfolgung der Korruption in der oben angedeuteten Reihenfolge vollzog: Schnell wurde eine große Zahl von Beamten entlassen, und nach einigem Zögern wurden auch Militärs und die beiden ehemaligen Präsidenten Chun und Roh angeklagt. Die meisten der mehr als nur verdächtigen Unternehmer, darunter einige Chaebol-Gründer, kamen jedoch relativ glimpflich davon denn bei allem Verlangen nach Strafe und Gerechtigkeit sollte die Wirtschaft nicht allzu sehr unter den Anti-Korruptions-Verfahren leiden. Nervöse Reaktionen der Börse auf die Verhaftung von Firmenchefs hatten offenbar dazu beigetragen, den Eifer der Ermittler zu bremsen.

Trotz allem war die Teilhabe und moralische Empörung der südkoreanischen Gesellschaft erstaunlich. Schließlich -hier ist Rohs Entschuldigung vollkommen zutreffend -ist die Korruption ein altes Übel mit traditionellen Wurzeln zu dem fast jeder seinen Teil beitrug -und beitragen mußte. In Gesellschaften mit starken Gruppenbindungen, wie sie überall in den konfuzianisch geprägten Ländern Asiens anzutreffen sind, ist es nichts Ungewöhnliches, daß die Übertragung „moderner“ Institutionen zu Korruption führt. Die konkreten Verpflichtungen des einzelnen Beamten gegenüber seinem familialen Netzwerk sind erst einmal gewichtiger als die abstrakten Pflichten eines „öffentlichen“ Amtes. Die neuen Amts-gewalten werden deshalb leicht dahingehend (miß-) verstanden, ihr Zweck sei vor allem die Versorgung der eigenen Klientel Die dadurch entstehende Art von Korruption kann in den sich rasch wandelnden Gesellschaften durchaus redistributive Funktionen erfüllen, indem sie die Gewinner der Wirtschaftsentwicklung -die neuen Unternehmer -schröpft und dieses Geld an andere gesellschaftliche Schichten weiterleitet. In diesem Sinne erfüllt Korruption dann einen stabilisierenden Zweck und hilft, soziale Konflikte zu verringern

Korrupte Strukturen hatten auf diese Weise lange Zeit einen doppelten Nutzwert: Zum einen konnten sie immer wieder als Legitimationshilfe zur Beseitigung politischer Gegner genutzt werden, zum anderen boten sie eine informelle Struktur zum Ausgleich sozialer Gefälle und möglicher Konfliktlinien. Diese Einbettung der Korruption in das Gesellschaftsgefüge wurde allerdings durch zwei Entwicklungen untergraben: durch ihre strukturellen Grenzen in einer differenzierten Gesellschaft und durch die Entstehung einer bürgerlichen Schicht, die eine neue Bewertungsinstanz konstituierte: einer politischen Öffentlichkeit.

3. Die neuen Regeln einer politischen Öffentlichkeit

Die sinkende Akzeptanz korrupter Praktiken hängt mit einem speziellen „Tunneleffekt“ zusammen: Die durch Korruption eröffneten Chancen werden positiv beurteilt, solange jeder meint, irgendwann selbst davon profitieren zu können, solange Korruption also „redistributive“ Funktionen erfüllen kann. Die Ausgleichsfunktion des informellen Gebens und Nehmens hat in einer modernisierten Gesellschaft wie dem Südkorea der achtziger Jahre allerdings ihre Grenzen. Ausgelöst durch den wirtschaftlichen Fortschritt, hat sich die Zahl der Interessengruppen und -bereiche vervielfacht. Der Spielraum eines einzelnen Beamten oder Politikers, individuelle Entscheidungen durchzusetzen, wurde dadurch deutlich eingeschränkt. Mit anderen Worten: Es wurde zunehmend schwieriger, die je spezifischen Steuerungsmedien beider Bereiche -„Macht“ im politischen und „Geld“ im wirtschaftlichen System -effektiv gegeneinander zu tauschen. Ein südkoreanischer Geschäftsmann faßte diese Erkenntnis über die Grenzen der Korruption so zusammen: „Früher galt: abgemacht ist abgemacht, aber wenn man heute eine Abmachung mit jemandem trifft, hat er nicht mehr die Macht, sie auch einzuhalten.“

Diese strukturellen Grenzen der Korruption ließen bei vielen den Verdacht aufkommen, daß durch sie „die Reichen nur noch reicher“ gemacht würden. Dieses neue -und nicht ganz falsche -Deutungsmuster, daß die ohnehin schon Bevorzugten durch Korruption noch mehr erhielten, während die breite Masse leer ausgehe, setzte sich mehr und mehr durch. Mit anderen Worten: Die Bevölkerung gelangte zu der Ansicht, daß die „traditionellen Geschenke“ von Roh und anderen vor allem auf ihre Kosten gemacht wurden, und damit war die moralische Grenze zur Korruption überschritten.

Diese Grenze zwischen einer (akzeptablen) „Gabe“ und der (verwerflichen) „Bestechung“ wird dadurch markiert, daß im einen Fall ein privater Tausch, im anderen aber eine Schädigung der Allgemeinheit vermutet wird. Korruption ist dem üblichen Verständnis nach nichts anderes als der Mißbrauch einer öffentlichen Amtsgewalt zur Erzielung privaten Profits. Deshalb ist es aber erst aufgrund einer symbolischen Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre überhaupt möglich, Korruption als moralisch verwerflich zu empfinden. „Korrupt“ ist dann die unerlaubte Über-kreuzung und Vermischung beider Bereiche. Für Südkorea, wie für viele andere Gesellschaften, war es lange Zeit kennzeichnend, daß eine Differenz zwischen beiden Sphären faktisch nicht existierte Das hat sich augenscheinlich geändert. Denn die außergewöhnliche Empörung über den Mißbrauch eines öffentlichen Amtes weist darauf hin, daß diese Differenz im Bewußtsein der Bevölkerung durchaus präsent ist. Gibt es also eine poli-tische Öffentlichkeit, die sich von den langjährigen Machthabern emanzipiert?

Zumindest sind Anzeichen dafür vorhanden. Die Korruptionsaffäre hat eine eigene Dynamik gewonnen, die inzwischen ihrem Initiator Kim Young Sam selbst das Leben schwer macht. Kim Dae Jung, sein langjähriger Kollege und Konkurrent im Widerstand gegen das Militärregime, hat zugegeben, ebenfalls mit einigen Millionen von Rohs Geldfundus profitiert zu haben. Und er bezichtigt Kim Young Sam, viel mehr erhalten zu haben. Bisher hat Roh Tae Woo ihn noch nicht direkt belastet, doch der Präsident muß weitere Enthüllungen befürchten. Seine kürzliche Entscheidung, sowohl Roh als auch Chun vor allem wegen ihrer Beteiligung am Putsch 1980 zu belangen, wird deshalb als ein Ablenkungsmanöver interpretiert. Die Öffentlichkeit fordert aber unbeeindruckt weitere Aufklärung.

Offenbar will die südkoreanische Bevölkerung nicht länger als eine passive Öffentlichkeit fungieren. Lange Zeit war sie nur die Kulisse für ein politisches Schauspiel, in dem die Repräsentanten einer kleinen Elite vor allem „sich selbst und ihren Status darstellen“ Nun drängt sie darauf, die Tagesordnung des politischen Geschäfts selbst zu bestimmen. Sie vollzieht damit einen entscheidenden Schritt in der demokratischen Transformation: aus Wirtschaftsbürgern sind Staatsbürger geworden. Das „Volk hat sich als Souverän erkannt“ - und erwartet von der eigenen Geschichte noch manche Selbsterkenntnis.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf, das vor dreißig Jahren noch bei etwa 100 US$lag, belief sich im Jahr 1993 bereits auf 7660 US$. Damit liegt Südkorea knapp hinter Portugal und noch vor Griechenland (Weltbank, Weltentwicklungsbericht, Bonn 1995),

  2. Vgl. Bruce Cumings, The Political Economy of the Pacific Kim, in: Ravi Arvind Palat (Hrsg,), Pacific Asia and the Future of the World-System, Westport-London 1993, S. 21-37, hier: S. 24,

  3. Vgl, David A. Smith/Su-Hoon Lee, Limits on a Semiperipheral Success Story? State Dependent Development and the Prospects for South Korean Democratization, in: William G. Martin (Hrsg.), Semiperipheral States in the World-Economy. New York u. a. 1990, S. 79-95.

  4. Hans Ulrich Luther, Südkorea: (K) ein Modell für die Dritte Welt?, München 1981, S. 208.

  5. Frank B. Gibney, Korca's Quiet Revolution. From Garrison State to Democracy, New York 1992.

  6. Vgl. Bruce Cumings, The Origins and Development of the Northeast Asian Political Economy: Industrial Sectors, Product Cycles, and Political Consequences, in: Frederic C. Deyo (Hrsg.), The Political Economy of the New Asian Industrialism, Ithaca-London 1987, S. 44-83, hier: S. 56. Außerdem führte die Besatzungsmacht eine Landreform durch und förderte die Bildungs-und Gesundheitssysteme.

  7. Vgl. Wilhelm Bürklin, Die vier kleinen Tiger. Die pazifische Herausforderung, München 1993, S. 155. Zum Bruch mit der kulturellen Tradition vgl. Young-Iob Chung, The Impact of Chinese Culture on Korea’s Economic Development, in: Hung-chao Tai (Hrsg.), Confucianism and Economic Development: An Oriental Alternative?, Washington D. C. 1989, S. 149-165.

  8. Vgl. Vgl. Peter J. Opitz, Das „Land der Morgenstille“ -ein Brennpunkt der Weltpolitik, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 36. -37/88, S. 3-16.

  9. Vgl. Walden Bello /Stephanie Rosenfeld, Dragons in Distres$: The Crisis of the NICs, in: World Policy Journal, 7 (1990), S. 431-468, hier: S. 434. Die Unterstützung hatte ein klares strategisches Ziel: die Sicherung der amerikanischen Einflußzone in Asien. Die Wirtschaften der Newly Industrialized Countries (NICs) sollten gefördert werden, um sie gegen den vermuteten „Domino-Effekt“ kommunistischer Machtübernahme in Asien zu schützen. Wirtschaftswachstum sollte sie gegen diese Bedrohung „immunisieren“; vgl. B. Cumings (Anm. 2) und P. J. Opitz (Anm. 8), S. 7.

  10. Vgl. W. Bürklin (Anm. 7), S. 168 ff.

  11. U. a. wurde die Autonomie der lokalen Behörden gestärkt; siehe dazu Mark B. M. Suh, The Long March Toward Democracy: Assessment of the Political Modernization in the Republic of Korea, in: Internationales Asienforum, 24 (1993), S. 57-74, hier: S. 59.

  12. Chung Hee Park, To Build a Nation, Washington D. C. 1971, S. 101.

  13. Park betonte immer wieder, eine „gesunde“ Demokratie könne nur auf der Basis einer funktionierenden Wirtschaft entstehen; so etwa in seiner Rechtfertigung des Putsches unter dem -bescheidenen -Titel „The Country, the Revolution andl“, Seoul 19702, S. 184f.

  14. Vgl. W. BUrklin (Anm. 7), S. 179.

  15. Vgl. W. Bello /St. Rosenfeld (Anm. 9), B. Cumings (Anm. 6) und Gary Gereffi, Rethinking Development Theory: Insights from East Asia and Latin America, in: Sociological Forum, 4 (1989), S. 505-533.

  16. Vgl. Alice H. Amsden, Asia’s Next Giant. South Korea and Late Industrialization, New York-Oxford 1989, S. 13f. Kritische Anmerkungen zum neoliberalen „Mißverständnis“ bietet der Überblick von Robert Wade, East Asia’s Economic Success: Conflicting Perspectives, Partial Insights, Shaky Evidence, in: World Politics, 44 (1992), S. 270-320.

  17. Vgl. Goog-Heon Chung, Zur regulationstheoretischen Analyse der kapitalistischen Entwicklung Südkoreas, Frankfurt am Main u. a. 1991, S. 126 ff., sowie Manfred Pohl. Entwicklungsstrategien, wirtschaftlich-technologischer Fortschritt und politische Implikationen: Das Beispiel Südkorea, in: Werner Draguhn (Hrsg.), Asiens Schwellenländer: Dritte Weltwirtschaftsregion?, Hamburg 1991, S. 33-60, hier: S. 45.

  18. Vgl. dazu auch Giovanni Arrighi/Sakoshi Ikeda/Alex Irwan, The Rise of East Asia: One Miracle or Many?, in: Ravi Arvind Palat (Hrsg.), Pacific Asia and the Future of the World-System, Westport-London 1993, S. 41-65.

  19. Vgl. Steve Chan, Puff, the Magic Dragons: Reflections on the Political Economy of Japan, South Korea, and Taiwan, in: Journal of Developing Societies, 4 (1988), S. 208-224, und Tun-jen Cheng, Political Regimes and Development Strategies: South Korea and Taiwan, in: Gary Gereffi/Donald L. Wyman (Hrsg.), Manufacturing Miracles. Paths of Industrialization in Latin America and East Asia, Princeton NJ 1990, S. 139-178.

  20. Vgl. A. H. Amsden (Anm. 16), Kapitel 6; W. Bürklin (Anm. 7), S. 184 ff.

  21. Siehe die detaillierte Studie von Chalmers Johnson, MITI and the Japanese Miracle: The Growth of Industrial Policy 1925-1975, Stanford 1982.

  22. Park Chung Hee führte regelmäßige „Exportförderungssitzungen“ ein, auf denen die Regierung ihre Ziele vorstellte. Bei diesen Treffen sollten auch die Unternehmer ihre eigenen Vorstellungen äußern (W. Bürklin [Anm. 7], S. 184). Man könnte von einer „konzertierten Aktion“ sprechen; vgl. Suck-Kyo Ahn, Die wirtschaftliche Entwicklung Südkoreas, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36-37/88, S. 33-41, hier: S. 37.

  23. Vgl. Peter Evans, Predatory, Developmental, and Other Apparatuses: A Comparative Political Economy Perspective on the Third World State, in: Sociological Forum, 4 (1989), S. 561-587.

  24. Frederic C. Deyo, Coalitions, institutions, and linkage sequencing -toward a Strategie capacity model of East Asian Development, in: ders. (Hrsg.), The Political Economy of the New Asian Industrialism, Ithaca-London 1987, S. 227-247, hier: S. 230.

  25. Vgl. ebd„ S. 233.

  26. Auf beiden Seiten ist deshalb ein spezifisches Wissen von Bedeutung: in der Bürokratie die Qualifikation für eine geordnete Verwaltung, in der Wirtschaft Motivation und Fähigkeit zum unternehmerischen Handeln (Vgl. P. Evans [Anm. 23], S. 575).

  27. Meredith Woo-Cumings, The „New Authoritarianism“ in East Asia, in: Current History. 93 (1994), S. 413-416, hier: S. 414.

  28. Zu Beginn der achtziger Jahre entsprachen die Umsätze der beiden größten Chaebois, Hyundai und Samsung, einem Viertel aller Umsätze Südkoreas. Zusammen mit 28 weiteren Unternehmen erwirtschaften sie auch heute noch 82 Prozent des Bruttosozialprodukts (The Economist vom 3. Juni 1995, S. 516; Time vom 26. Juni 1995, S. 53).

  29. Eun-Jeung Lee, Autoritäre Herrschaft und wirtschaftliche Entwicklung in Südkorea. Rückblick und Ausblick, in: Internationales Asienforum, 24 (1993), S. 75-90, hier: S. 80.

  30. A. H. Amsden (Anm. 16), S. 324.

  31. Der Gini-Koeffizient, ein Maß zwischen 0 (vollkommene Gleichverteilung) und 1 (absolute Konzentration) für die Verteilung der Einkommen auf die einzelnen Haushalte, lag 1985 bei 0, 36 und war damit im internationalen Vergleich relativ niedrig (vgl. Goog-Heon Chung [Anm. 17], S. 141 ff.).

  32. Vgl. Barrington Moore, Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand, Frankfurt am Main 1987.

  33. Vgl. Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge 1962.

  34. Vgl. Lucian W. Pye, Asian Power and Politics. The Cultural Dimensions of Authority, Cambridge, Mass. -London 1985, S. 223. Vgl. auch Frederic C. Deyo, Beneath the Miracle. Labor Subordination in the New Asian Industrialism, Berkeley u. a. 1989, S. 87 ff., sowie Kyong-Dong Kim, The Distinctive Features of South Korea’s Development. in: Peter L. Berger /H. H. Michael Hsiao (Hrsg.). In Search of an East Asian Development Model, New Brunswick. NJ 1988, S. 197-219.

  35. Albert O. Hirschman, Entwicklung, Markt und Moral. Abweichende Betrachtungen, Frankfurt am Main 1993, S. 71 ff.

  36. Ebd., S. 72. Die Stärke des „Tunneleffekts“ hängt vom historischen und soziokulturellen Hintergrund ab. Homogene Gesellschaften mit starken sozialen Bindungen zwischen den einzelnen Individuen können am ehesten auf ihn setzen, da in ihnen die Identifikation mit den Gewinnern der beginnenden Entwicklung am größten ist. Südkorea hatte aus dieser Sicht beste Voraussetzungen: Es ist ethnisch weitgehend homogen und seit Jahrhunderten geeint, die einzelnen Individuen sind durch die konfuzianisch geprägte Kultur gruppenorientiert sozialisiert.

  37. Roh Tae Woos „Deklaration demokratischer Reformen“ enthielt u. a. die direkte Wahl des Präsidenten, die Freilassung von politischen Gefangenen, die Achtung der Pressefreiheit und die Förderung der lokalen Autonomie; siehe M. Suh (Anm. 11), S. 61 f. und Manwoo Lee, The Odyssey of Korean Democracy, New York u. a. 1990, S. 145 ff.

  38. Vgl. die Studie von L. W. Pye (Anm. 34) sowie Oskar Weggel, Die Asiaten. München 1994, S. 105 ff.

  39. Vgl. M. Lee (Anm. 37), S. 4; L. W. Pye (Anm. 34), S. 218f.

  40. Der Oppositionspolitiker Kim Dae Jung zitierte etwa den chinesischen Philosophen Menzius. Dieser erkannte dem Volk für den Fall von Machtmißbrauch das Recht zu, „sich zu erheben und seine Regierung im Namen des Himmels zu stürzen“ (Kim Dae Jung, Kultur ist keine Bestimmung, in: Nach uns die Asiaten? Die pazifische Herausforderung, ZeitPunkte, (1995) 4, S. 22-24, hier: S. 23).

  41. Das Wort Minjung, ein Kompositum aus „Min“ (Volk) und „Jung“ (Masse), bezeichnet die benachteiligten „kleinen Leute“, also das städtische Industrieproletariat, Landarbeiter und Bauern. Vgl. zur Minjung-Ideologie ausführlicher Sei-Kee Kwon, Nation und Demokratie in Südkorea. Zur Diskussion um politische Identität in einem geteilten Land und in einer Übergangsgesellschaft (Dissertation), Universität Freiburg i. Br. 1991, S. 129 ff.; Yul Shin, Politische und ideen-geschichtliche Entstehungsbedingungen des Sozialstaates. Ein Vergleich zwischen Deutschland und (Süd-) Korea (Dissertation), Universität Freiburg i. Br. 1995, S. 175 ff.

  42. Ronald Hitzier, Die banale Seite der Macht. Politik als Beruf heute -und morgen, in: Helmuth Berking/Ronald Hitzler/Sighard Neckel (Hrsg.), Politikertypen in Europa, Frankfurt am Main 1994, S. 280-295, hier: S. 290.

  43. Zwischen 1986 und 1990 stieg der durchschnittliche Stundenlohn um 28 Prozent (M. Pohl [Anm. 17], S. 52).

  44. taz vom 16. Januar 1996, S. 9, und taz vom 24. November 1995, S. 12.

  45. Y. Shin (Anm. 41), S. 247.

  46. Vgl. J. S. Nye, Corruption and Political Development: A Cost-Benefit Analysis, in: American Political Science Review, 61 (1967), S. 417-427, hier: S. 417.

  47. Von 35 verdächtigen Firmenchefs wurden letztlich nur acht angeklagt (The Economist vom 9. Dezember 1995,

  48. Vgl. etwa Bettina Gransow, Die Gabe und die Korruption. Form-und Funktionswandel des Tausches in China, in: Internationales Asienforum, 22 (1991), S. 343-360.

  49. Die Versorgung der eigenen Klientel ist ein Kostenfaktor, der ein Zusatzeinkommen bitter nötig macht. Parlamentarier, die wegen der Annahme von Bestechungsgeldern verurteilt wurden, rechtfertigten sich gern mit dem Verweis auf die hohen „Kosten“ ihrer Abgeordnetentätigkeit. Ihre Wählerinnen und Wahler erwarteten Spenden für Hochzeiten und Beerdigungen, Einladungen nach Seoul und anderes mehr, Ein frischvermähltes Paar wollte sich von „ihrem" Abgeordneten gar die Hochzeitsreise finanzieren lassen (Far Eastern Economic Review vom 30. Mai 1991, S. 54).

  50. Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, Glencoe 1957 2, S. 126 -136.

  51. Far Eastern Economic Review (Anm. 49). Aus soziologischer Perspektive könnte man davon sprechen, daß die Medien „Macht“ und „Geld" einen höheren Grad der Generalisierung erreicht und dadurch an persönlicher Bindung verloren haben. Siehe dazu ausführlicher: Neil J. Smelser, Stabilität. Instabilität und die Analyse der politischen Korruption, in: Christian Fleck/Helmut Kuzmics (Hrsg.), Korruption. Zur Soziologie nicht immer abweichenden Verhaltens, Königstein/Ts. 1985, S. 202 -228,

  52. A. O. Hirschman (Anm. 35), S, 79.

  53. Vgl. M. Lee (Anm. 37), S. 14. Zur westlichen Geschichte der Ausdifferenzierung von „Öffentlichkeit“ vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990 (Orig. 1962), S. 54 ff.

  54. J. Habermas (Anm. 53), S. 17.

  55. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 12. 1995.

Weitere Inhalte

Boris Holzer, geb. 1970; Studium der Soziologie an der Universität München; seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Münchner Projektgruppe für Sozialforschung (MPS), Forschungsschwerpunkte: Theorien gesellschaftlicher Entwicklung, Kultursoziologie, Technik-und Wissenschaftssoziologie.