I. Einleitung
Der besondere Stellenwert der Olympischen Spiele Berlin 1936 in der hundertjährigen Geschichte der Olympischen Bewegung ist nicht nur dem Umstand zu verdanken, daß Berlin die erste Olympiastadt war, die auf die Finanz-und Machtmittel einer auf Außendarstellung bedachten Diktatur zurückgreifen konnte, deren propagandistische Fest-und Feierroutine zu dem olympischen Zeremoniell eine Reihe von Innovationen beisteuerte, die -wie der Fackellauf -noch heute zum festen Inventar des pseudo-sakralen Gepränges der Olympischen Spiele gehören Der besondere Stellenwert der Berliner Spiele von 1936 gründet sich auch auf ihre ungebrochene Faszination. „Die Spiele unter dem Hakenkreuz“ sind im kollektiven Gedächtnis -nicht nur der Deutschen -erstaunlich tief verankert
Sieht man allerdings von zwei deutschen Arbeiten aus den siebziger Jahren ab, von denen nur eine, die von Arnd Krüger, wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und sich zudem auf den Aspekt der Wahrnehmung der Spiele in den USA konzentriert, sind bislang Monographien zu den Olympisehen Spielen 1936 nur in Frankreich, Großbritannien und in den USA erschienen Zur Ehre der deutschen Sportgeschichtsschreibung muß allerdings erwähnt werden, daß sich zahlreiche Artikel, Aufsätze und Gesamtdarstellungen mit dem Thema befaßten und die erwähnten ausländischen Arbeiten von diesem Forschungsstand profitierten -wenn sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahmen, was z. B. bei der Arbeit des englischen Journalisten Hart-Davis aus dem Jahr 1986, der sich weitgehend auf die Aufzeichnungen Vansittarts stützte, leider nicht der Fall ist. Eine wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung steht immer noch aus Die DDR-Sportgeschichtsschreibung, der ja das Olympia-Archiv in Potsdam und deren Reisekadern im Gegensatz zur Aussperrung westdeutscher Forscher aus den DDR-Archiven auch die West-Archive offenstanden, hat hier eine große Chance verpaßt und sich in relativ billig gestrickten Miß-brauchspolemiken für den tagespolitischen Hausgebrauch erschöpft
Die in der DDR dominierende Mißbrauchsformel, welche die DDR-Sportführung nicht davon abhielt, dem wichtigsten zeitgenössischen Fürsprecher der Berliner Spiele, dem US-Amerikaner Avery Brundage journalistische und literarische Elogen zu widmen stieß im Kalten Krieg der fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik auf Ablehnung. Aber nach den Arbeiten von Bernett, Ueberhorst und Krüger in den siebziger und achtziger Jahren ließ sich die These von der „Oase der Freiheit“ (Carl Diem) nicht länger aufrechterhalten. Mit Ausnahme der National-Zeitung, die gegen die politische Relativierung der sportlichen Triumphe Deutschlands und die „Falschdarstellungen“ der „Profis der Vergangenheitsbewältigung“ polemisierte und des Sportinformationsdienstes, dessen Redakteur K. A. Scherer die „Unfähigkeit zum Jubilieren“ beklagte und den Sporthistorikern unterstellte, dem deutschen Sport ein „Trauma“ zugefügt zu haben, an dem er noch heute „laboriert und leidet“ zeigt eine repräsentative Auswertung der Gedenkartikel zum 50. Jubiläum daß sich eine kritische Sicht der Spiele und ihrer politischen Instrumentalisierung durch die NS-Machthaber durchgesetzt hatte.
Inzwischen ist bei einigen Autoren das Pendel soweit ausgeschlagen, daß sie den Sport an sich, seinen Körperkult, seine disziplinierenden Funktionen, seine massenhaften Festformen und das olympische Zeremoniell unter einen generellen Faschismusverdacht stellen. Sie entfernen sich damit allerdings immer weiter von dem eingangs erwähnten positiven kollektiven Gedächtnis an die Spiele von 1936. Eine erneute Rekonstruktion der Ereignisse und der Rezeptionsgeschichte der Spiele erscheint daher durchaus gerechtfertigt.
II. Rekonstruktion der Ereignisse
1. Die olympische Stimmung des Sommers 1936 war (auch) ein Produkt der NS-Propaganda Sieht man von jenen Interpretationen ab, die auch die Architektur der dreißiger Jahre pauschal in den Faschismus-Kontext einbeziehen hat sich in der Literatur inzwischen die These durchgesetzt, daß die Spiele von 1936 gerade wegen ihrer betont unpolitischen Durchführung eine nachhaltige politische Wirkung zugunsten des NS-Regimes entfaltet haben. Diese These ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil der Kern der Spiele und ihr Umfeld von vielen Zeitgenossen als frei von politischen Zwängen, als perfekt organisiertes Weltsportfest wahrgenommen wurden. Falsch ist die These von den „unpolitischen“ Spielen, der heute noch viele Sportfunktionäre anhängen, weil gerade die relativ unpolitische Stimmung politisch gewollt und bewußt herbeigeführt worden war.
Was hatte man nicht alles getan, um in der Reichshauptstadt im Sommer 1936 eine friedvoll-heitere Atmosphäre zu ermöglichen, die -vor allem im Kulturleben -an die glanzvollen zwanziger Jahre erinnerte und erinnern sollte. Im Obergeschoß des Kronprinzenpalais konnte man eine nur geringfügig „entschärfte“, aber immer noch repräsentative Darbietung wichtiger Werke der Moderne sehen, darunter zum letzten Mal van Goghs „Kornfeld mit Mäher“ und Franz Marcs „Turm der blauen Pferde“ Auf den Straßen und Plätzen benahmen sich Schutzpolizisten wie Schutzengel, der Kurfürstendamm erlebte einen Nachklapp der zwanziger Jahre, erinnert sich der Autor Dieter Anders. Besonderes Augenmerk galt einer betont friedlich-zivilen Selbstdarstellung: Wenige Monate nach dem Einmarsch deutscher Truppen in das entmilitarisierte Rheinland sollte für das Ausland der Eindruck eines friedliebenden Deutschlands erzeugt werden. Nachdem das Organisationskomitee noch am Anfang des olympischen Jahres mit dem Gedanken gespielt hatte, das Reichssportfeld mit „wehrsportlichen Kämpfen“ einzuweihen was am Veto Hitlers scheiterte, sollte nun auf Geheiß des Reichsinnenministeriums das militärische Element aus dem öffentlichen Erscheinungsbild weitgehend zurücktreten: Den Angehörigen der uniformierten Parteiformationen wurde befohlen, „in den olympischen Kampfstätten nach Möglichkeit sportliche Kleidung und nicht Uniform (zu) tragen“ Die Leibstandarte durfte auf Befehl Himmlers „bei Eintreffen des Führers nicht mit aufgepflanztem Seitengewehr absperren“ und in einer Besprechung über das Rundfunkprogramm während der Olympischen Spiele wurde befohlen, „ ... unter allen Umständen wegen der im Reich zu Besuch weilenden Ausländer Marschmusik zu vermeiden“ Das Angebot der italienischen Regierung, eine militärische Kunstfliegerstaffel nach Berlin zu entsenden, wurde aus gleichen Gründen dankend abgelehnt
Die gute Stimmung sollte, wie den geheimen Presseanweisungen zu entnehmen ist, weder durch Nachrichten über Versorgungsengpässe, Bierpreiserhöhungen oder über Kapitalverbrechen gestört werden. Andere Maßnahmen, die ein negatives Auslandsecho befürchten ließen, wie die bereits beschlossene Ausbürgerung Thomas Manns oder die Prozesse wegen sogenannter Rassenschande, wurden bis zur Beendigung der Spiele zurückgestellt.
Als die völkische Wochenschrift „Die Stimme“ gegen die zahlreichen kirchlichen Veranstaltungen während der Spiele -eine Konzession an die Adresse der amerikanischen Kirchen, die lange . Zeit einen Boykott der Spiele befürwortet hatten -zu polemisieren begann, wurde sie kurzerhand verboten Gegenüber den Amerikanern, deren Teilnahme bis zuletzt umstritten war, ließ man besondere Vorsicht walten: Die deutsche Presse wurde mehrfach strikt angewiesen, in der Rassenfrage strikte Neutralität zu wahren, insbesondere nachdem der „Angriff“ den Fauxpas begangen hatte, die farbigen Olympiasieger als „Hilfstruppen“ zu bezeichnen, was natürlich, wie z. B.den Tagebüchern Goebbels zu entnehmen ist, vorherrschende Auffassung der NS-Führung war. Zurückhaltung sollte auch beim Jubel über die deutschen Siege gewahrt werden. Nach der überschwenglichen Reaktion einiger Blätter über die ersten deutschen Leichtathletiksiege mahnte das Propagandaministerium zur Mäßigung: „Wir dürften uns ... nicht nur mit den deutschen Siegen beschäftigen, sondern müßten auch den anderen Ländern Gerechtigkeit widerfahren lassen“, notierte der Berliner Korrespondent der Frankfurter Zeitung am 4. August 1936 Kleine Olympiamannschaften sollten von der Presse so gut behandelt werden wie große. „Berlin war wie ein Rausch“, erinnert sich der deutsche Olympiasieger im Hammerwerfen Erwin Blask Diesen Eindruck nahmen auch viele ausländische Besucher mit nach Hause, die sich zum Teil in Leserbriefen darüber beschwerten, man habe das Ausmaß der Verfolgungen und Drangsalierungen, z. B.der jüdischen Bevölkerung, maßlos übertrieben Und tatsächlich hat der Umstand, daß in Berlin, wie schon in Garmisch-Partenkirchen, die „Stürmer“ -Kästen und die antijüdischen Parolen im Umfeld der olympischen Sportstätten entfernt wurden und daß der deutschen Presse strikt untersagt wurde, „über Auseinandersetzungen mit Juden“ zu berichten, zu dem Eindruck einer vorübergehend gezähmten Radikalität der nationalsozialistischen Rassenpolitik vor und während der Olympischen Sommerspiele beigetragen. Retardierende Momente in der Judenverfolgung sind nicht zu übersehen. Sie beschränkten sich aber auf die Olympiaorte und die Duldung eines kulturellen Eigenlebens der jüdischen Gemeinden, das dann 1938 zerschlagen wurde. In Bayern mußte sogar die SS eingesetzt werden, um die Olympiastraße München -Garmisch von antijüdischen Schildern zu säubern. Der vor allem in der Memoirenliteratur weit-und weiterverbreitete Eindruck einer vorübergehend gezähmten Radikalität der NS-Rassenpolitik verdankt seine Entstehung diesen primitiven Täuschungsmanövern und der manipulierten Berichterstattung in der gleich-geschalteten deutschen Presse. Dieser Eindruck ist gleichsam ein Langzeiterfolg der Goebbelschen Presselenkung, die am 27. Januar 1936 folgende Anweisung erließ: „Mit Rücksicht auf die Winterolympiade wird es strengstens untersagt, in Zukunft über Zusammenstöße mit Ausländern und tatsächlichen Auseinandersetzungen mit Juden zu berichten. Bis in die lokalen Teile hinein sollen derartige Dinge unter allen Umständen vermieden werden, um nicht noch in letzter Minute der Auslandspropaganda Material gegen die Winterolympiade in die Hand zu geben.“ 2. Die Erinnerung an das Sportereignis Die mühsam rekonstruierte „Wirklichkeit“ bzw. rekonstruierten „Wirklichkeiten“ des Historikers, dem die Quellen und damit auch die internen Informationen des Jahres 1936 zur Verfügung stehen, sind selbstverständlich nicht gleichzusetzen mit den aktuellen Wahrnehmungen der Zeitgenossen, zumal wenn sie über die verengte Perspektive des sportbegeisterten Fans wahrgenommen wurde, der sich für das politische Umfeld nicht interessierte. Dieser Fan bekam perfekt organisierte Spiele geboten, erlebte ein Olympia der Rekorde mit mehr Teilnehmern als je zuvor (4 066 Sportler aus 49 Ländern), mit mehr Zuschauern (3, 7 Millionen, darunter 150 000 Ausländer), mit sportlichen Leistungen ohnegleichen: Allein in den Leichtathletik-Wettbewerben wurden zwölf Weltrekorde verbessert, Olympische Rekorde Überboten. Dieser Fan bekam technische Neuerungen wie den automatischen Zielfilm geboten. Wichtiger aber waren die technischen Innovationen außerhalb der Wettkampfstätten: die totale Rundfunkübertragung der Spiele, die ersten Fernsehbilder (in den Empfangsstuben der Reichspost sollen über 100 000 Berliner Zeugen der Wettbewerbe gewesen sein) und das vorher nicht gekannte Ausmaß der Presse-und der filmischen Olympiaberichterstattung, die Medienkampagne im Vorfeld, die weltweite Übertragungstechnik und die zahlreichen Berichtbände, darunter die bekannten Sammel-Alben des Zigaretten-Bilderdienstes Altona-Bahrenfeld. Dies alles zusammen verschaffte in Verbindung mit dem überraschend guten Abschneiden der deutschen Sportler der Olympischen Bewegung in Deutschland eine vorher nicht gekannte Massenbasis und einen Nachhall, der durch die filmische Stilisierung durch Leni Riefenstahl noch verstärkt wurde.
Ein weiterer Grund für die nachhaltige Erinnerung -vor allem in Sportkreisen -ist in dem Umstand zu suchen, daß es zwölf Jahre dauern sollte, bis wieder Olympische Spiele gefeiert werden konnten. Bis auf wenige sportliche Ausnahmeerscheinungen war Berlin für eine Generation von Sportlern die einzige olympische Chance und das einzige olympische Erlebnis. Daß die Vorbereitungen für den Krieg, der für den Ausfall der Spiele von 1940 und 1944 sorgte, ausgerechnet im Sommer 1936 einen Höhepunkt erreichten, steht ebenfalls außer Diskussion.
III. Die olympische Kehrtwendung der NSDAP
Der aber wohl ausschlaggebende Grund für den besonderen Stellenwert von 1936 in der hundertjährigen Geschichte der Spiele -weit über den Kreis der Sportinteressierten hinaus -muß vor allem in dem olympischen Kurswechsel der NSDAP im Jahr 1933 gesucht werden. Vor 1933 schien die Kluft zwischen nationalsozialistischer und olympischer Bewegung unüberwindlich zu sein. In den NS-Monatsheften wurden die Spiele als Ausdruck „individualistisch-demokratischer Sportauffassung“ bekämpft, als „künstliche, mechanische Gebilde“ gebrandmarkt. Die Idee der internationalen Olympischen Spiele müsse sich letztlich „... politisch in einer Begünstigung des bolschewistischen Kampfes gegen die weiße Rasse auswirken“ 27. Der „Völkische Beobachter“ kritisierte vor allem die Mitwirkung von „unfreien Schwarzen“ als „Instinktlosigkeit und Inkonsequenz der Nationen weißer Rasse“
Als bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles zum ersten Mal ein schwarzer Sprinter die Goldmedaille über 100 Meter gewann (Edward Tolan), polemisierte der „Völkische Beobachter“: „Neger haben auf der Olympiade nichts zu suchen.“ Und an die Adresse der Aus-richter der bereits 1931 an Berlin vergebenen Spiele richtete das NSDAP-Blatt die kategorische Aufforderung: „Die Schwarzen müssen ausgeschlossen werden. Wir erwarten es.“
IV. Die internationale Boykott-diskussion
Als dann 1933 fast alle deutschen Sportverbände in einem Akt vorauseilenden Gehorsams und peinlicher Selbstgleichschaltung im Wettlauf um die Gunst der neuen Machthaber jüdische Sportlerinnen und Sportler aus ihren Reihen ausschlossen -prominentester Fall war der Daviscup-Spieler Daniel Prenn -, erinnerte sich die Weltpresse an die rassistischen Tiraden der NS-Presse aus Anlaß der Spiele von Los Angeles und stellte Überlegungen über den Verbleib der Spiele in Berlin an. Durch Theodor Lewald, den Präsidenten des Deutschen Olympischen Ausschusses, auf die propagandistischen Potentiale der Spiele aufmerksam gemacht, beeilte sich die Reichsregierung zu erklären, die Olympische Charta in vollem Umfang respektieren zu wollen -mit einer Einschränkung: „Die Sportsleute aller Welt seien in Berlin ohne Unterschied der Rasse willkommen, wie Deutschland allerdings seinen Sport organisiere, sei seine Angelegenheit.“ 30 Im „Völkischen Beobachter“ stellte der spätere stellvertretende Reichssportführer Breitmeyer klar: „Für den internen deutschen Sportbetrieb (ließe man sich nicht) Richtlinien von außen vorschreiben.“ Die Verantwortlichen -Hans von Tschammer und Osten wurde erst sechs Tage später zum Reichssportkommissar ernannt -hatten sorgfältig registriert, daß sich IOC-Präsident Henri de Baillet-Latour offensichtlich mit den neuen Machthabern arrangieren wollte und zunächst vom Prinzip der Nichteinmischung in deutsche Fragen ausging.
Diese nachgiebige Haltung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) im April 1933 ist von der offiziösen olympischen Selbstdarstellung, die Berlin 1936 heute noch als Sieg des Sports über die Politik feiert, stets verschwiegen worden. In Hinblick auf das Schweigen des IOC nach dem Bruch der später auf Druck der Amerikaner gegebenen Zusage, auch deutschen Juden die Teilnahme innerhalb der deutschen Mannschaft zu ermöglichen, soll die Position Baillet-Latours vom April 1933 im Wortlaut zitiert werden:
Baillet erklärte, .. daß sich an dem Beschluß, die Spiele 1936 in Berlin stattfinden zu lassen, nichts geändert habe. Die Auffassung des Internationalen Olympischen Komitees gehe nach wie vor dahin, daß die Olympischen Spiele von dem Ideal des Friedens und des guten Einvernehmens zwischen den Völkern beherrscht sein müsse. Jedes Volk und jede Rasse müsse in voller Gleichberechtigung an den Spielen teilnehmen können. Aber dies bedeute nicht, daß sich das Internationale Olympische Komitee mit den inneren Angelegenheiten Deutschlands befassen könne. Wenn Deutschland seinerseits keine jüdischen Sportsleute mit seiner Vertretung beauftrage, sei das ganz seine Sache. Das Olympische Protokoll dürfe nicht auf engherzige Weise ausgelegt werden.“
In dieser ersten Erklärung des IOC war also noch von einer großzügigen Regelauslegung zugunsten der rassistischen NS-Auffassung und nicht von einer verpflichtenden Offenheit der deutschen Mannschaft auch für jüdische Sportlerinnen und Sportler die Rede. Die Bereitschaft, „grundsätzlich“ auch deutschen Juden die Teilnahme innerhalb der deutschen Mannschaft zu ermöglichen, wurde erst auf massiven Druck der Amerikaner auf der IOC-Sitzung in Wien am 5. Juni 1933 schriftlich eingeräumt -eine Zusage, die aus verschiedenen Anlässen, so z. B. auf der IOC-Sitzung in Athen 1934, sogar unter Nennung von möglichen jüdischen Olympiakandidaten feierlich bekräftigt wurde. Die wiederholten Zusagen der deutschen Organisatoren, zugunsten Olympias ein Kernstück der NS-Rassenideologie suspendieren zu wollen, erfolgten zu keinem Zeitpunkt freiwillig. Sie waren stets Reaktionen auf Resolutionen und Erklärungen amerikanischer Sportverbände, die androhten, bei einer Fortdauer der antijüdischen Diskriminierung im deutschen Sportleben den Spielen fernbleiben zu wollen.
Diese lang anhaltende und besonders in den USA intensiv geführte Diskussion über die Frage der Teilnahme, die erst im Dezember 1935 mit einer knappen Mehrheit von 58 % Stimmen gegen 55 % Stimmen entschieden wurde, ist ein weiteres Charakteristikum der Berliner Spiele. Nie zuvor und trotz des Boykotts von 1980 und des Gegenboykotts von 1984 auch später nicht ist so intensiv und so kontrovers um die Frage der Teilnahme gestritten worden. Die Geschichte dieser Teilnahmediskussion und die Gegenmaßnahmen der deutschen Propaganda -zum Schluß immer in enger Abstimmung mit dem IOC -verdienen eine gesonderte Darstellung 33. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die wenig bekannte Zielgruppenarbeit der prominenten deutschen Sportler Schmeling und von Cramm im Ausland, die demonstrative Nominierung der prominenten „Halbjuden“ Rudi Ball und Helene Mayer, die ebenfalls lange unbekannte Zusage des evangelischen Jungmännerwerkes an das YMCA und das dreiste Täuschungsmanöver des deutschen IOC-Mitgliedes Theodor Lewald, der z. B. nach außen hin auch dann noch die Unabhängigkeit des Organisationskomitees behauptete, als diese längst nicht mehr vorhanden war. und der -gegenüber dem englischen Nationalen Olympischen Komitee (NOK) -das antisemitische Schulungsmaterial des für die ideologische Schulung der Turner und Sportler zuständigen Reichsdietwartes im Deutschen Reichsbund für Leibesübung als unverbindliche private Meinungsäußerung verniedlichte
Der enge Schulterschluß der deutschen Gegenpropaganda mit dem IOC -selbst Coubertin ließ sich für Berlin reaktivieren -provoziert die Frage, ob das schlechte Abschneiden Berlins 1993 nicht auchzum Teil auf das schlechte Gewissen des IOC zurückzuführen ist, das z. B.den schärfsten Kritiker der politischen Instrumentalisierung der Spiele durch den Nationalsozialismus, den Amerikaner Ernest Lee Jahncke, aus seinen Reihen ausschloß -ein einmaliger Fall in der Geschichte des IOC.
Festzuhalten ist, daß die Arbeit des „Committee on Fair Play in Sports“, zu dem sich in den USA eine breite Koalition von NS-Gegnern aus beiden christlichen Konfessionen, Gewerkschaftern, Vertretern der Demokratischen Partei, von Sportfunktionären und von jüdischen Organisationen zusammengeschlossen hatten, und des „Comite international pour le respect de l’esprit olympique“, das in Paris von Linksintellektuellen und Arbeiterorganisationen gebildet worden war, zu einer vertieften Kenntnis der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse NS-Deutschlands auch in Bevölkerungskreisen beigetragen hat, die sich sonst für außenpolitische Fragen nicht interessierten. Das zum Teil überraschend kritische Echo in den internationalen Blättern auf die Spiele von 1936 muß daher auch als Reflex auf die Diskussion der politischen Begleitumstände im Vorfeld angesehen werden, wobei sich auch hier ein differenzierter Blick lohnt.
V. Die Olympischen Spiele 1936 im Spiegel der Auslandspresse
Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die Rezeption der Berliner Spiele im spannungsreichen Jahr 1936 von den jeweiligen außen-und innenpolitischen Positionen der Presseorgane nicht unbeeinflußt bleiben konnte, überrascht der kritische Tenor vieler Gesamtwürdigungen in der Presse des neutralen Auslandes.
Die Kritik der kleineren Nationen setzte dabei nicht nur an der neuen Dimension des Pomps und des Gigantismus der Spiele an, sondern an der offenkundigen politischen Instrumentalisierung des Sports durch den Gastgeber, die als Widerspruch zum Gedanken des Sports und zum Geist des Olympismus gebrandmarkt wurde. Was in Berlin geschah, werteten die liberalen „Baseler Nachrichten“ als „Rekordsüchtelei, nationalistisch befohlenen und in Szene gesetzten Sportzwang“. Der Sporterfolg des Gastgebers wurde vor allem in der schweizerischen Presse als Produkt eines „diktatorisch hochgekommenen Sports, den nicht
Einzelne aus Bedürfnis betreiben, sondern den ein ganzes Volk auszuüben gezwungen ist“ kritisiert. Allgemeinere sportkritische Überlegungen stellte das konservative „Berner Tageblatt“ in den Vordergrund seines Resümees: „Der Sport wird nicht mehr um seinetwillen betrieben, sondern er ist Mittel zum Zweck. Eitelkeit, Ehre, soziale Stellung und falscher Nationalstolz sind die treibenden Faktoren, was den olympischen Gedanken jedenfalls zuwidersteht.“
Während die bürgerliche Presse der kleineren Länder, z. B. Schwedens, durch die Vorherrschaft der Sportgroßmächte einen Verlust an olympischer Motivation befürchtete, stilisierte die Presse des faschistischen Italiens „die Olympischen Spiele zum Lebensbarometer der Völker“. Die „Gazetta dello Sport“ (19. 8. 1936) brachte dieses faschistische Sportverständnis auf folgende Kurz-formel: „Einzelne Rassen und Nationen sind in ihren Leistungen bei den Weltspielen im Aufstieg begriffen, während andere, wie England und Frankreich, auf dem Wege der Dekadenz sind. Es sind die jungen Völker, die vormarschieren.“
Die sonst deutsch-kritisch eingestellte französische Rechtspresse schloß sich diesem Urteil an und forderte aus innenpolitischen Gründen eine Übertragung des deutschen Modells der Sportförderung und Jugendmobilisierung auf Frankreich dagegen folgten die auflagenstarken Blätter „L’Auto“ und „Paris Soir“ nach anfänglich positiver Berichterstattung der kritischen Tendenz der Linkspresse und übertrafen diese schließlich an Polemik und Schärfe: „Zu oft haben wir das . Deutschland über alles 4 und das Hitlerlied'brüllen hören, nicht mehr der Sportler wurde gefeiert, sondern die ganze Nation, der Sieg der Rasse, der Regierung, des Heeres! . .. Keine Nation soll sich mehr der Spiele bedienen dürfen, um sein Volk zu fanatisieren und um zu versuchen, den Ausländer zu demütigen!“ Als allerdings das Sportblatt „L’Auto“ die kritische Nachbetrachtung mit einem Artikel ihres Herausgebers Jacques Goddet unter der Zola-Schlagzeile „J'accuse“ auf die Spitze trieb, griff sogar der Wiederbegründer der modernen Olympischen Spiele zugunsten der Berliner Orga-nisatoren in die Diskussion ein. Coubertin stand damit allerdings im Widerspruch zum amtierenden Präsidenten des IOC, der beklagte, daß mit der großartigen Aufmachung der Sport dem Zeremoniell geopfert wurde: „Schluß mit diesen Festen, ewigen Empfängen und Kundgebungen. . . . Wir müssen zur klassischen sportlichen hellenistischen Atmosphäre zurückkommen.“
Diese Kritik Henri de Baillet-Latours traf die Organisatoren stärker als die zurückhaltende Berichterstattung in Großbritannien und die Kritik in den USA, wo das Urteil „The greatest Propaganda stunt in history“ (New York Times) bei vielen Blättern nach der erbitterten Boykott-Diskussion schon von vornherein feststand.
Generell ist festzustellen, daß vieles, was die NS-Propagandisten mit Stolz erfüllte, im Ausland mit kritischen, teils sogar ängstlichen Augen gesehen wurde. Besonders galt dies für die politische Hauptperson der Spiele, Adolf Hitler. So notierte der Berichterstatter von „La Metropole“ (Antwerpen) als wichtigsten Olympiaeindruck: .. die Begeisterung und der absolute Glaube (des deutschen Publikums) in seinen neuen Gott, den Führer. Diese Begeisterung, deren Ausmaße jeder Olympiagast erleben konnte, sei unglaublich, verrückt, fanatisch. Der Führer könne mit seinem Volke, das ihn nicht nur achte, sondern auch wie ein höheres Wesen, wie eine Gottheit verehre, wie mit einer willenlosen Maschine verfahren. In Berlin habe man gesehen, daß Deutschland für alle Aufgaben, die seine Leiter stellen werden, bereit sei.“
Ein schwedischer Korrespondent verglich das Berlin der zwanziger Jahre mit dem der dreißiger Jahre und konstatierte einen Wandel von einem „Spree-Athen“ zu einem „Spree-Sparta“ Dabei konnte es allerdings vorkommen, daß der politische Kommentar auf der Meinungsseite kritisch, die reinen Sportberichte aber positiv ausfielen. Keiner der internationalen Korrespondenten schien dagegen an den in letzter Zeit so häufig zitierten Diem-Versen aus seinem Festspiel „Olympische Jugend“ -„Allen Spiels heil’ger Sinn Vaterlandes Hochgewinn -Vaterlandes höchst Gebot in der Not -Opfertod“ Anstoß genommen zu haben. Ebenso sucht man vergeblich nach kritischen Stellungnahmen zur Langemarckhalle und dem mit ihr verbundenen Totenkult. Auch die Namensgebung des benachbarten Amphietheaters nach einem literarischen Vorkämpfer des Nationalsozialismus schien niemanden zu stören. Das Stadion wurde international einhellig gelobt und allenfalls im Zusammenhang mit dem Gigantismus der Spiele kritisiert. Den bürgerlichen Blättern des Auslandes war dieser Baustil und die in den Skulpturen zum Ausdruck kommende Kunstauffassung aus ihren eigenen Ländern offensichtlich so vertraut, daß sie keinen Anstoß nahmen. Die Links-presse hielt sich damals mit solchen Stilfragen nicht auf, sondern beschäftigte sich mit der Unterdrückung der Gewerkschaften, dem Verbot der Arbeiterparteien, den politischen Prozessen und der Diskriminierung der Juden.
Diese Kritik von links wurde in Deutschland als Hetze diffamiert. Aber auch die kritischen Kommentare der bürgerlichen Blätter fielen im Reich der Zensur zum Opfer. Nur positive Stimmen hatten die Chance, auszugsweise abgedruckt zu werden. Wenn noch heute viele Zeitgenossen von einer einhellig begeisterten Auslandspresse berichten, verdanken sie dieses Bild den gleichgeschalteten deutschen Medien. Auch dies muß gewissermaßen als Langzeiterfolg der NS-Propaganda angesehen werden, genauso und vergleichbar mit der Mär vom angeblich fast kapitalverbrechen-freien Deutschland der Hitlerzeit. So lautet eine typische Zusammenfassung der NS-Presse: „Trotz einer maßlosen Hetze marxistischer und jüdischer Blätter in aller Welt schon vor Beginn der Olympischen Spiele fanden die Veranstaltungen der Berliner Olympiade einen starken Widerhall in der ausländischen Presse, wobei fast einstimmig die nicht mehr zu übertreffende Organisation und Durchführung der Spiele, die Schönheit und Zweckmäßigkeit der Bauten auf dem Reichssportfeld und der deutsche sportliche Erfolg hervorgehoben wurden.“
Die deutschen Medienmacher wußten es besser: In systemtypischer Doppelarbeit bzw. in unserem Falle sogar vierfacher Arbeit war das internationale Presseecho sorgfältig beobachtet worden (Presse-Abteilung Auswärtiges Amt, Propaganda-ministerium, Außenpolitisches Amt der NSDAP und Pressestelle des Reichssportführers). Diese Presseübersichten enthielten auch kritische Stimmen. Bei der für Hitler vorgesehenen Zusammenfassung des Propagandaministeriums ist allerdings die Tendenz, die Stimmen der Kritik zu relativieren und auszublenden bzw. als nicht anders zuerwartende feindliche Gehässigkeiten abzutun, unübersehbar. Selbst in der gestrafften Version der US-Kritik fand sich noch Platz, eine Pressestimme zu zitieren, wonach nach dem Eindruck der ausländischen Berlin-Besucher Hitler „einer der größten, wenn nicht der größte politische Führer der Welt sei“
VI. Versuch einer Bilanz
1. Die politische Bilanz „Es war deutsches Olympia“, hieß es am Schluß des Berichtsbandes des Reichssportverlages Während Deutschland unter den Schmähungen der NSDAP 1932 aus Los Angeles nur vier Goldmedaillen nach Hause gebracht und in der Nationenwertung nur den sechsten Platz belegt hatte, feierte man am 16. August 1936 einen unerwarteten Enderfolg: Mit 33 Gold-, 26 Silber-und 30 Bronzemedaillen rangierte Deutschland vor den USA.
Man wußte um die starke politische Schubkraft und erhöhte sie propagandistisch. Die Presse wurde zu Vergleichen mit früheren Spielen angehalten und der Hauptschriftleiter der Olympia-Zeitung fragte zum Schluß rhetorisch: „Müssen wir sagen, daß der große Sieger der Olympischen Weltspiele Adolf Hitler heißt?“
Auch der Reichssportführer von Tschammer und Osten versuchte den sportlichen Triumph politisch umzudeuten und bekannte vor dem Deutschen Olympischen Ausschuß, „daß wir den olympischen Lorbeer, den wir für Deutschland erringen konnten, am Altar der nationalsozialistischen Bewegung niederlegen wollen .. ,“
In diesem Zusammenhang ist an das Phänomen selbstreferentieller politischer Kommunikationssysteme zu erinnern: Die selbst erstellte Sicht der Dinge wird letztlich zur eigenen Wahrnehmung; Hitler folgerte aus dem relativ schlechten Abschneiden der Engländer, „daß man von einer solchen Nation im Ernstfall kaum etwas erwarten könne“
Schwerer wiegt wohl das nachträglich nicht quantifizierbare, durch den sportlichen Erfolg erreichte Gefühl der Stärke und Überlegenheit, das der deutschen Jugend suggeriert wurde. So lautete das offizielle Fazit der Spiele nach einer pseudostatistischen Analyse in der „Politischen Leibeserziehung“, dem Fachblatt der Sportlehrer: „Das einzig sportlich zu bewertende Großvolk ist Deutschland, und die sämtlich als mehrfach positiv zu bewertenden Kleinvölker bilden eine Gruppe engster wirtschaftlicher und kultureller Abhängigkeit von Deutschland... Die sportlich positiv zu bewertenden Völker sind also nichts anderes als der deutsche Kulturkreis.“ 2. Die Folgen des olympischen „Erfolges“ für das deutsche Sportleben Der innenpolitische Erfolg der Spiele löste eine für das im Kern -zumindest was den bürgerlichen Sport anbetraf -unangetastete Vereinswesen höchst problematische „Sportbegeisterung“ der Partei und ihrer Gliederungen aus. Der Erfolg der Spiele hatte die Prestigepotentiale des Sports offenbart. Himmler verkündete am 8. November 1936 in Dachau, die SS wolle zukünftig die Hälfte der deutschen Olympiamannschaft stellen Jede der verschiedenen „Männerorganisationen“ des „Dritten Reiches“ trachtete in der Folge danach, ihre Stärke und Leistungsfähigkeit auch und vor allem im Sport unter Beweis zu stellen. Eigene Sportämter, Sportschulen, Sportzeitungen und Meisterschaften waren Ausdruck der Sportkonjunktur in Wehrmacht, Polizei, SA, SS, DAF und HJ. Selbst der Reichsnährstand gründete eine eigene Sportschule. Der Reichssportführer sah sich um den „Lohn“ seiner Arbeit gebracht und verglich die Situation in mehreren Reden der Jahre 1938/39 mit der organisatorischen Zersplitterung des Sports vor 1933.
Die Mitgliederzahl des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen (DRL) sank von 6, 2 Millionen 1933 auf 3, 5 Millionen im Jahr 1937. Allein im ersten Halbjahr 1937 lösten sich mehr als 400 Vereine auf Vor allem die kleineren Vereine im ländlichen Bereich bluteten durch die sprunghaft gestiegenen „dienstlichen“ Verpflichtungen der jungen Männer (RAD, SA, NSKK, zweijährige Wehrpflicht) regelrecht aus. Die Jugendlichen trieben ihren Sport im Rahmen von HJ und BDM, wobei besonders die paramilitärischen Sonderformationen der HJ (Marine-, Flieger-, Reiter-, Motor-und Nachrichten-HJ) eine gewisse Attraktivität entfalteten, wie auch Kritiker des Systems konstatierten.
In internen Denkschriften sprach man 1937 offen von einer „Gefährdung des deutschen Sports“. Die Umwandlung des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen zum Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen, die vom Reichssportführer unter großen Mühen erreicht wurde, ist daher auch und vor allem als Versuch zu sehen, im Konkurrenzkampf der NS-Gliederungen politisch mithalten zu können 57. 3. Die internationale olympische Bilanz der Spiele von 1936
Aus der Sicht des IOC (und Teilen des heutigen NOK von Deutschland) waren die Berliner Spiele einwandfreie Spiele, bei denen der Sport über die Politik gesiegt habe. Diese offizielle IOC-Sicht der Sportgeschichte ist vor allem Avery Brundage zu verdanken, der 1936 als Nachfolger des einzigen IOC-Dissidenten Ernest Lee Jahncke -der deutschstämmige US-Politiker hatte sich überraschend als Fürsprecher der Protestbewegung gegen die Spiele unter dem Hakenkreuz profiliert -in das IOC einrückte und bis 1972 an maßgeblicher Stelle die Geschicke des IOC bestimmte. Seine Maxime -„The Games must go on“ -galt 1936 wie 1972. Für Avery Brundage, dessen Chicagoer Club keine Juden und Farbigen als Mitglieder akzeptierte, war die Protestbewegung in den USA nur ein geschicktes Propagandamanöver von Juden und Gewerkschaftern, die den Publizitätswert der Spiele für ihre Zwecke ausnutzten.
Daß die Berliner Spiele als erste die enge Verbindung von Sport und Politik offensichtlich gemacht haben, wird vom IOC bis heute nicht akzeptiert. Es hält an der Fiktion des unpolitischen Sports fest, was sich in der Favorisierung Pekings durch die IOC-Exekutive im Bewerbungsverfahren von 1993 deutlich zeigte, und weigert sich bis heute anzuerkennen, wie politisch es in den dreißiger Jahren agierte: z. B., als es die Winterspiele 1940 im Juni 1939 noch einmal und einstimmig -nach den Synagogenbränden des November 1938, nach der Besetzung Prags durch deutsche Truppen und dem Bruch des Münchener Abkommens -an Garmisch-Partenkirchen vergab. Das IOC zeichnete 1938 die Nationalsozialistische Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ mit dem Olympischen Pokal aus und verweigerte der im Protektorat Böhmen und Mähren unterdrückten tschechischen Turnvereinigung „Sokol“ 1939 die gleiche Auszeichnung, was ein politisches Zeichen gesetzt hätte. Schon 1935 hatte das IOC politisch Partei ergriffen, als es Coubertin als Gegenkandidat zu Ossietzky in der Friedensnobelpreiskampagne unterstützte. Diese profaschistische Tendenz setzte sich 1938 fort, als das IOC Diems Internationales Olympisches Institut tolerierte und anerkannte, das ab 1938 die „Olympische Rundschau“, das offizielle Amtsblatt des IOC, herausgab. Man bediente sich ungeniert der finanziellen Unterstützung des Dritten Reiches und zeigte sich im Gegenzug erkenntlich bei der Vergabe von Diplomen und Ehrungen: Nach der bereits erwähnten Verleihung des Olympischen Pokals 1938 an die Deutsche Arbeitsfront (für die Arbeit der NSG „Kraft durch Freude“) erhielt auch Leni Riefenstahl 1939 für ihren Olympiafilm ebenfalls eine IOC-Auszeichnung. Wenn heute im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 1936 von einem Langzeiterfolg der NS-Propaganda gesprochen werden muß, hängt das vor allem mit diesem Film zusammen, der nun auch als Videoangebot rechtzeitig zum 60. Jubiläum der Spiele vermarktet wird. Wer sich heute mit den Spielen von 1936 auseinandersetzt, muß sich mit diesem Film befassen, der mit Mitteln des Reichspropagandaministeriums hergestellt und 1938 an Hitlers Geburtstag uraufgeführt wurde
VII. Der politische Ort der Spiele von 1936 in der Geschichte des Nationalsozialismus
Hitler sah 1933 sein langfristiges Ziel in der „Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtsloser Germanisierung“ (Befehlshaberbesprechung am 3. Februar 1933) vor allem durch die Möglichkeit eines Präventivschlages seitens Frankreichs als gefährdet an. In dieser „Risikozone unterlegener Eigenrüstung“ (Goebbels vor Propagandisten des Gaus Berlin am 22. November 1938) sollte im Ausland der Eindruck eines friedliebenden Landes erweckt werden, natürlich bei gleichzeitiger heimlicher Aufrüstung Die Olympischen Spiele eigneten sich in hohem Maße, Friedensliebe und Verständigungsbereitschaft zu dokumentieren. Als sie dann stattfanden, waren die entscheidenden Schläge zur „Freisetzung von den Fesseln von Versailles“ (Wehrpflicht, Aufstellung der Luftwaffe, Wiederbesetzung des Rheinlandes -letzteres zwischen Winter-und Sommerspielen) bereits erfolgt und hatten den außenpolitischen Durchbruch gebracht Sie bildeten den Höhe-, aber auch den Abschlußpunkt der NS-Friedens-Propaganda.
Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Olympischen Sommerspielen erfolgten die entscheidenden Weichenstellungen für den Krieg: Während die nur zwei Wochen nach Abschluß der Spiele von Göring im Ministerrat verlesene Denkschrift zum Vierjahresplan, die in der Aufgabenstellung gipfelte: „ 1. Die deutsche Armee muß in vier Jahren einsatzfähig sein. 2. Die deutsche Wirtschaft muß in vier Jahren kriegsfähig sein“, inzwischen Eingang in die Schulbücher gefunden hat, ist noch niemandem aufgefallen, daß die entsprechende Zuarbeit des Heeresamtes für den Oberbefehlshaber des Heeres, die von einem Kriegsbeginn am 1. Oktober 1939, von jährlichen Rüstungskosten von neun Milliarden Reichsmark und von einem prognostizierten Verlust von 2, 25 Millionen Mann pro Kriegsjahr ausging, ausgerechnet am 1. August 1936, dem Tag der feierlichen Eröffnung der Spiele, vorgelegt worden ist Mit Mommsen muß daher im Zusammenhang mit den XI. Olympischen Sommerspielen 1936 von einer gigantischen Camouflage mit zynischen Elementen gesprochen werden Parallel zur Weichenstellung in den Krieg erfolgte 1936 der forcierte Ausbau zum Polizei-und Konzentrationslagerstaat. Das „Zigeunerlager“ Berlin-Marzahn und das KZ Oranienburg-Sachsenhausen sind ebenso Produkte der Spiele wie das Reichssportfeld und das Stadion. Allein in Preußen wurde die Polizei im Haushaltsjahr 1936 um 1 400 Mann aufgestockt.
Die kurze Abfolge der politischen Höhepunkte des Jahres 1936: Winterspiele, Rheinlandbesetzung, Wahlen, Sommerspiele, und dies alles verbunden mit dem erstmals spürbaren wirtschaftlichen Aufschwung, stärkte das Selbstbewußtsein Hitlers. Diese Ereignisse des Jahres 1936 waren Kulminationspunkte des immer stärker werdenden Hitlerkults. Der Aufbruch des Dritten Reiches in die Maßlosigkeit -man denke nur an die Flut der Feiern und Empfänge -ist mit den XI. Olympischen Sommerspielen verbunden.
Von den beteiligten Organisatoren der Spiele, deren Olympiabegeisterung und deren internationale Reputation erst den Erfolg der Spiele möglich machten, sind diese hier nur knapp skizzierten Zusammenhänge stets geleugnet worden. Sie haben sich nie eingestanden, Mitbeteiligte eines gigantischen Betrugsmanövers gewesen zu sein. Sie haben stets an der Fiktion des unpolitischen Festes festgehalten Andere Beteiligte waren da selbstkritischer. Zum Abschluß soll daher der Pastor i. R. Fritz Ullrich zitiert werden, der im Vorfeld der Spiele mitgeholfen hatte, die Amerikaner davon zu überzeugen, „daß die über das 3. Reich verbreiteten Nachrichten über Christenverfolgungen Lügen wären“. Er berichtete am 22. Januar 1980 dem Vorsitzenden der EKD über die damalige Verstrickung des evangelischen Jungmännerwerkes und resümierte: „Und nun noch einmal die Frage: Was war der Erfolg? Der Erfolg war, daß wenige Tage nach der Rückkehr der Athleten und der Zuschauer in ihre Heimatländer die , Stürmer-kästen wieder rot gestrichen waren und die widerlichsten antijüdischen Pamphlete enthielten, daß das , Schwarze Korps in verstärktem Maße seinen Kampf gegen die Kirchen wieder aufnahm, daß die Maßregelungen und Bespitzelungen der Kirchen in Gottesdiensten, Gemeindeveranstaltungen und in der Jugendarbeit verstärkt wurden. Hitler hatte seinen Triumph als Friedenskanzler vor aller Welt dokumentiert, und wir hatten ihm dazu mit verhülfen. Mich, der ich einem stark nationalen, nicht nationalsozialistischen Hause entstamme, hat das seit damals, es sind 44 Jahre her (!), nicht zur Ruhe kommen lassen, daß wir, die wir in diese Vorbereitungen und Ausführungen in bester Absicht eingestiegen waren, dem Schwindel aufgesessen sind.“
Ein ähnliches Zeugnis wie das dieses Kirchenmannes ist aus dem Bereich des Sports oder der Olympischen Bewegung nicht bekannt.