Das zwanzigste Jahrhundert kann mit einiger Berechtigung als das olympische bezeichnet werden. Schließlich sind es die Olympischen Spiele, die wie keine andere Erscheinung unserer Zeit den Geist derselben spiegeln.
Tatsächlich sind die charakteristischen fünf Ringe -neben dem „Roten Kreuz“ nicht zufällig das (Marken-) Zeichen mit dem weltweit höchsten Bekanntheits-und Wiedererkennungsgrad -keineswegs nur als der sinnfälligste Ausdruck des internationalen Spitzensports anzusehen. „Olympia“ ist vielmehr eine Metapher mit zahlreichen Konnotationen -ja vielleicht sogar das Symbol der Zeitgeschichte. Wie in einem Brennglas werden hier nämlich deren vielfältige Schattierungen und Widersprüche gebündelt und, im Sinne eines Welt-theaters -zeitgemäßer wäre von „Reality-TV" zu sprechen -, einem Milliarden-Publikum rund um den Globus vorgeführt.
Ist der Blick nur entsprechend geschärft, sind die Olympischen Spiele durchaus als ein historisches Lehrstück zu verstehen, auch wenn -oder gerade weil -sich den Massen vor den Fernsehschirmen diese Dimension des Ereignisses in der Regel kaum bewußt erschließen dürfte. Der durchschnittliche „Konsument“ läßt sich wohl vielmehr von einem scheinbar profanen Sportfest einfangen, ohne dessen tiefergehende Wirkungen zu reflektieren, denen er sich freilich um so weniger entziehen kann. Offenbar stellt der Sport -jedenfalls seine hier in Rede stehende Ausprägung und insbesondere seine Inszenierung auf olympischer Bühne -ein Faszinosum dar, das auf ganz eigene Weise den Nerv der Zeit trifft. Im übrigen werden wohl latente Bedürfnisse der Zeitgenossen befriedigt. Möglicherweise greift gar ein Appell an fundamentale Gefühle -an die Hoffnungen und Ängste nämlich, die die Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart umgetrieben und die den Gang der Dinge ins 21. Jahrhundert zu begleiten haben.
So gesehen handelt die monumentale Aufführung, die alle vier, seit 1992 alle zwei Jahre auf dem Spielplan der Weltöffentlichkeit steht also kei-neswegs allein von Siegen und Niederlagen, von Triumphen und Debakeln, von der Leistung, ihren Möglichkeiten und Grenzen oder, anders gesagt, von den Höhen und Tiefen menschlicher Existenz. In einem übertragenen, gleichsam fabelhaften Sinne geht es auch um Fortschritt und Wachstum, sprich um Technik, Kommerz und Medien, und zwar ebenso um entsprechende Segnungen und Verheißungen wie um Auswüchse und Gefahren. Thema der olympischen Game(s) -Show ist zudem die Dialektik von Begegnung und Konfrontation, geht es doch -laut selbst gewähltem Anspruch -um eine bessere und friedlichere Welt, aber auch -wie die Geschichte belegt -um eine Welt der Konflikte und Gegensätze, der Auseinandersetzungen mit harten Bandagen, mit erlaubten und mit unerlaubten Mitteln.
Den Olympischen Spielen ist also, über das vordergründige Geschehen hinausgehend, Symbolcharakter zuzuschreiben. Sie stehen für die positiven Werte des Sports -wie die des „richtigen“ Lebens -, aber auch für die Utopie des Entwurfs und sind damit als ein Paradebeispiel für die Diskrepanz von Ansprüchen und Wirklichkeiten anzusehen. Sie sind eine Mustermesse der Superlative, ein Politikum, ein Wirtschaftsfaktor und ein Medienereignis ersten Ranges -kurz: ein Phänomen eigener Art, das sich nach wie vor, vielleicht mehr denn je, im Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit sowie im Fadenkreuz übergeordneter Interessen findet. Im übrigen steht es im Zentrum kontroverser Diskussionen, bei denen sich Verfechter und Kritiker oft unversöhnlich gegenüberstehen.
Rückblick und Bestandsaufnahme
Nun bietet ein Geburtstag, ein „runder“ zumal, nicht nur einen willkommenen oder verpflichtenden Anlaß zu Festivitäten und Glückwunschadressen, sondern auch Gelegenheit zu (selbst) kritischer Reflexion. Es gilt, zu bilanzieren, das Erreichte und Versäumte gegeneinander abzuwägen sowie Wertungen vorzunehmen. Freilich sollte die Aufarbeitung oder die „Bewältigung“ der Vergangenheit, um ein heute auch im Diskurs der Sporthistoriographie vielfach strapaziertes Modewort zu gebrauchen nicht als lästige Pflichtübung oder als Selbstzweck betrachtet werden, sondern -Geschichte gleichsam als Bürde und Besitz begreifend -in die Zukunft weisende Rückschlüsse und Konsequenzen nach sich ziehen. So ist es ein Gebot der Vernunft, auch in der Euphorie des Augenblicks das Bewußtsein für reale und potentielle, gegenwärtige und zukünftige Aufgaben, Gefahren und Unwägbarkeiten zu wahren bzw. zu schärfen.
Freilich kann in dieser Hinsicht dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) -in der Olympic Charter, dem offiziellen Regelwerk der Olympischen Bewegung, als deren oberste Instanz sowie als „Besitzer“ der Spiele ausgewiesen -nicht gerade übertriebenes Bemühen attestiert werden. Wie bereits an Verlauf und Ergebnissen des anläßlich des Zentenariums des Führungsgremiums im September 1994 in Paris groß angelegten Olympischen Kongresses sowie im Zusammenhang mit der Feier der XXVI. Olympiade, den sog. Jahrhundert-Spielen in Atlanta, festzumachen, ist die Bereitschaft der Verantwortungsträger zu kritisch distanzierter Selbstbespiegelung -ein bei (Sport-) Funktionären ohnehin eher selten anzutreffendes Vermögen -nicht besonders ausgeprägt. Hier sind die Vorhaltungen von Kritikern nicht unberechtigt, die einen gewissen Hang zur Selbstzufriedenheit, wenn nicht gar Selbstgerechtigkeit diagnostizieren. Offenbar mangelt es nicht nur am Willen, den eingeschlagenen Kurs auf den Prüfstand zu stellen, sondern auch an der Einsicht in entsprechende Notwendigkeiten. Schließlich scheint der Boom der Branche ungebrochen und -definiert man den Kontostand als alleinigen Gradmesser olympischer Befindlichkeiten -kein Anlaß zur Sorge oder zur Änderung der Unternehmensstrategie gegeben.
Vor diesem Hintergrund finden die -wenigen -mahnenden Stimmen aus den eigenen Reihen kaum Gehör, während außenstehende Bedenkenträger gerne a priori als Nörgler und Spiel(e) verderber diskreditiert werden. Wenn damit aber kritische Reflexion professionellen Beobachtern Vorbehalten bleibt, ist dieses Manko um so beklagenswerter, als deren Analysen -ob journalistischer oder wissenschaftlicher Provenienz -häufig ebenfalls distanzierte Ausgewogenheit vermissen lassen, gleichsam übers Ziel hinausschießen. Versucht man, die aus gegebenem Anlaß in Fülle publizierten Darstellungen -von kleineren Artikeln und Beilagen in Zeitschriften bis zu aufwendig gestalteten Monographien -zu bewerten oder zu kategorisieren, so wird man feststellen, daß sich diese gleichsam zwischen zwei Polen bewegen: „Abrechnungen“ im Stile eines sog. Enthüllungsjournalismus sowie „Hofberichterstattung“ mit Festschriftcharakter Zwar scheint dieser Befund die Widersprüchlichkeit -im übrigen auch die Bedeutung sowie die Attraktivität -des Themas zu belegen, doch muß der Mangel an überzeugenden, sprich ausgewogenen, gehobenen -journalistischen oder wissenschaftlichen -Ansprüchen genügenden Arbeiten überraschen. Dabei ist das beklagenswerte Defizit insbesondere der Sporthistoriographie anzulasten. Ein entsprechender Vorwurf ist auf die Tatsache zu richten, daß es seit geraumer Zeit versäumt wird, neben Einzel-und Detailstudien auch solche Untersuchungen in Angriff zu nehmen, die übergreifende Fragestellungen aufwerfen. So fehlt auf dem florierenden Markt der „Olympia-Literatur“ ebenso das Angebot einer angemessenen Diskussion aktueller Fragen und Probleme wie das einer modernen (sport) historisch fundierten Gesamtdarstellung des olympischen Jahrhunderts
Wenn mit dem vorliegenden Beitrag das besagte Defizit nur konstatiert, aber nicht behoben werden kann, so ist dies der Komplexität des Gegenstandes wie der Knappheit des verfügbaren Raums geschuldet. Im übrigen erscheint -(nicht nur) in diesem Fall -eine streng der Chronologie folgende, von zahlreichen statistischen Daten angereicherte Geschichtsschreibung einem tieferen Verständnis ohnehin wenig dienlich. Hilfreicher dürfte das Bemühen um Periodisierungen, um die Erschließung von Entwicklungen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung sowie um die Verdeutlichung größerer Zusammenhänge sein. Dieser Absicht dient der im folgenden zu unternehmende Versuch, die Olympischen Spiele als ein historisches Phänomen des 20. Jahrhunderts in seinen politischen, gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen und Bezügen zu erfassen und auf der Basis thesenhaft angelegter Wertungen zu würdigen.
Olympische Zeitenwende
In diesem Sinne sei zunächst darauf verwiesen, daß die Hoch-Zeit des Olympismus gerade einmal gut eine Dekade umfaßt, während die vorangegangenen neun Jahrzehnte von mehr oder weniger existenzbedrohenden Krisenerscheinungen gekennzeichnet waren. Insbesondere im Verlauf der siebziger und Anfang der achtziger Jahre hatten äußere Einflußfaktoren ein solches Bedrohungspotential entwickelt, daß manche Kommentatoren bereits die Apokalypse beschworen.
Tatsächlich schien das mit dem Weltfest des Sports einhergehende wirtschaftliche und politische Risiko immer größer, die Bereitschaft, dieses zu tragen, immer geringer zu werden. Beredter Ausdruck der grassierenden Olympia-Müdigkeit ist die -kaum mehr reflektierte und aus heutiger Sicht überraschende -Tatsache, daß Los Angeles der einzige (!) Bewerber -und keineswegs ein Wunschkandidat -für die Ausrichtung der (1978 vergebenen) Spiele von 1984 gewesen war. Da die Offerte der kalifornischen Metropole zudem an weitreichende, konsequent an marktwirtschaftlichen Erwägungen orientierte und damit zunächst ganz „unolympisch“ anmutende Bedingungen geknüpft war, befand sich das IOC gleichsam zwischen Skylla und Charybdis. Vier bzw. drei Jahre später hatte man zwar wieder eine Wahl; diese beschränkte sich -mit dem südkoreanischen Seoul und dem japanischen Nagoya -allerdings auf nur zwei Anwärter.
Zum Zeitpunkt der Vergabe ahnte wohl niemand, daß gerade die „ungewollten“ Spiele von 1984 und 1988 einen Aufbruch in eine bessere Zukunft, ja in ein neues olympisches Zeitalter markieren sollten. Wenn der Begriff der „Wende“ als Beschreibung einer durchschlagenden Veränderung des historisehen Koordinatensystems Anwendung findet, ist er in diesem Fall als treffende Beschreibung des Sachverhalts berechtigt. Es läßt sich nämlich keine andere Periode vergleichend heranziehen, in der sich Gesicht und Charakter der olympischen Landschaft auch nur annähernd so rasant und so grundlegend verändert hätten. Die im Verlauf der achtziger Jahre zu beobachtende Entwicklung -sollte man von einer „Mutation“ sprechen? -war vor allem durch zwei Faktoren gekennzeichnet: die Befreiung aus dem „Würgegriff der Politik“ sowie die Gewinnung einer bis dahin nicht gekannten oder nur für möglich gehaltenen Prosperität
Allein der Umstand, daß die Sommerspiele von 1984 die ersten waren, deren Organisation und Finanzierung ausschließlich in privaten Händen lag, erhebt sie zu einem Meilenstein der olympischen Geschichte. Bezeichnenderweise handelt es sich auch um jene Spiele, die erstmals einen Gewinn erbrachten. Bis dahin war „Olympia“ immer auch -und nicht zuletzt -als Angelegenheit von höherer, sprich öffentlicher bzw. staatlicher Bedeutung angesehen und, mehr oder weniger, subventioniert worden. So laboriert beispielsweise die Olympiastadt von 1976, Montreal, noch heute an den Folgen ihres finanziellen Kraftaktes, während die 1980 in Moskau erwirtschafteten Defizite vom Staatshaushalt aufgefangen wurden.
Zwar wurde die viele Tabus brechende Vermarktung der Spiele nach allen Regeln hoher amerikanischer Business-Kunst vehement als „Ausverkauf“ olympischer Ideale angeprangert doch mußte sie letztlich, mangels Alternative, als Conditio sine qua non der Organisatoren nolens volens akzeptiert werden. Freilich erschien die sich abzeichnende „kommerzielle Revolution“ nicht allen Führungskräften als bittere Pille. Manche erlagen recht schnell dem Reiz der (so lange verbotenen) Droge, die olympische Blütenträume reifen ließ. Zu denen, die die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannten, zählte auch der 1980 als Nachfolger des glück-und farblosen Lord Michael Killanin (1972-1980) zum IOC-Präsidenten gewählte Juan Antonio Samaranch, der sich auch in dieser Hinsicht entschlossen an die Spitze der Bewegung stellte. Die Sanierung eines ständig von der Pleite bedrohten („Familien“ -) Unternehmens und dessen Verwandlung in einen potenten Welt-konzern trägt in erster Linie seine Handschrift. Unter seiner Führung sind viele „alte Zöpfe“ abgeschnitten und ein modernes Profil entwickeltworden. Kommerz und Medien haben Einzug gehalten, Umsatz-, Gewinn-und Zuwachsraten schwindelerregende Höhen erreicht.
Bei der Bewertung der erstaunlichen Entwicklung, die durch die Heranziehung entsprechender Daten zu dokumentieren ist muß natürlich auch die Kehrseite der Medaille, nämlich Nebenwirkungen und Folgeerscheinungen der Therapie, betrachtet werden. So gehen hinsichtlich der Rezeptur des „Therapeuten“ Samaranch die Meinungen auseinander. Fest steht, daß die Olympischen Spiele einen anderen Charakter erhalten haben. Sie haben sich zu einem Markenartikel entwickelt, ob sie nun -je nach Meinung des Betrachters -als Produkt verkauft oder als Ware verramscht werden. Die Nachfrage ist jedenfalls größer, der Preis höher denn je. Bei der Beurteilung der Qualität des Angebots scheiden sich freilich die Geister.
Das Ende des Boykotts
Die „Ära Samaranch“ ist aber auch, wie oben angedeutet, durch eine weitreichende politische Emanzipation gekennzeichnet. Zwar war das Weltsportfest von 1984, wie bereits vier und auch schon acht Jahre zuvor, durch einen Boykott -diesmal fehlten die Sowjetunion sowie, mit Ausnahme Rumäniens, ihre politischen Parteigänger -zu „Rumpfspielen“ degradiert worden, doch hatte inzwischen die Einsicht Platz gegriffen, daß ein Fernbleiben nicht mehr opportun, weil kontraproduktiv sein würde. Wie 1976, als zahlreiche schwarzafrikanische Mannschaften mit Bezug auf die Südafrika-Problematik unter Protest die Olympiastadt verließen, und 1980, als die USA und einige andere NATO-Staaten aufgrund der Intervention der Sowjetunion in Afghanistan ihre Athleten zu einem Teilnahmeverzicht bewegten, hatte auch und besonders der Boykott von 1984 die Erkenntnis vermittelt, daß der Ertrag solcher (sport) politischen Zwangsmaßnahmen gering bleiben mußte Mehr noch: Der Schaden schien in erster Linie auf die Verweigerer selbst zurückzufallen, insofern nämlich, als der freiwillige Verzicht auf Medaillen und den damit verbundenen Image-gewinn stärker zu Buche schlug als der potentielle Imageverlust für die Veranstalter der Spiele. Dies hatte die mediengerecht inszenierte und ertragreich vermarktete Sport-Show von Los Angeles unter Beweis gestellt: Die Abwesenheit der Sowjetunion und der DDR als herausragende Sport-Nationen und das damit einhergehende Ausbleiben des „Wettkampfes der Systeme“ hatten der Attraktivität des Ereignisses, sprich dem Interesse der Öffentlichkeit, der Medien und der Werbewirtschaft, offenbar keinen Abbruch getan. „Boykotteure“ hatten ihre Lehren aus dieser Tatsache zu ziehen.
Auf dieser Basis war den Olympischen Spielen in Seoul besonderer Erfolg beschieden: Nur ein harter Kern von Unbelehrbaren, darunter Nordkorea und Kuba, waren ferngeblieben, so daß erstmals mit Berechtigung von einem Treffen der olympischen Familie und einem Fest der „Jugend der WelC gesprochen werden konnte. Nachdem bereits in Los Angeles, trotz Boykott, mit 141 registrierten Mannschaften ein bemerkenswerter Teilnahmerekord erzielt worden war konnten vier Jahre später beim „Einmarsch der Nationen“ deren 159 gezählt werden Das so vermittelte Erfolgserlebnis mußte um so befriedigender erscheinen, als die (1981 erfolgte) Vergabe der Spiele an die Hauptstadt Südkoreas in vielen Kommentaren als krasse Fehlentscheidung mit gravierenden Folgen gebrandmarkt worden war. Tatsächlich erschien es zunächst als großes Wagnis, auf dem Höhepunkt der Krise, gerade ein Jahr nach den „Problem-Spielen“ von Moskau und angesichts der sicheren Erwartung einer entsprechenden Retourkutsche, einen Austragungsort in einem politisch hochsensiblen Raum zu wählen.
Vor diesem Hintergrund erhielt übrigens ein „uralter“ Gedanke Konjunktur, der, unter dem Kürzel „Hellas-Plan“ gehandelt, darauf abzielte, das Prinzip der „Wander-Spiele“ aufzugeben und Zuflucht an einem -vermeintlich -sicheren Ort von olympischer Integrität zu suchen, und zwar vorzugsweise in Griechenland, der „Heimat“ des „Originals“, der Olympischen Spiele der Antike. Dieses viel diskutierte, auf den ersten Blick durchaus sympathisch erscheinende Ansinnen fand zwar zunächst manche Befürworter, u. a. das Europa-Parlament, wurde letztlich aber als untauglicher Versuch, Antworten auf aktuelle Fragen gleichsam in der Vergangenheit zu suchen, zurückgewiesen
Doch wenn die Olympischen Spiele von Seoul vom IOC im nachhinein als Beleg seiner Standhaftigkeit und Weitsicht oder als Ergebnis taktischen Geschicks ausgewiesen werden mochten, waren sie vor allem Ausdruck günstiger Umstände. So ist auf der Basis distanzierter Analyse allen romantisierenden Vorstellungen von der Resistenz der Spiele und der sie tragenden Idee entgegenzuhalten, daß die weitgehende Befreiung vom Joch politischer Instrumentalisierung nur bedingt als Verdienst eigenen Bemühens zu verstehen, sondern in erster Linie gleichsam glücklicher Fügung zu verdanken ist. Wenn sich nämlich die Olympische Bewegung unter der -geschickten, freilich auch heftig kritisierten -Führung des gelernten Politikers und Diplomaten Samaranch ökonomisch und politisch freigeschwommen hat, so war dies nur im Fahrwasser der durchschlagenden weltpolitischen Veränderungen möglich. Erst die Auflösung des Ost-West-Konflikts und das Ende des Kalten Krieges, der auch und nicht zuletzt auf sportlicher, vor allem olympischer Bühne ausgetragen worden war, eröffnete den Weg zu einer olympischen Universalität, die seit jeher angestrebt wurde, aber nie realisiert werden konnte.
In der Zwischenzeit hat die olympische Familie einigen Zuwachs erhalten. Mit nunmehr 197 anerkannten Nationalen Olympischen Komitees (NOKs) zählt sie mehr Mitglieder als die UNO. Doch auch anhand dieses Befundes wird die Einbindung der Spiele in größere politische Zusammenhänge evident, wenn auch in diesem Fall die Abhängigkeit von äußeren Einflußfaktoren an vergleichsweise positiven Folgeerscheinungen festzumachen ist. Die Welle der Neugründungen nationaler Olympia-Filialen geht nämlich letztlich auf die Umgestaltung politischer Landkarten, insbesondere die Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens, und das Bestreben der daraus hervorgegangenen neuen staatlichen Gebilde zurück, ihre Souveränität auch und nicht zuletzt im Rahmen internationaler Sportveranstaltungen, vor allem der Olympischen Spiele, durch die Entsendung eigenständiger Mannschaften öffentlichkeitswirksam zu dokumentieren. Wenn damit bereits die neue Attraktivität Olympias belegt ist sei hinzugefügt, daß Anlaß zur Annahme besteht, daß sich in Atlanta die Mitglieder erstmals vollzählig zum Familientreffen einfinden werden
Wechselfälle der Geschichte
So interessant die hier skizzierten Zusammenhänge an sich bereits sind und so groß ihre Relevanz für das heutige Gepräge der Spiele auch ist, ein tieferes Verständnis kann erst aus der Erfassung der „ganzen“ Geschichte erwachsen. Vor allem bei dem Versuch einer Wertung müssen auch die übrigen neun Jahrzehnte des olympischen Jahrhunderts Berücksichtigung finden. Dabei ist zunächst festzuhalten, daß diese nur bedingt auf der Haben-Seite zu verbuchen sind. Gilt es doch, eine Fülle von Krisen, Bedrohungen, unerfüllten Hoffnungen, unrealistischen Ansprüchen, ja geradezu eine Chronique scandaleuse zu beschreiben. Aus der Sicht der Olympischen Bewegung kann ihre Geschichte auch als ein permanenter Überlebenskampf dargestellt werden. Immer wieder schien sie -materiell und ideell -vor dem Bankrott zu stehen, ihr Fortbestand, ja ihre Existenzberechtigung vielfach in Frage gestellt. So gesehen dürften die Olympischen Spiele ein gern bemühtes Sprichwort bestätigen: „Totgesagte leben länger!“
Antiker Geist, moderne Form
Werfen wir also einen Blick auf dieses lange, wechselvolle „Leben“ und bemühen uns, einige Stationen und Abschnitte nachzuzeichnen, so ist sinnvollerweise ist an die „Geburt“, den Bezugspunkt des heutigen Jubiläums, zu erinnern. Wenn dabei der französische Baron Pierre de Coubertin (1863-1937) gleichsam als „Vater“ zu identifizieren ist, muß -um im Bild zu bleiben -dem Zeitgeist die „Mutterrolle“ zugewiesen werden. Nicht zufällig nämlich wurde die Idee, die Olympischen Spiele der Antike wieder aufleben zu lassen, im ausgehenden 19. Jahrhundert geboren, in einer Zeit also, in der den vorherrschenden nationalistischen (Denk-) Strukturen zunehmend internationale (Denk-) Ansätze zur Seite bzw. gegenübergestellt wurden.Coubertin, Sproß einer alten Adelsfamilie, versuchte diese gegenläufigen Strömungen in seinem Denken und Handeln zu verbinden. Als Siebenjähriger hatte er die schwere Niederlage der französischen Truppen bei Sedan erlebt, die das Selbstbewußtsein einer ganzen Nation auf das tiefste erschüttert hatte. Auch für ihn blieb sie ein „Jugendtrauma“, das freilich zu einem positiven Antrieb für sein gesamtes Leben werden sollte. Früh begann er über die Ursachen des Niedergangs nachzudenken und verschrieb sich dem Bemühen, zu einem Wiedererstarken seines Vaterlandes beizutragen. Dabei gelangte er zu der Erkenntnis, daß es „nur ein einziges wirkungsvolles Heilmittel geben dürfte, nämlich eine veränderte, völlig umgestaltete Erziehung“ Bei einem Studienaufenthalt in England glaubte er, mit den Leibesübungen den „Schlüssel zur nationalen Größe“ entdeckt zu haben. Da diese „Komponente der Männlichkeit“ aber -im Gegensatz zu englischen und deutschen -in französischen Curricula fehlte, zielte sein Bestreben fortan auf eine entsprechende Reform des Schulsystems in Frankreich. Als seinen vielfältigen Bemühungen jedoch der Erfolg versagt zu bleiben drohte, besann sich Coubertin auf einen gleichsam indirekten Weg: „Es mußte ein internationales Anliegen werden, weil in Frankreich nur die Anregungen, die von außen kommen, einen dauerhaften und wirksamen Einfluß haben .. . Dort lag die Zukunft. Es galt Kontakte zu schaffen zwischen unserer jungen französischen Leichtathletik und der in anderen Ländern, die uns auf dem Weg der Körperertüchtigung vorangegangen waren. Diese Kontakte mußten jedoch regelmäßig stattfinden und mit einem gewissen Prestige ausgestattet sein. Mündeten diese Voraussetzungen letzten Endes nicht alle in einer Wiedererweckung der Olympischen Spiele?“
Wenn mit diesem Zitat die Begründung der neuzeitlichen Spiele als Mittel zum Zweck und ihre (politische) Instrumentalisierung gleichsam als Geburtsfehler ausgewiesen wird, ist dies nicht falsch, wenn auch allenfalls die halbe Wahrheit. Zwar war und blieb der französische Baron vor allem Patriot, doch ließ er sich stets auch von kosmopolitischen Erwägungen leiten. So sollte seine „Innovation“ zwar -nach dem Motto „rebronzer la France“ -in erster Linie dem Wohle seines Vaterlandes dienen, doch sollte sie ebenso der gesamten Menschheit zu Gute kommen. Dies war das ehrliche Anliegen Coubertins. Er gedachte die -bis dahin weitgehend brachliegenden -Potenzen des Sports nutzbar zu machen, indem er das Prinzip des Wettkampfes mit übergeordneten Werten und Zielen in Verbindung zu bringen versuchte. Schließlich erstrebte er „kein System, sondern eine geistige Haltung“ die eine pädagogische, zudem moralische, ja religiöse Dimension erhalten sollte.
Zur Coubertinschen Zielperspektive zählten nicht zuletzt Frieden und Völkerverständigung. So sollte das neue Weltfest des Sports erstmals in der Geschichte den Völkern eine Gelegenheit bieten, sich regelmäßig friedlich zu begegnen, zu messen, sich kennen-und achtenzulernen und dabei Angst und Mißtrauen -nach Coubertin die häufigsten Kriegsursachen -abzubauen Mit diesem Ansatz betrat Coubertin tatsächlich Neuland, denn die uns heute so geläufige, geradezu naturgegeben erscheinende Verbindung von Sport und Frieden ist keineswegs organisch gewachsen. Zwar waren die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa zunehmend wirksamen Ansätze internationaler Kooperation kontinuierlich ausgeweitet und institutionalisiert worden, doch hatte der Sport diese Entwicklung zunächst sehr zögerlich nachvollzogen. Der Gedanke eines internationalen Wettkampfwesens war noch nicht entwickelt, geschweige denn umgesetzt worden. Die sportliche Begegnung beschränkte sich -von Ausnahmen abgesehen -auf die lokale oder regionale, allenfalls nationale Ebene. Das „deutsche Turnen“ zum Beispiel hatte sich sogar explizit entsprechende Beschränkungen auferlegt und sich -im Sinne von Wehrhaftmachung und Volkstumspflege -nationalistischen Zielsetzungen verschrieben. So verwundert es nicht, daß gerade die Nachfahren „Turnvater“ Jahns zu den engagiertesten Widersachern Coubertins zählten. Sie lehnten die Idee eines internationalen Sportfestes grundsätzlich ab, zumal dieses auch noch von einem Franzosen initiiert worden war. So ging von den deutschen Turnern der erste Boykottaufruf der olympischen Geschichte aus
In ihrer Argumentation bezogen sie sich u. a. auf die griechische Antike und behaupteten, im übrigen nicht ganz zu Unrecht, ein „internationales Olympia“ sei ein Widerspruch in sich Tatsächlich hatten die Griechen „ihre“ Spiele als nationales Privileg definiert und „Ausländern“, für sie „Barbaren“, stets die Tür gewiesen. Zudem wäre es ihnen nicht in den Sinn gekommen, das Wett-kampfwesen mit einer übergreifenden (olympischen) Idee, z. B. einer pädagogischen oder humanitären Mission, zu befrachten. Neben seiner kultisch-religiösen Einbindung blieb der Sport weitgehend auf seine ureigene Funktion beschränkt, nämlich die Ermittlung von Siegern und Verlierern. Erst eine solcherart nüchterne, mit gängigen Klischees und Wunschvorstellungen brechende Betrachtungsweise läßt die beeindrukkende Tatsache erklären, daß die antiken Spiele über weit mehr als ein Jahrtausend knapp 300mal zur Austragung gekommen sind Ein wahrhaft olympischer Rekord!
Wenn der Philhellene Coubertin -wider besseres Wissen -einer Idealisierung der Alten Griechen das Wort redete und ihre Spiele als Vorbild reklamierte, so folgte dies nicht zuletzt taktischen Erwägungen. Er benötigte einen gleichsam unverdächtigen und zugkräftigen Werbeslogan, der seiner Innovation zu einer breiten Akzeptanz verhelfen sollte. „Der Name schon flößte Achtung ein, und es war kaum möglich, einen anderen zu finden.“ Doch wenn Coubertin von „antikem Geist in moderner Form“ sprach, meinte er in Wirklichkeit ein ganz eigenes Modell. Bei Lichte betrachtet, verbindet nämlich seine Konzeption Olympischer Spiele nur das Etikett und der Vierjahres-Rhythmus mit dem vermeintlichen Original.
Der essentielle (Qualitäts-) Unterschied resultiert aus der Überhöhung durch einen ideellen Über-bau und dem Anspruch, gleichsam höhere, also über das konkrete Wettkampf-Geschehen hinausgehende Ziele zu verfolgen. Insofern gebührt Coubertin das Verdienst, dem Sport zu einer neuen Dimension und damit zu einer neuen Qualität sowie einer neuen Legitimation verholfen zu haben. Das Dilemma besteht freilich darin, daß Versprechungen Erwartungen wecken und Enttäuschungen nach sich ziehen, wenn sie nicht eingelöst werden. Indem Coubertin aber die ethisch-moralische Meßlatte allzu hoch legte, hat er sich gleichsam selbst zum Scheitern verurteilt.
Auf fatale Weise stellte sich also die potentielle Stärke der Olympischen Bewegung neuzeitlicher Prägung gleichzeitig als ihre schwächste Stelle dar. Die Diskrepanz von Idee und Wirklichkeit war programmiert; Idealisten sahen sich mit Realisten konfrontiert und umgekehrt. Und während die Erstgenannten als Utopisten verlacht oder als Scheinheilige verschrieen wurden, unterstellte man letzteren mangelnde Prinzipientreue. Coubertin selbst ist wohl weder als weltfremder Eiferer noch als kalter Taktierer zu zeichnen. Er verband das Engagement für das Wünschenswerte mit dem Gespür für das Machbare. Er war Träumer und Macher zugleich. Und zweifellos war gerade diese komplexe und ambivalente Persönlichkeitsstruktur ein Garant des Erfolgs, der früheren Versuchen einer Wiederbelebung der Olympischen Spiele versagt geblieben war. Die Zeit war reif, aber als am 23. Juni 1894 in der Pariser Sorbonne die Olympische Bewegung aus der Taufe gehoben wurde war dies letztlich der Beharrlichkeit und Flexibilität Coubertins zu danken.
Politisierung und Kommerzialisierung
Bis heute bekennt sich das IOC zu seinem Gründervater und verehrt ihn als Protagonisten der Olympischen Idee Deren zeitgemäße Interpretation oder Modifikation ist freilich ausgeblieben. Sie ist für viele ein Phantom, wenn sie sich nicht, in der Funktion eines Feigenblattes, im Repertoire der Sonntagsredner wiederfindet. Im real existierenden Alltag sind Ideale längst in den Hintergrund getreten bzw. durch vordergründige, etwa politische oder kommerzielle Interessen überlagert worden. „Eine Religion mit Kirche, Dogmen, Kultus“ ist der Olympismus ohnehin nur für einige Theoretiker gewesen, wenn nicht für Pierre de Coubertin allein.
Im Verständnis der Beteiligten -Athleten, Trainer, Funktionäre, Berichterstatter und Zuschauer -handelte es sich von Anfang an um ein profanes Sportfest. Der hohe Erlebnisgehalt speiste sich vor allem aus der Dramaturgie des Wettkampfs. Kennzeichen einer anhaltenden Entmythologisierung waren und sind die Verabsolutierung der (sportlichen) Leistung und damit einhergehende Begleiterscheinungen wie medizinische Manipulationen. Die Faszination des Ereignisses weckte zudem Begehrlichkeiten, denen die ideologischen Puristen nichts Wirksames entgegenzusetzen vermochten und die insbesondere an zwei Entwicklungen festzumachen sind: einer -nach 1945 zunehmend greifenden -Kommerzialisierung sowie einer -bereits 1896 bzw. 1894 einsetzenden -Politisierung. Der Zugriff der Politik ist ein konstanter, geradezu konstitutioneller Faktor der olympischen Geschichte. So ist der verschiedentlich publizierten These zu widersprechen, daß die Olympische Bewegung (erst) 1936 „ihre Unschuld verloren“ hätte. Die -vielfach thematisierten -„Spiele unterm Hakenkreuz“ markieren nicht den Beginn, sondern „nur“ den (vorläufigen) Höhepunkt einer Problematik, die offenbar in der Konstruktion der Spiele angelegt war und von deren Attraktivität befördert wurde. So ist es bezeichnend, daß mit der Entwicklung der modernen Massenmedien und ihrem zunehmenden Interesse an den Spielen ebenso ein Bedeutungszuwachs wie -gleichsam direkt proportional -eine Erhöhung des Gefahrenpotentials einherging. Erst auf dieser Basis war das „Wirtschaftswunder“ möglich, und erst vor diesem Hintergrund versteht sich die Umfunktionierung der Spiele zu einem „Wettkampf der Systeme“.
Ersatz-und Stellvertreterkriege
Diesbezüglich ist der 1951/52 erfolgte Eintritt der Sowjetunion in die Olympische Bewegung hervorzuheben. Nachdem man diese zuvor als Ausdruck eines bürgerlichen Sportverständnisses gebrandmarkt hatte und den Spielen konsequent ferngeblieben war, entdeckte man nun den -vermeintlichen -Symbolgehalt von Medaillen. Mit aller Macht wollte man die sich bietende Gelegenheit nutzen, im direkten Vergleich mit dem Klassenfeind die Leistungsfähigkeit des eigenen Systems öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen. Sportliche Erfolge wurden zu einer Art Staatsziel erklärt, Athleten als „Diplomaten im Trainingsanzug“ in die Arena geschickt. Da die USA und ihre Verbündeten dem „Ostblock“ das Feld der (sport-liehen)Ehre nicht kampflos überlassen wollten, schickten sich, insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren, die Großmächte auch auf diesem Gebiet zu einem ungehemmten Wettrüsten an. Im Ergebnis kam es u. a. zu einer Explosion der Leistungen und einer Flut von Rekorden, aber auch -Stichwort „Doping“ -zu den bekannten Fehlentwicklungen und Fragwürdigkeiten.
Die Stadien wurden zu bevorzugten Schauplätzen von Ersatz-und Stellvertreterkriegen, wobei etwa der „Wettlauf im Weltall“ vergleichend anzuführen ist. Der (Olympischen) Idee des Ausgleichs und der Verständigung blieb man in wortreichen Lippenbekenntnissen treu, während die Schuld für die (Olympische) Realität der Konfrontation und des Konflikts dem jeweils anderen zugewiesen wurde. Der vielfach und zu Recht beklagten Politisierung, ja Militarisierung des (internationalen Spitzen-) Sports ist -aus der historischen Distanz betrachtet -freilich auch eine positive Seite abzugewinnen. Schließlich kann von einer Blitzableiter-oder Ventilfunktion für Aggressionen gesprochen werden, die sich ansonsten auf andere, vielleicht folgenreichere Weise hätten Bahn brechen können. Im übrigen war für viele die Brisanz der Auseinandersetzung auch das Salz in der Suppe
Der hier skizzierte Zusammenhang fand nicht nur Ausdruck im Kalten Sport-Krieg der Supermächte, sondern spiegelte sich insbesondere auch in der sportpolitischen Konfrontation der beiden deutschen Staaten Während man sich in Westdeutschland schon frühzeitig -wenn auch vergebens -um eine Teilnahme an den ersten Nachkriegs-Spielen, 1948 in St. Moritz und London, bemühte, bestand diesbezüglich in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR zunächst kein Interesse. Erst später, und zwar zeitgleich mit dem „Großen Bruder“ -auch hinsichtlich des Sports galt das Motto „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ -, suchte man Zugang zu olympischen Medaillen Das IOC verweigerte jedoch dem 1951 gegründeten NOK die Anerkennung unter Hinweis auf das bereits zwei Jahre zuvor ins Leben gerufene und zunächst provisorisch, dann voll anerkannte (west-) deutsche Komitee. Dieses sollte für ganz Deutschland und dessen Beteiligung an den Spielen von 1952 zuständig sein.
Dies war ein Stein des Anstoßes und Ausgangspunkt eines Streites um die Frage der Vertretung Deutschlands im internationalen Wettkampfwesen und bei den Olympischen Spielen, der das IOC die folgenden zwei Jahrzehnte beschäftigen sollte. Unter der Führung seines Präsidenten Avery Brundage (1952-1972) -aufgrund langjähriger persönlicher Beziehungen zweifellos der bundesdeutschen Seite zugeneigt -schickte man sich an, die politischen Realitäten zu ignorieren und einen Sonderweg zu beschreiten, indem man dem geteilten Land auf sportlichem Terrain Gemeinsamkeit verordnete. Zwar hielt das IOC dem andauernden Druck seiner sozialistischen Mitglieder nicht stand und gewährte dem NOK der DDR 1955 die provisorische Anerkennung, doch verpflichtete es die Vertreter beider Seiten, die Aufstellung „gesamtdeutscher Mannschaften“ zu gewährleisten. Diese für 1956, 1960 und 1964 verbindlich vorgegebene „Lösung“ konnte jedoch allein von daher nicht als solche greifen, als sie von den Beteiligten nicht wirklich mitgetragen wurde. Allein naive Idealisten mochten von einem Sieg des Sports über die Politik sprechen -die Polit-Strategen in Ost und West fanden eine Spielwiese für ihre taktischen Manöver vor
Eine der bemerkenswertesten Erscheinungen dieser Zeit ist zweifellos der erstaunliche -je nach Standpunkt bewunderte oder beargwöhnte -Aufstieg der DDR zur Sport-Großmacht Auf der Grundlage eines immer effektiver organisierten Systems und zunehmender Anstrengungen war es erstmals 1964 gelungen, die Bundesrepublik auf breiter Front zu überflügeln, indem man den größeren Teil der gemeinsamen Mannschaft für die Sommerspiele und damit, symbolträchtig, den Chef de Mission zu stellen vermochte. Während dieser Erfolg als wichtiger Etappensieg gefeiert und propagandistisch ausgeschlachtet wurde, feierte man die „Madrider Beschlüsse“ des IOC von 1956 als (sport) politischen Durchbruch. Nach zehnjähriger Wartezeit wurde dem NOK die volle Anerkennung verliehen und der DDR für 1968 eine eigenständige Mannschaft zugestanden.
Wenn man seitens bundesdeutscher (Sport-) Politiker -im Sinne des Alleinvertretungsanspruchs und der Hallstein-Doktrin -genau dies immer zu verhindern versucht hatte, so mußte man nun die bittere Pille schlucken. Vor allem im Hinblick auf die 1966 -gleichsam als Kompensation (?) -nach München vergebenen Spiele von 1972 war der neue Status quo zu akzeptieren. Die DDR, die dem Klassenfeind sportlich längst den Rang abgelaufen hatte, würde sich mit allen staatlichen Hoheitszeichen präsentieren dürfen. Doch trotz dieser Genugtuung mußte die DDR ihrerseits die Faust in der Tasche ballen. Schließlich bot die Gastgeberrolle, die man den Westdeutschen von Herzen mißgönnte, die einzigartige Möglichkeit, weltweit Werbung in eigener Sache zu betreiben. So war nur zu versuchen, deren Ertrag mit propagandistischen Gegenmaßnahmen zu schmälern. Doch obwohl man den (politischen) Mißbrauch der Spiele auf jede erdenkliche, zum Teil geradezu groteske Weise zu dokumentieren versuchte, wurde ein Teilnahmeverzicht und damit die schärfste Form des Protestes -natürlich -nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Es blieb, sich mit Medaillen schadlos zu halten.
Daß die Münchner Festtage trotz dieser Hypothek dennoch als die „heiteren Spiele“ in die olympischen Annalen hätten eingehen können -wenn nicht das Attentat auf die israelische Mannschaft dem konkreten Versuch, und auch der Idee als solcher, ein blutiges Ende bereitet hätte -, spricht für die These, daß der Kampf auf s^ortpolitischer Ebene entschieden war, zumindest aber an Schärfe verloren hatte. Negativ interpretiert, könnte von einem Übergang in einen Stellungskrieg gesprochen werden, dessen Fronten bis Mitte der achtziger Jahre bzw. bis zur weltpolitischen „Wende“ vön 1989/90 geklärt waren.
So bleibt nur die Frage nach der Rolle und Bedeutung des (olympischen) Sports im Spiel der politischen Kräfte. Welch hochsensibles Feld damit aber berührt ist, zeigt der Diskurs über die Vergangenheit im vereinigten Deutschland. Dabei geht es nicht nur um eine kritisch distanzierte Aufarbeitung, sondern auch um eine emotionale Bewältigung, wobei manche alte Schlachten neu geschlagen, Sieger-und Verliererrollen neu zugewiesen werden. Auf diese Weise finden die „querelles allemandes“ ein -noch lange währendes -Nachspiel.
Die Sinnfrage
Im Sinne der mit diesem Beitrag verbundenen Absicht soll die hier erfolgte schlaglichtartige Beleuchtung der olympischen Geschichte in den Versuch eines Fazits und eines Ausblicks münden. 100 Jahre sind ein stolzes Alter, insbesondere in unserer schnellebigen Zeit. Ein ganzes Jahrhundert also, und zwar ein solches, das wie kein zweites in der Geschichte durch Wandel und Vergäng lichkeit gekennzeichnet ist. Insofern sind die Olympischen Spiele gleichsam als eine historische Konstante anzusehen, deren Lebensdauer allein als Qualitätsmerkmal angesehen werden mag.
Von einer Bastion ewig gültiger Werte und Normen kann freilich keine Rede sein. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die Spiele selbst einem permanenten Wandel unterzogen waren bzw. wurden und daß nur eine ständige -durch die äußeren Umstände erzwungene oder freiwillig vollzogene -Anpassung an den Zeitgeist ein Überleben gewährleistet hat. In der Bewertung dieses Umstands sind allerdings zwei gegensätzliche Positionen vorzufinden: Einerseits ist von einem Beweis der Stärke -im Sinne von Handlungsfähigkeit, Modernität und Flexibilität -die Rede, andererseits wird von einem Beleg der Schwäche -im Sinne von mangelnder Standhaftigkeit und Prinzipientreue oder Erpreßbarkeit -gesprochen.
An dieser Stelle erhält zweifellos die Sinnfrage besonderes Gewicht. Was haben die Olympischen Spiele heute und für die Zukunft (noch) zu bieten? Der Aufwand ist ins Unermeßliche gestiegen, die Kosten sind explodiert. Damit wird es immer drängender zu fragen, wer dieselben trägt, welchen Mehrwert sie erbringen und wem ebendieser zugute kommt. Doch wenn die Frage nach dem Gewinn zur Zeit (noch) meist vordergründig, nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten beantwortet wird, könnte in Zukunft (wieder) zunehmend die ethisch-moralische Dimension zur Richtschnur werden. Eine Abkehr von der Pseudo-oder Ersatz-Philosophie des Wachstums erscheint um so notwendiger, je mehr der Fetisch „Leistung“ als ultimative Norm der Wohlstandsgesellschaft -und als tragendes Prinzip des Sports -in Frage gestellt wird und je offenkundiger die Grenzen der (sportlichen) Leistungsfähigkeit erreicht bzw. überschritten sind oder nur noch mit Hilfe illegaler und/oder illegitimer Mittel überwunden werden können.
Somit scheint ein Plädoyer für eine neue Bescheidenheit sowie ein neues Selbst-Bewußtsein am Platze. Dabei kann es freilich nicht darum gehen, den -langen, schwierigen und schmerzlichen -Prozeß der Modernisierung, Säkularisierung und Kommerzialisierung, also die Entwicklung vom (olympischen) Utopismus zum Realismus, umzukehren. Wenn eine Wiederentdeckung oder Neu-belebung pädagogischer und humanistischer Ziel-perspektiven geboten ist, so hat entsprechendes Bemühen -ganz im Sinne Coubertins -modernsten Ansprüchen zu genügen, etwa Umwelt-und Sozialverträglichkeit nachzuweisen.
Wenn aber die Sinnfrage auf die lange Bank geschoben wird oder auf Dauer offenbleibt, läuft man Gefahr, daß Opposition und Widerstände wachsen. Dann könnten Bürgerinitiativen, Ökologen, Politiker und/oder Steuerzahler noch massiver als bisher auf den Plan treten oder gar die Mehrheitsmeinung repräsentieren. Die -durchaus wirksamen -Proteste gegen die Bewerbung Berlins um die Ausrichtung der Spiele im Jahr 2000 mögen hier ebenso als Beispiel oder Alarmsignal dienen wie die ablehnende Haltung der Bewohner Innsbrucks, Schauplatz der Winterspiele von 1964 und 1976, bezüglich einer erneuten Bewerbung.
Dieser Skepsis ist freilich mit dem Hinweis auf den (noch) anhaltenden Boom zu begegnen. Alle -berechtigte oder überzogene -Kritik vermag offenbar den Zuspruch (bisher) nicht zu mindern. Kein anderes regelmäßig wiederkehrendes Ereignis unserer Zeit kann in seiner Ausstrahlung auch nur annähernd mit den Olympischen Spielen verglichen werden. Bei keiner anderen Gelegenheit sind so viele Menschen in aller Welt vor den Fernsehschirmen vereint. Und bezeichnenderweise werden die höchsten Einschaltquoten traditionell bei den Eröffnungsfeiern verzeichnet, bei denen gar kein Sport im eigentlichen Sinne geboten wird. Wie auch immer die -sich möglicherweise aus Idee und Wirklichkeit gleichermaßen speisende -Faszination in jedem Einzelfall greift, sie besteht allein darin, daß sie aus einer überall gleich verstandenen Sprache erwächst. Hier verbirgt sich das spezifische Potential, eine unvergleichliche Wirkmöglichkeit, die jedoch nur aufgrund entsprechenden Bemühens zur Entfaltung kommen bzw. ein positives Ergebnis zeitigen kann. Somit ergibt sich aus der spezifischen Macht eine besondere Verantwortung der Olympischen Bewegung und ihrer Vertreter. Wird man dieser gerecht, dürfte die Frage der (zukünftigen) Existenzberechtigung beantwortet sein.
Im Alter von einhundert Jahren ist die Olympische Bewegung gleichsam erwachsen geworden. Dabei hat sie aber den letzten Rest an jugendlicher Unschuld eingebüßt. Sie hat sich von Gängelbändern gelöst und Freiheiten gewonnen, die jedoch mit Eigenverantwortlichkeit und voller Schuldfähigkeit zu bezahlen sind. Mehr denn je hält sie ihr Schicksal -mit allen Chancen und Risiken -in eigenen Händen. Der Nachweis aber, dieser Herausforderung gewachsen zu sein, muß erst erbracht werden.
Insofern als die Geschichte den Blick nach vorne zu schärfen vermag, ist sie, richtig verstanden, ein Pfund, mit dem man wuchern kann. In diesem Sinne hat die olympische Zukunft bereits begonnen. Ob es sich um ein weiteres Jahrhundert handeln wird, bleibt freilich abzuwarten.