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Völkerrecht und Geschichte im Disput über die Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn | APuZ 28/1996 | bpb.de

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APuZ 28/1996 Die Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland Flucht, Vertreibung, Aufnahme und Integration Zur Besonderheit der deutsch-polnischen Beziehungen Sollen Polen und Deutsche zur „Normalität“ zurückkehren? Tschechisch-deutsche Beziehungen in der Geschichte: Von Böhmen aus betrachtet Völkerrecht und Geschichte im Disput über die Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn

Völkerrecht und Geschichte im Disput über die Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn

Otto Kimminich

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Zusammenfassung

In den Beziehungen zu Polen ist die Territorialfrage bereits seit 1970 als Streitgegenstand beseitigt. In der Folgezeit haben mehrere weitere Verträge diesen Rechtszustand bekräftigt und das Bekenntnis zur Endgültigkeit der Grenzfestlegung erneuert. Offengeblieben ist allerdings die Frage nach dem Rechtstitel für den polnischen Gebietserwerb. Alle Verträge mit Polen waren eingebunden in das komplizierte Geflecht von staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problemen im Zusammenhang mit der Rechtslage Deutschlands und der Friedensregelung nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch die 1990 im Zusammenhang mit der Einigung Deutschlands geschlossenen Verträge ist das deutsch-polnische Verhältnis von diesen Belastungen befreit worden. Die Beziehungen zur Tschechischen Republik. (früher: Tschechoslowakei) sind zu keiner Zeit von Territorialfragen belastet gewesen. Schwierigkeiten bereiteten hier jedoch die möglichen Rechtsfolgen der Nichtigerklärung des Münchner Abkommens für den Rechtsstatus der vertriebenen Sudetendeutschen. Hierfür ist im Prager Vertrag von 1973 eine brauchbare Lösung gefunden worden. In der Folgezeit wurden die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen auf der Grundlage weiterer Verträge vertieft. In allen Verträgen mit den beiden östlichen Nachbarn Deutschlands ist die Frage der Vertreibung und ihrer Rechtsfolgen nicht angesprochen worden. (Im deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag von 1992 wird sie in der Präambel erwähnt.) Vom Standpunkt der jeweils aktuellen Diplomatie war dies klug. Unter dem Aspekt des Aufbaus einer dauerhaften Friedensordnung aber ist diese Frage schicksalhaft, weil ihre Beantwortung eine Präzedenzwirkung für die Zukunft entfalten kann.

Nach heutigem Verständnis sind internationale Beziehungen nicht mehr ausschließlich Beziehungen zwischen souveränen Staaten; längst ist der Staat nicht mehr der einzige Akteur auf der internationalen Bühne. Aber dem Völkerrecht ist es bisher nicht gelungen, die Vielfalt der grenzüberschreitenden zwischenmenschlichen Beziehungen -die z. T.sehr wohl organisiert sind -in seine Regelungen einzubeziehen. Noch immer ist das Völkerrecht grundsätzlich die Rechtsordnung des Verkehrs der souveränen Staaten. Zu den wenigen Ausnahmefällen, zu denen traditionell insbesondere der Hl. Stuhl und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz gehören, sind nur die internationalen Organisationen getreten, denen partielle Völkerrechtssubjektivität zugestanden wird. Aber sie sind ihrerseits Schöpfungen der souveränen Staaten und verändern daher die Grundstruktur des Völkerrechts nicht.

Das erschwert die ohnehin nicht leichte Aufgabe der Außenpolitiker und Diplomaten. Einerseits müssen sie auf der Grundlage und im Rahmen des Völkerrechts agieren und dort die Rechte und Pflichten ihrer Staaten wahrnehmen -wobei zu berücksichtigen ist, daß ihr Handeln gleichzeitig zur Entstehung von Völkerrechtsnormen beiträgt -, andererseits müssen sie auf eben dieser Grundlage die Rechte und Interessen ihrer eigenen Staatsbürger gegenüber fremden Staaten vertreten und dabei auf die politische Willensbildung im eigenen Land Rücksicht nehmen. Daran muß erinnert werden, wenn Völkerrecht und Geschichte bei der Diskussion über die Beziehungen zwischen zwei Staaten oder Staatengruppen thematisiert werden.

I. Der Warschauer Vertrag

Mit Polen (damals noch Volksrepublik Polen) hat die Bundesrepublik Deutschland bereits am 7. Dezember 1970 den sogenannten Warschauer Vertrag geschlossen, um „dauerhafte Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben und die Entwicklung normaler und guter Beziehungen“ zwischen den beiden Partnern zu schaffen, wie es in der Präambel dieses Vertrags heißt. Sein Hauptinhalt war neben dem Bekenntnis zum Gewalt-verbot und zur Friedenspflicht die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als „westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen“. Das war freilich nichts Neues; denn bereits in dem mit der Sowjetunion am 12. August 1970 geschlossenen Moskauer Vertrag hatte die Bundesrepublik Deutschland erklärt, sie betrachte „heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet“. (Polnische Emigrantenkreise im Westen meinten damals, damit habe Deutschland wieder einmal einen Vertrag mit der Sowjetunion über polnische Grenzen geschlossen.)

Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Warschauer Vertrags hatte die Bundesrepublik Deutschland keine gemeinsame Grenze mit Polen. Daher tauchte die Frage auf, mit welcher Berechtigung sie eine vertragliche Grenzanerkennung aussprach. Die Antwort war einfach: Auf gesicherter völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Grundlage konnte sie einen solchen Vertrag deshalb schließen, weil die Bundesrepublik Deutschland von Anfang an Deutschland im Rechtssinne war: „Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist nicht ein neuer Staat entstanden, sondern -Deutschland auf einem Teil seines Gebiets rechtlich neu organisiert worden.“ Diese Worte des Mitglieds des Parlamentarischen Rates, Professor Dr. Carlo Schmid (SPD), hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach wiederholt Aber gerade im „Deutschlandvertrag“ vom 26. Mai 1952 (in Kraft getreten am 5. Mai 1955), durch den die Bundesrepublik Deutschland von ihren ehemaligen Besatzungsmächten „die volle Macht eines souveränen Staates“ erhielt, war die völkerrechtliche Kompetenz der Bundesrepublik Deutschland eingeschränkt worden. Art. 2 des genannten Vertrages lautete nämlich: „Im Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedens-Vertrags verhindert hat, behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung.“

In der staats-und völkerrechtlichen Literatur ist darüber gestritten worden, wie sich die beiden Vertragsbestimmungen zueinander verhalten. Entweder ist die Bundesrepublik Deutschland entgegen dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 des Deutschlandvertrags nicht voll souverän geworden. (Dafür spricht das Wort „behalten“ in Art. 2.) Oder die Bundesrepublik Deutschland hat damals zwar die volle Souveränität erhalten, aber in Art. 2 desselben Vertrags einen Teil ihrer Souveränität wieder an die Drei Mächte (Frankreich, Großbritannien, USA) zurückgegeben. Für die hier zu beantwortende Frage ist der Streit aber unerheblich; denn in jedem Fall besaß die Bundesrepublik Deutschland keine Vertragskompetenz für die in Art. 2 des Deutschlandvertrags genannten Bereiche. Deshalb ließ sie sich vor der Unterzeichnung des War-schauer Vertrags im Jahre 1970 von den Drei Mächten in einem diplomatischen Notenwechsel die Versicherung geben, daß der Warschauer Vertrag die Rechte und Verantwortlichkeiten der Drei Mächte nicht berühren werde.

Doch damit waren die juristischen Schwierigkeiten des Warschauer Vertrags für die Bundesrepublik Deutschland noch nicht beendet. Ein weiteres Problem lag nämlich in Art. IV des Warschauer Vertrags: „Dieser Vertrag berührt nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen.“ An sich ist eine solche Nichtberührungsklausel in internationalen Verträgen nichts Ungewöhnliches. Ihre spezifische Bedeutung im Rahmen des Warschauer Vertrags tritt aber plastisch hervor, wenn man sie mit der Nichtberührungsklausel des Moskauer Vertrags vom 12. August 1970 vergleicht. Dort wird nämlich erklärt, daß der vorliegende Vertrag nicht die von den Vertragspartnern „früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen“ berührt. Die Abweichung liegt in der Hinzufügung der Worte „oder sie betreffenden“ im Warschauer Vertrag. Die Worte wurden hinzugefügt,, damit die Nichtberührungsklausel des Warschauer Vertrags auch das sogenannte Potsdamer Abkommen (das in Wirklichkeit kein Abkommen ist, sondern nur das Schlußkommunique einer internationalen Konferenz) erfaßt. Im Moskauer Vertrag war das nicht notwendig, weil ja die Sowjetunion Signatarstaat des Potsdamer Abkommens ist.

Gerade die so gefaßte Nichtberührungsklausel des Warschauer Vertrags brachte aber die Bundesrepublik Deutschland in ein neues juristisches Dilemma. Das Potsdamer Abkommen behält nämlich die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands ausdrücklich einem Friedensvertrag vor. Wenn nun der Warschauer Vertrag in seinem Art. I die Grenzen Polens „jetzt und in der Zukunft“, also endgültig, anerkennt, während Art. IV desselben Vertrags auf dem Umweg über das Potsdamer Abkommen der Grenzanerkennung nur vorläufige Wirksamkeit verleiht, so ist die völkerrechtliche Gültigkeit dieses Vertrages fragwürdig; denn ein in sich widerspruchsvoller Vertrag ist ungültig. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, erklärte die damalige Bundesregierung, die endgültige Grenzanerkennung gelte nur für die Bundesrepublik Deutschland; die im Potsdamer Abkommen festgeschriebene Vorläufigkeit betreffe dagegen Deutschland als Ganzes. Aber dieser Ausweg aus dem völkerrechtlichen Dilemma führte in ein staatsrechtliches Dilemma; denn das Grundgesetz verbot (und verbietet immer noch) eine juristische Unterscheidung zwischen Deutschland und der Bundesrepublik Deutschland.

Im völkerrechtlichen Schrifttum wurde schon damals gewarnt, daß diese fundamentale Unklarheit des Warschauer Vertrags den polnischen Vertragspartner ängstlich und mißtrauisch machen mußte. Es war damit zu rechnen, daß im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands vor Abschluß eines Friedensvertrags Polen darauf bestehen würde, die Endgültigkeit der Grenzanerkennung erneut zu bekräftigen. Ob dies juristisch wirklich nötig war, kann bezweifelt werden; denn da die Wiedervereinigung auf der Grundlage von Art. 23 GG (alte Fassung) erfolgte, änderte sich die Rechtsposition des deutschen Vertragspartners des Warschauer Vertrags durch die Wiedervereinigung nicht. Es konnte daher ohne weiteres argumentiert werden, daß nach dem Vollzug der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 die endgültige Grenzanerkennung des Warschauer Vertrags einfach fortbestand.

II. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag

Die Probleme der völkerrechtlichen Lage Deutschlands im Verhältnis zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs waren durch den Beitritt der ehemaligen DDR zum Grundgesetz nicht zu lösen. Aus dieser Erkenntnis heraus bemühte sich die Bundesrepublik Deutschland um die Schaffung eines Vertrags-und Gesetzeswerks, das nicht nur die staatsrechtlichen Veränderungen bewirkte, sondern auch die völkerrechtliche Lage klärte. Dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990 folgte daher der Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 (Zwei-plus-Vier-Vertrag) Sein Art. 1 beginnt mit den Sätzen: „Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sein und werden am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrags endgültig sein. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa.“

Mit dem Vertrag vom 12. September 1990 wurden gleichzeitig alle Zweifel über die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland ausgeräumt. Die Viermächteverantwortung für Berlin und Deutschland als Ganzes ist beseitigt. Zugleich aber übernahm die Bundesrepublik Deutschland gegenüber den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs als Signatarstaaten des Vertrags vom 12. September 1990 eine völkerrechtliche Verpflichtung, die bezüglich der Territorialfrage absolute Klarheit schaffen sollte. Art. 1 Abs. 2 des 2+ 4-Vertrags bestimmt nämlich: „Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.“ Dieses Versprechen ist durch den Abschluß des deutsch-polnischen Grenzvertrags vom 14. November 1990 erfüllt worden. Auch der Inhalt dieses Grenzvertrags war durch den 2+ 4-Vertrag vorgegeben. Dieser aber brachte inhaltlich nichts Neues gegenüber dem War-schauer Vertrag vom 7. Dezember 1970.

Man sollte meinen, daß ein Grenzvertrag, der nur bestätigt, was längst akzeptiert ist, in der Öffentlichkeit kein Aufsehen erregt. Aber bald nach dem Bekanntwerden des 2+ 4-Vertrags erhob sich, wohl auch zur Überraschung der meisten Politiker, in Deutschland eine heftige Kontroverse nicht nur über die Notwendigkeit des Grenzvertrags, sondern auch über dessen Folgen. In einer Flut von Zeitungsartikeln und Leserbriefen wurden Argumente und Gegenargumente erörtert, die praktisch alle Bereiche des menschlichen Seins berührten: Heimatverlust, Entschädigungsforderungen, Kriegsschuld, Versöhnung und Vergebung, Aufbau einer neuen Friedensordnung, Schlußstrich unter die Vergangenheit sind Schlagworte, hinter denen sich Emotionen verbergen, deren Meisterung, Ausnutzung oder Überwindung für das künftige Schicksal Europas entscheidend sein werden. Der geschichtswissenschaftlichen Forschung ist dadurch reichhaltiges Material geliefert worden, das noch der Verwertung harrt. Aber schon jetzt kann vermerkt werden, daß die meisten der an dieser Diskussion Teilnehmenden der Meinung waren, es gehe bei der abschließenden Regelung zwischen Deutschland und Polen nicht um Gebietsansprüche, sondern um die Schaffung einer tragfähigen Grundlage für die Entwicklung nachbarlicher und freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Staaten im Rahmen einer europäischen Friedensordnung, die ihrerseits Teil einer globalen Friedensordnung sein müsse. Gerade deswegen aber wurde die bloße Grenzanerkennung von vielen als unbefriedigend empfunden. Wieder einmal tauchte der Ruf nach einem Friedensvertrag auf, und es war interessanterweise der außenpolitische Berater Gorbatschows -der ehemalige sowjetische Botschafter in Bonn und Deutschlandexperte Valentin Falin -, der im Mai 1990 die Forderung nach einem Friedensvertrag erhob und unter anderem damit begründete, „daß von westlicher Seite doch immer gesagt wurde, daß die Frage der Grenzen in einem Friedensvertrag geregelt werden müsse“

Die Diskussion über die Notwendigkeit eines Friedensvertrags mit Deutschland war in der gesamten Nachkriegszeit nie verstummt, obwohl das Thema verständlicherweise im Laufe der Zeit an Aktualität verlor, weil immer mehr Einzelfragen durch bilaterale oder multilaterale Verträge, an denen die Bundesrepublik Deutschland beteiligt war, gelöst worden waren. So hatte sich nicht nur in Deutschland die Meinung durchgesetzt, daß ein Friedensvertrag nicht mehr erforderlich sei. Daß der Grenzvertrag Teil einer „Friedensregelung“ sein müsse, war den Experten durchaus klar und fand auch in der Öffentlichkeit allgemeine Zustimmung.

III. Der deutsch-polnische Grenzvertrag

Am 21. Juni 1990 stimmten 486 Abgeordnete des Deutschen Bundestags dafür, daß das vereinte Deutschland die Westgrenze Polens ausdrücklich anerkennt. Die 15 Abgeordneten, die dagegen stimmten, begründeten ihre Ablehnung zum Teil damit, daß im Text der an jenem Tag verabschiedeten Entschließung auf den Görlitzer Vertrag zwischen der DDR und Polen vom 6. Juli 1950, dem der Deutsche Bundestag wiederholt seine Anerkennung versagt hatte, Bezug genommen wurde. Einige der Abgeordneten rügten ferner, daß die Entschließung die eigentlichen völkerrechtlichen Probleme, die mit der Vertreibung der Deutschen aus den Oder-Neiße-Gebieten Zusammenhängen, nicht berühre und insbesondere dem Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht entspreche

In welchem Geist die Entschließung des Deutschen Bundestags vom 21. Juni 1990 gefaßt wurde, zeigt deren Text deutlich. In der Präambel heißt es, der Bundestag habe diesen Beschluß gefaßt „in dem Bestreben, durch die deutsche Einheit einen Beitrag zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben und umfassende Zusammenarbeit zum Wohle aller sowie dauerhaften Frieden, Freiheit und Stabilität gewährleistet“. Dies ist auch in Art. 1 Abs. 1 des 2+ 4-Vertrages bekräftigt worden: „Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa.“

Die Präambel des deutsch-polnischen Grenzvertrags vom 14. November 1990 nimmt dieses Thema auf und verweist dabei auch auf die KSZE-Schlußakte vom 1. August 1975. Im 5. Absatz der Präambel wird an Probleme erinnert, die mit der Änderung der Gebietshoheit Zusammenhängen, aber im Grenzvertrag selbst nicht angesprochen werden: Heimatverlust, „Vertreibung oder Aussiedlung“. Die Präambel nennt diese Tatsachen „eine Mahnung und Herausforderung zur Gestaltung friedlicher Beziehungen zwischen den beiden Völkern und Staaten“ und fügt in ihrem letzten Absatz hinzu, der ganze Vertrag sei in dem Wunsch geschlossen worden, „feste Grundlagen für ein freundschaftliches Zusammenleben zu schaffen und die Politik der dauerhaften Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen fortzusetzen“.

Die Ausklammerung aller Fragen, die mit den auf den betroffenen Gebieten lebenden Menschen Zusammenhängen, wirft allerdings eine juristische Problematik von größter Tragweite auf: Seit feststeht, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine echte Völkerrechtsnorm ist, steht zugleich fest, daß es ohne Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts keinen völkerrechtlich gültigen Gebietsübergang mehr geben kann. Nach geltendem Völkerrecht ist ein Gebietserwerb nur durch eine Zession, d. h. durch einen Vertrag zwischen dem gebietsabtretenden und dem gebietserwerbenden Staat, möglich. Schon seit dem 19. Jahrhundert sind alle Zessionsverträge mit Staatsangehörigkeits-und Optionsregelungen versehen worden. Das Recht der auf dem abgetretenen Gebiet lebenden Bevölkerung, weiterhin dort zu verbleiben und den Schutz ihres Privateigentums und ihrer sonstigen Rechte auch nach der Gebietsabtretung zu genießen, ist schon im klassischen Völkerrecht unbestritten gewesen. Vorbilder dafür, daß bei einem Gebietserwerb private Rechte untergehen und die Bevölkerung des abgetretenen Gebietes rechtlos wird, gibt es in der gesamten Völkerrechtsgeschichte nicht.

Es wäre grotesk, wenn diese schon im klassischen Völkerrecht unangefochten geltenden Grundsätze ausgerechnet in einer Zeit, in der so viel von Menschenrechten und vom Selbstbestimmungsrecht der Völker geredet wird, über Bord geworfen würden und eine derartige Barbarisierung statthaft wäre, die letztlich eine völlige Zerstörung der Völkerrechtsordnung bedeuten würde. Eine Gebietsabtretung ohne Erwähnung von davon betroffenen Menschen wäre nur dann zulässig, wenn es sich um absolut menschenleere Gebiete handelte. Selbst dort taucht allerdings die Frage von privaten Rechten auf dem menschenleeren Gebiet auf, wie die langwierigen Verhandlungen über kleine unbewohnte Waldstücke -etwa über den im deutsch-französischen Grenzgebiet liegenden Mundatwald -zeigen. Bei den Gebieten, die der deutsch-polnische Grenzvertrag vom 14. November 1990 betrifft, geht es aber nicht um kleine menschenleere Gebiete. Eine vergleichbare Situation wäre etwa die völkerrechtliche Verfügung über mehrere europäische Staaten wie etwa Österreich und die Schweiz oder Holland und Belgien (ein einzelner dieser Staaten würde nicht genügen, um die quantitative Größe der Probleme zu veranschaulichen). Es gibt kein juristisches oder moralisches Argument, das es rechtfertigen würde, die Bewohner dieser Gebiete pauschal für rechtlos zu erklären. Alle Versuche dieser Art enden zwangsläufig bei den menschenverachtenden Postulaten von Kollektivschuld und barbarischem Siegerrecht, die vom Völkerrecht nicht gedeckt sind.

Nun kommt aber noch eine juristische Finesse hinzu: Weder der Warschauer Vertrag noch der 2+ 4-Vertrag, noch der Grenzvertrag vom 14. November 1990 ist ein Zessionsvertrag. In allen drei Verträgen wird lediglich die im Potsdamer Abkommen beschriebene „Linie“ bestätigt bzw. als Grenze anerkannt. Daß das Potsdamer Abkommen selbst keine Zession bewirkte und bewirken sollte, ergibt sich eindeutig aus dessen Text, würde sich aber auch schon daraus ergeben, daß es eben kein Vertrag zwischen dem gebietsabtretenden und dem gebietserwerbenden Staat war. Die diesbezüglichen Texte des Warschauer Vertrags und des 2+ 4-Vertrags sind bereits im vorstehenden wiedergegeben worden. Auch der deutsch-polnische Grenzvertrag vom 14. November 1990 verwendet nur das Wort „bestätigen“. In Art. 2 erklären die Vertragsparteien, „daß die zwischen ihnen bestehende Grenze jetzt und in Zukunft unverletzlich ist, und verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer Souveränität und territorialen Integrität“. Art. 3 fügt hinzu: „Die Vertragsparteien erklären, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden.“

Damit ist -allerdings nicht zum ersten Mal -in völkerrechtlich verbindlicher Weise festgelegt, daß Deutschland die Oder-Neiße-Linie endgültig als die Westgrenze Polens (seit der Einigung Deutschlands: die gemeinsame Grenze) anerkennt. Da unstreitig ist, daß die östlich dieser Linie gelegenen Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 unter der Gebietshoheit des Deutschen Reiches standen -auch Polen hat das nie bestritten -, taucht allerdings die Frage auf, durch welchen Vorgang der Wechsel der Gebietshoheit bewirkt worden ist. Hierüber sagt der Grenzvertrag nichts aus. Als bloßer Grenzanerkennungs-Vertrag kann der Vertrag vom 14. November 1990 die Menschen, die auf dem von ihm betroffenen Gebiet vor und nach 1945 gelebt haben, (vielleicht) ignorieren. Als Ersatz für einen Friedensvertrag könnte er es nicht. Welch komplizierte Regelungen jeder Wechsel der Gebietshoheit erforderlich macht, weiß jeder, der einmal einen Zessionsvertrag gelesen hat.

IV. Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag

Mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990 ist die juristische Bestandsaufnahme noch nicht abgeschlossen. Am 17. Juni 1991 wurde der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ unterzeichnet. Aber auch er enthält keinerlei Aussagen über die Rechtsfolgen des Gebietswechsels für die betroffenen Menschen. Im menschenrechtlichen Bereich konzentriert er sich auf den Minderheitenschutz. Doch stehen diese Vorschriften keineswegs im Mittelpunkt des Vertrags. Von seinen 38 Artikeln beschäftigen sich nur drei (Art. 20-22) mit dieser Materie, wobei einer von ihnen die Begrenzungen des Minderheitenschutzes normiert. Es ist kein Geheimnis, daß auch diese Artikel erst nach intensiven Bemühungen politischer Kreise in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt in den Vertragstext hineinkamen.

Die zentrale Aussage zum Minderheitenschutz findet sich in Art. 20 Abs. 1: „Die Vertragsparteien verwirklichen die Rechte und Verpflichtungen des internationalen Standards für Minderheiten.“ Man könnte es sich leicht machen und von hier aus den gesamten Vertrag abwerten; denn einen „internationalen Standard für Minderheiten“ gibt es noch nicht. Bisher gibt es nur Ansätze für ein europäisches Volksgruppenrecht, und es gibt einige Völkerrechtsnormen in multilateralen Verträgen, die für den Minderheitenschutz eingesetzt werden können Aber das entwertet den deutsch-polnischen Vertrag vom 17. Juni 1991 nicht. Mit gutem Willen kann der Vertrag durchaus als Grundlage von Bemühungen für den Schutz der in den Oder-Neiße-Gebieten verbliebenen deutschstämmigen Restbevölkerung dienen. Allerdings muß berücksichtigt werden, daß diese Menschen mittlerweile polnische Staatsbürger geworden sind und daß sie als solche eine Loyalitätsverpflichtung gegenüber ihrem Staat besitzen. Der völkerrechtliche Minderheitenschutz hebt diese Pflicht nicht auf, sondern setzt sie sogar voraus. Noch weiter ausholend muß betont werden, daß ein völkerrechtlich abgesicherter Minderheiten-oder Volksgruppenschutz (die letztere Bezeichnung setzt sich auch in der internationalen Terminologie durch: protection of ethnic groups) die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten nicht stört.

Wie man sieht, ist in allen Verträgen, die zwischen Deutschland und Polen nach 1945 abgeschlossen worden sind, das Problem der Vertreibung und der entschädigungslosen Enteignung der Deutschen durch den polnischen Staat (in den Oder-Neiße-Gebieten wie auch in den übrigen Teilen Polens) nicht berührt worden. Die offizielle Haltung der Bundesrepublik Deutschland ist bisher von allen Bundesregierungen bekräftigt worden: Keine der Abmachungen beinhaltet eine Rechtfertigung der Vertreibungen und anderer völkerrechtswidriger Akte. Diese Haltung gilt auch für das Verhältnis zur Tschechischen Republik, so daß darauf im folgenden zurückzukommen sein wird. Mit Blick auf beide Staaten hat die Bundesregierung wiederholt erklärt, daß sie nicht berechtigt sei, auf privat-rechtliche Rechtspositionen ihrer Bürger und auf Menschenrechte zu verzichten. Mit dieser Haltung trägt sie dem geltenden Völkerrecht Rechnung und leistet einen Beitrag zur Festigung der Normen, auf denen eine europäische Friedensordnung aufgebaut werden kann.

V. Grundlagen der Beziehungen zur Tschechischen Republik

Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik erscheint vom völkerrechtlichen Standpunkt weit weniger kompliziert, weil in diesem Verhältnis Territorialfragen niemals eine Rolle gespielt haben. Von Anfang an hat die Bundesrepublik Deutschland die von den Alliierten geprägte Formel „Deutschland in den Grenzen vom 31. 12. 1937“ akzeptiert, die zum ersten Mal offiziell im Londoner Protokoll vom 12. September 1944 verwendet wurde, in dem die Alliierten die künftigen Besatzungszonen in Deutschland festlegten. Seither tauchte sie immer wieder in internationalen (alliierten) Dokumenten auf und wurde ausdrücklich auch den Beratungen auf der Potsdamer Konferenz zugrunde gelegt. Rechtlich bedeutete sie einen Vorgriff auf den Friedensvertrag; denn sie brachte den Willen der Hauptsiegermächte zum Ausdruck, alle nach dem 31. 12. 1937 bewirkten Gebietserwerbungen des Deutschen Reiches wieder rückgängig zu machen. Darunter fiel auch das Sudetenland -ganz gleich, wie der Gebietsübergang 1938 bewirkt worden war. (Nur am Rande sei erwähnt, daß das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 nicht die Rechtsgrundlage für den Gebietserwerb war und sein konnte. Letzteres folgt aus der Tatsache, daß es kein Vertrag zwischen dem gebietsabtretenden und dem gebietserwerbenden Staat war. Aber auch der Text des Abkommens läßt dies deutlich erkennen. Er regelt nämlich nur die Modalitäten der Gebietsübergabe und geht ausdrücklich von der zwischen der Tschechoslowakei und den zwei Westmächten Großbritannien und Frankreich bereits erzielten Vereinbarung über die Gebietsabtretung aus, welcher sich das Deutsche Reich ausdrücklich anschloß. In der Völkerrechtsliteratur steht daher bei der Erörtung des Gebietswechsels von 1938 nicht das Münchner Abkommen im Vordergrund, sondern die Gesamtheit der vorher und nachher unter Beteiligung der Tschechoslowakei getroffenen Regelungen.)

Auf der ganzen Welt gab es am Ende des Zweiten Weltkriegs wohl niemanden, der daran zweifelte, daß die Tschechoslowakei in ihren alten Grenzen wiederhergestellt würde. Die selbst von der tschechischen Exilregierung noch bis in das Vorfeld der Konferenz von Teheran (1943) erwogenen Pläne, die Zustimmung der Alliierten zur Aussiedlung eines Teils der Sudetendeutschen durch das Zugeständnis der Abtretung kleinerer Teile des Sudetenlandes• zu erkaufen, waren gegenstandslos geworden, sobald sich der vollständige Sieg der Alliierten abzeichnete.

Noch deutlicher als im Falle Polens zeigt sich aber gerade am Beispiel der Tschechischen Republik, daß Territorialfragen oder sonstige materielle Ansprüche nicht das große Hindernis für die Schaffung normaler und freundschaftlicher Beziehungen gewesen sind. Auch der gelegentlich herangezogene Vergleich mit der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich unterstreicht das. Abgesehen davon, daß es immerhin 18 Jahre dauerte, bis es -durch den kraftvollen Einsatz der großen Persönlichkeiten de Gaulle und Adenauer und zahlreicher Mitstreiter in beiden Ländern -gelang, die ersten wirksamen Schritte in dieser Richtung zu unternehmen, waren eben die Fakten im Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich völlig anders. Zwar hatte Frankreich ganz offen Gebietsansprüche gegen Deutschland angemeldet und hatte im Saargebiet eine von der französischen Besatzungszone abgetrennte separatistische Regierung eingesetzt, die ebenso offen den Anschluß an Frankreich erstrebte. Die Opposition dagegen wurde unterdrückt; Naziverbrecher wurden bestraft. Aber es fanden keine Vertreibungen, Massenaussiedlungen, Entrechtungen oder sonstigen Exzesse statt, wie sie durch die Benesch-Dekrete angeordnet oder legalisiert wurden. Frankreich respektierte die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es ließ eine Volksabstimmung im Saarland zu, deren Ergebnis es ohne Murren anerkannte.

Um eine brauchbare Parallele zu den Schwierigkeiten im Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn zu konstruieren, müßte man sich ein ganz anderes Szenario vorstellen: Man müßte davon ausgehen, daß Frankreich große Teile Deutschlands seinem Staatsgebiet einverleibt hätte (um die Verhältnismäßigkeit zu wahren, müßte die Grenze Frankreichs etwa am Ostrand von Baden-Württemberg und quer durch Nordrhein-Westfalen verlaufen) und daß es aus diesen Gebieten die gesamte deutsche Bevölkerung irgendwohin vertrieben hätte, wobei Millionen von Menschen elend umgekommen wären. Frankreich hat das nicht getan! Gegenüber der überwältigenden historischen Größe dieses Unterschieds mag ein weiterer Unterschied geringfügig erscheinen. Er liegt darin, daß die Bundesrepublik Deutschland von Anfang an in einem internationalen Umfeld stand, in das auch Frankreich gehörte. Dagegen haben die Bundesrepublik Deutschland sowie die Tschechoslowakei und Polen jahrzehntelang unterschiedlichen Staatenblöcken angehört, was bezüglich der Prägung nicht nur außenpolitischer Verhaltensstrukturen doch eine beachtliche historische Dimension aufweist. Daß in dieser historischen Dimension wiederum das Völkerrecht eingeflochten ist, bedarf keiner Erwähnung. Die Bundesrepublik Deutschland ist nach wie vor in eine Reihe von „westlichen" Vertragssystemen eingebunden und hat nicht die Absicht, sich aus diesen Verflechtungen herauszulösen.

Die Tschechische Republik hat als Rechtsnachfolgerin der untergegangenen CSFR (die ihrerseits durch einen verfassungsrechtlichen Umbau der CSSR entstanden war) das rechtliche Erbe einer Volksrepublik übernommen, die Teil des östlichen Paktsystems gewesen ist. Die militärischen und ideologischen Bindungen jenes Systems haben sich von selbst aufgelöst. Aber auf vielen anderen Gebieten stellt die Lockerung von rechtlich abgesicherten Bindungen nach Osten, die zwangsläufig mit der beabsichtigten Hinwendung zum Westen einhergeht, die tschechische Außenpolitik vor schwierige Probleme. Ihre Lösung wird durch die Nachwirkungen der ideologischen und militärischen Integration in den Ostblock, von der zwei Generationen geprägt worden sind, nicht gerade erleichtert. Das alles muß die Bundesrepublik Deutschland berücksichtigen, wenn sie -wie offiziell erklärt worden ist -der Tschechischen Republik helfen will, nach Europa zurückzukehren. Jenes erklärte außenpolitische Ziel der Bundesrepublik Deutschland findet, wie ebenfalls leicht nachzuweisen ist, uneingeschränkte Billigung in der deutschen Bevölkerung. Es fügt sich ein in die dem Frieden verpflichtete Politik der Bundesrepublik Deutschland.

VI. Der Prager Vertrag

Normale diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihrem tschechischen Nachbarn bestehen nicht erst seit der „samtenen Revolution“ in Prag. Sie wurden bereits durch den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen vom 11. Dezember 1973, dem sogenannten Prager Vertrag, hergestellt Dieser Vertrag bestätigte die von allen Regierungen der Bundesrepublik Deutschland abgegebene Erklärung, daß zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei keine Grenzprobleme bestehen. Die Problematik des Münchner Abkommens ist -wie bereits ausgeführt -völkerrechtlich keineswegs so kompliziert, wie dies manchmal im nichtjuristischen Schrifttum dargestellt worden ist. Daß diese Frage für die tschechische Seite eine große psychologische und politische Bedeutung hat, ist von deutscher Seite stets verständnisvoll anerkannt worden. Der Widerstand gegen eine vertragliche Erklärung, daß das Münchner Abkommen von Anfang an nichtig war, zielte beileibe nicht auf eine Rechtfertigung der Hitlerschen Außenpolitik, sondern hatte rein juristische Gründe, nämlich den Rechts-status der vertriebenen Sudetendeutschen.

Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zur Situation im Verhältnis zu Polen, der häufig übersehen wird, wenn (von tschechischer Seite) geklagt wird, Deutschland hätte doch wegen der viel größeren Zahl von Vertriebenen aus den Oder-Neiße-Gebieten den Polen keine so großen Schwierigkeiten gemacht wie der Tschechischen Republik wegen der vertriebenen Sudetendeutschen (und daran sei allein die Sudetendeutsche Landsmannschaft schuld, der ein unheilvoller Einfluß auf die Bonner Außenpolitik zugeschrieben wird): Die aus den Oder-Neiße-Gebieten kommenden Deutschen besaßen unstreitig die deutsche Staatsangehörigkeit; die Sudetendeutschen haben sie erst auf der Grundlage des deutsch-tschechoslowakischen Staatsangehörigkeits-und Optionsvertrags vom 20. November 1938 erworben, der seinerseits die Gültigkeit des durch die „Münchner Regelung“ bewirkten Gebietsübergangs zur Voraussetzung hat. Auf dieser völkerrechtlichen Grundlage konnte die Bundesrepublik Deutschland durch das „Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit“ vom 22. Februar 1955 u. a. auch die deutsche Staatsangehörigkeit der Sudetendeutschen innerhalb der deutschen Rechtsordnung festschreiben. Wäre das Münchner Abkommen für von Anfang an (ex tune) nichtig erklärt worden, so hätte dies die Ex-tunc-Nichtigkeit der gesamten Münchner Regelung und damit die Ungültigkeit des deutsch-tschechoslowakischen Staatsangehörigkeitsvertrages bewirkt, wodurch dem Staatsangehörigkeits-Regelungsgesetz von 1955 die juristische Grundlage entzogen worden wäre.

Eine Rechtsunsicherheit größten Ausmaßes wäre die Folge gewesen. Man muß dabei auch bedenken, daß es hier nicht nur um den Rechtsstatus von mehreren Millionen Personen geht, sondern auch um die rechtliche Beurteilung einer noch viel größeren Zahl von (privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen) Rechtsakten, die in der Zeit zwischen dem 30. 9. 1938 und dem 8. 5. 1945 im Sudetengebiet gesetzt worden sind; denn ohne völkerrechtlich wirksamen Gebietsübergang wäre auch die Erstreckung der deutschen Rechtsordnung auf das Sudetengebiet unwirksam gewesen.

Zur Lösung dieser Probleme fanden die tschechoslowakischen und deutschen Unterhändler die folgende, in Art. I des Prager Vertrags niedergelegte Kompromißformel: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik betrachten das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig.“ Eine solche Kompromißformel gestattet es beiden Vertragsparteien, ihre bisherigen Auffassungen über einen bestimmten Streitgegenstand nach wie vor zu vertreten, während für die künftigen Beziehungen -ohne Rechtswirkung für dritte Staaten -eine gemeinsame Basis geschaffen wird. Allerdings ist hier die rechtliche Bedeutung der gemeinsamen Basis durch die Worte „nach Maßgabe dieses Vertrages“ eingeschränkt. Art. 11 Abs. 1 des Prager Vertrags präzisiert das: „Dieser Vertrag berühr Abs. 1 des Prager Vertrags präzisiert das: „Dieser Vertrag berührt nicht die Rechtswirkungen, die sich in bezug auf natürliche oder juristische Personen aus dem in der Zeit vom 30. September 1938 bis zum 9. Mai 1945 angewendeten Recht ergeben.“ Das bedeutet, daß alle Rechtsfragen, die den Status von Personen betreffen, auf der Grundlage des gültigen Zustandekommens des Münchner Abkommens zu lösen sind, während territoriale Konsequenzen daraus nach wie vor nicht gezogen werden. Dies hat sich als tragfähige Grundlage für die gegenseitigen Beziehungen erwiesen.

VII. Der deutsch-tschechische Nachbarschaftsvertrag

Durch die zumindest mittelbare Erwähnung der vor 1945 in dem Vertreibungsgebiet lebenden Menschen unterscheidet sich der Prager Vertrag wohltuend vom Warschauer Vertrag. Eine negative Parallelität zwischen den beiden Verträgen besteht aber insofern, als auch im Prager Vertrag alle mit der Vertreibung von 1945/46 zusammenhängenden Fragen ausgeklammert blieben. Nach der „samtenen Revolution“ des Jahres 1989 erweckten die ersten Äußerungen des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Vaclav Havel die Hoffnung, daß in naher Zukunft auch über diese Fragen gesprochen werden könnte. Doch bald zeigte sich, daß die Stellungnahme zur Vertreibung das entscheidende Hindernis für eine Verständigung darstellt. Daß dies im Verhältnis zur Tschechoslowakei, in dem es keine territorialen Probleme gab, noch deutlicher zutage trat als im Verhältnis zu Polen, ist eigentlich logisch. Die Vor-verhandlungen zu dem von beiden Seiten aufrichtig erstrebten Vertrag „über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ waren durch diese Tatsache -die durch eine Fülle von unangenehmen Zwischenfällen immer wieder unterstrichen wurde -außerordentlich stark belastet. Die Verhandlungen zogen sich qualvoll in die Länge. Erst am 27. Februar 1992 konnte der Vertrag unterzeichnet werden 10). Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte ihn am 9. Juli 1992. Der tschechoslowakische Ministerpräsident Calfa lobte den Vertrag, fügte aber hinzu: „Andererseits ist ganz offensichtlich, daß nicht alle Erwartungen erfüllt wurden. Ich hatte vorgeschlagen, die mit einseitigen Ansprüchen, begangenem Unrecht und Rechtsverfetzungen gefüllte Büchse der Pandora nicht zu öffnen. Dies könnte eine der Schlüsselfragen im Vertrag sein, die zu lösen uns nicht gelungen ist. Wir ließen uns ein Überbleibsel für die Zukunft, was mir ein wenig leid tut, da solche offenen Fragen zu Streitigkeiten führen können. Eines Tages wartet sowieso eine grundlegende Entscheidung auf uns.“ 11)

In einer vergleichenden Betrachtung des deutsch-tschechischen Nachbarschafts-und Freundschaftsvertrages von 1992 mit dem deutsch-ungarischen Vertrag ist gesagt worden, der Ungarn-Vertrag zeige mehr „Herzlichkeit“ Wer solche Vergleichsmöglichkeiten nicht hat, wird im deutschtschechoslowakischen Vertrag (in den auf tschechischer Seite die Tschechische Republik als Rechts-nachfolgerin des alten Vertragspartners eingetreten ist) keine Herzenskälte finden. In der Präambel erklären die Vertragspartner, sie seien „entschlossen, an die jahrhundertelangen fruchtbaren Traditionen gemeinsamer Geschichte und an die Ergebnisse der bisherigen Zusammenarbeit anzuknüpfen sowie ihre gegenseitigen Beziehungen im Geiste guter Nachbarschaft und freundschaftlicher Zusammenarbeit auf eine zukunftsweisende Grundlage zu stellen“, und zwar „eingedenk der zahlreichen Opfer, die Gewaltherrschaft, Krieg und Vertreibung gefordert haben, und des schweren Leids, das vielen unschuldigen Menschen zugefügt wurde“.

In den deutschen Kommentaren zum Vertrag ist auch hervorgehoben worden, daß durch diese Formulierung zum ersten Mal im tschechischen Text ein Wort verwendet worden ist, das eine korrekte Übersetzung des Wortes „Vertreibung“ darstellt, nämlich „vyhnäni“. (Es bedarf keiner Erwähnung, daß gerade dieses Wort in tschechischen Kreisen wiederum Unwillen auslöste.) Im Vertragstext finden sich diplomatisch glatte Formulierungen zu allgemeinen Problemen der internationalen Nachbarschaftsbeziehungen, der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, zu Kontakten und Erfahrungsaustausch, zur wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit, zum Umweltschutz und vor allem zur europäischen Einigung. Art. 20 des Vertrags beschäftigt sich mit den „Angehörigen der deutschen Minderheit“ und betont: „Jeder Angehörige der deutschen Minderheit in der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik ist nach Maßgabe vorstehender Bestimmungen gehalten, sich wie jeder Staatsbürger der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik zu verhalten, indem er sich nach den Verpflichtungen richtet, die sich auf Grund der Gesetze dieses Staates ergeben.“ Auch Art. 28 Abs. 1 des Vertrags sollte nicht vergessen werden: „Die Vertragsparteien werden umfassende Kontakte, insbesondere persönliche Begegnungen zwischen ihren Bürgern fördern, die sie als unerläßliche Voraussetzung für das gegenseitige Kennenlernen und die Vertiefung des Verständnisses zwischen ihren Völkern betrachten.“

Im Bewußtsein der Öffentlichkeit beider Staaten scheint dieser Vertrag schon weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Aus Prag selbst ist Ende 1995 das folgende Ergebnis berichtet worden: „Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß es nach dem Abschluß des Nachbarschaftsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei zum praktischen Ende dieser Beziehungen kam.“ Das Urteil klingt härter als es ist; denn in erster Linie ist damit gemeint, daß bereits vor der Auflösung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik die Pflege der internationalen Beziehungen auf die Teilrepubliken übergegangen ist. Der Nachbarschafts-und Freundschaftsvertrag von 1992 gilt im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik weiter und kann auch in Zukunft als juristisqhe Grundlage für gute nachbarschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Ländern dienen.

Daß die mit der Vertreibung zusammenhängenden Fragen in ihm nicht geregelt werden, vermindert seine Funktionsfähigkeit in dieser Beziehung nicht. Aber das Bedauern des Ministerpräsidenten Calfa wird auf deutscher Seite durchaus geteilt. Hier gesellt sich auch viel Bitterkeit dazu, wie sie etwa in einem Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Ausdruck gekommen ist: „Menschliche Tragödien vor 50 Jahren sind vollständig uninteressant, ebenso die heutige moralische Beurteilung. Mit dieser Erfahrung wird das immer kleiner werdende Häuflein der Sudetendeutschen leben müssen, ebenso wie Hunderttausende im ehemaligen Jugoslawien, die gequält, entwürdigt und vertrieben worden sind. Hier wie dort blüht nach einiger Zeit über den Gräbern die Wirtschaft.“

Damit ist der harte Kern des Dissenses angesprochen, der in gewichtigen Teilen der öffentlichen Meinung in den beiden Ländern herrscht. Er betrifft ein und dieselbe Frage, nämlich die Beurteilung der Vertreibung von 1945/46, die im gesamten Verhältnis Deutschlands zu seinen beiden östlichen Nachbarn eine so unheilvolle Rolle spielt. Während auf der tschechischen Seite die materiellen Folgen einer offiziellen Anerkennung des Unrechts der Vertreibung gefürchtet werden (das höhnische Wort, die Sudetendeutschen wollten „reich ins Heim“, geistert seit langem durch die tschechische Presse), steht auf sudetendeutscher Seite das verletzte Ehrgefühl, die mit den Füßen getretene Menschenwürde und das demütigende Gefühl, für alle Zeiten mit einer Kollektivschuld belastet zu sein, im Vordergrund.

Aus diesem Dilemma ist schwer herauszukommen; denn wenn den Tschechen offiziell gesagt würde, die Anerkennung des Unrechts der Vertreibung hätte keinerlei juristische Konsequenzen, so würde man sie von vornherein entwerten. In der Praxis wissen das aber beide Seiten. Es ist kein Geheimnis, daß von den überlebenden Sudetendeutschen und ihren Nachkommen kaum noch jemand bereit wäre, in die alte Heimat in der Tschechischen Republik zurückzukehren. Vermögensrechtliche Ansprüche würden von einzelnen gewiß nur in den seltensten Fällen erhoben und würden bei ihrer Geltendmachung vor tschechischen Gerichten zumindest auf ähnliche Schwierigkeiten stoßen wie die Ansprüche der Alteigentümer in den neuen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland.

VIII. Die Vertreibung im Urteil des Völkerrechts

Das Verlangen nach einer eindeutigen Verurteilung der Maßnahmen, die 1945/46 von den östlichen Nachbarn Deutschlands gegen die in ihrem Machtbereich lebenden Deutschen getroffen worden sind, ist vielleicht gerade deshalb so schwer zu erfüllen, weil es nicht im Materiellen begründet ist. Auch dieses Problem scheint in der Tschechischen Republik größer zu sein als in Polen. In der tschechischen Geschichtsschreibung ist die Austreibung der Sudetendeutschen hauptsächlich mit dem „Verrat“ gerechtfertigt worden, den die Sudetendeutschen an der ersten Tschechoslowakischen Republik angeblich verübt haben. Von den Sudetendeutschen wird darauf erwidert, daß sie 1919 gegen ihren Willen in den tschechoslowakischen Staat gezwungen wurden. Das österreichische Parlament hat anläßlich der Ratifizierung des Vertrags von St. Germain am 6. September 1919 deutlich darauf hingewiesen. In der Resolution von jenem Tage heißt es: „Die Nationalversammlung der Republik Deutsch-Österreich nimmt den Bericht des Staatskanzlers über den Verlauf und die Ergebnisse von St. Germain zur Kenntnis... In schmerzlicher Enttäuschung legt sie ihre Verwahrung ein gegen den leider unwiderruflichen Beschluß der alliierten und assoziierten Mächte, dreieinhalb Millionen Sudetendeutsche von den Alpendeutschen, mit denen sie seit Jahrhunderten eine politische und wirtschaftliche Einheit bildeten, gewaltsam loszureißen, ihrer nationalen Freiheit zu berauben und unter die Fremdherrschaft eines Volkes zu stellen, das sich in demselben Friedensverträg als ihr Feind bekennt.“

Für die Tschechen sind damit zentrale Fragen ihrer politischen Vergangenheit angeschnitten. Aber nicht nur sie müssen sich fragen, welche Fehler und Rechtsverstöße bei den Friedensregelungen am Ende des Ersten Weltkriegs und danach gemacht worden sind. Die seitherige Zeitgeschichte und zuletzt die schrecklichen Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien haben genug Anlaß gegeben, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Der historischen Forschung werden sie noch lange Stoff bieten. Vom juristischen Standpunkt liegen die Dinge einfacher. Nichts von alledem, was seit 1918 -und davor -geschehen ist, rechtfertigt die unterschiedslose Massenausweisung.

Der Versuch, Unrecht unter Hinweis auf eine Kollektivschuld zu rechtfertigen, muß scheitern. Niemand hat jemals einen Einwand gegen die unnachgiebige Bestrafung derjenigen Deutschen erhoben, die sich auch nur im entferntesten an Verbrechen gegen Tschechen oder Polen beteiligt haben. Aber die unterschiedslose Massenausweisung von Deutschen aus ihrer Heimat ist mit diesen Verbrechen nicht zu rechtfertigen. Daß Vertreibungsmaßnahmen auch durch das sogenannte Potsdamer Abkommen nicht gedeckt sind, ergibt bereits die Lektüre des Art. XIII des Schlußkommuniques der Konferenz von Potsdam, in dem es ausdrücklich heißt, daß die Notwendigkeit der „Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind“, anerkannt werde. Im Anschluß daran erklärten die Konferenzmächte: „Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“ Der Artikel endet mit dem Satz: „Die Tschechoslowakische Regierung, die Polnische Provisorische Regierung und die Alliierte Kontrollkommission in Ungarn werden gleichzeitig von obigem in Kenntnis gesetzt und ersucht, inzwischen weitere Ausweisungen der deutschen Bevölkerung einzustellen.“

Von einem alliierten Befehl, inhumane Massen-ausweisungen durchzuführen, kann also nicht die Rede sein. Auch die vom Alliierten Kontrollrat am 20. November 1945 erlassenen Richtlinien für die Aufnahme der Ausgesiedelten, die im tschechischen Schrifttum gelegentlich als Anordnung oder Billigung der Vertreibung angeführt werden, haben diesen Inhalt keineswegs. Vielmehr regeln sie nur die technischen Bedingungen für die Aufnahme der aus der Tschechoslowakei und den polnisch besetzten Gebieten Vertriebenen im besetzten Deutschland. Bezüglich der Tschechoslowakei finden sich in den in der Zwischenzeit veröffentlichten Berichten der in Westböhmen stationierten amerikanischen Truppen, die über das Hauptquartier der US-Armee in Wiesbaden an das Außenministerium in Washington gelangten, wiederholt dringende Bitten, endlich die Voraussetzungen für die Aufnahme von Sudetendeutschen in der amerikanischen Zone zu schaffen, damit diesen Menschen das Leben gerettet werden könnte.

Der politische Berater der amerikanischen Militärregierung in Deutschland, Robert Murphy, schrieb in seinem Bericht vom 12. Oktober 1945: „Daß im Sudetenland die Deportationen nicht fortgesetzt werden, liegt zum Teil an der Anwesenheit unserer Truppen, deren Kommandeure in freundlicher aber fester Haltung den ansässigen Tschechen erklärt haben, daß gewisse Vorgänge im Namen der Menschlichkeit nicht geduldet werden können; doch trotzdem haben sich rücksichtslose Ausweisungen ereignet, und zwar so häufig, daß unsere Soldaten oft Haß auf das befreite tschechische Volk empfinden.“ Am Schluß dieses Dokuments stehen die folgenden Sätze: „So hilflos auch die Vereinigten Staaten sein mögen, unfähig, einen grausamen und unmenschlichen Vorgang, der noch immer nicht abgeschlossen ist, zu beenden, scheint es mir doch angemessen, daß unsere Regierung ihre in Potsdam zum Ausdruck gekommene Haltung unmißverständlich deutlich machen sollte. Es wäre außerordentlich bedauerlich, wenn wir in die Geschichte als Teilhaber von Methoden eingingen, die wir in anderen Fällen oft verurteilt haben.“

Deutlich kommt die amerikanische Position auch in dem erst jüngst veröffentlichten Antwort-schreiben des amerikanischen Delegierten bei der Alliierten Kontrollkommission in Ungarn an den Bischof von Szekesfehervar vom 24. Januar 1946 zum Ausdruck. Der Bischof hatte sich gegen die gewaltsame Aussiedlung von Deutschen aus seiner Diözese beschwert und seine Beschwerde nicht nur an die ungarischen Behörden, sondern auch an die Amerikaner gerichtet. Die letzteren zeigten sich „überrascht, zu erfahren, daß Sie annehmen, die amerikanischen Behörden seien für die Aussiedlung verantwortlich. Ich beeile mich darauf hinzuweisen, daß unsere einzige Verantwortung in dieser Angelegenheit ist, die humane Durchführung der Aus-siedlung und die ordnungsgemäße Aufnahme und Betreuung in der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland sicherzustellen.“

Die letztgenannte Aufgabe meisterten die Amerikaner, die Erfüllung der erstgenannten Pflicht aber machten ihnen die Vertreiberstaaten unmöglich. Man mag hierin eine „Mitschuld der Anglo-Amerikaner an der Vertreibung“ sehen, wie dies der amerikanische Völkerrechtler de Zayas tut Aber mitschuldig in dem Sinne, daß sie die Vertreibung der Deutschen angeordnet hätten, sind sie nicht. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß Art. XIII des Potsdamer Abkommens selbst in derjenigen zurückhaltenden Interpretation, in welcher er keinen Ausweisungsbefehl, sondern nur eine Begrenzung, Bremsung und „Humanisierung“ der Ausweisung bewirken sollte, von namhaften Völkerrechtlern für völkerrechtswidrig erklärt worden ist. Dies geschah bereits auf der Tagung der Weltvereinigung der Völkerrechtler, des Institut de Droit International, im Jahre 1952 Bis heute ist sich die gesamte Völkerrechtswissenschaft darin einig, daß das Potsdamer Abkommen das schon damals geltende Vertreibungsverbot auch in bezug auf Deutschland nicht geschwächt hat. Es wäre eine grausame Ironie, wenn ausgerechnet die Bemühungen um den Ausbau der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn Anlaß dazu gäbe, jene feste Haltung -die Völker-rechtswidrigkeit der Vertreibung -zu erschüttern.

Mit dieser Besorgnis ist der wahrlich schicksalhafte Punkt im Disput über jene Beziehungen erreicht: Bei der Stellungnahme zu den Vorgängen von 1945/46 geht es nicht um eine „Aufarbeitung“ der Geschichte und schon gar nicht um einen „Schlußstrich“ (denn einen solchen gibt es in der Geschichte nicht), sondern um die Gestaltung des Völkerrechts für die Zukunft, und es geht nicht nur um Deutschland und seine östlichen Nachbarn. Das Völkerrecht, das die Grundlage des Weltfriedens ist, gilt weltweit. Deshalb darf nichts vereinbart oder gebilligt werden, was als Präzedenzfall für ethnische Säuberungen oder ähnliche Untaten dienen kann. Verträge, auch wenn sie noch so geschickt formuliert sind, können das Geschehene nicht mehr ändern. Es geht nur um die Zukunft. Gerade um der Zukunft willen aber müssen wir uns an das Vergangene erinnern. Diese Mahnung des israelischen Präsidenten Ezer Weizmann sollte allenthalben beherzigt werden. Man braucht nicht auf eine „große Entscheidung“ durch Verträge zu warten. Die einzige wahrhaft große Entscheidung lautet: das geschehene Unrecht beim Namen nennen und dafür sorgen, daß es nie wieder geschieht. Das ist die Voraussetzung dafür, daß die Staaten wirklich das tun können, was ihnen die Charta der Vereinten Nationen in ihrer Präambel vorschreibt, nämlich „Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben“.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So insbesondere im Grundvertrags-Urteil vom 31. 7. 1973, BVerfGE 36, 1.

  2. Vgl. Text in: BGBl. 1990 II, S. 1318.

  3. BGBl. 1991II, S. 1329.

  4. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 5. 1990, S. 6.

  5. Vgl. Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 217. Sitzung, S. 17244 ff.

  6. Vgl. Text in: BGBl. 1991II, S. 1315.

  7. Vgl. Otto Kimminich, Ansätze für ein europäisches Volksgruppenrecht, in: Archiv des Völkerrechts, Band 28, (1990), S. 1 ff.

  8. Vgl. Dieter Blumenwitz, Der Prager Vertrag, Bonn 1985.

  9. Vgl. BGBl. 1955 1, S. 65.

  10. Zitiert nach Andreas Götze, Verständnisprobleme auf dem Weg zur Partnerschaft nach 1989, in: Tschechen, Slowaken und Deutsche. Nachbarn in Europa, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 99 f.

  11. Ferenc Majoros, Die Nachbarschaftsverträge der Bundesrepublik Deutschland mit Ungarn und der Tschechoslowakei, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Köln 1993, S. 28.

  12. A. Götze (Anm. 11), S. 108.

  13. Manfred Beer, Für Tschechen uninteressante Tragödie vor 50 Jahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 1. 1996, S. 9.

  14. Stenographische Protokolle über die Sitzungen der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich, Bd. 1, Wien 1919, S. 770.

  15. Foreign Relations of the United States 1945, Bd. 2, S. 1291 f.

  16. Veröffentlicht in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 4. 1996, S. 6.

  17. Alfred M.de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, Berlin 1996, S. 11.

  18. Vgl. Annuaire de l’Institut de Droit International 1952, Bd. 44/11, S. 188.

Weitere Inhalte

Otto Kimminich, Dr. iur. habil., M. A., geb. 1932; Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Staatsrecht und Politik an der Universität Regensburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des Staats-und Völkerrechts.