I.
Die gegenwärtigen tschechisch-deutschen Beziehungen kann man als eine Nachbarschaft charakterisieren, die -abgesehen von der schweren Geschichte der beiden Weltkriege und insbesondere des Zweiten Weltkriegs -weder durch irgendeinen territorialen Streit noch durch enorme geschichtlich bedingte Tatsachen belastet wurde. So hatte beispielsweise die damalige Tschechoslowakei ein korrektes Verhältnis zur Weimarer Republik; und auch die Beziehungen von heute sind besser als ihr (medialer) Ruf. Natürlich gibt es hier -wie in jeder Nachbarschaft (übrigens auch zwischen den EU-Mitgliedern) -Probleme, die im Verhältnis eines kleinen und eines großen Staates doppelt so groß sind und die sich im tschechisch-deutschen Fall darüber hinaus noch verstärken durch Deutschlands Einigung und die Teilung der Tschechoslowakei. Eine gute Nachbarschaft bedeutet unter diesen Bedingungen bereits für sich allein eine anspruchsvolle Aufgabe, die von beiden Seiten große und andauernde Anstrengungen erfordert.
Wenn man die tschechisch-deutschen Diskussionen der letzten Zeit betrachtet, kommt man zu dem Paradoxon, daß die Vergangenheit -das ehemalige Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern bzw.sein Ende 1938/1945 -eigentlich die aktuellste Aufgabe der Gegenwart darstellt. Obwohl diese Gemeinschaft vor allem im letzten, nationalistisch geprägten Jahrhundert von einer Reihe von Konflikten ausgefüllt wurde (man spricht oft von der sogenannten tschechisch-deutschen Konfliktgemeinschaft bestätigt die Geschichtsforschung, daß diese Gemeinschaft auch viel Positives in sich barg, manches davon ist jedoch bisher weder genügend bekannt noch erforscht worden.
Diese gemeinsame Geschichte stellt keine tschechisch-deutsche Besonderheit dar: Ähnliche Probleme gibt es wohl im größeren oder kleineren Maß bei allen deutschen Nachbarn, insbesondere im Osten, der von der Hitler-Diktatur am meisten betroffen wurde und wo es nach dem Krieg -in Polen, Ungarn und in der Slowakei -zur Aussiedlung der deutschen Bevölkerung kam. Die Beweggründe, weshalb dieses Problem jetzt ausgerechnet nur im tschechischen Fall aktualisiert wird (die Erklärung Außenminister Kinkels vom November 1995 deutet an, daß sich dasselbe Problem auch gegenüber Polen auftun könnte geben Anlaß zu verschiedensten Spekulationen, in denen die wirklichen geschichtlichen Ursachen bei weitem nicht die große Rolle spielen, die man ihnen beimißt. Diese aktuellen politischen Aspekte entziehen sich jedoch der Kompetenz der Geschichtswissenschaft, obgleich sich eine spezielle zeitgeschichtliche Analyse lohnen würde, inwieweit das Problem ein tschechisch-tschechisches und inwieweit es ein deutsch-deutsches bzw. ein sudetendeutsches ist; es würde viel auch vom gegenwärtigen Geschehen erklären.
Die Lösung von Problemen ist noch nicht weit vorangeschritten, obwohl man von einem mangelnden Dialog zwischen Tschechen und Deutschen nicht reden kann. Dieser verläuft intensiv „oben“, auf der politischen und der Regierungsebene, er verläuft aber vor allem „unten“, auf der Ebene von tausendfachen menschlichen Kontakten in der Massentouristik, der Kultur und Wissenschaft sowie in zahlreichen anderen Bereichen. Insgesamt kann man von einer positiven Bilanz sprechen, die auch in den Massenmedien wahrgenommen wird. Dasselbe trifft auch zu für die regen Beziehungen zwischen den sudetendeutschen Institutionen und Vereinen und den ihnen entsprechenden tschechischen Organisationen. Am lebendigsten sind diese Kontakte sicherlich zwischen den Katholiken, dann folgen die Sozialdemokraten und in der letzten Zeit auch die Protestanten. Andere, insbesondere aus dem Umkreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft, sind in dieser Hinsicht nicht so aktiv, und auf der tschechischen Seite verstärkt sich eine ablehnende Haltung ihnen gegenüber, welche -wie die Analysen der Umfragen zeigen -auch die tschechischen Bezie-hungen zu den Deutschen insgesamt und Deutschland negativ beeinflußt Es wäre interessant, Ergebnisse ähnlicher Umfragen in der Bundesrepublik zum Verhältnis zu den Tschechen, zu kennen und zu erfahren, ob sich die in der letzten Zeit aktualisierten Probleme auch in der deutschen Öffentlichkeit negativ widerspiegeln, insbesondere wenn beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung jede negative Nachricht über Tschechen veröffentlicht, sobald sie sich darbietet.
Wie gesagt, den Zankapfel stellt vor allem das dar, was man zusammenfassend als sudetendeutsche Frage bezeichnen könnte. Die unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg geschehenen Ereignisse (das Münchener Abkommen, die nationalsozialistische Okkupation und der darauf folgende „Transfer“) bilden deren geschichtliche Grundlage. Politisch wird dieses Problem vor allem von Bayern und den dortigen sudetendeutschen Organisationen ausgetragen, die zwar in der gesamtdeutschen Szene eine Randposition einnehmen, in den tschechisch-deutschen Beziehungen jedoch eine größere Rolle -positiv wie negativ zugleich -spielen. Wenn wir in Betracht ziehen, daß die Tschechen, die Tschechische Republik sowie tschechische Themen eher am Rand des Interesses der gesamtdeutschen Öffentlichkeit stehen, werden die Sudetendeutschen in dieser Hinsicht zu Bahnbrechern: Die einen sind aktivste Brückenerbauer zwischen Deutschland und Tschechien, die anderen dagegen sind ihre größten Zerstörer -man ist geneigt zu sagen: Tertium non datur.
II.
Die sudetendeutsche Frage, das tschechisch-deutsche Problem in den böhmischen Ländern bildet auch den Schwerpunkt der historiographischen und historiographisch-politischen Werke sowohl tschechischer als auch deutscher Provenienz. Die nicht minder wichtigen Probleme, nämlich die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen an sich und die zwischenstaatlichen Beziehungen, werden von diesem Problem in den Schatten gestellt -auch in den historiographischen Arbeiten. Weniger wird auch die wichtige Tatsache verzeichnet, daß es in mancher Hinsicht zu einer bemerkenswerten Annäherung der Ansichten kommt -mindestens unter den Historikern.
Die ehemaligen tschechisch-deutschen oder vielmehr tschechisch-sudetendeutschen historischen Kontroversen verloren in nicht geringem Maß an ihrer früheren Brisanz und Aktualität. Das trifft vor allem für die ältere Geschichte zu. Genauso-wenig scheint es -bisher? -keinen bedeutenden Streit in der Bewertung der neuesten Geschichte nach 1945 bzw. 1948/49 zu geben, wo die Negation des Kommunismus offensichtlich das Bindemittel darstellt. Die umstrittensten Ereignisse fallen besonders in die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg, der tschechischen Staatsgründung 1918/19, dem Münchener Abkommen 1938 und der Nachkriegsaussiedlung.
Auf der tschechischen Seite wird kaum anerkannt, daß München die Erfüllung der -in den Jahren 1918/19 verweigerten -sudetendeutschen Selbstbestimmung bedeutete. Andererseits ist man sich auch in den sudetendeutschen Kreisen in dieser Sache nicht einig -die damalige nationale Euphorie der überwältigenden Mehrheit der sudetendeutschen Öffentlichkeit hat noch ihre Auswirkungen. Der Unterschied ist in Wirklichkeit tiefer: Tschechische Arbeiten (und nicht nur sie) widerlegen entscheidend die sudetendeutsche These, die Sudetendeutschen seien nur Objekt oder Opfer -von Hitler, den Reichsdeutschen oder den Tschechen. An der tschechoslowakischen Tragödie, die auch zu ihrer Tragödie wurde, nahm ihre damalige mehrheitlich und frei gewählte politische Repräsentation, die Sudetendeutsche Partei, aktiv Anteil. Besonders erbittert und betroffen reagiert dann die tschechische Öffentlichkeit (einschließlich der fachhistorischen) auf die Geringschätzung der Folgen des nationalsozialistischen Okkupationsregimes, die in deutschen Arbeiten keine Seltenheit ist Das Regime, war zwar nicht so offen brutal wie beispielsweise in Polen (dafür war das wirtschaftliche Potential der böhmischen Länder für den Hitler-Krieg zu wertvoll), für die tschechische Gesellschaft aber, deren drei vorangehende Generationen meist in liberalen und demokratischen Verhältnissen gelebt hatten, war es erschütternder, als man dies gemeinhin annimmt. Keine Herabsetzung verdient auch der tschechische Widerstand, der vorwiegend eine zivile Form hatte und dessen bewaffnete Formen erst 1944/45 zunahmen, auch als Folge der sich steigernden Brutalitäten des NS-Regimes, zu denen es in den böhmischen Ländern auch noch in den letzten Kriegstagen, ja sogar noch nach Deutschlands Kapitulation kam.
Die Katastrophe, für die wir in der gesamten tschechisch-deutschen Geschichte kein ähnliches Beispiel haben, stellt auch in der Geschichte der neuzeitlichen tschechisch-deutschen Rivalitäten ein Novum dar, denn bisher ging es immer höchstens um die Vorherrschaft, nicht aber um die Vernichtung des Rivalen. Diese Konstellation wurde zur Quelle eines nie dagewesenen rasanten Radikalismus, der zunächst die deutsche Bevölkerung in Böhmen und Mähren ergriff. Die Vorstellung, daß man mit Tschechen nicht Zusammenleben könne (solche Stimmen gab es häufig in der sudetendeutschen Öffentlichkeit schon in der Zeit vor München), fand ihren Höhepunkt in Hitlers Endlösung der tschechischen Frage im Jahre 1940. Diese bestand in einer völligen Germanisierung der böhmischen Länder nach dem Krieg; im Gange war sie jedoch schon während des Krieges, und die damaligen sudetendeutschen Repräsentanten gehörten zu den Vertretern des härtesten Vorgehens. Die Tschechen betrachteten das nationalsozialistische Protektorat, mit dem Sudetendeutschen K. H. Frank an der Spitze, daher vor allem als ein sudetendeutsches Werk -inwieweit diese Sichtweise berechtigt war, bleibt eine offene Frage. Die Entwicklung der damaligen Gesellschaft im Sudetenland (1938-1945) stellt nämlich, wie sich die tschechisch-deutsche Historikerkommission einigte, den größten „weißen Fleck“ in der gesamten tschechisch-deutschen Geschichte dar. Das Thema bleibt sogar auch in den von tschechischen Historikern sehr geschätzten Veröffentlichungen des Münchener Collegium Carolinum fast unberührt
Die anfänglichen tschechischen Illusionen, daß man die nationalsozialistische Okkupation auf sozusagen „österreichische Art und Weise“ wie im Ersten Weltkrieg überleben könne, brachen schrittweise zusammen. Hier hat das komplizierte und in Tschechien immer mehr diskutierte Problem der Kollaboration, ihrer Entwicklung und inneren Differenzierung, seinen Anfang. Das zeigt beispielsweise der Fall des Ministerpräsidenten der Protektoratsregierung, General Elias, der 1942 wegen der Unterstützung des Widerstandes hingerichtet wurde. Bereits in den ersten Okkupationsjahren (etwa in derselben Zeit wie im polnischen Widerstand) tauchen Vorstellungen eines radikalen Auseinandergehens mit den Deutschen in tschechischen Widerstandsorganisationen auf. Die Vorstellungen werden dann im Zusammenhang mit der Kriegsentwicklung, mit der Radikalisierung der Kriegsdoktrin der Alliierten sowie der Radikalisierung der tschechoslowakischen Emigration gesteigert in ein allmählich eskalierendes Aussiedlungsprojekt, das von der tschechischen Öffentlichkeit damals einstimmig aufgenommen und von den Großmächten -endgültig in Potsdam -gebilligt wurde. Von dieser geschichtlichen Kausalität gehen praktisch alle zahlreichen tschechischen Arbeiten zu diesem Thema aus. Dasselbe trifft auch für die kontroverse Gestalt des Präsidenten Benes zu, der zunächst nicht für eine vollständige Aussiedlung der deutschen Bevölkerung war und erst allmählich zum Vertreter und Durchsetzet dieser Idee wurde.
In tschechischen Mediendiskussionen kommt ein breites Meinungsspektrum zur Geltung: von einzelnen Personen, die sich mit dem Standpunkt der Sudetendeutschen Landsmannschaft identifizieren bis zu entschlossenen Verteidigern der Lösung von 1945. Unter den Fachhistorikern ist das Spektrum enger. Die Vertreter beider Extreme erscheinen hier kaum -eine kritische Haltung wird jedoch immer stärker. Es gibt wohl keinen Autor, der nicht die Exzesse ablehnt, zu denen es bei der spontanen Vertreibung der Deutschen und ab und zu auch bei der organisierten Aussiedlung kam -diese waren, wie wir den jetzigen Forschungen entnehmen können, zum Gegenstand der Kritik bereits nach dem Krieg geworden, und zwar in einem größeren Umfang, als man bisher meint.
Viele tschechische Autoren vertreten auch einen kritischen Standpunkt zur Doktrin der Kollektivschuld. Diese Frage ist in der Öffentlichkeit umstritten. Unumstritten ist -auch unter den Historikern daß die deutsche Schuld groß, sehr groß war. Von diesem Gesichtspunkt geht auch die Antwort der Sprecher des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands auf den Brief ihrer tschechischen evangelischen Brüder aus, die die tschechische Schuld an Deutschen verurteilt und um Vergebung gebeten haben: „... im Vergleich damit können auf keine Art und Weise die Verbrechen aufgezählt oder gar gerechtfertigt werden, die von Deutschen in Deutschlands Namen an Tschechen verübt wurden und die der Vertreibung der Deutschen aus den böhmischen Ländern vor-ausgingen“ Ähnlich ist auch der Standpunkt des deutschen Teils der gemeinsamen Historikerkommission. Alles, was sich in der Tschechoslowakei von 1938 bis 1948 abspielte, sagte sein Vorsitzender Prof. Dr. R. Vierhaus beim Treffen mit beiden Staats-präsidenten in Dresden im Herbst 1995, war „letztendlich die Folge der deutschen Politik“. Vom tschechischen Kommissionsteil wurde diese Erklärung aber nicht als ein Alibi verstanden, sondern als eine ehrliche Herausforderung und Anregung zu einer eigenen kritischen Reflexion der Geschichte und zur Überwindung tschechischer nationaler Vorurteile, von denen es in der Geschichte nicht wenige gibt. Das bedeutet nicht, daß überspannte deutsche Wertungen (z. B. Peter Glotz: Die Aussiedlung sei Genozid und Unrecht ohne Wenn und Aber in der tschechischen Öffentlichkeit (auch unter den meisten Fachhistorikern) Zustimmung fänden. Wenn mit dem Begriff „Unrecht“ keine unvorhersehbaren juristischen und anderen Konsequenzen verbunden würden, würde wohl die Mehrheit der tschechischen Fachleute sagen: Unrecht (oder vielmehr Unbill) ja, aber mit Wenn und Aber. Nachdem aber die deutsche Seite Zweifel angesichts des Potsdamer Abkommens wiederbelebt hat und nachdem dies auch von allen drei beteiligten Großmächten entschieden abgelehnt worden ist wird wohl der tschechische Standpunkt vorsichtiger sein.
Es ist eine ausgesprochene Unwahrheit, daß viele tschechische Intellektuelle nicht bemüht sind, sich mit den Schattenseiten der tschechischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, die übrigens nicht nur auf die deutsche Frage beschränkt bleiben. Obwohl die Okkupationsthemen und deutsche Themen überhaupt vom Nachkriegsnationalismus und später dann vom Kommunismus deformiert und tabuisiert wurden, gibt es dazu eine umfangreiche tschechische Literatur, die aber deutsche und insbesondere die „genuin sudetendeutschen“ Arbeiten nur selten berücksichtigt. Nach einigen Höhepunkten in den fünfziger und sechziger Jahren und dann an der Wende der siebziger zu den achtziger Jahren (zu ihrem Reflex wurde auch die bekannte Geste des Bedauerns von Väclav Havel 1989) wurden die Diskussionen zu diesem Thema zu einem ständigen Bestandteil des tschechischen politischen und intellektuellen Lebens. Obgleich viele Vorurteile in der breiten Öffentlichkeit noch überleben (es sind auch nicht alle Geschichtslehrbücher in dieser Hinsicht zufriedenstellend), gibt es seit 1989 kaum einen Monat, in dem nicht über diese Fragen öffentlich diskutiert oder in dem nicht eine wissenschaftliche Studie erscheinen würde
Eine Reihe von Büchern bietet heutzutage den tschechischen Lesern eine erste Gesamtübersicht über die Entwicklung der tschechisch-deutschen Beziehungen bis in die Gegenwart. Eine besondere Aufmerksamkeit wird der Zeit vom Münchener Abkommen bis in die Nachkriegszeit gewidmet, einzelne kritische Fallstudien über die damaligen Exzesse bei der Vertreibung und Aus-siedlung miteinbezogen Ihr Studium ist übrigens auch für ausländische Forscher offen: Auf Veranlassung des tschechischen Teils der Historiker-kommission wurde von tschechischen Archivaren ein einzigartiges Hilfsmittel (Archivführer) für Geschichtsforscher vorgelegt -die zwölfbändige Übersicht der Archivbestände zur deutschen und sudetendeutschen Problematik in allen Archiven der Tschechischen und der Slowakischen Republik, von den Kreis-bis zu den Zentralarchiven
Der ideale Stand wurde bei weitem noch nicht erreicht; der Anfang wurde aber gemacht, und zwar in einem Ausmaß, das in der Bundesrepublik nicht genug geschätzt wird -keine dieser fruchtbaren neuen Arbeiten erschien bisher in deutscher Übersetzung. Dabei läßt sich ein markanter Kontrast verzeichnen: Im Unterschied zu den respektablen gesamtdeutschen Leistungen in der kritischen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit (obwohl man auch hier Einwände hört) findet im sudetendeutschen Milieu bis auf Ausnahmen „eine solche Selbstreinigung kaum statt“ Obwohl die sudetendeutsche Bewegung -wenn man den Begriff verwenden kann -bereits jahrzehntelang in freien, demokratischen Verhältnissen wirkt, ist ihr Den-ken immer wieder dadurch gekennzeichnet, daß sie „hinter dem eigenen Leid die eigene Schuld nicht erkennen konnte“ Kein Wunder: Der Großteil der deutschen Arbeiten über das Nachkriegsschicksal basiert hauptsächlich auf Erinnerungen der Betroffenen wobei, wie ein sudetendeutscher Historiker schreibt, „eine systematische historische', soziologische und psychologische oder gar kriminalistische Auswertung der sudetendeutschen Vertreibungsberichte bisher nicht erfolgt ist“. Nicht einmal die sudetendeutschen „landsmannschaftlichen“ Gremien „haben sich intensiv um eine weiterführende Klärung der Vertreibungsaktionen und um die Erhaltung des Wissens um die konkreten Geschehnisse bemüht“
In den neuesten Arbeiten kehrt die Forschung zu diesem Thema unter dem veränderten Blickwinkel der Nachkriegsintegration in der Bundesrepublik wieder Man kann hier sogar einen gewissen Rückschritt verzeichnen: Tschechische kritische und selbstkritische Reflexionen werden von etlichen sudetendeutschen Veröffentlichungen zur Selbstbehauptung und „Zementierung“ längst veralteter nationalistischer Vorstellungen ausgenutzt und mißbraucht Wenn es am Rand der deutschen politischen und intellektuellen Szene verschiedene revisionistische und nationalistische Tendenzen gibt, dann gehört mindestens ein Teil der sogenannten historiographisch-politischen Produktionen der Vertriebenen dazu. In der deutschen demokratischen Öffentlichkeit erweckt diese Tatsache aber keine große Aufmerksamkeit, geschweige denn, daß es hier zu einer notwendigen Konfrontation mit diesen Meinungen kommen würde. Dazu kommt es nur selten, und wenn, wird man Angriffen ausgesetzt Kein untypisches Beispiel dafür stellt die Manipulation mit statistisehen Konstruktionen der Vertreibungsverluste (250 000) dar, zu denen auch seriöse deutsche Autoren Einwände erheben und von denen sich auch der deutsche Teil der Historikerkommission distanziert. Nach anderen -und zuverlässigeren -Angaben aus deutschen Quellen gab es an die 19 000 Todesfälle (davon über 5 000 Selbstmorde und über 6 000 Opfer von gewaltsamen Taten); ein tschechischer Historiker erhöhte diese Zahl auf etwas mehr als 30 000, und für die höchste überhaupt denkbare Grenze wird die Zahl 40 000 gehalten
Aber auch diese Zahl ist moralisch nicht zu rechtfertigen, und es gibt keinen ernstzunehmenden tschechischen Autor, der hier anderer Meinung wäre. Es ist nur zu bedauern, daß es 1990 trotz aller Bestrebungen der deutschen Mitglieder der Historikerkommission auf der deutschen Seite nicht gelungen ist, den Vorschlag des tschechischen Teils der Kommission zu realisieren, beiderseitige Verlustangaben (d. h. tschechische bzw. tschechoslowakische und deutsche) von einem gemeinsamen wissenschaftlichen Team überprüfen zu lassen. So hätte man wenigstens den am meisten abstoßenden Teil dieser unseligen „Buchhaltung“ erklären können -daß nämlich von beiden Seiten verlorene Leben der rassisch verfolgten Juden und Roma mitgezählt werden. Im gegenseitigen Verhältnis beider Nationen wäre so eines der wichtigsten psychologischen Hindernisse beseitigt worden.
III.
Das wichtigste Hindernis ist aber der politische Fundamentalismus, der in diesen Fragen in den nationalen Kreisen der beiden Seiten zum Ausdruck kommt, obwohl es scheint, daß dieser in der letzten Zeit unter den politischen Sprechern der landsmannschaftlichen Organisationen stärker auftritt. In den letzten Meinungsumfragen in der Bundesrepublik wie auch in der Tschechischen Republik scheint dieser politische Fundamentalismus kaum einen großen Widerhall zu finden. 7585 Prozent der befragten Sudetendeutschen wollen nicht nach Tschechien zurückkehren, sie sind für den Schlußstrich unter die Vergangenheit und erheben keine Eigentumsansprüche. Für die moralische Distanzierung von der Nachkriegsvertreibung und Aussiedlung wäre unter diesen Bedingungen mehr als die Hälfte der befragten Tschechen bereit, wobei weitere 16 Prozent keine ausgeprägte Meinung zu dieser Sache haben
Ist es denn in Bonn oder in München nicht möglich, auf die sowieso irrealen Eigentumsansprüche zu verzichten und das so beschworene Recht auf Heimat auf eine demokratisch kultivierte und dem heutigen Europäertum entsprechende Art und Weise aufzufassen als Recht auf eine geistige Heimat, auf historisches Erbe und Gedächtnis? Was man von dem „Recht auf Heimat“ real verwirklichen kann, ist, die Rückkehr denen zu ermöglichen, die zur alten Heimat eine so tiefe Beziehung haben, daß sie ohne diese nicht leben können, und bereit sind, mit diesem Recht auch alle anderen Bürgerpflichten zu übernehmen. Wie es scheint, wäre die tschechische Seite bereit, dies zu akzeptieren. Auch dann wäre eine Erneuerung der mehrhundertjährigen tschechisch-deutschen Symbiose kaum möglich, obwohl beide Seiten immer hinzufügen sollten: leider.
Das tschechisch-deutsche Verhältnis ist und wird wohl auch in der Zukunft mehr oder weniger nur eine Nachbarschaft sein, die von den Möglichkeiten bereichert wird, die das vereinigte Europa bietet. Das Sudetendeutschtum, wenn man es so sagen darf, muß jedoch in diesem Milieu nicht einfach durch das Ableben jener Erlebnisgeneration und durch den Verlust jener Werte enden, die vom gemeinsamen Zusammenleben in der Vergangenheit geschaffen worden waren. Es handelte und es handelt sich um eine der Facetten des historischen Europa, die der Aufbewahrung und gemeinsamen Pflege wert sind. Darauf zielen auch Paradigmen der gegenwärtigen deutschen und tschechischen Geschichtswissenschaft hin, die die Geschichte der böhmischen Länder als eine Geschichte der Gemeinschaft von Tschechen, Deutschen, Juden, ja sogar Roma auffaßt, wobei letztere nur eine wenig deutliche geschichtliche Spur hinterließen. Es handelt sich um keine lediglich idealistische Vision, sondern um eine Wirklichkeit, die deutscherseits durch verdienstvolle Aktivitäten deutscher Bohemisten, in der Geschichtsschreibung vor allem durch die von tschechischen Historikern hochgeschätzte Tätigkeit des Herder-Instituts in Marburg oder des Collegium Carolinum in München praktisch erfüllt wird Die tschechische Wissenschaft und Kultur betrachtet es ebenfalls als ihre Pflicht und bleibt dabei nicht bei bloßen Erklärungen. Davon zeugen zahlreiche Übersetzungsaktivitäten der tschechischen Germanistik, die sich einer großen Tradition rühmen kann, sowie die Pflege des Deutschunterrichts" und ähnlich sieht es auch in der tschechischen Geschichtsschreibung aus.
Die Geschichte der Deutschen in Böhmen und Mähren stellt eines der bedeutenden Themen der gegenwärtigen tschechischen Historiographie dar: Man beschreibt die Geschichte der deutschen Kultur (bei weitem nicht nur der bekannten deutsch-jüdischen Prager Literatur) Im Rahmen der großen Geschichte der Karlsuniversität wird auch die Geschichte der Prager deutschen Universität sowie die damit zusammenhängende Geschichte der deutschen kulturellen Institutionen, der deutschsprachigen Geschichtsschreibung usw. bearbeitet Man kann bestimmt nicht behaupten, daß die tschechische Wissenschaft von heute (übrigens immer in Zusammenarbeit mit deutschen und österreichischen Kollegen) diese in der Vergangenheit vernachlässigte Thematik weiterhin nicht berücksichtigen würde. Trotz der angespannten Finanzlage, in der sich die tschechische Wissenschaft befindet, wurde eine Reihe von neuen Institutionen gegründet: An der Karlsuniversität gibt es im Institut für internationale Studien den Lehrstuhl für deutsche und österreichische Studien, der sich bereits mit Dutzenden von Studenten ausweisen kann; das Slawische Institut in Prag hat die Herausgabe der Zeitschrift „Germanoslavica" erneuert, und auch die neu gegründeten Universitäten in den Regionen (z. B. in st n. Labern [Aussig], Plzen [Pilsen], Ceske Budejovice [Budweis]) beschäftigen sich intensiv mit dieser Thematik
Im Geiste der tschechisch-deutschen Versöhnung und des Ausgleichs wurde auch die Reihe von wichtigen Auftritten führender tschechischer und deut-scher Persönlichkeiten im Prager Karolinum konzipiert, die Präsident Vaclav Havel im Februar 1995 mit seiner großen Rede eröffnete. Der Geschichte widmete sich vor allem der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Unter Hinweis auf den Sozialphilosophen Karl Popper und auf die Tatsache, daß die gegenwärtige Geschichtsschreibung'sich von der Vorstellung einer einzigen, absolut geltenden historischen Wahrheit abwende, betonte Biedenkopf, daß es mehrere solche Wahrheiten gebe und daß man darunter auch unterschiedliche nationale Wahrheiten finden könne, die unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Erlebnissen entwachsen seien. Es sei kein Unglück, wenn diese Wahrheiten im Geiste demokratischer Pluralität begriffen, nicht konfrontativ oder fundamentalistisch aufgefaßt werden und wenn man ein maximales Bestreben entwickelt, die Wahrheit des anderen auch dort zu begreifen zu versuchen, wo man sich mit ihr nicht identifizieren kann
Diese Art der Wahrnehmung von Vergangenheit fand bei den tschechischen Historikern um so lebhaftere Zustimmung, als der Umfang und das Gewicht der umstrittenen Fragen nicht groß und fatal sind -vorausgesetzt, daß die Probleme politisch nicht „aufgeblasen“ und manipuliert werden. Das wird sicher auch der vorläufige Bericht (eine Art Zwischenbilanz) der gemeinsamen Historiker-kommission zeigen, der jetzt vorbereitet wird. Übrigens: Sowohl in der tschechischen als auch in der deutschen Historiographie weicht die Tendenz der letzten Jahre von der Tradition zweier „nationalen Fronten“ oder „Nationalmannschaften“ deutlich ab, und die Trennungslinien verlaufen in den Meinungen immer öfters anderswo als nach nationalen Grenzen. Es ist deshalb ein Paradoxon, daß in einer Zeit, in der unterschiedlichste Streitigkeiten um die tschechisch-deutsche Vergangenheit ausgetragen werden, die Beziehungen zwischen den tschechischen und deutschen Historikern, also den Fachleuten für diese Vergangenheit, so gut wie nie zuvor sind.
Diese heute hoffentlich kaum mehr reversible Konstellation zeigt an, daß einerseits die Geschichte kein unüberwindliches Hindernis darstellen muß und daß man andererseits bei den Verhandlungen über die entstehende politische Deklaration beiderseitig annehmbare diplomatische Lösungen und Formulierungen finden kann, die die Lage beruhigen, die Atmosphäre klären und so die häufig gepriesene Hinwendung von der Vergangenheit zur Gegenwart und Zukunft ermöglichen würden. Obzwar jeder Historiker wohl daran zweifeln wird, ob man mit einigen Sätzen dieses Dokuments (für mehr wird darin wohl kein Platz sein) die komplizierte Geschichtsrealität vollkommen ausdrücken kann, die ja Stoff für viele Bücher gibt, ist vielleicht eine solche Formulierung nicht unmöglich. Sie wäre bestimmt auch für die Geschichtswissenschaft von Nutzen -die Politisierung der Probleme der Vergangenheit erschwert ihre Arbeit und bremst deren erforderliche Historisierung, die doch nach einem halben Jahrhundert bereits fällig ist. Die Geschichtsforschung fühlt sich jedoch von diplomatischen Formulierungen keineswegs gebunden, denn sie braucht einen freien Raum. Das ist aber auch auf diesem Feld möglich: Die gemeinsame Historikerkommission, die von beiden Außenministern eingerichtet wurde, wurde in den sechs Jahren ihrer Tätigkeit nie in ihrer Unabhängigkeit eingeschränkt.
Was die Geschichte betrifft, wäre es unrealistisch, zu erwarten, daß es zu einer völlig einheitlichen Meinung kommt. Politiker und Diplomaten können sich aber darauf verlassen, daß die Geschichte (oder besser gesagt: die Geschichtswissenschaft) kein Hindernis für die tschechisch-deutsche Annäherung bedeuten wird. Ähnlich ist übrigens auch die Basis für eine politische Übereinkunft. In dieser Hinsicht scheint die Stellungnahme anregend zu sein, die Helmut Kohl am 28. Februar 1992 in Prag vortrug und die die unterschiedlichen tschechischen und deutschen Meinungen über das Münchener Abkommen betraf: „Wer eine gute Entwicklung gegenseitiger Beziehungen will, sollte das akzeptieren, was man deutscherseits akzeptieren kann.“ Die tschechische Seite hat gelernt, mit diesem Standpunkt zu leben, obwohl sie damit nicht einverstanden ist. Gilt dies heute nicht vice versa auch für die deutsche Seite?
Zu einem tschechisch-deutschen Ausgleich wird es -früher oder später, mit oder ohne Deklaration -kommen und kommen müssen, wenn beide Länder dem demokratischen Zusammenleben im Rahmen der europäischen Integration gerecht werden sollen. Für die große und reifere deutsche Demokratie, die eine führende Rolle in Europa anstrebt, ist diese Verpflichtung um so dringender. Die in der Politik nicht allzu viel beachteten Historiker sollten in einer Hinsicht aber doch beachtet werden: Nämlich wenn ausgerechnet sie sagen, daß die Vergangenheit nicht die Gegenwart und dip Zukunft beherrschen sollte. Aus der Sicht der in der letzten Zeit stärker beunruhigten tschechischen Deutschlandfreunde scheint es, daß diese Perspektive letztlich auch vom politischen Willen abhängig ist.