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Zur Besonderheit der deutsch-polnischen Beziehungen Sollen Polen und Deutsche zur „Normalität“ zurückkehren? | APuZ 28/1996 | bpb.de

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APuZ 28/1996 Die Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland Flucht, Vertreibung, Aufnahme und Integration Zur Besonderheit der deutsch-polnischen Beziehungen Sollen Polen und Deutsche zur „Normalität“ zurückkehren? Tschechisch-deutsche Beziehungen in der Geschichte: Von Böhmen aus betrachtet Völkerrecht und Geschichte im Disput über die Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn

Zur Besonderheit der deutsch-polnischen Beziehungen Sollen Polen und Deutsche zur „Normalität“ zurückkehren?

Kazimierz Woycicki

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Sowohl in Polen als auch in Deutschland wird darüber diskutiert, in welchem Maße nach dem Umbruch von 1989 zu der durch die geschichtliche Tradition gekennzeichneten und durch mehr als ein halbes Jahrhundert unterbrochenen „Normalität“ zurückgekehrt werden sollte. Ein gelungener deutsch-polnischer Dialog, der sich nicht nur auf die Politik beschränkt, sondern auch die Kultur erfaßt, setzt eine tiefe Bewußtseinsänderung beider Völker voraus. Die Deutschen müssen ernsthaft ihr Verhältnis zu Mitteleuropa überdenken, und sie müssen sich damit auseinandersetzen, inwiefern ihre historischen Niederlagen auf eine Mißachtung dieser Region und eine Nichtbeachtung Polens zurückzuführen sind. Für die Polen wiederum ist das eine Frage der Befreiung vom „Opferkomplex“ und einer aufgeschlosseneren Haltung gegenüber den Deutschen. Weder für die Polen noch für die Deutschen gibt es eine Rückkehr zu einer durch die geschichtliche Tradition geprägten „Normalität“ unter Androhung des Wiederaufflammens alter Antagonismen. Die deutsche kritische Sichtweise der eigenen Geschichte dürfte eher zu einem Beispiel für andere Staaten in dieser Region -auch für Polen -werden. Eine Wiederbelebung des immer noch für einige europäische Völker charakteristischen Geschichts-und Nationalbewußtseins, das aus den Quellen des 19. Jahrhunderts gespeist wird, wäre ein großer Fehler. Den gewaltigen'Fortschritt in den deutsch-polnischen Beziehungen nach 1989 anerkennend, sollte man gleichzeitig die Vielzahl der noch anstehenden Aufgaben nicht außer acht lassen, zumal was den möglichst weit gefaßten Kulturbereich betrifft. Die deutsch-polnischen Beziehungen werden so lange einen besonderen Charakter beibehalten, Deutsche und Polen werden so lange der „Normalität“ entsagen müssen, solange die europäische Idee -und das heißt hier vor allem die konkrete Zusammenarbeit im mittleren Europa -nicht vollkommener verwirklicht wird.

I.

Sowohl in Polen als auch in Deutschland wird darüber diskutiert, in welchem Maße zu der durch die geschichtliche Tradition gekennzeichneten und durch mehr als ein halbes Jahrhundert unterbrochenen „Normalität“ zurückgekehrt werden sollte. Leider werden beide Diskussionen nicht miteinander verglichen, ebensowenig wird über deren Bedeutung für die deutsch-polnischen Beziehungen nachgedacht. Bei den Diskussionen in den jeweils eigenen Reihen sollten sowohl Polen als auch Deutsche die Debatten des Nachbarn mitberücksichtigen. Nach meiner Meinung gibt es keinerlei Rückkehr zu einer durch geschichtliche Traditionen gekennzeichneten „Normalität“ unter Androhung des Wiederaufflammens alter Antagonismen. Die deutsch-polnischen Beziehungen werden so lange einen besonderen Charakter beibehalten, und die Polen werden so lange der „Normalität“ entsagen müssen, wie die europäische Idee nicht vollkommener verwirklicht wird.

Lange Zeit nach Kriegsende war die Politik in den deutsch-polnischen Beziehungen dominierend. Selbst wenn wir den Ertrag des kulturellen Austausches der Nachkriegszeit bis 1989 als eine bedeutsame und fruchtbare Errungenschaft bewerten, so waren es nicht die kulturellen Belange, die die Haltung von Polen und Deutschen in ihrem gegenseitigen Beziehungsgeflecht prägten. Diese Beobachtung trifft -obgleich auf völlig unterschiedliche Weise -sowohl auf die. Beziehungen Polens zur DDR als auch zur Bundesrepublik Deutschland zu. Erst nach 1989, mit dem Abschluß beider Verträge, kann man von der wachsenden Bedeutung der Kultur als ein Faktor der deutsch-polnischen Beziehungen sprechen. Die Regierungschefs und andere politische Repräsentanten beider Länder vollzogen symbolische Gesten der Versöhnung -wie die Begegnung zwischen Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Mazowiecki in Kreisau, die Ansprache von Bundespräsident Herzog zum Jahrestag des War-schauerAufstandes oder die Rede von Außenminister Bartoszewski im Bundestag. All das war notwendig, wenngleich ähnliche Schritte schon früher hätten erfolgen können -als Ausnahme sei hier an die bewegende Geste von Willy Brandt in Warschau erinnert -, hätte es nicht durch den kalten Krieg verursachte Trennungen und die daraus resultierende Politisierung der deutsch-polnischen Beziehungen gegeben.

Die Regelung dieser Beziehungen und ein nunmehr unbefangener Dialog zwischen Deutschen und Polen ermöglichen es, daß der kulturellen Problematik ein zunehmend bedeutsamer Stellenwert zukommt. Sobald die politischen Grundsatzfragen gelöst sind und die deutsche Unterstützung für eine polnische EU-und NATO-Mitgliedschaft wohl eine Sympathiewelle für Deutsche in Polen hervorrufen wird, erscheint das Aufgreifen großer Kulturthemen unter dem Aspekt der wechselseiten Beziehungen als eine grundlegende Aufgabe, wenn man den Ballast der alten, negativen Stereotype und gegenseitigen Vorurteile endlich loswerden will.

II.

In den letzten Jahren hat sich der kulturelle Austausch erheblich entfaltet, und die Zusammenarbeit in diesem Bereich erreichte eine völlig neue Qualität. Eine breit angelegte öffentliche Debatte über die gesellschaftlichen, psychologischen und historischen Aspekte der gegenseitigen Beziehungen gab es indes leider nicht. Trotz großer Leistungen auf der Ebene Tausender lokaler Initiativen sowohl auf polnischer als auf deutscher Seite -Städte-und Regionalpartnergesellschaften, Jugendaustausch, die Tätigkeit deutscher kultureller Institutionen in Polen wie z. B.des Goethe-Instituts, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Konrad-Adenauer-Stiftung bzw. die Tätigkeit der Polnischen Institute in Deutschland, die Bildung von Euroregionen, die Arbeit einer wachsenden Zahl von Gesellschaften und Vereinigungen, die sich den gegenseitigen Beziehungen widmen, um nur einiges zu nennen -, trotz dieses großen Engage-ments gab es seit 1989 in beiden Ländern noch keine breit angelegte und vertiefende Debatte über die deutsch-polnischen Beziehungen.

Eine Ausnahme bildeten die Debatte im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung 1990, die in der deutschen Öffentlichkeit den völlig falschen Eindruck hinterließ, daß Polen der Wiedervereinigung nicht mit Wohlwollen begegnen würde sowie der Beginn einer polnischen Diskussion über die Vertreibung, die man in Deutschland jedoch nicht so recht zur Kenntnis nehmen will. Nach 1992 wurde leider kein einziges der großen deutsch-polnischen Themen in einer gemeinsamen deutsch-polnischen Diskussion erörtert. Selbst die historisch bedeutsamen Ansprachen von Bundespräsident Herzog in Warschau und von Minister Bartoszewski in Bonn hatten trotz wohlwollender oder gar enthusiastischer Berichterstattung keine weitergehende, ernsthafte Reflexion zur Folge.

Man stellte fest, daß einer weiteren Entfaltung der deutsch-polnischen Beziehungen vornehmlich eine offene Grenze, wachsender Handel, ein massenhafter Anstieg touristischer Kontakte -also Faktoren vor allem ökonomischer Natur -dienen würden. Diese sollten geradezu automatisch die heilsamen Konsequenzen für eine Änderung der Stereotypen der Vergangenheit und damit für einen neuen Charakter der deutsch-polnischen Beziehungen mit sich bringen. Auf keinen Fall möchte ich den pragmatischen Charakter und die Ernsthaftigkeit einer solchen Vorgehensweise sowie den in der realitätsnahen Überzeugung verankerten Optimismus in Frage stellen, daß die Wirtschaftsbeziehungen zweier demokratischer und in Zusammenarbeit befindlicher Gesellschaften, die in unmittelbarer Nachbarschaft leben, ein wichtiger Faktor der Öffnung sein sollten und sein könnten -bis hin zu gegenseitigem Vertrauen und Freundschaft. Mir scheint jedoch die Schlußfolgerung nicht ganz durchdacht zu sein, der zufolge die ökonomischen und gesellschaftlichen Prozesse spontan in wünschenswerter Weise auch die deutsch-polnischen kulturellen Beziehungen gestalten könnten und überdies die Beseitigung wechselseitiger Vorurteile dann quasi automatisch erfolgen würde.

Sowohl die Natur als auch die Kultur ertragen kein Vakuum, Das Ausbleiben einer die Öffentlichkeit bewegenden Diskussion, die mutig kontroverse und schwierige Inhalte der deutsch-polnischen Beziehungen aufgreift, wird in Deutschland durch Zeitungsschlagzeilen über polnische Autodiebe 1 ersetzt. Ein amtliches Mitteilungsblatt einer deutschen Stadt erscheint mit folgender Schlagzeile auf der ersten Seite: „Wieder illegale Händler aus Polen.“ Für zahlreiche junge Deutsche ist Polen ein exotisches Land, aber es ist eine Exotik, die kein besonderes Interesse weckt. Umfragen zufolge hat sich die Meinung der Deutschen über die Polen nicht wesentlich verbessert. Und der Umstand, daß Polenwitze, wie sie Harald Schmidt in seinen Fernsehsendungen präsentierte, keine Proteste hervorrufen, könnte gar auf eine Rückkehr alter Stereotype hindeuten.

Ein Pole, der eine Kulturreise nach Deutschland macht, wird aller Wahrscheinlichkeit nach den Eindruck gewinnen, er befährt ein Meer voller Gleichgültigkeit, in dem er auf wohlgesonnene Inseln und Archipele stößt. In dem Augenblick, wo Polen aufhörte, Ort spektakulärer wie allgemeine Aufmerksamkeit erregender historischer Ereignisse zu sein, ist mangelndes Interesse gegenüber den Polen vorherrschend. Trotz zahlreicher bewährter Freunde und trotz direkter Nachbarschaft ist Polen für breitere Kreise eher ein fernes und exotisches Land.

III.

Auf polnischer Seite kann man verpaßte große Gelegenheiten aufzählen, wie den Besuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Polen, als das polnische Fernsehen einen Kriegs-film austrahlte statt eines Programmes über das heutige Deutschland oder eines zeitgenössischen deutschen Films. Bei Meinungsumfragen wird ebenfalls eine besondere Ambivalenz der polnischen Haltung sichtbar. In den Beziehungen zu den Deutschen erblickt man einen Nutzen, gleichzeitig werden aber die alten Vorurteile und Stereotype im Hinterkopf bewahrt.

Ein Deutscher, der Polen bereist, wird häufig interessierter Aufmerksamkeit begegnen; er wird aber auch bemerken, daß diese nicht in Wissen und Verständnis eingebettet ist, sondern es sind eher lediglich emotionale Versuche der Öffnung oder auch gefühlsbetonte Höflichkeit mit eigennützigen Hintergedanken. Im allgemeinen verstehen-es die Polen nicht, ein auch für die Deutschen interessantes Gespräch anzuknüpfen. Trotz Millionen von Reisen in den Westen, nach Deutschland und durch Deutschland, kennen sie ihre Nachbarn nur sehr einseitig -wenngleich ich meine, daß sie sie im Durchschnitt besser kennen als umgekehrt die Deutschen die Polen. Die unvermeidliche Wiederholung und Ritualisierung von Versöhnungsgesten führt auch zu deren Banalisierung -ein Grund für die treffende Beobachtung unter der Überschrift „Versöhnungskitsch“

Dem Versuch einer Versöhnung, die nicht in die Tiefe geht, die keine neuen Themen sucht und insbesondere nicht das Bewußtsein der sich Versöhnenden verändert, droht unweigerlich die Degradierung auf das Niveau einer bloßen Geste, die schließlich nicht nur Gleichgültigkeit, sondern sogar Reaktionen des Unwillens und des Widerspruch hervorrufen kann.

IV.

Jede Kritik der deutsch-polnischen Beziehungen im Bereich der Kultur muß sich selbstverständlich der grundlegenden Tatsache bewußt sein, daß seit 1989 in diesen Beziehungen ein historischer Wandel stattfand, dessen positive Auswirkungen schwerlich unterschätzt werden können. In einem polnischen Sprichwort heißt es: „Krakau ist nicht sofort erbaut worden.“ Ließe die Kritik am derzeitigen Stand der deutsch-polnischen Beziehungen das unberücksichtigt, so verlöre sie das Gefühl für Proportionen und Realismus. Nichtsdestoweniger sollten einige sichtbare Erscheinungen schon heute Anlaß zur Sorge geben, denn die politische Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen bedeutet nicht, daß trotz aller gewaltigen Fortschritte diese Beziehungen in sämtlichen Bereichen bereits ein Niveau erreicht haben, mit dem man sich ein für allemal begnügen kann.

Bei dem oft zitierten Vergleich der deutsch-polnischen mit den deutsch-französischen Beziehungen als Beispiel für die Überwindung der Belastungen aus der Vergangenheit sollte man als spezifische Warnung auch das Beispiel der deutsch-niederländischen Beziehungen in Erinnerung rufen. Trotz umfangreicher Dimensionen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und einer gemeinsamen westeuropäischen Zugehörigkeit war die Überwindung von Stereotypen in diesen Beziehungen schwierig, ja sie gestaltet sich fast bis zum heutigen Tag zuweilen noch schwierig. Ich bin kein Kenner dieser Beziehungen, aber gestützt auf die Meinung deutscher Kommentatoren, wage ich doch zu behaupten, daß die Ursachen hierfür u. a. in der Nichtbeachtung der signifikanten kulturellen Problematik lagen. Die deutsch-französischen Beziehungen wurden von der europäischen Idee beflügelt, zu der sich beide Gesellschaften als deren Mitbegründer bekannten. Den deutsch-niederländischen Beziehungen, obwohl auch für sie die europäische Idee von Bedeutung war, fehlte dieser originelle Wesenszug, der eine Veränderung des psychologischen Klimas zwischen beiden Völkern hätte beschleunigen können. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind nicht frei von ähnlichen oder analogen Gefährdungen und Defiziten, wie man sie am Beispiel der deutsch-niederländischen Beziehungen beobachten kann.

Die Schwierigkeiten der breitgefächerten kulturellen Beziehungen zwischen den Gesellschaften lassen sich glücklicherweise hinter den ausgezeichneten politischen Beziehungen beider Länder und dem klaren Willen der politischen Eliten auf beiden Seiten zur Verwirklichung der großen historischen Öffnung verbergen. Das ist natürlich von ungeheurer Bedeutung, denn zum ersten Mal in der Geschichte gibt es einen gemeinsamen deutschen und polnischen politischen Willen, der oftmals in fast gleichlautenden Formulierungen der kurzfristigen wie auch eher langfristigen politischen Ziele zum Ausdruck kommt. Die jüngsten Erfahrungen mit der europäischen Idee lehren uns indes, daß politische Vorhaben, die in der Gesellschaft nicht schnell genug Verständnis und Unterstützung finden, sehr bald auf ernsthafte Schwierigkeiten stoßen. Aufgabe einer als Veränderung und Gestaltung verstandenen Politik ist nicht allein die Bekundung des politischen Willens und die Bildung formeller Rahmenbedingungen für eine Zusammenarbeit, sondern auch das Einwirken auf das Bewußtsein und die Erleichterung eines tiefgreifenden kulturellen Wandels in der gewünschten Richtung.

Im Fall der deutsch-polnischen Beziehungen könnten die anregenden Impulse für die Kultur insofern leichter fallen, als die deutschen Inseln und Archipele der Polen-Freundschaft wie auch die polnische gesellschaftliche Bewegung von unten für eine Aussöhnung mit den Deutschen lediglich einer bewußteren Förderung bedürfen, um ihr großes kulturelles Potential zu entfalten. Es hat den Anschein, daß zum Zeitpunkt der deutsch-polnischen Vertragsabschlüsse das Bewußtsein der politischen Eliten um einiges dem Bewußtsein der beiden Völker voraus war. Nunmehr hat man manchmal den Eindruck, daß die Politiker nicht immer das wahrnehmen, was bereits von „unten“ getan wurde, und sie nicht immer jenen Bürgern, Vereinigungen und Initiativen beistehen, die heute für die deutsch-polnischen Beziehungen das meiste tun. Mag sein, daß dies auch ein Defizit des öffentlichen Lebens, der polnischen und deutschen Publizistik ist, die nicht imstande ist, auf überzeugende und interessante Weise die vollbrachten Leistungen darzustellen und die großen Themen zu benennen, die eine breitere Öffentlichkeit bewegen würden

V.

Um die bestehenden und heute bereits sichtbaren Mängel zu beheben, sollten mit größerem Mut und größerer Offenheit Themen und Projekte zur Überwindung der historischen Belastungen angegangen werden, die aus der Westverschiebung beider Völker resultieren. Es sollte beispielsweise offen über den Zuzug von Polen nach Deutschland und die Rolle der Deutschen in Polen gesprochen werden. Und es sollte die Frage gestellt werden, wie eine Erweiterung der Europäischen Union die gegenseitigen Beziehungen beeinflussen und welche Bedeutung die europäische Idee für eine weitere Entfaltung dieser Beziehungen haben wird.

Viel wichtiger als jedweder Problem-oder Themenkatalog ist jedoch die Erkenntnis, daß ein gelungener deutsch-polnischer Dialog zu einem tiefgreifenden inneren Wandel des historischen Bewußtseins sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Gesellschaft führen muß. Er muß die Vorstellungen über die Bedeutung der eigenen Lage auf dem Kontinent dahingehend verändern, daß er u. a. die mannigfaltigen Wechselbeziehungen der gegenseitigen Schicksale und Interessen bewußt werden läßt. Der banal klingende Satz von der Überwindung der Stereotypen erfordert nicht nur eine neue Geschichtsschreibung der deutsch-polnischen Beziehungen, sondern auch in mancher Hinsicht eine neue Darstellung sowohl der Geschichte Deutschlands für die Deutschen als auch der Geschichte Polens für die Polen. Die Wende in den deutsch-polnischen Beziehungen wird nur dann tiefgreifend und von Dauer sein, wenn beide Völker nicht nur im Denken voneinander, sondern auch im Denken über sich selbst sehr ernsthafte Veränderungen vornehmen.

Eine unzureichende Wahrnehmung Polens durch die Deutschen verhindert eine Vervollständigung und Vollendung des Prozesses des Wandels im deutschen historischen Bewußtsein, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen und in den siebziger und achtziger Jahren mit besonderer Intensität fortgesetzt wurde. Für die deutsche Seite besteht das Schwierigste nicht in der Erkenntnis der Notwendigkeit, seine Schuld gegenüber der polnischen Seite zu bekennen -wenn jemand nicht versteht, was der Krieg für Polen bedeutete, dann läßt sich schwerlich mit ihm diskutieren -, sondern vor allem in der Erkenntnis, welche Bedeutung die Beziehungen des großen Deutschland zu dem kleinen Polen haben. Die Bedeutung der Beziehungen zu Frankreich -einem gleichwertigen Partner Deutschlands, aber ebenfalls geprägt durch eine Jahrhunderte währende Konfliktbeziehung -haben die Deutschen vollkommen begriffen. Auf den ersten Blick scheint Polen für die Deutschen ein zweitrangiges Land und die Beziehungen zum mit Deutschland vielleicht eher vergleichbaren Rußland von grundsätzlicherer Signifikanz zu sein.

Wenn aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland das Bewußtsein von dessen schicksalhafter Lage mitten in Europa heranreifte, so muß doch auch hinzugefügt werden, daß dieses Bewußtsein solange unvollkommen bleibt, solange die Deutschen durchaus auch im eigenen Interesse die Bedeutung der Beziehungen mit Polen (und im weiteren Sinne mit Mittelosteuropa, d. h. auch mit Tschechien und Ungarn) nicht voll erfassen. Das geschichtliche Paradoxon besteht darin, daß die Deutschen seit dem 19. Jahrhundert als stets stärkere und angreifende Seite in Mittelosteuropa alles verloren haben, was sie infolge jahrhundertelanger friedlicher kultureller Expansion erreicht hatten. Dies geschah, weil sie die Bedeutung dieser Region jeweils nur vom eigenen Standpunkt aus betrachtet und daher nicht wirklich erfaßt haben; so haben sie immer wieder nach Lösungen gesucht, die diese Region ihrer Selbständigkeit und Selbstbestimmung berauben. Das Drama der deutschen Lage in der Mitte Europas hing also weniger mit der Unfähigkeit zusammen, die Beziehungen zum Westen zu ordnen, als . vielmehr mit der Unterschätzung der Beziehungen zu den verhältnismäßig weniger wichtigen kleinen Nachbarn im Osten.

Eine solche Feststellung wird bis heute als Häresie angesehen, und von einem Polen geäußert, könnte sie als Ausdruck polnischer Überheblichkeit gewertet werden. Indes sollte man sich vergegenwärtigen, daß die Bedeutung Polens für Deutschland nicht dadurch deutlicher wird, indem Polen selbst mehr Gewicht beigemessen wird. Hier ist eher die Frage angebracht, wie es dazu kam, daß ein scheinbar so schwaches und in einer so hoffnungslosen Lage befindliches Volk wie die Polen im 19. Jahrhundert infolge zweier Kriege, die es gar nicht gewonnen, sondern in denen es giganti17 sehe Verluste erlitten hatte, zu einem Drittel sein Domizil in den ehemaligen deutschen Gebieten wiederfand. Sicherlich dürfte sich das schwerlich mit polnischem Expansionismus erklären lassen, und der größte Lobredner des Polentums wird nicht behaupten, daß die Polen dies aus eigener Kraft geschafft hätten. Auf der Suche nach einer Antwort trifft man zwangsläufig auf den von den Historikern immer noch fragmentarisch skizzierten Gedanken, dem zufolge eine der ernsthaftesten Ursachen der Niederlagen Deutschlands das Unverständnis für die Bedeutung seiner unmittelbaren östlichen Nachbarn war, vor allem seiner Beziehungen zu den Polen. Den Deutschen fällt es schwer, dies zu verstehen, weil Polen in der Tat wesentlich kleiner und schwächer ist als Frankreich, und im Vergleich mit dem deutschen Riesen scheint es ein sehr kleines Land zu sein.

In der neuesten deutsch-politischen Gedankenwelt ist die Überzeugung von der Bedeutung der Beziehungen zu Polen jedoch durchaus präsent. Interessante Ansätze hierzu stammen bereits von Konrad Adenauer, obwohl er für den Osten kein übermäßiges Interesse gezeigt hat. Zweifelsohne erkennt die Regierung Bundeskanzler Helmut Kohls die Bedeutsamkeit des Problems. Es muß jedoch noch ein sehr weiter Weg bewältigt werden, bis diese Erkenntnis im weitesten Sinne in der deuschen Kultur Fuß faßt; und ein überwältigender Teil der deutschen Tradition -selbst der Polen wohlgesonnenen -sieht in diesem Land noch keinen gleichwertigen Partner. Gerade weil die deutsch-polnischen politischen Beziehungen heute zum Glück so gut sind, sollte man mutiger über das hohe, von der Vergangenheit geerbte gegenseitige Beziehungsdefizit im Bereich der Kultur und des historisch-politischen Bewußtseins sprechen.

Umgekehrt fällt den Polen das vollständige Begreifen der Bedeutung Deutschlands für ihr eigenes Schicksal keineswegs leichter. Der offensichtliche Wunsch, daß es angebracht sei, seine Beziehungen mit dem mächtigen und manchmal gefährlichen Nachbarn gut zu gestalten, ist in Polen vorhanden. Aber dieser Wunsch allein bringt die Polen hinsichtlich des Problemverständnisses nicht viel weiter. Gemäß dieser Vorstellung sind die Deutschen weiterhin der große Antagonist Polens -mit dem Unterschied, daß er jetzt gezähmt ist. Wesentlich weiter reicht der Gedanke, der versteht, daß eine enge Zusammenarbeit mit den Deutschen der einzige Weg ist, der Polen eine dauerhafte europäische Zugehörigkeit garantiert. Die Polen müssen sich von der tief verwurzelten Überzeugung befreien, daß sie vor allem potentielles Opfer der deutschen Expansion seien. Statt dessen sollten sie die aktive Rolle eines Partners übernehmen, der im positiven Sinne seine eigenen Interessen bestimmen kann und in der Lage ist, sich an der europäischen Diskussion über die neue Rolle Deutschlands aktiv zu beteiligen. Auf polnischer Seite wird ein richtiges Verständnis des heutigen Deutschland auch nur dann möglich sein, wenn davon ausgegangen wird, daß es nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Bewußtsein ein Modernisierungsdefizit zu beseitigen gilt. Polen, die sich hinter ihrer nationalen Tradition verschanzen -wie schön und romantisch sie auch sein möge -, sind nicht in der Lage, einen gleichwertigen Dialog mit den Deutschen aufzunehmen. Auch das können nicht alle in Polen ohne weiteres verstehen, und oft ist die in sich widersprüchliche Losung zu hören: „Laßt uns im Dialog offen sein, aber hüten wir unsere Identität.“ Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß ein wirklicher Dialog der Kulturen beide Seiten verändert.

Das also, was mit den Polen und Deutschen infolge des Zweiten Weltkrieges geschehen ist, erfordert eine tiefergehende historische Analyse, die über die Fragen der deutsch-polnischen Aussöhnung erheblich hinausgeht. Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges fand für Polen und Deutschland eine Westverschiebung statt. Deutschland hat ein Drittel seines Territoriums mit Breslau und Königsberg verloren, der preußische Staat hörte auf zu existieren. Polen wiederum hat seine Ostgebiete mit Wilna und Lemberg verloren. Millionen von Polen und Deutschen haben den Verlust ihrer Heimat zu beklagen. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind bislang alle Folgen dieser gigantischen nationalen, gesellschaftlichen und politischen Prozesse. die direkt an den Wurzeln sowohl die polnische als auch die deutsche Identität verändern, noch nicht sichtbar geworden. Im Ergebnis dieser Verschiebungen veränderte sich grundlegend die kulturpolitische Landkarte einer gesamten Region Europas. Fünfzig Jahre kalter Krieg haben die Wahrheit über die fundamentale Veränderung der für die deutsch-polnischen Beziehungen maßgebenden Bedingungen im Verborgenen gehalten. Erst der Frühling der Völker von 1989 offenbarte die Tiefe der historischen Veränderungen -und die Möglichkeiten, ja Chancen ihrer Wahrnehmung und positiven Gestaltung.

VI.

Wendet man sich der Zukunft zu und den Möglichkeiten, die sie bietet, so scheinen die deutsch-polnischen Beziehungen und die Beziehungen Deutschlands zu Mittelosteuropa für die zukünf-tige Architektur des Kontinents von grundlegender Bedeutung zu sein. Der russische Widerstand gegen eine polnische NATO-Mitgliedschaft kommt nicht von ungefähr, sondern resultiert aus einer durchdachten und auf geschichtliche Analyse gestützten Kalkulation. Kernziel dieser Analyse ist die Beibehaltung der bisherigen Verhältnisse in dieser Region. Der europäische Gedanke möchte in bezug auf Mittelosteuropa diese Verhältnisse ändern, indem er Voraussetzungen für Stabilität und Frieden in dieser von zahlreichen schicksalhaften Gewittern und Unwettern heimgesuchten Region schafft. Die Entwicklung in Mittel-osteuropa wird auch darüber entscheiden, ob der europäische Gedanke sich in historischem Maßstab weiterentwickeln oder ob er erstarren und von einer Erosion erfaßt werden wird. Die Diskussion über die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen muß diese grundsätzlichen historischen Fakten der neuesten Geschichte zum Gegenstand haben, und zwar eingebettet in Zukunftsperspektiven.

Grundsätzlicher historischer Bezugspunkt der in diesem Artikel formulierten Gedanken ist das Problem der doppelten Vertreibung von Polen und Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges, der großen Westverschiebung beider Völker und der daraus resultierenden Konsequenzen für die heutige Form und den Inhalt des europäischen Gedankens. Es ist geradezu offensichtlich, daß weder Deutsche noch Polen in ihren Vorkriegsstaaten in der Lage gewesen wären, jenen Wandel zu vollziehen, der für den Aufbau, eines gemeinsamen Europas unerläßlich ist. Die Tragödie des Zweiten Weltkrieges war ein traumatisches Erlebnis, das eine derartige Wende ermöglichte. Die Opfer dieses Krieges haben einen hohen Preis bezahlen müssen, damit zukünftige Generationen etwas klüger sein können. Deshalb prägen Erinnerungen an diese Vergangenheit in entscheidendem Maße die Zukunftsperspektiven.

Vor 1989 lebten das deutsche und das polnische Volk unter Bedingungen, die sie als normal empfanden. Bestimmend waren die eingeschränkte Souveränität des polnischen Staates innerhalb des Sowjetblocks sowie die Teilung Deutschlands. Die durch Polen wiedergewonnene Selbständigkeit und die Wiedervereinigung Deutschlands werfen die Frage nach dem Wie der wiedererlangten „Normalität“ auf. Äußerste Vorsicht ist jedoch angesagt, damit nicht allein schon die Formulierung dieser Frage in eine falsche Richtung führt.

Die Deutschen scheinen dieses Problem sogar besser zu verstehen als die Polen, denn die Erfahrungen der Nazizeit und der Kriegsniederlage haben schon vor langer Zeit die deutsche Gesellschaft vor die Frage einer Revision der eigenen Identität gestellt. Stellt man daher heute in Deutschland die Frage nach der Bedeutung der wiedergewonnenen Einheit, so zieht dies gleichzeitig auch die Frage nach sich, ob „Normalität“ die Rückkehr zu irgendwelchen historischen Vorbildern bedeutet. Es entsteht der Eindruck, daß ein Teil der deutschen Publizisten dazu rät, die Deutschen mögen -ähnlich wie andere Völker des Kontinents auch -ein normales Nationalbewußtsein herausbilden, das jedoch frei sein sollte von den historischen Belastungen, die bis 1989 die Deutschen begleitet haben.

Für Polen bedeutet die Wiederkehr zur Normalität vor allem die Einführung der Demokratie und die Rückkehr zur Marktwirtschaft. Diese gewaltigen Veränderungen im gesellschaftlichen Leben werfen indes in selbstverständlicher Weise auch für die Polen die Frage nach ihrer Identität und ihrem geschichtlichen Bewußtsein auf. Auch hier ist die Frage zu stellen, ob die Wiederherstellung der Normalität eine Rückkehr zu den Vorstellungen der Vergangenheit sein könne angesichts eines Übermaßes an gesellschaftlichen Umwälzungen in den letzten fünfzig Jahren. Die gesellschaftlichen Eliten haben sich gewandelt, und die von der Marktwirtschaft beeinflußten Gesellschafsstrukturen bilden sich größtenteils neu heraus. Würde man jedoch davon ausgehen, daß im Fall Polens die „Normalität“ als eine Rückkehr zur Vergangenheit zu verstehen ist, so müßte das zwangsläufig eine Rückkehr zum polnischen Mythos, ein Opfer der Geschichte zu sein, zu polnischen romantischen Vorbildern, also auch zum polnischen Widerstand gegen den Druck und die Übermacht des Deutschtums in den letzten zwei Jahrhunderten sein -denn das eben war die polnische Geschichte der letzten zweihundert Jahre.

Eine dauerhafte Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen bedeutet weder für die Polen noch für die Deutschen eine Rückkehr zu irgendeinem bekannten Status quo. Sie bedeutet die Schaffung von etwas grundsätzlich Neuem in historischer Dimension.

Es verstärkt sich der Eindruck, daß die Deutschen nicht einigen anderen europäischen Gesellschaften in einem „unschuldigeren“ Verständnis der Frage des nationalen und geschichtlichen Bewußtseins nacheifern sollten. Vielmehr sollte das deutsche äußerst kritische Verhältnis zur eigenen Geschichte -ein Verdienst der deutschen intellektuellen und politischen Eliten -als neuer Maßstab des geschichtsbezogenen Denkens in einem sich vereinigenden Europa gelten. Die deutsche Sicht-weise der Geschichte, der oftmals und zu Unrecht ein Schuldkomplex angelastet wird, entspricht meiner Meinung nach eher jenem Vorbild, das Europa anstreben sollte, als das „normale“ geschichtliche Bewußtsein des 19. Jahrhunderts, das vom Nationalstaat bzw. von Bestrebungen zur Herstellung eines Nationalstaats geprägt ist. Das deutsche Schuldgefühl ist im Nazidrama der deutschen Geschichte begründet, was natürlich ein Sonderfall ist. Europa kann man jedoch nur dann aufbauen, wenn das Nachdenken über die nationalen Schicksale ein Sichbewußtwerden der Fehler darstellt und nicht zur Kultivierung von Überlegenheitsgefühlen führt.

Die Distanzierung vom Modell eines Nationalstaats muß ein Äquivalent in einem neuen Verhältnis zu den nationalen Geschichtsdarstellungen finden. Eine Nazivergangenheit und der damit verbundene Ballast, den es zu tragen gilt, darf nicht die einzige und besondere Voraussetzung für ein kritisches und den nationalen Mythos zerstörendes Denken über die eigene nationale Geschichte ausmachen. Jedes Volk als politische Kulturgemeinschaft, die sich in eine breitere europäische politische Gemeinschaft integriert, sollte eher Gründe für schöpferische Gewissensbisse hinsichtlich eines beachtlichen Teils der Ereignisse in seiner Geschichte finden und damit den Geist des Stammesmythos ersetzen, in dem leider die Geschichten der Völker geschrieben wurden bzw. manchmal bis heute noch geschrieben werden.

Die Vorstellung, daß das polnische oder französische Modell des Nationalbewußtseins Maßstab für die „Normalität“ sein könne, die auf den deutschen Boden verpflanzt werden sollte, wäre eine fatale Rückkehr zu den Fehlern der Vergangenheit. Den Polen fällt es selbstverständlich auch nicht leicht zu akzeptieren, daß sie im Bereich des geschichtlichen Bewußtseins im gewissen Sinne eher den selbstkritischen Deutschen folgen sollten, anstatt die eigene Art des Nachdenkens über die Geschichte anzupreisen. Polen, die sich von der Angst gegenüber Deutschen nicht befreien, die sich mit dem Opferkomplex schmücken und sich im eigenen Mythos des unschuldigen Opfers verschließen, werden in Deutschland genau das provozieren, was sie eigentlich vermeiden möchten.

Die deutsch-polnischen kulturellen Beziehungen sprengen von ihrer Bedeutung her die bilaterale Dimension. Die Dialektik der deutsch-polnischen Beziehungen der letzten zwei Jahrhunderte -des Drangs der stärkeren und des Widerstands der schwächeren Seite -muß zugunsten der Zusammenarbeit überwunden werden. Darin ist die europäische Bedeutung dieser Beziehungen enthalten -in ihnen muß ein ähnlicher qualitativer Wandel stattfinden wie in den deutsch-französischen Beziehungen. Es sollte eine Chance geben -und es gibt eine Chance -die traurige Gesetzmäßigkeit der europäischen Beziehungen, die darin besteht, daß jene, die weiter westlich lokalisiert sind, diejenigen gering achten, die sich mehr östlich befinden -eine von West nach Ost sich bewegende Arroganz -gerade in den deutsch-polnischen Beziehungen dauerhaft zu überwinden.

Ein sentimentales Verhältnis zur Geschichte provoziert in jeder Situation unaufhörliche Versöhnungsgesten. Eine wirkliche Versöhnung kann indes nicht nur durch Erinnerungen an die Geschichte erfolgen, wie wir sie vorgefunden haben in unseren Erlebnissen und unmittelbaren Zeugnissen, niedergeschrieben unter dem Einfluß von Emotionen, eine durch vergangenheitsbezogene Vorstellungen geprägte Geschichte. Eine wirkliche Versöhnung geschieht durch gemeinsame Bewältigung der Geschichte und Schaffung von Zukunftsperspektiven, die nicht allein von der Politik bestimmt werden, sondern vor allem geprägt sein wird von einer neuen Gestalt der gegenseitigen Kultur, die etwas unvergleichlich Beständigeres darstellt. Wollen sie sich wirksam vor dem Bösen der Vergangenheit schützen, so müssen Deutsche und Polen den Mut zu einem offeneren Dialog aufbringen, als das bisher der Fall war -den Mut zu einem solchen Dialog, in dem sowohl das deutsche als auch das polnische Bewußtsein einem tiefgehenden Wandel unterzogen werden. Das ist die eigentliche Herausforderung der deutsch-polnischen Beziehungen. Vermutlich dürften die Deutschen heute in ihrer Mehrheit dies als übertriebenes Ziel in der Begegnung mit dem „kleinen“ Polen ansehen, während die Polen davor in der Begegnung mit dem „großen“ Deutschland Angst haben werden.

Das Außergewöhnliche in den deutsch-polnischen Beziehungen, verstanden als Beziehungen der Kulturen, ist jedoch der Umstand, daß man sich nicht mit Halbheiten zufriedengeben darf, denn sie sind nach wie vor eine der größten Herausforderungen für die europäische Idee, die in diesen Beziehungen eine vollkommenere Bestätigung oder aber eine gefährliche Verneinung finden wird. Solange es diese Antwort nicht gibt, werden weder die deutsch-polnischen Beziehungen normal sein, noch werden Deutsche und Polen ihre neue Normalität bestimmen können. Die historische Dialektik der deutsch-polnischen Beziehungen kann ihre Synthese nur in der Entfaltung der europäischen Idee finden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Artur Hajnicz, Polens Wende und Deutschlands Vereinigung. Die Öffnung zur Normalität 1989-1992, Paderborn 1995.

  2. Klaus Bachmann, Die Versöhnung muß von Polen ausgehen, in: „die tageszeitung" vom 5. 8. 1994 sowie „Marnowane szanse dialogu. Niemieccy rewanzysci i polski antysemityzm, czyli kicz pojednania“, in: Rzeczpospolita vom 22. 11. 1994.

  3. Ein interessanter Versuch in dieser Richtung war das Buch „Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe“, hrsg. v. Ewa Kobylinska, Andreas Lawaty und Rüdiger Stephan, München 1992. Leider wurde ihm nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, und die in dieses Werk investierte Mühe wird nicht fortgesetzt.

  4. Zu empfehlen ist nach wie vor die Lektüre des Buches von Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963.

Weitere Inhalte

Kazimierz Wöycicki, geb. 1949; Studium an der Universität Warschau sowie an der Katholischen Universität Lublin; 1974-1984 Mitarbeit an der damals von Tadeusz Mazowiecki geleiteten Monatszeitschrift „Wiez“; 1984-1986 Aufenthalt in Deutschland und Studium der Politikwissenschaft sowie neuesten Geschichte; 1986/1987 Mitarbeit bei der BBC in London; nach seiner Rückkehr nach Polen Sekretär des Bürgerkomitees von Lech Walesa; 1990-1993 Chefredakteur der Tageszeitung „Zycie Warszawy“; 1993-1995 Leitung der politischen Abteilung der täglichen Nachrichtensendung „Wiadomosci“ im 1. Programm des Polnischen Fernsehens; seit Januar 1996 Direktor des Polnischen Instituts in Düsseldorf. Zahlreiche Veröffentlichungen in der polnischen und ausländischen Presse. 1989 erschien in Warschau seine Publikation „Sollen wir vor den Deutschen Angst haben?“ mit einem Vorwort von Stanislaw Stomma.