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Die Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland Flucht, Vertreibung, Aufnahme und Integration | APuZ 28/1996 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 28/1996 Die Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland Flucht, Vertreibung, Aufnahme und Integration Zur Besonderheit der deutsch-polnischen Beziehungen Sollen Polen und Deutsche zur „Normalität“ zurückkehren? Tschechisch-deutsche Beziehungen in der Geschichte: Von Böhmen aus betrachtet Völkerrecht und Geschichte im Disput über die Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn

Die Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland Flucht, Vertreibung, Aufnahme und Integration

Marion Frantzioch-Immenkeppel

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dargestellt wird -trotz des tragischen und traumatischen Hintergrunds -eine deutsche Erfolgsgeschichte: die Integration der Vertriebenen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis heute. Indem die wesentlichen Phasen von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostmittel-, Ost-und Süd-osteuropa, ihre Aufnahme und Unterbringung sowie die vielschichtigen Probleme der Integration der Vertriebenen nachgezeichnet werden, wird deutlich, daß dieser Vorgang, der sich manchem heute aufgrund ausgebliebener gewaltsamer Konflikte im Rückblick als vergleichsweise „geräuschlos“ darstellt, mit vielen Opfern, Nöten und oft kaum zu überwindenden Schwierigkeiten für alle Beteiligten -Vertriebene und Nichtvertriebene -verbunden war. Mehr als 50 Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges ist festzustellen, daß es sich bei der Integration der über zwölf Millionen Vertriebenen um eine ungeheure Leistung der noch jungen zweiten deutschen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland, handelte. Die Eingliederung ist möglich geworden durch einen beispiellosen Solidarakt der Deutschen. Daß diese unvergleichliche Solidarleistung in der medialen Berichterstattung und Kommentierung gleichwohl immer noch eher als Negativum erscheint, ist allerdings auch eine deutsche Besonderheit.

I. Vorbemerkung

Mehr als fünfzig Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges gilt die Integration der millionenfach in das zerstörte Nachkriegsdeutschland gekommenen deutschen Heimatvertriebenen als eine der größten Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik Deutschland. Über diese Leistungsbilanz hinaus geraten aber zunehmend die säkularen Probleme, die mit der Aufnahme und Integration dieser pauperisierten Menschen verbunden waren, ebenso in Vergessenheit wie die Betroffenen selbst: die deutschen Vertriebenen

Die nachfolgenden Ausführungen sollen daher dazu dienen, die Schwierigkeiten und Spannungen kenntlich zu machen, die mit der Aufnahme und Unterbringung der Vertriebenen in den Anfangsjahren verbunden waren, den Prozeß der Integration der Vertriebenen nachzuzeichnen und schließlich aufzuzeigen, wie die Vertriebenen beim langsamen Hineinwachsen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zu Mitgestaltern in allen Bereichen des Gesellschaftslebens wurden und Einfluß nahmen auf die Wirtschaft, die Kultur und die Politik -ein außerordentlich komplizierter Vorgang, der sich bis heute fortsetzt

II. Flucht und Vertreibung

1. Das Schicksal der Deutschen in den Vertreibungsgebieten Die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostprovinzen und den deutschen Siedlungsgebieten Ostmittel-, Ost-und Südosteuropas gilt, trotz historischer Vorläufer, schon aufgrund des zahlenmäßigen Umfangs als einmaligerVorgang in der Weltgeschichte. Diese und vorangegangene Zwangsmaßnahmen brachten dem 20. Jahrhundert den traurigen Ruhm ein, das „Jahrhundert der Massenvertreibung“ zu sein. Von den Vertreibungsmaßnahmen waren etwa 15 Millionen Deutsche -also nicht weniger als ein Fünftel des deutschen Volkes -betroffen, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen, wobei weit über zwei Millionen Menschen ihr Leben verloren

Mit der Vertreibung wurde das jahrhundertelange Zusammenleben von Deutschen mit den Völkern Ostmittel-, Ost-und Südosteuropas vorerst beendet. Damit wurde zugleich der Versuch unternommen, eine teilweise über achthundertjährige deutsche Geschichte in den Vertreibungsgebieten auszulöschen. 2. Flucht Als im Sommer 1944 sowjetische Truppen in Nord-siebenbürgen und im Memelgebiet auf geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet trafen, setzte eine umfangreiche Fluchtbewegung ein In Südosteuropa gelang die Flucht nur noch wenigen Deutschen. In Jugoslawien zum Beispiel kamen viele Deutsche in sogenannten „Hungerlagern“ ums Leben.

Nachdem im Herbst 1944 die Rote Armee die deutsche Grenze überschritten hatte, begann auch dort die Flucht der deutschen Bevölkerung. Viele dieser Trecks erreichten nie ihr Ziel. Frauen, Kinder und Greise starben zu Tausenden. In Nemmersdorf/Ostpreußen wurde im Oktober 1944 die deutsche Zivilbevölkerung Opfer eines Massakers der Roten Armee. Die Nachricht über diese Exzesse verlieh der Fluchtbewegung panikartige Züge. Die Furcht vor Übergriffen überwog alle anderen Bedenken. Auch die besondere Strenge des Winters 1944/45 hielt die Menschen nicht zurück.

Nachdem Ostpreußen Ende Januar 1945 durch sowjetische Truppen vom übrigen deutschen Gebiet abgeschnitten worden war, blieb nur noch die Flucht auf dem Seeweg offen. Mindestens zwei Millionen Menschen wurden über die winterliche Ostsee durch den Einsatz der deutschen Kriegs-und Handelsmarine nach Schleswig-Holstein und Dänemark in Sicherheit gebracht. Dabei gingen durch Bombenangriffe und Torpedierungen unter anderem die Schiffe „Wilhelm Gustloff", „Goya“ und „Steuben“ mit Tausenden von Menschen unter. 3. Vertreibung Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 und der Einstellung der Kampfhandlungen kehrten Teile der deutschen Bevölkerung aus dem Osten, die von der Roten Armee überrollt worden waren, in ihre Herkunftsorte zurück. Sie hatten nicht die Absicht, ihre Heimat auf Dauer zu verlassen.

Im Juni 1945 sperrte die polnische Miliz die Oder-Neiße-Linie ab. Noch vor der Eröffnung der Potsdamer Konferenz setzte im Juni 1945 die soge-nannte „ungeregelte“ Vertreibung der Deutschen aus Danzig, Ostbrandenburg, Ostpommern, Schlesien und Polen ein Gleichzeitig begannen die „wilden Vertreibungsmaßnahmen“, mit denen Polen, Tschechen, Ungarn und auch Jugoslawen Deutsche zwangen, ihre Heimat zu verlassen. Zusätzlich kam es zu Racheakten, die vor Beginn der Potsdamer Konferenz ihr vorläufiges Ende fanden.

Die Zwangsvertreibung der Deutschen war bereits in vollem Gang, als vom 17. Juli bis 2. August 1945 die Potsdamer Konferenz unter Beteiligung der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien stattfand. Nach Artikel XIII des Protokolls über die Potsdamer Konferenz war vorgesehen, daß „die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß“, aber in „ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll“. In den Jahren 1945 und 1946 erfolgten im Osten in großem Umfang planmäßige Vertreibungsmaßnahmen, die sich nicht auf die in den Potsdamer Beschlüssen genannten Länder Polen, Tschechoslowakei und Ungarn beschränkten.

Führende Völkerrechtler legen dar, daß Sinn und Zweck von Artikel XIII nicht etwa „die Sanktionierung oder gar Veranlassung der Massenausweisungen war. Er wurde lediglich zur Sicherung der humanen Durchführung der bereits zur Tatsache gewordenen Massenausweisungen eingefügt.“ Gleichwohl fand die Vertreibung weder unter „ordnungsgemäßen“ noch unter „humanen“ Bedingungen statt. Die Menschen wurden auf Lkws oder in Güter-und Viehwaggons verladen, oftmals nur mit dem Notwendigsten im erlaubten Gepäck versehen, ohne Verpflegung, unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen sowie unter ständiger Bedrohung.

Bis zum heutigen Tag wird die Diskussion über die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Potsdamer Protokolls geführt, derzeit in ungeahnter Schärfe aufgrund aktueller Verhandlungen zwischen Bonn und Prag um die sogenannte „Schlußstricherklärung“ beider Parlamente. In diesem Zusammenhang gab Bundesaußenminister Klaus Kinkel folgende unmißverständliche Erklärung ab: „Bisher jede Bundesregierung hat die Vertreibung in Übereinstimmung mit der deutschen Völker-rechtswissenschaft als rechtswidriges Unrecht betrachtet. Bonn hat die Rechtswirkung der Potsdamer Beschlüsse daher nie anerkannt. Die Bundesregierung betrachtet die Potsdamer Erklärung nicht als rechtliche Anerkennung der Vertreibung, sondern nur als politische Erklärung.“ Hier muß an eine Grußbotschaft des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Jose Ayala Lasso, die er an die deutschen Vertriebenen richtete, erinnert werden, in der er erklärte: „Fest steht, daß Vertreibungen völkerrechtswidrig sind.“

Nach Abschluß der Vertreibungsmaßnahmen wurden bei der Volkszählung vom 13. September 1950 in der Bundesrepublik Deutschland 7, 9 Millionen Vertriebene erfaßt. In der DDR wurden 4, 065 Millionen und in Österreich etwa 400 000 Vertriebene registriert. Bezieht man die über zwei Millionen Vertreibungsopfer in die Zählung mit ein, so waren etwa 15 Millionen Menschen von den Vertreibungsmaßnahmen betroffen.

Während sich die DDR ihres Vertriebenenproblems durch politische Tabuisierung und Ideologisierung entledigte, wurden in der Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis 1990 weitere 2, 4 Millionen, in Gesamtdeutschland von 1991 bis 1995 weitere 1, 1 Millionen Aus-und Spätaussiedler aufgenommen. Damit erhöht sich die Gesamtzahl der aufgenommenen Vertriebenen auf rund 11, 5 Millionen -eine humanitäre Leistung, die weltweit wohl ohne Beispiel ist.

III. Aufnahme und Unterbringung

1. Die Ausgangslage Die Vertriebenen wurden nach der Beendigung der Vertreibungsmaßnahmen in das ihnen von den Siegermächten bestimmte „konnationale Aufnahmeland“ Restdeutschland hineingepreßt, das, wie auf der Konferenz von Jalta beschlossen, in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden war und unter Besatzungsstatut stand.

Die große politische Aufgabe Nachkriegsdeutschlands, die Aufnahme der millionenfach einströmenden Vertriebenen, stellte die von den Besatzungsmächten eingesetzten deutschen Verwaltungsbehörden zunächst vor kaum zu lösende Schwierigkeiten. Das Bild der ersten Nachkriegszeit war geprägt durch Hunger, Elend und seelische Not. Diese wurde noch vertieft durch den Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft und die drohenden alliierten Demontagen. Zusätzlich war etwa die Hälfte des Wohnraums durch Kriegs-handlungen zerstört, wovon insbesondere Groß-und Mittelstädte betroffen waren. Erhebliche Unterbringungsschwierigkeiten waren die Folge -eine Situation, die durch den Vertriebenenzustrom weiter zugespitzt wurde.

Dies führte dazu, daß die Vertriebenen, denen die Alliierten bewußt jeden landsmannschaftlichen Zusammenhalt nehmen wollten, vorwiegend in den von Kriegszerstörungen weniger betroffenen ländlichen Gebieten Vier-Zonen-Deutschlands untergebracht wurden. Hieraus resultierte eine Überbelegung der sogenannten Flüchtlingsaufnahmeländer Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern. Hier war man auf sämtliche verfügbaren Räumlichkeiten angewiesen und gezwungen, die Vertriebenen auch in den privaten Quartieren der Einheimischen, notfalls auf dem Weg des Verwaltungszwangs, unterzubringen. Daneben wurden provisorische Unterkünfte, sogenannte Flüchtlings-oder Barackenlager, errichtet, die vielerorts nicht ausreichten. So dienten ehemalige Arbeitsdienst-und Kriegsgefangenenlager ebenso als Behausung für die Vertriebenen wie Tanzsäle, Kegelbahnen, Wirtshäuser, Boots-und Gartenhütten. Selbst mit Erdlöchern mußten Vertriebene vorliebnehmen, wenn die Privatquartiere der Einheimischen keine Unterbringungsmöglichkeiten mehr boten. Die Not der Anfangsjahre machte erfinderisch.

Neben dem Wohnraum fehlten vor allem die lebensnotwendigsten Dinge des Alltags: Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente, Brennmaterial sowie Hausrat jeder Art. Hier war die Not der Vertriebenen, die zumeist alles verloren hatten, besonders groß. Die Versorgung der Bevölkerung konnte nur mühsam und auf niedrigstem Niveau -oft unterhalb dem des Existenzminimums -aufrechterhalten werden. Schattenwirtschaft und Schwarzmarkt breiteten sich aus. Das Organisationstalent jedes einzelnen war gefordert, um zu überleben. 2. Die Vertriebenen als Fremde Die von der Literatur zur Vertriebenenthematik als „Zustand der Betäubung“ und des „Sitzens auf gepackten Koffern“ charakterisierte Zeitspanne, die mit der Aufnahme der Vertriebenen begann und später von der Integrationsphase abgelöst wurde, hatte keineswegs stagnativen Charakter. Sie war vielmehr von sozialen Prozessen des Zu-und Auseinanders und damit auch von sozialen Spannungen zwischen Vertriebenen und Nichtvertriebenen gekennzeichnet -ein bis heute heikles, weithin tabuisiertes Thema.

Wenn nachfolgend die Vertriebenen als „Fremde“ charakterisiert werden, so liegt dem Begriff des Fremden die klassische Definition des Soziologen Georg Simmel zugrunde. Danach ist „der Fremde nicht in dem Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt“

Die ersten Kontakte zwischen Vertriebenen und Einheimischen waren überwiegend wohlwollender Art. Die Herausforderung, die von dem Schicksal und der Fremdheit der Vertriebenen ausging, ließ zunächst eine Welle der Hilfsbereitschaft entstehen. Oft war zu beobachten, daß die Einheimischen die Vertriebenen zunächst als Besucher oder Gäste aufnahmen. Man bezeichnete sie auch als „Ostdeutsche auf Zwangsurlaub“, von deren baldiger Rückkehr in die Heimat man ebenso überzeugt war wie die Vertriebenen selbst. Der häusliche Friede war so lange gewährleistet, wie die Gastgeber davon ausgehen konnten, daß der Vertriebene „heute kommt und morgen geht“. Nachdem sich aber herausstellte, daß die Neuhinzugekommenen blieben, sich die Erwartung „des demnächstigen und definitiven Wieder-auseinander-Gehens“ nicht erfüllte, waren Konflikte hier bereits angelegt, die später offen zutage treten sollten.

Die ablehnende Haltung der Altansässigen gegenüber den Vertriebenen wurde noch dadurch verstärkt, daß die Vertriebenen einige Fremdheitsmerkmale aufwiesen, die bei den Westdeutschen Zweifel an deren Identität aufkommen ließen. Diese Bedenken wurden genährt durch den Dialekt der Deutschen aus Ost-und Südosteuropa, den die Altansässigen als „falsches“ oder „verdorbenes Deutsch“ bezeichneten, ihre fremden Kleidungsgewohnheiten mit den Trachten, den ungewohnten Sitten und Bräuchen.

In Abwehr des fremden Bevölkerungsteils entstanden Spitz-, Spott-und Schimpfnamen, die nur allzu oft die Abwertung des Ostens gegenüber dem Westen widerspiegeln. So wurden die Vertriebenen u. a. tituliert als „Habenichtse“, als „Rucksackdeutsche“. Zumal auf dem Land hörte man Äußerungen wie: „Die Flüchtlinge vermehren sich wie die Kartoffelkäfer“, die Vertriebenen seien eine „lästige Zugabe zum verlorenen Krieg“ oder, daß „der Bauer nichts mehr fürchtet, als die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge“

Derartige, allerdings nur während einer kurzen Phase aufscheinende Abwehrhandlungen seitens der Einheimischen gegenüber den Vertriebenen trugen zu einer Verschärfung der Gegensätze und zur Ausgrenzung der Fremden bei, so daß eine Annäherung beider Bevölkerungsteile zunächst erschwert war. Hier gebührt der Soziologin Elisabeth Pfeil das Verdienst, den Gedanken von der paradigmatischen Gestalt des Vertriebenen als „Sinnbild einer Zeitenwende“ fruchtbar gemacht zu haben -einer Erscheinung, die nicht nur Gefahr und Belastung bedeutete, sondern -gerade weil es sich hier um Entwurzelte handelte -die Vertriebenen als Initiatoren notwendiger Entwicklungen und Träger von Neuerungen wirksam werden konnten

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß die Neuhinzugekommenen oftmals gegen ihren Willen, allein durch das Gewicht ihrer Anwesenheit, schon vorhandene Prozesse vorantrieben, die sich ansonsten vielleicht erst in langsamer Entwicklung vollzogen hätten. Der durch das Auftreten der Vertriebenen in Westdeutschland verursachte Wandel ist als „ . Modernisierungsschub’ unter konservativen Vorzeichen“ bezeichnet worden, da er keine neuen Qualitäten beispielsweise ökonomischer Art hervorbrachte, sondern „eher katalysierend wirkte“. Die Folgen bestanden in einer fortschreitenden Verstädterung, forcierten Industrialisierung, zunehmenden Siedlungsenge und Wohndichte sowie umgestalteten Überlieferungen. Neben der Wirtschaft nahmen die Vertriebenen auch Einfluß auf die Kultur -nicht zuletzt im Hinblick auf die konfessionelle Struktur Westdeutschlands sowie auf das Staats-und Gesellschaftsleben der Bundesrepublik. Ihr Einfluß erstreckte sich von sprachlichen Einwirkungen bis hin zur Neugestaltung städtisch und ländlich geprägter Landschaften, so daß zu Recht von der innovativen, verändernden Kraft der Vertriebenen gesprochen wird, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind.

IV. Die Integration der Vertriebenen

Die Westalliierten trafen aufgrund des sich nach dem Zweiten Weltkrieg verschärfenden Ost-West-Konfliktes einige fundamentale Entscheidungen von weitreichender Bedeutung: Abkehr vom Morgenthauplan und Einbeziehung Drei-Zonen-Deutschlands in den Marshallplan sowie Durchführung einer Währungsreform. Hierdurch wurden nicht nur die Weichen für den Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft gestellt. Damit war gleichzeitig auch die Entscheidung für die Integration der Vertriebenen gefallen, da nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948 die hierfür dringend benötigten Arbeitsplätze mit amerikanischer Wirtschaftshilfe geschaffen werden konnten.

1. Die rechtlich-soziale Gleichstellung der Vertriebenen Die Bundesrepublik Deutschland dokumentierte ihre umfassende Aufnahme-und Integrationsbereitschaft, indem sie bereits unmittelbar nach ihrer Gründung innerhalb von nur vier Jahren ein umfangreiches Gesetzgebungswerk schuf, das zur rechtlichen Gleichstellung und zur wirtschaftlich-sozialen Integration der Vertriebenen beitrug. Mit der Verkündung des Grundgesetzes (GG) vom 23. Mai 1949 wurde den Vertriebenen in Artikel 116 GG die rechtliche und staatsbürgerliche Gleichstellung zuerkannt. Dies war die notwendige Voraussetzung, um an finanziellen Hilfeleistungen partizipieren zu können.

Die rechtliche Grundlage zur sozialen und wirtschaftlichen Hilfeleistung schuf man in Form mehrerer Spezialgesetze. Von diesen wurde am 8. August 1949 das auf gezielte Notstandsbeseitigung abhebende „Soforthilfegesetz“ (SHG) erlassen. Dieses wurde ergänzt durch das „Flüchtlingssiedlungsgesetz“ (FlüSG) vom 10. August 1949, das die berufliche Integration vertriebener Landwirte zum Gegenstand hatte. Mit dem am 1. September 1952 in Kraft getretenen Lastenausgleichsgesetz (LAG) wurde das SHG abgelöst. Das unter dem Begriff „Lastenausgleich“ zusammengefaßte Gesetzgebungswerk hatte und hat zum Ziel, für Schäden und Verluste, die sich infolge der Zerstörungen der Kriegs-und Nachkriegszeit sowie der Vertreibung ergeben haben, einen Ausgleich herbeizuführen. Bis Ende 1993 wurden im Lastenausgleich Leistungen zugunsten der Geschädigten von insgesamt 123 Milliarden DM erbracht. Der Lastenausgleich, der durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vom 21. Dezember 1992 formal zum Abschluß gebracht wurde, war ein für die Integration der Vertriebenen unentbehrliches Gesetzgebungswerk, das zu Recht als beispielgebende Solidarleistung aller Deutschen und als eines der wichtigsten Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zur Regelung der Kriegsfolgen gilt und damit auch anderen Staaten zum Vorbild wurde

Mit dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) vom 19. Mai 1953 wurde die Aufnahme und Integration der Vertriebenen bundesweit geordnet. Erstmals würden einheitliche Rechtsbegriffe bezüglich des Vertriebenen-und Flüchtlingsstatus geschaffen, Maßnahmen auf dem Gebiet der beruflichen, räumlichen und sozialen Integration geregelt sowie die Gleichberechtigung der Vertriebenen in der Sozialversicherung fixiert. Hier erhielt auch die deutsche Kultur des Ostens in § 96 BVFG den Vorzug einer eigenen gesetzlichen Grundlage. Das Bundesvertriebenengesetz stellt bis heute die Grundlage für die Aufnahme der Aus-und Spät-aussiedler dar, von denen seit 1950 über 3, 5 Millionen in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme fanden. Das Bundesvertriebenengesetz, das einmal als das „Grundgesetz der Vertriebenen“ bezeichnet wurde, hat gemeinsam mit der übrigen Vertriebenengesetzgebung wesentlich zur Integration der Vertriebenen und damit zum sozialen Frieden in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen. 2. Die Umsiedlung der Vertriebenen Zu den dringendsten Problemen der ersten Nachkriegszeit gehörte die völlig unzweckmäßige räumliche Verteilung der Vertriebenen auf die drei strukturschwachen „Flüchtlingsländer“ Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern. Die Umsiedlung war unumgängliche Voraussetzung für die berufliche und wohnraummäßige Eingliederung der Vertriebenen. Noch bevor behördlich gelenkte Maßnahmen greifen konnten, setzte bereits 1948 die freie (Weiter-) Wanderung der Vertriebenen ein, die auf der Suche nach einem ihren Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz in die deutschen Wirtschaftszentren drängten. Die gelenkten Umsiedlungen begannen im November 1949 und führten die Vertriebenen in Regionen mit günstigeren Arbeitsmarktverhältnissen. Die Wanderungsstatistik weist aus, daß in der Zeit von 1949 bis 1960 jeder Vertriebene rein rechnerisch mindestens einmal seinen Wohnsitz innerhalb des Bundesgebietes verlegt hatte Die Bemühungen von Bund und Ländern, die anfängliche Fehlverteilung zu korrigieren, waren erfolgreich und wurden maßgeblich unterstützt durch die Eigeninitiative der Vertriebenen. 3. Die wirtschaftliche und soziale Integration der Vertriebenen Das eigentliche deutsche Nachkriegswunder bestand in der verhältnismäßig rasch vonstatten gehenden wirtschaftlich-sozialen Integration der Vertriebenen in die Gesellschaft der Bundesrepu-blik Deutschland. Die Vertriebenen wurden trotz ihrer anfänglichen fast völligen Besitzlosigkeit nicht -wie von Stalin erhofft und von den westlichen Besatzungsmächten befürchtet -zu Fermenten der Unruhe und der sozialen Dekomposition, sondern zu aktiven Aufbaukräften, zu Leistungsträgern in der Bundesrepublik Deutschland.

Anders in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der späteren DDR: Hier wurden die Vertriebenen umgehend begrifflich und statistisch bis zur Unkenntlichkeit wegdefiniert. So existierten offiziell nur für eine kurze Übergangszeit „Vertriebene“, die dann in „Umsiedler“ umbenannt wurden. Dementsprechend gab es in der SBZ/DDR nie ein „Vertriebenenproblem“, dessen man sich im Rahmen einer Eingliederung annehmen mußte. Die Vertriebenen waren in der DDR ausschließlich Objekte des Geschehens, eine politisch tabuisierte Bevölkerungsgruppe, die bis zur Vereinigung Deutschlands mit ihrem besonderen Schicksal und ihren Problemen nicht in Erscheinung treten durfte

In der Bundesrepublik ergriffen die Vertriebenen die Initiative und halfen -zunächst meist auf unterstem Niveau des Schichtensystems -mit beim Wiederaufbau der westdeutschen Wirtschaft, ohne dabei die Hoffnung auf Wiedererlangung ihres alten Sozialstatus aufzugeben. Die Vertriebenen erreichten den wirtschaftlich-sozialen Wieder-aufstieg in relativ kurzer Zeit mit einem als „Energie der Verzweiflung“ bezeichneten Arbeitseifer, indem sich die Kräfte aller Familienmitglieder hierauf konzentrierten und selbst große persönliche Opfer, wie jahrelanger Konsum-und Besitzverzicht, nicht gescheut wurden

Das unermüdliche Wiederaufstiegsstreben der Vertriebenen trug ebenso wie die im Rahmen wirtschaftlicher Hochkonjunktur anhaltende Nachfrage nach Arbeitskräften zu der bereits in den siebziger Jahren zu konstatierenden weitestgehend zufriedenstellenden wirtschaftlich-sozialen Integration der Vertriebenen bei. Soziale Konflikte, in den Anfangsjahren vorwiegend wirtschaftlich motiviert, waren in den siebziger Jahren längst befriedet und beigelegt.

Die Vertriebenen wirkten nicht nur durch hochqualifizierte und -motivierte Arbeitskräfte am Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft mit. Auch durch Industrieverpflanzungen und -neugründungen wurden sie zu Trägern einer Industrialisierungswelle, die zur stärkeren Anbindung struktur-schwacher Räume an die allgemeine industrielle Entwicklung führte. So haben die meist exportorientierten Industrien der Vertriebenen -von denen die bekanntesten die schlesische Eisenindustrie sowie die sudetendeutsche Glaserzeugung und -Veredelung, die Musikinstrumentenherstellung, die Schmuckwaren-und die Trikotagenindustrie sind -zur Dezentralisierung des Industrieaufbaus und zur wirtschaftlichen Expansion der Bundesrepublik beigetragen. Hierbei wurden die Vertriebenen durch ihre Innovationsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zu Mitverursachern des deutschen Wirtschaftswunders.

Das wirkliche deutsche Wunder bestand somit in der ungeheuren Leistung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die Millionen Heimatvertriebenen integriert zu haben. Hierbei sind die Verdienste von Bund, Ländern und Gemeinden, kirchlichen und privaten Stellen unvergessen. Das deutsche Volk hatte in größter Not solidarisch gehandelt.

V. Der Einfluß der Vertriebenen auf den staatlichen Aufbau

1. Interessenvertretung der Vertriebenen auf parlamentarischer Ebene Nach dem Zweiten Weltkrieg unterlagen die Vertriebenen als einzige Bevölkerungsgruppe einem Koalitionsverbot. Nach dessen Aufhebung 1947/48 wurden sie zu aktiven Mitgestaltern im politischen Bereich. So engagierten sie sich im vorparlamentarischen und parlamentarichen Raum in allen sie betreffenden Angelegenheiten. Am 1. September 1948 konstituierte sich der Parlamentarische Rat in Bonn zur Ausarbeitung eines Grundgesetzes für die drei westlichen Besatzungszonen. Von seinen 65 Mitgliedern zählten elf zu den Vertriebenen und Flüchtlingen, u. a. Paul Löbe, Erich Ollen-j hauer und Hans-Christoph Seebohm.

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet. Dieses ist eine eigenständige deutsche Verfassungsleistung, die in Rückbesinnung auf liberal-demokratische Traditionen und unter Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Weimarer Verfassung und dem Nationalsozialismus entstanden ist. Hier wirkten die Vertriebenen mit ihrem vehementen Antikommunismus aktiv mit, einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat auf deutschem Boden zu etablieren.

Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE)

Zu den Haupthemmnissen, die einer eigenen parlamentarischen Interessenvertretung der Vertriebenen nach dem Krieg entgegenstanden, gehörte der von den Besatzungsmächten verhängte „Lizenzierungszwang der Parteien“. Hierdurch war den Vertriebenen bis 1950 die Gründung einer eigenen Vertriebenenpartei untersagt. Möglichkeiten zur politischen Beteiligung fand man, indem „freie Wählergemeinschaften“ auf kommunaler Ebene entstanden oder man sich an die bereits zugelassenen politischen Parteien anschloß.

Erst im Januar 1950 konnte in Schleswig-Holstein der „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) gegründet werden. Hier trat der BHE erstmalig als sozialpolitische Interessenpartei der Vertriebenen auf parlamentarischer Ebene an und errang bei den Landtagswahlen 1950 auf Anhieb 23, 4 Prozent der Stimmen. Dieses überraschende Ergebnis war Ausdruck einer massiert in Schleswig-Holstein lebenden Protestwählerschaft von Vertriebenen, die aus Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen den sogenannten „Lizenzparteien“ eine Absage erteilten. Diese neue politische Bewegung der Vertriebenen griff schon bald auf andere Bundesländer mit starkem Vertriebenenanteil über, wo der BHE zumeist auch an der Landesregierung beteiligt wurde. Hier ging der BHE mit Engagement daran, die wirtschaftlich-soziale Eingliederung der Vertriebenen auf dem Wege der parlamentarischen Arbeit durchzusetzen.

Durch den politischen Erfolg in der Landespolitik ermutigt, formierte sich der BHE schließlich auf Bundesebene. Noch im November 1952 wurde die Partei in „Gesamtdeutscher Block/BHE“ (GB/BHE) umbenannt, um damit ihre spezifischen Vertriebeneninteressen um einen nationalen bzw. nationalstaatlichen Akzent zu erweitern. Bereits 1953 zog er mit 5, 9 Prozent der Stimmen in den Bundestag ein. Der Parteigründer, Waldemar Kraft, wurde im zweiten Kabinett Adenauer Bundesminister für besondere Aufgaben, Theodor Oberländer Vertriebenenminister.

Parteiinterne Zwistigkeiten und Richtungskämpfe leiteten den Abstieg des BHE auf parlamentarischer Ebene ein. 1957 scheiterte er bereits an der Fünf-Prozent-Klausel. Auch nach seinem Aus-9 scheiden aus dem Deutschen Bundestag spielte der GB/BHE noch einige Zeit auf Länderebene eine wichtige Rolle. Als Koalitionspartei war er bis in die sechziger Jahre zeitweise an fünf Landes-regierungen beteiligt. Über ein Jahrzehnt trieb der GB/BHE die wirtschaftlich-soziale Eingliederung der Vertriebenen erfolgreich voran, was schließlich zu seinem politischen Niedergang führte. Hierzu ein Gründungsmitglied des BHE, Hans-Adolf Asbach: „Das Unglück unserer Partei ist allein das eine, daß wir zwar Tausenden wieder Hoffnung, Beschäftigung und Verdienst geschaffen haben, daß diese sich aber nach ihrer Eingliederung den saturierten Kreisen zuwandten.“ Die herausragende gesellschaftliche Bedeutung des BHE bestand zweifellos darin, daß Tendenzen sozialrevolutionärer Kräfte von ihm aufgefangen und in demokratische politische Energie umgesetzt wurden.

Die Vertriebenen im Deutschen Bundestag Ihren politischen und damit gesamtgesellschaftlichen Einfluß haben die Vertriebenen über ihre Beteiligung an nunmehr 13 Deutschen Bundestagen sowie durch die Übernahme politischer Ämter in der Bundesregierung wahrnehmen können. Daneben war die Repräsentanz Vertriebener in den großen politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland eine Voraussetzung dafür, um politische Forderungen durchsetzen zu können. Zu nennen sind hier vor allem Kurt Schumacher (geb. 1895 in Kulm/Westpreußen, SPD), Paul Löbe (geb. 1875 in Liegnitz/Schlesien, SPD), Rainer Barzel (geb. 1924 in Braunsberg/Ostpreußen, CDU), Heinrich Windelen (geb. 1921 in Bolkenhain/Schlesien, CDU), Philipp von Bismarck (geb. 1913 in Jarchlin/Pommern, CDU), Ottfried Hennig (geb. 1937 in Königsberg/Ostpreußen, CDU) und viele andere mehr. Daneben muß aber vor allem an den früheren BdV-Präsidenten, den sudetendeutschen Sozialdemokraten, Wenzel Jaksch (geb. 1896 in Langstrobnitz) erinnert werden, der einer der versiertesten Ostpolitiker des Deutschen Bundestages war und sich bereits Anfang der sechziger Jahre im sogenannten „Jaksch-Bericht“ vom 31. Mai 1961 für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den Warschauer-Pakt-Staaten einsetzte und hierdurch zu einem der Vordenker einer neuen deutschen Ostpolitik wurde. 2. Die Hauptorganisationsformen der Vertriebenen Trotz des Koalitionsverbotes waren mit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 die beiden wichtigsten Organisationen zur politischen Repräsentation der Vertriebenen entstanden, um rechtzeitig ihren Einfluß geltend zu machen: der „Zentralverband der vertriebenen Deutschen“ (ZvD), in dem sich am 9. April 1949 die Landesverbände formierten, und die „Vereinigten ostdeutschen Landsmannschaften“ (VOL), die sich am 24. August 1949 in Bad Homburg zusammenschlossen. Zur formalen Abgrenzung und zur Regelung der Zusammenarbeit beschlossen ZvD und VOL im „Göttinger Abkommen“ vom 20. November 1949 eine Arbeitsteilung. Hiernach war vorgesehen, daß den Landsmannschaften November 1949 eine Arbeitsteilung. Hiernach war vorgesehen, daß den Landsmannschaften die Heimat-und Kulturpolitik und damit auch die Einschaltung in die Ostpolitik des Bundes, dem Zentralverband die Wirtschafts-und Sozialpolitik und damit das Ringen um die Entschädigung und Wiedergutmachung oblagen. Diese Aufgabenteilung erwies sich im verbandspolitischen Alltag jedoch als nicht durchführbar, Einheitsbestrebungen sollten die organisatorischen Probleme beseitigen. Das Ergebnis vieler Gespräche war nicht der gewünschte Einheitsverband, sondern nur eine Umorganisation bestehender Verbände: So wurde am 18. November 1951 der „Bund der vertriebenen Deutschen“ (BvD) ohne die Beteiligung der Landsmannschaften gegründet, in dem der ZvD schließlich aufging. Auch die Landsmannschaften konstituierten sich am 11. August 1952 neu zum „Verband der Landsmannschaften“ (VdL).

Nach komplizierten Verhandlungen wurde schließlich am 27. Oktober 1957 der „Bund der Vertriebenen -Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände“ (BdV) gegründet. Damit war nach über zehnjähriger organisatorischer Zersplitterung der Vertriebenenverbände der Zusammenschluß zu einem Gesamtverband gelungen. Die tragische Paradoxie war, daß dies erst in einer Phase möglich wurde, als alle wesentlichen Entscheidungen auf dem Gesetzgebungsweg bereits gefallen und die Weichen zur Integration der Vertriebenen gestellt waren. Für den BdV, der mit seinen über zwei Millionen Mitgliedern, davon ca. 200 000 seit 1990 in den neuen Bundesländern, mit zu den größten Personenverbänden der Bundesrepublik Deutschland zählt, hat daher folgende lakonische Bemerkung P. P. Nahms Gültigkeit: „Die Zeit für ein grundlegendes Gestalten war vorbei. Nach 1953 konnte im wesentlichen nur noch um Novellierungen gerungen werden.“ 19) 3. Der Einfluß der Vertriebenen auf das politische Leben Im politischen Bereich wirkten die Vertriebenen als Belastung und Antrieb zugleich. Die wesentlichen Impulse, die von ihnen ausgingen, zielten ab auf eine Verfestigung der demokratischen Tendenzen in der Bundesrepublik. Ihr vehementer Antikommunismus, der Eugen Lemberg dazu veranlaßte, die Vertriebenen als „Reservearmee gegen den Kommunismus“ 20) zu bezeichnen, trug mit dazu bei, „einen echten Fundamentalkonsens der großen demokratischen Parteien über die Natur der zu gestaltenden politischen Ordnung“ entstehen zu lassen, „der sich bei aller Schärfe der außen-und wirtschaftspolitischen Gegensätze der letzten Jahre als dauerhaft und tragfähig erwies. Die gemeinsame Abwehr der Bedrohung aus dem Osten wurde so zum Ausgangspunkt eines neuen, konstruktiven Demokratieverständnisses.“ Darüber hinaus hielten die Vertriebenen auch in Phasen, in denen es politisch nicht opportun erschien, an gesamtdeutschen Zielsetzungen fest. Als „unruhiges gesamtdeutsches . Gewissen“ (Jakob Kaiser) wirkten die Vertriebenenverbände stets auf das Offenhalten der ganzen deutschen Frage hin und warben für realisierbare Schritte zur Über-windung der Teilung Deutschlands und Europas.

Aufgrund ihres tragischen Schicksals erwiesen sich die Vertriebenen als verläßliche gesamtdeutsche Klammer -eine Haltung, die ihnen oftmals Schmähungen politischer Gegner eintrug. Die linksorientierte Presse agitierte gegen die Vertriebenen, die immer wieder zur Zielscheibe ihrer Angriffe wurden. Schon die Begriffe „Vertreibung“ und „Heimat“ wurden als „Revanche-Programm“ diffamiert und versucht, die Vertriebenen als „Ewiggestrige“ zu stigmatisieren und als „Revanchisten“ politisch auszugrenzen. Eine derartige Berichterstattung, die vor allem aus.der ehemaligen DDR und dem kommunistischen Ausland stammte, wurde durch die friedliche Haltung der Vertriebenen und ihren Gewaltverzicht Lügen gestraft. Auch wenn die Vertriebenen die eigentlichen Verlierer des Zweiten Weltkrieges waren, so gingen sie ganz bewußt nicht den Weg beispielsweise der Palästinenser, die lange Zeit einen revolutionären Unruheherd gegenüber Israel bildeten.

Die deutschen Heimatvertriebenen haben sich bewußt von Anfang an für eine gewaltfreie Politik entschieden und ihr Recht auf die Heimat stets mit ausschließlich friedlichen Mitteln durchzusetzen versucht. Auch dadurch wurden sie zu einem gewichtigen Ordnungselement in der Bundesrepu-blik und trugen zur politischen Stabilisierung und zum Aufbau einer handlungsfähigen Demokratie bei.

In einer Phase, in der zwei Drittel der Vertriebenen weder wohnraummäßig noch beruflich integriert waren, wurde am 5. August 1950 die Charta der deutschen Heimatvertriebenen in Stuttgart feierlich verkündet. In diesem bemerkenswerten Dokument des Gewaltverzichts, einem unübersehbaren Beweis ihrer demokratisch-humanen Geisteshaltung, sagten sie Rache und Vergeltung ab und bekannten sich zur Schaffung eines geeinten Europas und zur Mitverantwortung für die Existenz und Würde der Nachbarn. Die Bereitschaft zur Verständigung und zum Ausgleich, aber auch die Betonung des Rechts auf die Heimat und die Forderung nach einem umfassenden Volksgruppenrecht wirken nach wie vor in dem Bemühen der Vertriebenenverbände um eine gesamteuropäische, freiheitliche und föderale Friedensordnung der Staaten, Völker und Volksgruppen und die Verwirklichung von Minderheitenrechten fort.

Bundeskanzler Kohl hat die Charta in einer Regierungserklärung als ein „Musterbeispiel politischer Kultur“ und „ein Werk des Friedens“ gewürdigt. In einem anderen Zusammenhang betonte er: „Es gibt keinen Anspruch auf Vergebung und Versöhnung. Um so bewegender ist es, wenn Opfer diesen Schritt wagen, und damit den Teufelskreis von Haß und Gewalt durchbrechen.“ Und: „Künftige Generationen von Historikern werden sagen, daß dies eine der größten moralischen Leistungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewesen ist.“

Das Schicksal und die Leistungen der deutschen Heimatvertriebenen beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland sowie ihr Beitrag für den Frieden in Europa wurden am 1. Juni 1995 vor dem Deutschen Bundestag umfassend gewürdigt. Hier wurde den Vertriebenen fünfzig Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges durch eine Regierungserklärung mit anschließender Debatte von allen politischen Parteien -mit Ausnahme der PDS -die gesellschaftliche Bedeutung zuerkannt, die ihnen lange Zeit versagt geblieben war Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer trug zur späten „Rehabilitierung“ der Vertriebenen bei, indem sie ihnen gegenüber Versäumnisse einräumte. Sie erklärte, daß die politische Linke jahrzehntelang nicht auf die Leiden der Heimatvertriebenen geachtet habe und unterstrich: „Auch dieses Wegsehen wär kein Ruhmesblatt in der Aufarbeitung historischer Wahrheiten.“

VI. Verständigungspolitische Arbeit der Vertriebenen

Mit der Vereinigung Deutschlands und der Öffnung des Ostens verbindet sich die historische Chance, eine dauerhafte Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn im Rahmen des gesamteuropäischen Einigungsprozesses zu erreichen. Hierzu erklärte Bundespräsident Roman Herzog anläßlich des Gedenkens an den 50. Jahrestag des War-schauer Aufstandes am 1. August 1994 in Warschau: „Was wir brauchen, ist Versöhnung und Verständigung, Vertrauen und gute Nachbarschaft. Das kann nur weiterwachsen und gedeihen, wenn unsere Völker sich dem Grauen ihrer jüngsten Geschichte in aller Offenheit stellen. In aller Offenheit und ohne Vorurteile. Mit dem Mut zur vollen Wahrheit. Nichts hinzufügen, aber auch nichts weglassen, nichts verschweigen und nichts aufrechnen. Im Bewußtsein, der Vergebung bedürftig zu sein, aber auch zur Vergebung bereit.“ i Eine schwierige Wegstrecke muß noch zurückgelegt werden. Bis zu den revolutionären Veränderungen jenseits des Eisernen Vorhangs gehörte im Osten die Erinnerung an das Schicksal der Vertreibung der Deutschen noch zu den striktesten Tabu-themen.

Die in kommunistischen Ländern allgegenwärtige Indoktrination und ideologische Geschichtsschreibung hatten dazu geführt, daß historische Tatsachen verfälscht wurden, anstelle der Wahrheit die Lüge trat und jede Auseinandersetzung mit dem Problem der Vertreibung im Keim erstickt wurde Gleichwohl wächst mit zunehmender Demokratisierung auch im Osten die Bereitschaft zur Partnerschaft auf der Grundlage der historischen Wahrheit. Erste Schritte hierbei sind bereits getan:

Das Umdenken im deutsch-polnischen Verhältnis wurde eingeleitet durch die kühne Initiative der polnischen Kirche mit der markanten Aussöh-nungsbotschaft des polnischen Episkopats an die deutschen Bischöfe vom 18. November 1965: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ In diesem Sinn sprach sich auch unlängst der Oppelner Bischof Alfons Nossol in einer Predigt für „eine vollkommene Aussöhnung und Versöhnung noch in unserer Generation“ aus. Dabei gelte es, „die Tragödie der Vertreibung von Deutschen nach 1945 beim Namen zu nennen und als Verbrechen zu bezeichnen“

In diesem Zusammenhang muß die bedeutsame Rede des damaligen polnischen Außenministers vor dem Deutschen Bundestag gewürdigt werden. Wladyslaw Bartoszewski beklagte hier das Leiden der deutschen Heimatvertriebenen und machte sich die Worte des bekannten polnischen Denkers Jan Josef Lipski zu eigen, der schrieb: „Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben. Das uns getane Böse ist keine Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben.“

Es war schließlich der designierte Präsident Vaclav Havel, der im Oktober 1989, noch unter Staatsaufsicht stehend, dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker jenen denkwürdigen Brief schrieb, in dem Havel mit einem Tabu brach und den Verständigungsprozeß zwischen dem deutschen und dem tschechischen Volk mit den Worten einleitete: „Ich persönlich verurteile die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Sie erschien mir immer als eine zutiefst unmoralische Tat.“ Von Havel stammen auch die befreienden Sätze: „Wir sind uns darin einig, daß die Grundvoraussetzung für die wirkliche Freundschaft unserer Völker die Wahrheit ist. Wie hart auch immer, soll sie doch gesagt werden.“ Diesem Gestus der Verständigungsbereitschaft wird sich auf Dauer niemand entziehen können.

Im Vorfeld der Mai-Wahlen in Tschechien durchlebten die deutsch-tschechischen Beziehungen eine schwierige Phase. Nach fast einem Jahr geheimer Verhandlungen ist eine gemeinsame Erklärung beider Parlamente in Vorbereitung, mit der ein endgültiger Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen werden soll. Mit der Zurückhaltung auf regierungsoffizieller Ebene korrespondierte eine Flut öffentlich werdender Verständigungssignale aus der tschechischen Bevölkerung: So kritisierten im Februar 1996 93 tschechische Intellektuelle ihre Regierung in einem Offenen Brief, der überschrieben war mit „Der Weg zur Versöhnung“; sie riefen zur Verurteilung der Vertreibung auf und forderten direkte Gespräche mit den Sudetendeutschen Darüber hinaus wird berichtet, daß erstmals im März 1996 auch Einwohner tschechischer Grenzstädte, in denen früher Deutsche lebten, zur Versöhnung mahnten.

Die politischen Veränderungen in Osteuropa haben die Möglichkeit eröffnet, daß die Völker Europas nunmehr ihr Verhältnis zueinander vergangenheitsbewußt und zukunftsorientiert gestalten und dabei alle Möglichkeiten einer dauerhaften Verständigung und guten Nachbarschaft nutzen. Die Verträge über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, die die Bundesrepublik Deutschland am 17. Juni 1991 mit Polen und am 27. Februar 1992 mit Tschechien abgeschlossen hat, bieten hierzu eine gute Grundlage.

Gute Nachbarschaft bzw. Aussöhnung zwischen den Völkern kann indes weder durch Vertrags-pflicht begründet noch per Erlaß verordnet werden. Der Versöhnungsprozeß entsteht in den Köpfen und Herzen der Menschen und muß von diesen konkret gestaltet werden. Hierbei haben vor allem die Vertriebenen, die Bundeskanzler Kohl ausdrücklich „in das Werk der Aussöhnung einbeziehen will“ -eine Erklärung, die mehrfach vom Deutschen Bundestag unterstützt wurde -, eine historische Aufgabe. Gerade die Heimatvertriebenen verfügen über Erfahrungen und eingehende Kenntnisse über die Völker ihrer Herkunftsgebiete, ihre Traditionen, Sprachen und Eigenheiten. Schon aufgrund ihrer Heimatbindung sind die Vertriebenen prädestiniert und bereit, tragfähige Brücken der Verständigung zu unseren östlichen Nachbarn zu bauen.

Seit Jahrzehnten gibt es bereits auf privater Ebene eine Vielzahl freundschaftlicher Kontakte zwischen deutschen Heimatvertriebenen und den Menschen, die heute in deren Herkunftsgebieten leben. So waren es vor allem Vertriebene, die unseren östlichen Nachbarn in den Jahren größter Not auch durch den Eisernen Vorhang hindurch mit unzähligen Hilfslieferungen zur Seite standen. Diese Solidaritätsbeweise sind bis heute in Polen und Tschechien unvergessen.

Die Vertriebenen haben nach dem für sie schmerzlichen Abschluß des Grenzbestätigungsvertrages von 1990 mit dazu beigetragen, daß aus der deutsch-polnischen Grenze eine durchlässige, die Menschen verbindende Linie wurde. Dadurch haben die Vertriebenen einen nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag zur Stabilität und zum inneren Frieden Europas geleistet.

Heute sind auch offizielle Kontakte möglich, und manche Vereinigung der Vertriebenen ist unterdessen ein gefragter Partner unserer östlichen Nachbarn. Die Themenpalette umfaßt die Zusammenarbeit bei der Ausgestaltung von Stadtjubiläen wie z. B.der Städte Reichenberg, Stettin und Königsberg, Fragen des Aufbaus demokratischer Strukturen, der Unterstützung bei Joint-ventures, bis hin zu Förderung des Tourismus und des Umweltschutzes. Hierzu wird die Unterstützung der Vertriebenen erbeten und gern zur Verfügung gestellt.

Die Vertriebenen sind heute mit die wichtigsten Botschafter der Verständigung und des Ausgleichs. So konnte beispielsweise die sudetendeutsche Ackermann-Gemeinde bei ihrem im März 1996 durchgeführten traditionsreichen deutsch-tschechischen Symposium „Iglau V“ zum Thema „Deutsche und Tschechen. Was weh tut -Was Hoffnung macht“ auf 50 Jahre erfolgreiche Verständigungsarbeit zurückblicken Bundeskanzler Kohl würdigte ihre „langjährige verdienstvolle und wertvolle“ Arbeit für die Entwicklung guter Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen

Bei der Wahrnehmung ihrer Brückenfunktion gehen die Vertriebenen selbst Tabuthemen offensiv an, ohne dabei die bittere Wahrheit auszuklammern. So forschen mittlerweile auch polnische Wissenschaftler an der Ostsee-Akademie, Travemünde, dem europäischen Bildungszentrum der Pommern, fast selbstverständlich Seite an Seite mit deutschen Heimatvertriebenen nach gemeinsamen historischen Wurzeln. Der deutsch-polnische Dokumentationsband „Stettin-Szczecin 19451946. Dokumente. Erinnerungen“ legt hiervon Zeugnis ab

Vielleicht spektakulärer als die Kulturarbeit von Mensch zu Mensch ist eine andere Form der grenzüberschreitenden Kulturarbeit: die Sicherung und Rettung ehemals deutscher Bau-und Kulturdenkmäler in den historischen deutschen Ost-und Siedlungsgebieten. Hier wurde seit 1992 mit Bundes-mitteln u. a. gefördert: die Restaurierung des Gutshauses Külz, das seit 1995 als deutsch-polnische Lehr-und Tagungsstätte dient; Notsicherungsmaßnahmen am Dom zu Königsberg; die Instandsetzung von Schloß Flössingen in Polen; die Restaurierung der einzigen noch vorhandenen Holzkirche Böhmens in Blockbauweise in Christofsgrund/Tschechien. Diese Maßnahmen korrespondieren mit einer Vielzahl privater Initiativen aus dem Kreis der Vertriebenen, ohne die bereits heute eine große Zahl wertvoller Bau-und Kultur-denkmäler im Osten dem Verfall preisgegeben wäre.

Jan Josef Lipski erkannte schon frühzeitig die verständigungspolitische Bedeutung der Kulturdenkmäler für Europa: „Das von den Deutschen geschaffene Kulturgut (Kirchen, Schlösser, Paläste, Rathäuser, berühmte Bürgerhäuser) gehört ebenso wie das von den Polen errichtete zur gemeinsamen europäischen Kultur ... Die gemeinsamen Bemühungen um die Rettung und den Schutz könnten uns näher bringen .. . Die Initiative gegenüber den Deutschen erscheint schon heute als real, würde zur deutsch-polnischen Aussöhnung beitragen und dem Bau eines gemeinsamen europäischen Hauses dienen.“

VII. Ausblick

Der aus Schlesien stammende Kölner Erzbischof Josef Kardinal Meissner hat einmal gesagt: „Wer keine Herkunft hat, der hat auch keine Zukunft.“ Die Vertriebenen können auf eine große Herkunft zurückblicken, nämlich eine 800jährige deutsche Geschichte und Kultur in den historischen Ostprovinzen und den deutschen Siedlungsgebieten Ostmittel-, Ost-und Südosteuropas. Die Vertriebenen sind bereit, als Botschafter der Verständigung und des Ausgleichs die Zukunft gemeinsam mit den östlichen Nachbarn zu gestalten. Die von den deutschen Heimatvertriebenen schon 1950 ausgestreckte Hand zur Versöhnung scheint im Osten Europas vielerorts ergriffen zu werden.

In diesem Sinn ist auch die Aufforderung des polnischen Bürgermeisters bei der Einweihung des ersten deutschsprachigen Gedenksteins östlich der Oder, in der Neumark, auf dem alten deutschen Friedhof der Stadt Berlinchen zu verstehen. Er sagte: „Lassen Sie uns für die gemeinsame Heimat arbeiten.“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu diesen beiden Themenbereichen finden sich ausführlichere Studien in der Dissertation der Verfasserin: Die Vertriebenen. Hemmnisse, Antriebskräfte und Wege ihrer Integration in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1987.

  2. Der Vertriebenen-und der Flüchtlingsbegriff zählen zu den wenig präzis gefaßten Ausdrücken der ersten Nachkriegsjahre. Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, versteht man unter einem Flüchtling eine Person, die aufgrund einer eigenen Entscheidung infolge von Gefahr für Leib und Leben ihren Wohnsitz verläßt, um sich in Sicherheit zu bringen. Dem Vertriebenen ist die Entscheidungsfreiheit genommen; er wird mittels Zwang dazu veranlaßt, seinen Wohnsitz zu verlassen. Nachfolgend wird nicht das Maß der Entscheidungsfreiheit zur Definitionsgrundlage gemacht. Hier wird den einschlägigen Bestimmungen des Bundesvertriebenen-und Flüchtlingsgesetzes (BVFG) gefolgt, denen die Wohnsitzdefinition zugrunde liegt. Gemäß § 1 Abs. 1 BVFG ist „Vertriebener, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat“. Gemäß § 3 Abs. 1 BVFG ist ein Flüchtling „ein deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger, der seinen Wohnsitz in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin hat oder gehabt hat und von dort vor dem 1. Juli 1990 geflüchtet ist“ (BGBl I vom 15. Juni 1993).

  3. Vgl. Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, 8 Bde, hrsg. von Theodor Schieder, München 1984.

  4. Zum Gesamtvorgang vgl. Josef Henke, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat im Osten und Südosten 1944-1947, im Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/85, S, 15-34, hier S. 21 ff. ,

  5. Zum Gesamtvorgang vgl. Klaus-Dietmar Henke, Der Weg nach Potsdam. Die Alliierten und die Vertreibung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt 1985, S. 49-69, hier S. 65ff.

  6. Dieter Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, Köln u. a. 1987, S. 52.

  7. Zit. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Februar 1996, S. 3.

  8. Zit. in: Welt am Sonntag vom 28. Mai 1995, S. 6.

  9. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 19685, S. 509.

  10. Vgl. ebd., S. 500.

  11. Werner Albat, Dörfliche und städtische Lebensformen, in: Eugen Lemberg/Friedrich Edding (Hrsg.), Die Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ost-vertriebenen, Marburg 1950, S. 55-63, hier S. 57.

  12. Vgl: Elisabeth Pfeil, Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende, Hamburg 1948, S. 11; S. 213 ff.

  13. Christoph Kießmann, Die doppelte Staatsgründung, Bonn 1982, S. 243.

  14. Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler, Spätaussiedler. 1945-1995. Fünfzig Jahre gemeinsamer Aufbau, Bonn 1996 (in Vorbereitung), Kapitel 11: „Lastenausgleich“.

  15. Vgl. ebd., Kapitel 7: „Umsiedlung“.

  16. Folgende Bemerkung von Wolfgang Benz ist als unstatthafte Geschichtsklitterung, d. h. als falsch zurückzuweisen: „Die Integrationsleistung der DDR stand den Anstrengungen und dem Erfolg der Bundesrepublik nicht nach“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. April 1996, S. 6). Zum Gesamtkomplex des Themas „Vertriebene in der SBZ/DDR“ vgl. Marion Frantzioch-Immenkeppel, Vertriebene (Umsiedler), in: Rainer Eppelmann/Horst Möller/Günter Nooke/Dorothee Wilms (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus, Paderborn 1996.

  17. Vgl. Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Stuttgart 19675, S. 178 ff.

  18. Zit. in: Der Spiegel, Nr. 6 vom 4. Februar 1985, S. 100.

  19. Eugen Lemberg, Völkerpsychologische und weltgeschichtliche Aspekte, in: ders. /Friedrich Edding (Hrsg.), Die Vertriebenen in Westdeutschland, Bd. 3, Kiel 1959, S. 578-595, hier S. 592.

  20. Richard Löwenthal, Vom kalten Krieg zur Ostpolitik, Stuttgart 1974, S. 9.

  21. Vgl. Deutschland Union . Dienst, Nr. 50 vom 9. 6. 1995, S. 4.

  22. Stenographischer Bericht des Deutschen Bundestages, Plenarprotokoll 13/41 vom 1. 6. 1995, S. 3182-3207, hier S. 3184.

  23. Bundespresseamt, Bulletin Nr. 75 vom 2. 7. 1991, S. 605.

  24. Bundeskanzler Kohl bei der Gedenkstunde des BdV anläßlich des 40. Jahrestages der Verkündung der Charta, in: Presse-und Informationsamt, 5. 8. 1990, S. 1-15, hier S. 6.

  25. Vgl. Anm. 23, S. 3182-3207.

  26. Vgl. ebd., S. 3193.

  27. Bundespresseamt, Bulletin Nr. 72 vom 3. 8. 1994, S. 677.

  28. Der tschechische Ministerpräsident Vaclav Klaus gestand erst unlängst: „Das Thema Vertreibung war mir lange Zeit nicht einmal bekannt. Das erste Mal habe ich 1968 davon erfahren.“ Die Welt vom 6. April 1995, S. 6.

  29. Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom 12. 12. 1995, S. 1.

  30. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 12. 1995, S. 10.

  31. Bundespresseamt, Bulletin Nr. 35 vom 4. Mai 1995, S. 295-302, hier S. 298.

  32. Bundespresseamt, Bulletin Nr. 151 vom 27. Dezember 1989, S. 1269-1270, hier S. 1270.

  33. Bundespresseamt, Bulletin Nr. 36 vom 17. März 1990, S. 277-280, hier S. 278.

  34. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 2. 1996, S. 35.

  35. Bundespresseamt, Bulletin Nr. 11 vom 31. 1. 1991, S. 75.

  36. Vgl. BT-Drs. 11/1107 vom 3. September 1991, S. 2; BT-Drs. 12/2311 vom 19. März 1992 u. v. a. m.

  37. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. April 1996, S. 6.

  38. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. März 1996, S. 5.

  39. Ostsee-Akademie (Hrsg), Stettin-Szczecin 1945-1946, Rostock 1994.

  40. Deutscher Ostdienst vom 20. April 1990, S. 2.

  41. Kulturpolitische Korrespondenz vom 25. September 1994, S. 6.

  42. Kulturpolitische Korrespondenz vom 15. Dezember 1994, S. 5.

Weitere Inhalte

Marion Frantzioch-Immenkeppel, Dr. phil., geb. 1956; Studium der Soziologie, der Politik und Rechtswissenschaften an der Universität zu Bonn; Referentin im Bundesministerium des Innern Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Die Vertriebenen. Hemmnisse, Antriebskräfte und Wege ihrer Integration ir der Bundesrepublik Deutschland. Mit einer kommentierten Bibliographie, Berlin 1987; (Hrsg. zus. mil O. Ratza/G. Reichert) Vierzig Jahre Arbeit für Deutschland. Die deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge, Frankfurt -Berlin 1989.