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Parlamentarismusgründung in den neuen Bundesländern | APuZ 27/1996 | bpb.de

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APuZ 27/1996 Zur Parlamentsreform im Deutschen Bundestag: Mehr Transparenz, Öffentlichkeit und Effektivität Parlamentarismusgründung in den neuen Bundesländern Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages Parlamentarische Kontrolle in Westeuropa. Strukturen, Probleme und Perspektiven

Parlamentarismusgründung in den neuen Bundesländern

Werner J. Patzelt/Roland Schirmer

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit 1990 entstand in Deutschlands östlichen Bundesländern ein neues demokratisches Repräsentativsystem. Neue Landtage wurden errichtet, und frei gewählte Abgeordnete traten auf Landes-, Bundes-und Europaebene ihr Amt an. Wie sich dabei die Rolle des Parlamentariers herausbildete, förderten zwei Forschungsprojekte der Verfasser zutage. 1991/92 sowie 1994 wurden alle ostdeutschen und Berliner Abgeordneten zu ihrem Amts-und Systemverständnis, zu ihrer Amtsführung in Parlament und Wahlkreis sowie zu ihrer gesellschaftlichen Vernetzung befragt. Die zentralen Ergebnisse, die wesentlichen Veränderungen im Lauf der ersten Wahlperiode sowie das Muster der immer noch fortbestehenden Unterschiede zwischen west-und ostdeutschen Abgeordneten werden vorgestellt.

I. Ostdeutsche Parlamentarismus-gründung als Forschungsgegenstand

Nach Jahrzehnten der SED-Diktatur, in denen Institutionen repräsentativer Demokratie unwirksam waren, entstanden 1990 in den neuen Bundesländern wieder Parlamente und freiheitlicher Parlamentarismus. Die Rolle des Abgeordneten als Schlüsselfigur einer parlamentarischen Demokratie begann sich neu herauszubilden, ebenso jenes Netzwerk, das Parlamentarier und Gesellschaft miteinander verbindet.

Wie dies im einzelnen geschah und zu welchen Ergebnissen der Prozeß der ostdeutschen Parlamentarismusgründung bis 1994 führte, zeigen die Ergebnisse nunmehr abgeschlossener Forschungsprojekte der Verfasser. 1991/92, also recht kurz nach dem Beginn parlamentarischer Tätigkeit, wurde eine repräsentative Auswahl von 211 ostdeutschen und Westberliner Landes-und Bundes-parlamentariern in rund 70minütigen Interviews zu ihrem Amts-und Demokratieverständnis, zu ihrer Arbeit als Abgeordnete sowie zu ihrer gesellschaftlichen Vernetzung befragt. Etwa im selben Zeitraum wurde auch eine ergänzende schriftliche Befragung aller rund 920 ostdeutschen und Westberliner Parlamentarier durchgeführt, an der sich 403 Abgeordnete beteiligten Im Frühsommer 1994, also kurz vor dem Ende der ersten Wahlperi-ode in den neuen Bundesländern, wurde diese schriftliche Befragung -diesmal alle gut 800 deutschen Parlamentarier einbeziehend und wesentlich differenzierter -wiederholt, wobei sich 215 ostdeutsche und 641 westdeutsche Abgeordnete beteiligten 2. Im Vergleich der jeweiligen Ergebnisse werden die besonderen Voraussetzungen und Bedingungen ostdeutscher Parlamentarismusgründung ebenso sichtbar wie die Lernprozesse der ostdeutschen Abgeordneten und die auf relativ rasche Angleichung hinwirkende Funktionslogik der in Ost-wie Westdeutschland eingerichteten parlamentarischen Regierungssysteme.

II. Herkunft und Sozialisationserfahrungen der ersten „bundesrepublikanischen“ Abgeordnetengeneration Ostdeutschlands

Die politischen Biographien der ostdeutschen Abgeordneten sind vielgestaltig. Die meisten gingen ihren Lebensweg in mehr oder minder intensiver Verankerung im realsozialistischen System, während kompromißlose Widerstandskämpfer ebenso selten sind wie Spitzen der DDR-Elite. Ein großer Teil der Parlamentarier war Mitglied von Massenorganisationen der DDR; doch zu Mandaten in Volksvertretungen waren 70 Prozent der späteren Abgeordneten vor der Wende nicht gelangt. Das Gros der Parlamentarier von CDU, FDP und PDS gehörte schon zu DDR-Zeiten der Ost-CDU (80 Prozent), der LDPD (70 Prozent) oder der SED (90 Prozent) an; die Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen hingegen waren bis 1989 meist parteipolitisch nicht aktiv und stammten später im wesentlichen aus den Bürgerbewegungen. Keine zehn Prozent der Abgeord-neten aber gehörten vor der Wende noch keinerlei politischer Gruppierung an. Wer 1990 in die Parlamente gewählt wurde, war also bereits zu DDR-Zeiten im Durchschnitt politisch aktiver -meist in systemadäquater Weise -als die Mehrheit der Bevölkerung.

Diese Personen erlebten in der Zeit der Wende eine starke weitere Politisierung, zumal sich nun die Chance bot, bislang verwehrte Spielräume politischen Wirkens zu nutzen. Wer -von frei bekundetem Vertrauen getragen -gerade jetzt politisch aktiv blieb oder sich erstmals politisch betätigte, suchte bald auch nach die bisherige DDR transzendierenden politischen Konzepten und wollte Neues mitgestalten. Ob dabei die in Westdeutschland erprobten politischen Strukturen als akzeptabel, gar als wünschenswert galten und öffentlich angestrebt wurden, oder ob ein noch unbekannter „dritter Weg“ gesucht wurde, siebte dann aufgrund der davon mitbedingten Wahlergebnisse weiter aus. Und wer die politische Arena im Herbst 1990 weder freiwillig verließ noch aufgrund von Umbruch und Wahl aus ihr verdrängt wurde, war meist bereit, gemäß der -im einzelnen durchaus noch zu erlernenden -Funktionslogik des neuen Systems seine politische Arbeit zu tun. Genau dieser Selektions-und Siebungsmechanismus führte ganz wesentlich dazu, daß die Entwicklung der neuen politischen Strukturen überwiegend von auf konstruktiven Institutionenimport setzenden Personen mit schon praktisch erprobter politischer Grundbefähigung geleistet wurde.

Zwar fiel bei den meisten ostdeutschen Abgeordneten die Entscheidung, sich mit allen Konsequenzen auf Politik einzulassen, erst mit der Kandidatur zum Land-oder Bundestag. Doch Aktivitäten an Runden Tischen oder -vor allem -die Kandidatur zur letzten Volkskammer hatten hierzu oft die Weichen gestellt. Außerdem genügte es in der Zeit der Wende nicht selten, bei einer Veranstaltung das Wort zu ergreifen und einen guten Eindruck zu machen, um alsbald für eine Kandidatur in Aussicht genommen zu werden. Weil der bisherige Lebensweg meist in eine völlig andere Richtung gewiesen hatte, führte die Entscheidung für ein politisches Mandat in der Regel zu einer tief-greifenden Umstellung des gesamten privaten und beruflichen Lebens. Nicht jeder hielt dies durch, so daß nicht wenige nach 1994 eine Verlängerung ihres parlamentarischen Mandats gar nicht mehr anstrebten.

Der berufliche Hintergrund der ostdeutschen Abgeordneten entspricht in seinen Grundzügen zwar dem von westdeutschen Parlamentariern. Lehrberufe, Anstellungen im Staatsdienst und in der Wirtschaft sowie Tätigkeiten als Ingenieur oder Techniker treten hervor. Hinter ähnlichen Berufsverteilungen von Ost-und Westparlamentariern stehen allerdings recht unterschiedliche Lebenswelten. Alles in allem schlossen gut gebildete Funktionseliten jene Lücke, die im politischen Leben durch den Abgang der SED-Elite entstanden war. Und da die neu zusammenge-.setzte politische Elite von den „alten“ politischen Rücksichtnahmen befreit, von den neuen aber noch nicht geprägt war, schlug in ihrer praktischen Arbeit zunächst die fachberufliche Sozialisation -zumal als Ingenieur und Techniker, als Wissenschaftler und Mediziner -durch und schuf kaum wiederholbare Voraussetzungen für eine sehr stark auf Sachpolitik ausgerichtete parlamentarische Arbeit. Ohnehin prägte der berufliche Hintergrund die politische Arbeit der ostdeutschen Parlamentarier zu Beginn ihrer Tätigkeit viel mehr, als dies bei den West-Abgeordneten der Fall ist, da nicht eine bereits längere politische Erfahrung solche Verfahrens-und Verhaltensweisen abpufferte, die vor allem aus der Berufswirklichkeit erwachsen. Außerdem verfügte die Mehrzahl der ostdeutschen Abgeordneten beim Antritt ihres Mandats über keine oder allenfalls spärliche Kenntnisse von der Rolle eines Politikers oder Parlamentariers, die dem neuen System angemessen wäre Alle waren sich bewußt, erheblich dazulernen zu müssen, um -gerade angesichts so großer Herausforderungen -ihren Aufgaben gerecht zu werden. Offensichtlich waren die Defizite auf juristischem Gebiet undbeim Wissen um die praktische Funktionsweise der neuen Institutionen. Dabei wurde manches eher widerwillig gelernt, etwa sich auf bestimmte Themengebiete konzentrieren und auf innerfraktionelle Arbeitsteilung einlassen zu müssen. Learning by doing, auch für Neulinge in westdeutschen Parlamenten die einzig erfolgreiche Verhaltensweise, prägte insgesamt die parlamentarische Sozialisation. Schneller erfolgte sie im Bundestag, während es in den Landtagen weniger Hinwirken auf Anpassung und nicht so viele erfahrene Abgeordnete als Vorbilder gab.

Freilich prägten dort die gewaltigen Leistungsanforderungen. Darum sagten Abgeordnete aller Parlamente und Fraktionen, in den ersten eineinhalb Jahren sei es zu erheblichen Korrekturen ihrer Amtsführung gekommen. Nun bemühe man sich stärker, bei der Arbeit Schwerpunkte zu setzen; man wolle mehr konkrete und weniger programmatische Arbeit leisten; man versuche, sein Verständnis der parlamentarischen Institutionen ihrer tatsächlich erlebten Wirkungsweise anzupassen und setze etwa die Bedeutung der Ausschüsse höher, die des Plenums niedriger an; man gewichte stärker die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung; und man lerne, persönliche Netzwerke zu Rollenpartnern bewußter aufzubauen und zu pflegen. Hierzu gehörte vor allem die Übernahme innerparteilicher Führungsaufgaben und eine Verstärkung der Arbeit in der eigenen Partei. Insgesamt bestimmte die Praxis selbst die Kriterien für Erfolg oder Mißerfolg: Wer erfolgreich arbeiten wollte, mußte lernwillig sein und sich an die gegebenen Notwendigkeiten und Bedingungen anpassen. Im übrigen wurde die weitaus größte Zahl der Abgeordneten recht schnell zu Berufspolitikern, was einen völligen Bruch mit an der alten Volkskammer orientierten Rollenerwartungen darstellte. Er vollzog sich nicht ohne Widerstreben unter dem Druck einer Arbeitslast, die das parlamentarische Amt ganz einfach zur Vollzeitaufgabe machte.

III. Grundzüge des Amtsverständnisses

Das Amtsverständnis der ostdeutschen Abgeordneten ist heute ebenso wie 1991/92 vor allem geprägt vom Wunsch, die parlamentarischen Pflichten gut zu erfüllen (also die Regierung zu kontrollieren und auf den Gesetzgebungsprozeß Einfluß zu nehmen), sowie von einer großen Bereitschaft, auf Wünsche der Bürger einzugehen Diese Bereitschaft bekunden die ostdeutschen Abgeordneten auch viel stärker als ihre Westkollegen, in viel geringerem Ausmaß hingegen ihre Aufgabe, für Positionen auch offensiv einzutreten und politische Führung auszuüben. Ferner hat für ostdeutsche Parlamentarier die gesellschaftliche Vernetzung, die Ausübung einer Art „Bindegliedfunktion“, eine klar geringere Bedeutung als für Westabgeordnete. Insgesamt überwiegen hinsichtlich des Amtsverständnisses die Ähnlichkeiten zwischen Ost-und Westparlamentariern, was angesichts eines so unterschiedlichen sozialisatorischen Hintergrunds wohl darauf zurückgehen muß, daß das System selbst, in dem alle deutschen Abgeordneten agieren, angleichend prägt.

Was die auffälligen Unterschiede betrifft, so führte die besonders große Belastung ostdeutscher Abgeordneter mit parlamentarischen Aufgaben, die auf den Aufbau neuer politischer und administrativer Strukturen zurückgeht, zu einer gewissen, auch normativen Vernachlässigung der Bindegliedfunktion. Überdies konnten sich die ostdeutschen Abgeordneten zu Beginn ihrer ersten Amtszeit ganz einfach nicht an einer gesellschaftlichen Infrastruktur von Vereinen und Verbänden orientieren, wie sie in den alten Bundesländern zu intensiver Kontaktpflege in Wahlkreis und Gesellschaft einlädt oder gar nötigt. Und außerdem hatten viele ostdeutsche Abgeordnete die Bedeutung scheinbar unpolitischer Netzwerkpflege anfangs einfach nicht begriffen und schwerlich erkannt, daß es eine ihrer Aufgaben wäre, die so große Lücke zwischen den neuen politischen Institutionen und der Gesellschaft zu überbrücken. Allerdings entdeckten sie schon während des Interview-zeitraums von 1991/92 immer besser die Bedeutung der Bindegliedfunktion und der sie konkretisierenden Wahlkreisarbeit.

Zur geringeren Betonung der Führungsaufgabe werden vor allem die Erfahrungen mit dem autoritären SED-Regime bewogen haben, so daß die ostdeutschen Abgeordneten nun hierzu komplementär die responsive Seite ihres Amtsverständnisses hervorhoben. Hingegen setzte sich das Bewußtsein, nun einer politischen Funktionselite anzugehören, gemäß dieser neuen Rolle handeln und dabei eben Führungsaufgaben wahrnehmen zu müssen, nur langsam und oft gegen widerstrebendes Empfinden durch. Denn erst allmählich wurde den Abgeordneten bewußt, jetzt in einer grundsätzlich anderen politischen Rolle agieren zu müssen als in den Jahren der DDR oder während des Umbruchs von 1989/90.

IV. Grundzüge der Amtsausübung und gesellschaftlichen Vernetzung ostdeutscher Parlamentarier

1. Zur Gesamtstruktur der Amtsausübung Insgesamt prägte -und prägt -die Parlamentsarbeit das Profil ostdeutscher Abgeordnetentätigkeit. 60 Prozent der ostdeutschen Abgeordneten legten ihren tatsächlichen Arbeitsschwerpunkt auf die Parlamentsarbeit, nur 15 Prozent auf die Wahl-kreisarbeit Dies ist ein größerer Anteil für die Parlamentsarbeit, als er eigentlich gewünscht wird, denn daß der Schwerpunkt dort liegen solle, gaben nur 33 Prozent der Befragten an Im Vergleich zu Westdeutschland waren bzw. sind gerade die ostdeutschen Landtagsabgeordneten viel stärker Parlamentarier als „Wahlkreisarbeiter“. Auch verwandten nur vier Prozent der ostdeutschen MdL mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit auf die Wahlkreisarbeit, im Vergleich zu 17 Prozent bei den MdB Die Erklärung liegt darin, daß die ostdeutschen Landesparlamentarier einfach noch nicht soviel Zeit für eine ausgedehnte Wahlkreisarbeit hatten, mußten sie doch ihre neu errichteten Länder erst einmal mit den nötigen Gesetzen ausstatten, wofür die westdeutschen Landtagskollegen mehr als vier Jahrzehnte Zeit hatten. Außerdem gehörten die meisten ostdeutschen Bundestagsabgeordneten den großen Fraktionen an, in denen sie ihre gesetzgeberischen Aufgaben mit erfahrenen westdeutschen Kollegen teilen konnten; dies gab ihnen vergleichsweise mehr Spielraum für die Wahlkreisarbeit. Nicht zuletzt schätzten viele ostdeutsche Landtagsabgeordnete die Bedeutung der Wahlkreisarbeit zunächst falsch ein: Sie erkannten einfach nicht die Tragweite der -ein erhebliches Pensum an Wahlkreispräsenz bedingenden -Fundamentalregel, wonach in einer Demokratie nur der ein politisches Amt bekleiden kann, der auch gewählt wird. Solche Vernachlässigung der Wahlkreisarbeit führte zu einem gewissen „Abheben“ der im speziell parlamentarischen Gewerbe aufgehenden Abgeordneten von CDU und SPD. Davon wiederum konnte die PDS profitieren, die von folgenreicher -und daher zeitaufwendiger -parlamentarischer Arbeit freigestellt war und sich darum praktisch als äußerst bürgernah erweisen konnte. Die viele Westdeutsche überraschenden Wahlergebnisse der PDS sind Folge auch dieses Zusammenhangs.

Blickt man auf die Ergebnisse der durchgeführten Zeitbudgetanalysen, so fällt -ebenso wie beim Amtsverständnis -zunächst eine große Ähnlichkeit von ost-und westdeutschen Abgeordneten auf. Das gilt aber vor allem für das Zeitbudget der Parlamentsarbeit, schon viel weniger aber für jenes der Wahlkreisarbeit. Gleichförmiges wird auch hier darauf zurückgehen, daß die grundlegenden Merkmale der Arbeit eines Abgeordneten -und somit auch seines Zeitbudgets -von den systembedingten Anforderungen und Voraussetzungen geprägt werden, unter denen er agiert. Diese erzeugt aber in Ost-wie Westdeutschland ein von einflußreichen Parteien getragenes parlamentarisches Regierungssystem, das allerdings in den neuen Bundesländern noch nicht im westdeutschen Ausmaß gesellschaftlich verankert ist.

Vor dem Hintergrund großer und plausibler Ähnlichkeit sind wiederum die dennoch bestehenden Unterschiede aufschlußreich. Sie gehen dahin, daß auch vom investierten Zeitaufwand her die Ostparlamentarier weniger enge Verbindungen zum Bereich der Kommunalpolitik, zu den Grundorganisationen ihrer Parteien sowie zu Journalisten unterhalten. Ursächlich hierfür sind vor allem Besonderheiten der ostdeutschen Abgeordnetenrekrutierung sowie der geringere strukturelle Entwicklungsstand des ostdeutschen Parteiensystems. 2. Besonderheiten der Wahlkreisarbeit und gesellschaftlichen Vernetzung Während sich im Bereich der Parlamentsarbeit der ostdeutsche Parlamentarismus rasch dem westdeutschen anglich, sind bis heute große Unterschiede bei der Wahlkreisarbeit festzustellen. Das liegt nicht nur an der besonderen Beanspruchung ostdeutscher MdL durch die Parlamentsarbeit. Sondern zunächst war von ihnen überhaupt erst einmal Verständnis für die Wichtigkeit der Wahlkreisarbeit zu entwickeln. Sodann brachten die in der DDR sozialisierten Abgeordneten nur wenig Kenntnis darüber mit, wie eine politisch nutzbare Tätigkeit im Wahlkreis konzeptionell, organisatorisch und praktisch durchzuführen sei, denn natürlich fehlte ihnen jene Erfahrung, die in den Alt-bundesländern im Lauf einer über viele Jahre ins Parlament führenden Karriere erworben wird Doch in erster Linie zeigt sich hier, daß der Entwicklungsstand des aus dem Westen importierten politischen Institutionensystems dem Entwicklungsstand der ostdeutschen Gesellschaft vorausgeeilt war. Viel stärker als im Bereich der Parlaments-oder sogar Parteiarbeit wirkte sich nämlich bei der Wahlkreisarbeit aus, daß das neue politische System vom Zentrum zur Peripherie und gewissermaßen von oben nach unten wuchs. Ein wichtiger Gegenpart der Wahlkreisarbeit vonAbgeordneten -der lebendige vorpolitische Raum mit seinen aktiven Verbänden, Vereinen und sonstigen Organisationen bzw. Institutionen -war nämlich 1991/92 im Umbruch, erst im Aufbau oder noch überhaupt nicht vorhanden. Seine zuvor in Betrieben, im FDGB oder in sonstigen Massenorganisationen verankerten Strukturen -in der DDR freilich alles andere als vorpolitisch -waren weitgehend zusammengebrochen, während Neues aufgrund der vorrangigen sozialen, wirtschaftlichen und biographischen Sorgen der Bevölkerung nur schwer aufzubauen war. Ein vorpolitischer Raum westlicher Prägung, die Organisationenvielfalt einer civil society, kann ja nur aus dem aktiven Handeln der Bürger entstehen. Zu ihm war die ostdeutsche Gesellschaft aufgrund ihrer Verunsicherung aber nur sehr eingeschränkt fähig. So fehlte auch seitens der Bürger jene Sogwirkung auf die Abgeordneten, welche diesen in einem etablierten System engen Dauerkontakt mit dem vor-politischen Raum ermöglicht.

Im übrigen hatten die ostdeutschen Abgeordneten am Beginn ihrer Amtszeit durchaus Probleme, Mitgliedschaft gerade in unpolitischen Organisationen als ein effizientes Mittel zur Erfüllung einer „Bindegliedfunktion“ und somit auch genuin politischer Arbeit zu begreifen. Die meisten Positionen, welche die Ostparlamentarier über ihre Partei-und Parlamentsämter hinaus innehatten, fanden sich darum in eher politiknahen Organisationen. Immerhin fingen wenigstens einige Mandatsträger bald schon an, in ihren Wahlkreisen die Gründung von Vereinen im Bereich von Sport und Kultur anzuregen bzw. zu fördern und dergestalt dazu beizutragen, weitere Kommunikationskanäle und Kontaktmöglichkeiten zwischen Parlament und Bevölkerung zu schaffen.

Doch zweifellos haben zumal die Parlamentarier von Ostdeutschlands CDU und SPD in der ersten Wahlperiode die Arbeit an der Basis des politischen Systems, in ihren Wahlkreisen bzw. Betreuungsgebieten, allzu stark vernachlässigt. Darum konnten sie den Kampf um die „Lufthoheit über den Stammtischen“, um die „diskursive Hegemonie“ im politischen Meinungsstreit nicht im ausreichenden Umfang suchen. Sie gaben sich dadurch eine um so fatalere Blöße, als angesichts der Härten und Schwierigkeiten des Transformationsprozesses ein offensives, die Bürger unmittelbar in den Wahlkreisen erreichendes Informationsverhalten derer nötig gewesen wäre, die als Regierungsparteien für diese Härten -allerdings nicht für deren vorangehende Ursachen -verantwortlich waren. Zumal die PDS, organisationsstark und mit nur geringer legislativer oder administrativer Verantwortung belastet, konnte in solche Kommunikationsnischen eindringen und profitiert davon heute in Gestalt eines großen und anscheinend stabilen Wählerpotentials, das 1990 kaum einer so erwartet hatte. 3. Grundzüge der Parteiarbeit, des Umgangs mit Interessengruppen und der Öffentlichkeitsarbeit a) Parteiarbeit In parlamentarischen Regierungssystemen mit (personalisiertem) Verhältniswahlrecht werden, aufgrund der Funktionsweise des Systems, die Parteien zu überaus wichtigen politischen Akteuren. Das gilt auch für die neuen Bundesländer. Allerdings waren die Parteien 1991/92 dort in keinem guten Zustand. In Umbruchs-oder Neuaufbauprozessen begriffen, waren sie -die PDS ausgenommen -nach Mitgliederzahl und organisatorischer Schlagkraft recht schwach. Zumal die neuen Parteien, doch auch die FDP und großenteils die CDU, waren im Kern „Parteien von Mandatsträgern“ und hatten nur eine schmale Basis zwar „mandatsfreier“, doch aktiver Mitglieder. Ferner war die Identifikation der ostdeutschen Bürger mit Parteien und die Verläßlichkeit ihres Wahlverhaltens sehr gering. Hinzu kam, daß die ostdeutschen Abgeordneten, zumindest am Beginn ihrer parlamentarischen Tätigkeit, ihre Verantwortung und Aufgaben als lokale bzw. regionale Parteiführer nicht deutlich erkannten. Darin drückte sich vor allem eine Ablehnung der auch in der DDR verbreiteten Praxis aus, Parteiämter und Mandat zu koppeln. Vorstellungen von grundlegenden Systemreformen aus dem Ideenkreis der Perestrojka boten für solche Ablehnung mancherlei begründende Inspiration. Sie bewirkten anfangs eine Art „solidarischer Distanziertheit“ zwischen den ostdeutschen Abgeordneten und ihren Parteien, wobei die -faktisch nicht abzuweisenden -Parteiführungsaufgaben eines Parlamentariers bestenfalls als notwendiges Übel aufgefaßt und ausgeübt wurden Doch je mehr die ostdeutschen Parteien neue Gestalt und Identität gewannen und je selbstverständlicher den Parlamentariern ihre neue Rolle wurde, um so mehr normalisierte -also intensivierte -sich das Verhältnis der ostdeutschen Parlamentarier zu ihren Parteien. Auch gegen anderslaufende Wünsche wurde die Parteiarbeit so zu einem wichtigen Bestandteil der Amtsführung und Wahlkreisarbeit. Vor allem waren die Abgeordneten immer mehr bereit, trotz anfänglicherVorbehalte in ihren Parteien Führungsaufgaben zu übernehmen Während 1991/92 noch 23 Prozent der ostdeutschen Parlamentarier keinerlei Partei-funktionen ausübten, waren es 1994 nur noch Prozent (Westabgeordnete: 7 Prozent). Wie in Westdeutschland wurde dabei der Kreis-bzw. Unterbezirksvorsitz zur zentralen Parteifunktion von Abgeordneten.

Auch für Ostdeutschland galt darum -trotz der ganz außergewöhnlichen Rekrutierungsbedingungen seiner Abgeordneten -von Anfang an, daß Partei und Parlamentarier einander entgegensetzen zu wollen am tatsächlich bestehenden und auch gegen Vorbehalte sich einstellenden Beziehungsgeflecht vorbeigeht. Allerdings bestand noch kein abgestimmter Wechselwirkungsprozeß zwischen dem politischen Selbstverständnis der Abgeordneten, der -mitunter allzu deutlich „westakzentuierten“ -Programmatik ihrer Parteien, den Ansichten und Wünschen der (aktiven) Parteimitglieder und der Sozialisation bzw. Interessenlage von Wählerschaft oder Klientel der jeweiligen Partei. Zusammen mit der in vierzig DDR-Jahren gewachsenen Aversion gegen Parteien im allgemeinen und gegen parteipolitisches Engagement im besonderen führte dies zu einer anfangs meist sehr geringen emotionalen Identifikation mit der eigenen Partei. b) Der Umgang mit Interessengruppen und Verbänden Am Beginn der ersten Wahlperiode hatte sich das bundesdeutsche Verbandswesen erst in geringem Umfang auf die neuen Bundesländer ausgedehnt. Organisationen aus der DDR waren untergegangen oder mit ihrer Neukonstituierung beschäftigt, neue Verbände im Aufbau begriffen oder noch gar nicht präsent. Die Abgeordneten begannen darum ihre Tätigkeit, ohne wie in den Altbundesländern funktionierende und leistungsstarke Verbände als Ansprechpartner zu haben. Dennoch waren die -meist von ihren „Mutterorganisationen“ in den Altbundesländern geprägten -Verbände Ostdeutschlands die ersten halbwegs funktionsfähigen Institutionen gesellschaftlicher Interessenvermittlung und die ersten ansatzweise stabilen intermediären Strukturen in der ihres angestammten politischen Überbaus beraubten ostdeutschen Gesellschaft. Eben darum wurden sie für die Abgeordneten rasch zu ganz unverzichtbaren Rollenpartnern, zumal sie, von den Altbundesländern unterstützt, ziemlich schnell den Parlamentariern mit Informationen und Anregungen behilflich sein konnten 13.

Solche Umstände prägten die Vorstellungen der ostdeutschen Parlamentarier nachhaltig, und zwar auf ein viel positiveres Verhältnis zu den Verbänden hin, als es unter Westabgeordneten verbreitet ist. Dies gilt um so mehr, als die Erfahrungen der ostdeutschen Abgeordneten mit Interessengruppen von praktischen Konflikten mit ihnen noch ziemlich unbelastet waren. Vielmehr erlebte man die sich formenden Interessengruppen vor allem als wertvolle, zur Regierung alternative und oft zunächst einzige nichtgouvernementale Informationsquellen über fachpolitische Themen. In dieser Funktion waren sie um so nützlicher, als es sich ohne lange einschlägige Vorbildung in komplexen Regelungsmaterien zurechtzufinden galt.

Doch natürlich kamen von Anfang an auch die typischen und nicht ganz unbegründeten Vorbehalte gegenüber Interessengruppen zum Vorschein. Immer wieder wurde -besonders von Abgeordneten der Mehrheitsfraktionen -betont, Verbände würden zu hemmenden und störenden Rollenpartnern, wenn die Interessenvertretung für ihre Klientel in aggressiven und kompromißlosen Egoismus umschlüge. Und obschon in den neuen Ländern die Verbände damals nur begrenzt in Aktion traten, war unter den Abgeordneten die Sorge vor entstehendem „Lobbyismus“ verbreitet, der als Versuch unzulässiger Einflußnahme auf die Politik überwiegend abgelehnt wurde. In dem Maße, in dem die Parlamentarier praktische Erfahrungen im Umgang mit Verbänden sammelten, erwiesen sich diese außerdem als widersprechende Rollenpartner, was hinsichtlich der Haltung zu ihnen kritisch-distanzierte Züge förderte. Dies war darum auch die Haupttendenz in der Entwicklung des beiderseitigen Verhältnisses. Sie verstärkend kam hinzu, daß im Lauf der ersten Wahlperiode die sozialen und politischen Konflikte in der Gesellschaft als Folge des komplizierten Transformationsprozesses zunahmen, während zugleich die Verbände auf der Grundlage ihrer organisatorischen Konsolidierung und wachsenden Handlungsfähigkeit immer aktiver als eigenständige Akteure in solchen Konflikten auftreten konnten. Von wichtigen Informationsquellen wurden sie dergestalt auch zu parlamentarisches Kalkül durchaus störenden Impulsgebern und Kon-kurrenten im politischen Meinungs-und Willensbildungsprozeß. c) Öffentlichkeitsarbeit Neu ins Parlament einziehende Abgeordnete müssen den Umgang mit Journalisten, den Gebrauch von Presseerklärungen und die Praktiken der Öffentlichkeitsarbeit meist erst erlernen. Ostdeutsche Parlamentarier hatten außerdem, durchaus im Unterschied zu den meisten westlichen Abgeordneten, die große Bedeutung erst einmal zu entdecken, welche die Medienarbeit für sie ganz persönlich haben konnte. Nicht zuletzt mußten sie überhaupt die Bereitschaft entwickeln, sich auf deren Anforderungen einzulassen. Ihnen dann gerecht zu werden war ein wichtiger Teil des parlamentarischen Sozialisations-, Professionalisierungs-und Selektionsprozesses.

Er war 1991/92 noch nicht allzuweit vorangekommen. Unter den ostdeutschen Parlamentariern besaß im Amtsverständnis und im Gesamtspektrum ihrer Tätigkeiten die Öffentlichkeitsarbeit nämlich einen recht geringen Stellenwert. Nicht wenige Parlamentarier begannen zwar schon jene persönlichen Vernetzungen mit Journalisten, Zeitungen und Medieninstitutionen zu entwickeln, die für professionell arbeitende westdeutsche Abgeordnete typisch sind. Allerdings war solche Netzwerkpflege noch nicht die Regel. Mehr und mehr wuchs aber wenigstens die Einsicht, daß ein Politiker für die eigenen Vorstellungen aktiv werben und politische Probleme mediengerecht anbieten muß. Doch bis heute folgt dem die ostdeutsche Praxis nur unzulänglich.

Die Ursachen für solche Unterentwicklung der Öffentlichkeitsarbeit sind leicht zu erkennen. Die ostdeutschen Abgeordneten waren erst einmal mit der Einarbeitung in ihre neuen parlamentarischen Aufgaben und mit der Bewältigung ihrer vielfältigen Herausforderungen beschäftigt. Hinzu kamen grundsätzliche Vorbehalte gegen „bloße Selbstdarstellung“ sowie eine gewisse Scheu vor der öffentlichen Werbung für stets doch umstrittene Partei-positionen. Darum waren Parlamentarier mit konzeptionell durchdachter Öffentlichkeitsstrategie klar in der Minderheit. Die meisten überließen es mehr oder weniger dem Zufall, wie ihre politischen Vorstellungen, Positionen und Leistungen den Bürgern und der Wahlkreisöffentlichkeit vermittelt würden, und ein nicht geringer Teil war sogar weitgehend passiv.Zentrale 4. Ost-West-Unterschiede Im Grunde sieht das Muster von Ost-West-Unterschieden 1994 noch genauso aus wie 1991/92. Die Abgeordneten der neuen Bundesländer sind weniger bereit, sich der Führungsaufgabe eines Politikers zu stellen sondern betonen stärker ihre Responsivität hinsichtlich von Bevölkerungswünschen. Ihre Bindegliedfunktion ist normativ wie praktisch weniger entwickelt. Noch liegt der Arbeitsschwerpunkt auf der Parlamentsarbeit, in deren Windschatten sich die Wahlkreisarbeit entfaltet. Und trotz einer deutlichen Verdichtung des „Wurzelwerks der Parlamente“ seit 1991/92 sind dessen Strukturen in den neuen Bundesländern noch viel lichter als in den alten. Ostdeutschlands Abgeordnete üben immer noch weniger gesellschaftliche Funktionen und kommunale Mandate aus; Parteien an ihrer Basis, Verbände und vor-politischer Raum sind in den neuen Bundesländern noch schlechter entwickelt und hinsichtlich der Wahlkreiskommunikation für die Abgeordneten weniger leistungsfähig und für dies alles nehmen sich Ostparlamentarier auch weniger Zeit als ihre Westkollegen. Bei der Parlamentsarbeit wirkt bis heute die Überschätzung des Plenums nach, und der Deutungshorizont parlamentarischen Geschehens kennzeichnet sich immer noch durch ein geringeres Verständnis für die Konkurrenz zwischen Regierungslager und Opposition bzw. für das Erfordernis von Fraktionssolidarität. Ansonsten ist das größte Defizit des ostdeutschen Parlamentarismus bis heute die unzulängliche Öffentlichkeitsarbeit seiner Vertreter. Das mag sich bald als seine Achillesferse herausstellen. Und gewinnen Führungsaufgabe und Bindegliedfunktion nicht bald größeres Gewicht, werden auch hieraus Probleme erwachsen.

Vor dem Hintergrund einer raschen grundsätzlichen Angleichung des ostdeutschen an den westdeutschen Parlamentarismus sind zentrale Unterschiede zwischen Ost-und Westabgeordneten also bestehengeblieben. Sie zeugen davon, daß Wandlungsprozesse sich in verschiedenen Rhythmen und Tempi vollziehen: Mentales und Strukturelles ändert sich viel langsamer, als sich organisatorische Verfahrens-und rationale Verhaltensweisen umformen. Die so anderen Sozialisations-und Rekrutierungsbedingungen der ostdeutschen Ab-geordneten sind aber nun einmal -genau wie die ganz besonderen Rahmenbedingungen des ostdeutschen Parlamentarismus -Sachverhalte, die sich gar nicht oder nur langfristig ändern lassen. Politisches Institutionendesign kann sie nur mittelbar beeinflussen. Doch immerhin gelingt dies, wenn auch nicht mit raschem Erfolg. Darum gibt es Ost-West-Unterschiede vor allem dort, wo Ko-Prozesse der Systemevolution nötig sind: bei der gesellschaftlichen Verankerung des neuen Systems und bei der mentalen Prägung der Parlamentarier. Ähnlichkeit entstand hingegen, wo die Funktionslogik parlamentarischer Strukturen wirken konnte, ohne der Stützung durch andere gesellschaftliche Institutionen zu bedürfen. Dies war vor allem im engeren Bereich der Parlaments-arbeit der Fall. Dabei entwickelte sich keine „neue Art“ von Parlamentarismus, sondern nur eine von veränderlichen Rahmenbedingungen verursachte Modifikation des ansonsten gleichen Modells.

Auch bildete sich kein „neuer Abgeordnetentyp“ heraus. Vielmehr führten die von den freien Wahlen des Jahres 1990 ins Werk gesetzten Selektionsmechanismen vor allem solche Personen an Schlüsselstellen, die gemäß der rasch erkannten Funktionsweise des neuen Systems agieren und dessen Erfolg ebenso wie den eigenen in ihm wollten. Trotz ganz andersartiger Sozialisation erwies sich solchermaßen die neue Funktionselite als die am raschesten in den neuen Handlungszusammenhängen leistungsfähige Gruppe politischer Akteure. Vor allem ihr Wirken zeitigte dann weitere, beschleunigende Veränderungen. Nicht „hinter dem Rücken der Akteure“ wirkte also die Funktionslogik des neuen Systems, sondern mittels seiner Protagonisten. Mit Abstrichen und Modifikationen, doch in allen Grundzügen entstand darum auch in Ostdeutschland die aus Westdeutschland bekannte Politikerrolle. Sie entstand aber nicht einfach als Kopie, sondern als originäres Ergebnis des Wirkens verpflanzter Institutionen.

V. Parlamentarismusgründung in den neuen Bundesländern: eine vertane Chance?

In keiner Weise ist die so rasche Angleichung ostdeutscher politischer Strukturen als ein „Versäumnis“, als die bedauerliche Folge „ungenutzter Chancen“ anzusehen. Ganz im Gegenteil bewirkte gerade der solche Angleichungsprozesse nach sich ziehende Institutionenimport die rasche Wiederherstellung politischer Stabilität in der ehemaligen DDR, die ihrerseits zur Grundlage für die im osteuropäischen Vergleich so beneidenswerte postsozialistische Entwicklung der neuen Bundesländer wurde. Gerade der systemvergleichende Blick auf die postsozialistischen Staaten zeigt, daß man dort am besten fuhr, wo -wie in Ungarn -bewährte Strukturelemente importiert wurden, während es nur Nachteile brachte, auf -in verfassungspolitische Machtkämpfe mündende -Verfassungsexperimente zu bauen (wie in Rußland) oder eine rasche Verfassungsreform in einem Zuge durch unsystematisches Stückwerk zu ersetzen wie in Polen.

In vergleichender Perspektive bewies außerdem bei der postsozialistischen Systemtransformation nicht einfach der Strukturtyp parlamentarischer Demokratie im allgemeinen, sondern vielmehr dessen besondere Ausprägung im Typ des parlamentarischen Regierungssystems gewaltige Vitalität und prägende Potenz. Auf diesen -in Westdeutschland ja auch historisch bewährten -Typ des parlamentarischen Regierungssystems mit starken Parteien zu setzen war darum aus durchaus nicht erstaunlichen Gründen ein Erfolgsrezept bei der Demokratiegründung in den neuen Bundesländern. Versuche, ausgerechnet im Zug der Wiedervereinigung dem etablierten parlamentarischen Regierungssystem seine Überzeugungskraft abzusprechen, waren darum schon im Ansatz kontraproduktiv und gewannen glücklicherweise keine Resonanz, die Veränderungszwänge nach sich zog.

Doch motiviert von ostdeutschen Besonderheiten wird seit den letzten Wahlen immer wieder versucht, nachdrücklich gegen dessen Funktionslogik zu agieren. Solchen Versuchen liegt nicht zuletzt die bislang wenig bekannte, doch äußerst folgenreiche Tatsache zugrunde, daß die Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern noch weniger verstanden wird als in den alten, so daß gerade ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Systems ihm zum Vorwurf gemacht wird Zentraler Ausdruck solcher systeminadäquater Entwicklungstendenzen ist die derzeit aus leicht durchschaubaren politischen Kalkülen geförderte Popularität des Wunsches, an die Stelle von mit stabilen Mehrheiten und darum klarer politischer Verantwortung ausgestatteten Regierungen Minderheitskabinette zu setzen, wodurch Oppositionsparteien Mitregierungsbefugnisse eingeräumt werden, ohne daß „tolerierende Fraktionen“ auch die Last der Verantwortung teilen müßten. Dies wird mitunter gar als „Rückkehr zum wahren Parlamentarismus“ und als „Bereicherung“ des „eingefahrenen westdeutschen Parlamentarismus“ ausgegeben. Im schlimmsten Fall sehen dies die Befürworter solcher Entwicklungen auch aufrichtig so. Leider wäre das nicht das erste Beispiel dafür, daß funktionslogische Blindheit zur politischen Torheit gerät.

Das Experiment ostdeutscher Parlamentarismus-gründung ist also noch nicht abgeschlossen. Sein erfolgreicher Ausgang ist zwar wahrscheinlich, doch keine Selbstverständlichkeit. Ostdeutschen Politikern ist deshalb schonender Umgang mit den -fürs erste konsolidierten -Institutionen parlamentarischer Demokratie anzuraten. Westdeutschen Politikbeobachtern hingegen muß man größeren Respekt vor den in Ostdeutschland tatsächlich vollbrachten Leistungen der Demokratiegründung empfehlen, als man ihn gemeinhin erlebt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. An dieser Studie arbeiteten neben den Verfassern Dr. Andreas Eberwien, Prof. Dr. Berndt Musiolek, Mag. Gerhard Pilstl und Mag. Barbara Wasner mit. Zentrale Ergebnisse finden sich in den folgenden Publikationen: Werner J. Patzelt, Legislators of new parliaments: The case of East Germany, in: Lawrence D. Longley (Hrsg.), Working Papers on Comparative Legislative Studies, Appleton 1994, S. 1533; leicht verändert auch in: Attila Agh (Hrsg.), The Emergence of East Central European Parliaments: The First Steps, Budapest 1994, S. 270-288; ders., Abgeordnete und ihr Beruf. Interviews, Umfragen, Analysen. Mit einem Vorwort von Rita Süssmuth. Berlin 1995; ders., Die gesellschaftliche Vernetzung ostdeutscher Parlamentarier, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung, 20 (1995) 4, S. 87122; ders., Members of Parliament and Interest Groups. Findings from East Germany, in: Attila Agh (Hrsg.), Parliaments and Organized Interests: The Second Steps, Budapest 1996. S. 414-429; ders.. (unter Mitarbeit von Roland Schirmer), Repräsentanten und Repräsentation in den neuen Bundesländern. Forschungsbericht, Dresden 1996.

  2. An dieser Studie arbeiteten neben den Verfassern Dipl. -Kauffrau Ulrike Dirscherl und Brigitte Heller mit. Zentrale Ergebnisse finden sich in Werner J. Patzelt. Deutschlands Abgeordnete im Profil. Die Volksvertreter sind besser als ihr Ruf, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (1996) 2.

  3. Im folgenden kann nur ein kleiner Teil der gewonnenen Befunde vorgestellt werden; ausführlich sind sie in den o. a. Publikationen wiedergegeben sowie in W. J. Patzelt (unter Mitarbeit von R. Schirmer) (Anm. 1), S. 77-103.

  4. Auch Erfahrungen aus der Tätigkeit der letzten Volkskammer waren für das Agieren unter parlamentarischen „Normalbedingungen“ nur eingeschränkt verwertbar. Daneben nannten die Abgeordneten -neben persönlichen Wertvorstellungen, gesundem Menschenverstand und persönlicher Lebenserfahrung -als wichtige Quellen ihres sich bald ausprägenden Rollenverständnisses vor allem die Arbeit im kirchlichen Umfeld vor 1989, die Hilfe der Westparteien und den Kontakt mit Abgeordneten aus den Altbundesländern sowie Informationen aus den westdeutschen Medien.

  5. Als „Rollenpartner“ werden jene Institutionen, Organisationen und Personen bezeichnet, mit denen ein Abgeordneter bei seiner Amtsausübung Kontakt pflegen muß.

  6. „Responsivität" ist der mittlerweile modisch gewordene Begriff für eine solche prozeßhafte Umsetzung des Demokratieprinzips zwischen den Wahlen.

  7. Die auf 100 Prozent fehlenden Angaben entfallen auf die für ein ausgewogenes Verhältnis stehende Mittelkategorie. Für 1994 lauten die Zahlen 59 Prozent vs. 11 Prozent.

  8. Hinsichtlich der Wahlkreisarbeit gibt es einen solchen Unterschied zwischen Soll und Ist nicht; der Anteil derer, die den Arbeitsschwerpunkt im Wahlkreis haben wollten, lag bei 14 Prozent. Die entsprechenden Zahlen für 1994 sind 26 Prozent vs. 11 Prozent (gewünschter Arbeitsschwerpunkt im Parlament vs. Wahlkreis) und zeigen eine normative Neubewertung des Stellenwerts der Parlamentsarbeit an.

  9. Die Zahlen für 1994 sind 10 Prozent vs. 13 Prozent.

  10. Ein einfacher Erfahrungstransfer von West-nach Ostdeutschland war -im Gegensatz zur Lage bei der Parlamentsarbeit -hier schwierig, weil sich die Anforderungen an eine die Bürger wirklich erreichende Wahlkreisarbeit im Osten vielfach anders stellten als in den Altbundesländern.

  11. Schon 1991/92 hatten aber 63 Prozent der ostdeutschen Abgeordneten Führungsfunktionen in ihren Parteien inne, v. a. auf Kreis-und Landesebene, doch auch auf Ortsebene; 1994 waren es 68 Prozent (Westabgeordnete: 75 Prozent).

  12. Nur Parlamentarier von Bündnis 90 und PDS blieben -nicht zuletzt aufgrund entsprechender Wünsche ihrer Basis -weitgehend bei ihrer Ablehnung einer Verbindung von Mandat und Parteiamt.

  13. In diesem Zusammenhang gewinnen neokorporatistische Interpretationen der Rolle von Verbänden weiteren Kredit. Denn offenbar spielten Verbände in dieser Phase weniger als Impulsgeber im pluralistischen Wettbewerb denn vielmehr als Verhandlungspartner im mühsamen Prozeß der Politikgestaltung sowie als Netzwerke vom politischen System hin zur Gesellschaft eine große Rolle.

  14. Dies gilt sogar im Bereich des Oppositionsverständnisses. Ostdeutsche Abgeordnete wünschen zwar einen größeren parlamentarischen Einfluß der Opposition, doch eben nicht im Hinblick auf Sach-oder Personalalternativen. Ihnen geht es vor allem darum, in einem weitgespannten Konsens fallweise Mitverantwortung zu erwirken. Das freilich entlastet von der Aufgabe, sich alternativer Führungsansprüche willen zu exponieren.

  15. Geblieben ist bis heute das insgesamt positivere und offenere Verhältnis ostdeutscher Abgeordneter zu Interessengruppen und Verbänden.

  16. So gut wie alle abgefragten potentiellen Informationsquellen über die Lage im Wahlkreis erwiesen sich bei den ostdeutschen Abgeordneten als wenger wichtig denn im Fall der Westparlamentarier.

  17. Siehe Werner J. Patzelt, Ist der Souverän unaufgeklärt? Die Ansichten der Deutschen über Parlament und Abgeordnete. Forschungsbericht, Dresden 1996.

Weitere Inhalte

Werner J. Patzelt, M. A., Dr. phil. habil., Univ. -Prof., geb. 1953; seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich der Technischen Universität Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die Politikwissenschaft, Passau 19932; Abgeordnete und Repräsentation. Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit, Passau 1993; Aufgaben politischer Bildung in den neuen Bundesländern. Dresden 1994; Abgeordnete und ihr Beruf. Interviews, Umfragen, Analysen, Berlin 1995; zahlreiche Aufsätze u. a. zur Parlamentarismusforschung in Fachzeitschriften. Roland Schirmer, Dr. sc. phil., geb. 1952; Studium der Biochemie und Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle und der Humboldt-Universität Berlin; seit 1992 Mitarbeiter an Forschungsprojekten zum Parlamentarismus und zur Abgeordnetenforschung in Passau und Dresden. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Werner J. Patzelt) Repräsentanten und Repräsentation in den neuen Bundesländern -Abschlußbericht zum Forschungsprojekt, Dresden 1996; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.