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Arbeitslosigkeit oder ungleiche Einkommens-verteilung -ein Dilemma? | APuZ 26/1996 | bpb.de

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APuZ 26/1996 Standort Deutschland -neue Herausforderungen angesichts veränderter Wettbewerbsbedingungen? Arbeitslosigkeit oder ungleiche Einkommens-verteilung -ein Dilemma? Das Beschäftigungsproblem der Industriegesellschaften Arbeitsmarktpolitik nach dem Wohlfahrtsstaat Konsequenzen der ökonomischen Globalisierung

Arbeitslosigkeit oder ungleiche Einkommens-verteilung -ein Dilemma?

Norbert Berthold/Rainer Fehn

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Zusammenfassung

Die anhaltende und sich sogar noch verschärfende Misere auf dem Arbeitsmarkt ist derzeit wohl das drängendste wirtschaftspolitische Problem nicht nur in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen Staaten der Europäischen Union. Entsprechend intensiv werden die Ursachen der Arbeitslosigkeit sowie die Vor-und Nachteile unterschiedlicher Strategien zu deren Abbau diskutiert. Vergleicht man die Situation auf dem amerikanischen mit der auf dem deutschen Arbeitsmarkt, dann fällt auf, daß in den USA bei weitgehend konstanter Arbeitslosenrate die Ungleichheit in der Einkommensverteilung stark zugenommen hat, während in Deutschland bei weitgehend konstanter Einkommensverteilung die Arbeitslosigkeit enorm gewachsen ist. Es stellt sich also die Frage, worauf diese Entwicklungen zurückzuführen sind. Stellen die Probleme Arbeitslosigkeit und ungleiche Erwerbseinkommen möglicherweise zwei Seiten ein und derselben Medaille dar? Der Beitrag zeigt, daß dies bis zu einem bestimmten Umfang der Fall ist, weil die ineinandergreifenden Phänomene arbeitssparender technischer Fortschritt und verstärkter Außenhandel mit arbeitsreichen Ländern nur bei einer hohen Flexibilität der Lohnstruktur ohne einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verarbeitet werden können. Eine größere Flexibilität der qualifikatorischen Lohnstruktur ist also unabdingbar, wenn man zu besseren Beschäftigungsergebnissen gelangen will. In Deutschland kollidieren diese Marktkräfte aber mit den vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen, welche in einem großzügig ausgebauten Wohlfahrtsstaat und starken, zentral organisierten Gewerkschaften zum Ausdruck kommen. Beide Institutionen verhindern eine stärkere Auffächerung der Lohnstruktur. Es gilt also, nach wirtschaftspolitischen Instrumenten zu suchen, mit deren Hilfe es gelingen kann, den Zielkonflikt zwischen einer gleichmäßigen Einkommensverteilung und einem hohen Beschäftigungsstand abzumildern.

I. Einleitende Bemerkungen

Abbildung 1: Standardisierte Arbeitslosenrate ausgewählter Länder 1960-1994 (in Prozent) Quelle: Richard Layard u. a., The Unemployment Crisis, Oxford 1994, S. 134 f.; OECD Economic Outlook, Bd. 58, 1995, A 25.

Die anhaltende und sich sogar noch verschärfende Misere auf dem Arbeitsmarkt ist derzeit wohl das drängendste wirtschaftspolitische Problem nicht nur in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen Staaten der Europäischen Union. Entsprechend intensiv werden die Ursachen der Arbeitslosigkeit sowie die Vor-und Nachteile unterschiedlicher Strategien zu deren Abbau diskutiert. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich dabei Vergleiche mit Ländern, die ein niedrigeres Niveau und vor allem auch einen geringeren Anstieg der Arbeitslosigkeit in den letzten zwanzig Jahren zu verzeichnen haben. Bis Ende der achtziger Jahre mußten aus deutscher Sicht je nach politischer Neigung entweder Schweden oder die USA die gesuchte Vorbildfunktion übernehmen. Da jedoch das schwedische Modell inzwischen einen nahezu vollständigen Kollaps erlitten hat und die Arbeitslosenrate in Schweden mittlerweile dramatisch und sogar über das deutsche Niveau hinaus angestiegen ist, bleibt nur noch der ungläubige Blick über den Atlantik auf das anhaltende dortige Beschäftigungswunder übrig (Abbildung 1).

Vergleicht man die Situation auf dem amerikanischen mit der auf dem deutschen Arbeitsmarkt, dann fällt auf, daß einerseits der deutsche Arbeitsmarkt von starken Gewerkschaften dominiert und daß andererseits deren Machtstellung durch eine wahre Flut von staatlichen Regulierungen verstärkt wird, welche die Arbeitsplatzbesitzer zu Lasten der Arbeitslosen privilegieren. Die naheliegende Empfehlung liberaler Ökonomen, die in Deutschland strangulierten Marktkräfte entsprechend dem amerikanischen Vorbild zu entfesseln, stößt allerdings auf heftigen Widerstand. Meist wird dabei auf die sehr viel ungleichere Einkommensverteilung und vor allem auf die deutlich geringeren realen Verdienste gering qualifizierter Arbeitnehmer in den USA im Vergleich zu Deutschland hingewiesen. Eine Entwicklung in diese Richtung sei in Deutschland nicht akzeptabel. Entsprechend dürftig sind auch die Fortschritte bei den Bemühungen, den deutschen Arbeitsmarkt zu deregulieren, unbeschadet der wiederholten dahingehenden Forderungen etwa des Sachverständigenrates und der Deregulierungskommission.

Es stellt sich aber die Frage, ob die Probleme Arbeitslosigkeit und ungleiche Erwerbseinkommen tatsächlich eine Dilemmasituation darstellen, was in weiteren Teilen der Literatur bejaht wird.

Vertreter dieser Richtung betrachten die wachsenden Unterschiede in der Einkommensverteilung in den USA und die zunehmende Arbeitslosigkeit in Europa als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Als Ursache für diese Entwicklung werden Datenänderungen angesehen, die nur bei einer großen Flexibilität der qualifikatorischen Lohnstruktur ohne einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verarbeiten sind. Während aber diese Datenänderungen aufgrund der liberalen Arbeitsmarktverfassung in den USA durch eine entsprechende Spreizung der Lohnstruktur aufgefangen werden, kollidieren sie in Deutschland mit den Zielen der Gewerkschaften sowie dem großzügig ausgebauten Wohlfahrtsstaat. Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat tragen dazu bei, daß eine derart differenzierte Lohnstruktur wie in den USA bisher in Deutschland nicht möglich ist. Im Ergebnis wird in den USA die Last der zurückgehenden Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern von der Gesamtheit dieser Gruppe mehr oder weniger gleichmäßig getragen, während sie in Deutschland einseitig auf die Schultern derjenigen Arbeitnehmer abgeladen wird, welche nicht in Arbeit und Brot stehen.

II. Warum sinkt die Nachfrage nach gering qualifizierter Arbeit?

Abbildung 2: Arbeitslosenraten männlicher Arbeitnehmer nach Qualifikationsgruppen in Deutschland 1976-1991 (in Prozent) Quelle: Stephen Nickell/Brian Bell, The Collapse in Demand for the Unskilled and Unemployment Across the OECD, in: Oxford Review of Economic Policy, 11 (1995) 1, S. 47 f.

Im Gegensatz zu den USA ist in Deutschland die Arbeitslosigkeit in den letzten zwanzig Jahren schubweise angestiegen, wobei sich der Anstieg durchaus nicht über alle Personengruppen gleichmäßig verteilt. Vielmehr sind in Deutschland bestimmte Personengruppen besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen (Abbildung 2). Unterteilt man den Arbeitsmarkt in qualifikatorischer Hinsicht, dann läßt sich feststellen, daß sowohl das Niveau als auch der Anstieg der Arbeitslosigkeit unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern besonders ausgeprägt sind. So ist die Wahrscheinlichkeit für einen Arbeitnehmer ohne abgeschlossene Berufsausbildung, arbeitslos zu sein, mehr als doppelt so hoch, wie sie für einen Absolventen einer Fachhochschule oder Universität ist. Annähernd 50 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland sind ohne abgeschlossene Berufsausbildung, so daß diese Gruppe deutlich überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen ist Deutschland nimmt dabei allerdings keine Ausnahmestellung ein. Auch in den meisten anderen OECD-Ländern fällt die Arbeitslosigkeit unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern besonders hoch aus. Vergleicht man aber die Fähigkeit von Ländern, gering qualifizierte Arbeitnehmer in Arbeit und Brot zu bringen, dann müssen Unterschiede in der Entwicklung des qualifikatorischen Arbeitsangebotes berücksichtigt werden. So ist zwar auch in den USA die Arbeitslosigkeit unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern überdurchschnittlich stark angestiegen, doch hat hier eine viel stärkere Ausweitung des Angebotes an gering qualifizierten Arbeitnehmern relativ zu qualifizierten stattgefunden

Es liegt also nahe zu vermuten, daß über die Ländergrenzen hinweg die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit gestiegen und diejenige nach gering qualifizierter Arbeit zurückgegangen ist. Somit stellt sich zunächst einmal die Frage, aufgrund welcher Datenänderungen sich die Arbeitsnachfrage möglicherweise weg von gering qualifizierten hin zu qualifizierten Arbeitnehmern verlagert hat. Diese Entwicklung wird vor allem auf zwei Ursachen zurückgeführt. Zum einen wird argumentiert, daß sie eine unmittelbare Konsequenz der zunehmenden Globalisierung des Handels ist. Zum anderen wird ein Bias, das heißt eine einseitige Wirkung, des technischen Fortschritts zugunsten von qualifizierten und zu Lasten von gering qualifizierten Arbeitnehmern dafür verantwortlich gemacht. 1. Globalisierung des Handels Gewöhnlich geht man davon aus, daß verstärkter Außenhandel zu Wohlfahrtsgewinnen für alle beteiligten Länder führt. In letzter Zeit gewinnt allerdings die Vorstellung an Bedeutung, daß die zunehmenden weltweiten Handelsverflechtungen in den entwickelten Industrieländern wie Deutschland Arbeitsplatzverluste zur Folge haben. Insbesondere in der politischen Diskussion wird häufig die Ansicht vertreten; daß die neu hinzukommenden Wettbewerber auf dem Weltmarkt schlicht und ergreifend unsere Arbeitsplätze „stehlen“ würden. Hier liegt allerdings die falsche Vorstellung eines weltweit fixen Arbeitsnachfragevolumens zugrunde. Zwar gehen ohne Zweifel Arbeitsplätze in den Bereichen verloren, in denen einem andere Länder überlegen sind. Dem stehen allerdings die zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten gegenüber, die aufgrund eines verstärkten Außenhandels in den Sektoren entstehen, in denen man selbst Vorteile aufweist. Verstärkter Außenhandel ist auch in bezug auf die Beschäftigungsmöglichkeiten aus weltweiter Sicht kein Nullsummen-, sondern ein Positivsummenspiel

Es gibt allerdings einen etwas subtileren Kanal, über den die zunehmende Globalisierung der Handelsströme Arbeitslosigkeit in den entwickelten Industrieländern verursachen kann. Verstärkter Außenhandel stellt zwar in der Regel die beteiligten Volkswirtschaften als Ganzes besser, dies heißt jedoch nicht, daß jede einzelne Gruppe profitiert. Zwar sind die Gewinner im Prinzip in der Lage, die Verlierer durch Transferzahlungen zu kompensieren, doch finden solche Kompensationszahlungen in der Realität so gut wie nicht statt Im Vergleich zum Rest der Welt ist einfache Arbeit in den entwickelten Industrieländern knapp.

Die Aufnahme von Außenhandel führt nun dazu, daß jedes Land die Produktion derjenigen Güter ausweitet, in denen der reichlich vorhandene Produktionsfaktor intensiv eingesetzt wird. Die entwickelten Industrieländer produzieren daher verstärkt solche Güter, bei deren Produktion Kapital und qualifizierte Arbeit stark zum Einsatz kommen. Für die Entlohnung der Produktionsfaktoren einfache und qualifizierte Arbeit sowie von Realkapital sind dann aber nicht mehr die nationalen, sondern die weltweiten Knappheitsverhältnisse maßgeblich. Verstärkter Außenhandel mit in der wirtschaftlichen Entwicklung zurückliegenden Ländern, die viel reichlicher mit gering qualifizierter Arbeit ausgestattet sind, löst daher einen Druck dahingehend aus, daß die Entlohnung von einfacher Arbeit in den entwikkelten Industrieländern sinkt, weil dort die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern zurückgeht.

Es ist zwar durchaus plausibel, globalisierte Handelsströme für den Anstieg der Arbeitslosigkeit unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern verantwortlich zu machen aber es gibt dagegen auch gewichtige Einwände. Wäre verstärkter Außenhandel insbesondere mit weniger entwickel -ten Ländern die eigentliche Ursache für den Anstieg der Arbeitslosigkeit in den entwickelten Industrieländern, dann müßte in den Industrieländern aber zum einen der Anteil qualifizierter Arbeitnehmer in der Produktion in allen Sektoren gesunken sein, und zum anderen müßten sich auch humankapitalintensive Güter relativ zu solchen Gütern, die eher auf den Einsatz gering qualifizierter Arbeitnehmer angewiesen sind, verteuert haben. Dies ist der Fall, weil verstärkter Außenhandel dazu führt, daß sowohl für die optimale Produktionstechnologie als auch für die relativen Preise nicht mehr die nationalen, sondern die weltweiten Knappheitsverhältnisse maßgeblich sind. Weltweit gesehen sind aber nicht nur qualifizierte Arbeitnehmer, sondern auch humankapitalintensive Güter wesentlich knapper und somit auch teurer als in den entwickelten Industrieländern. Eine Produktionstechnologie, welche auf die weltweiten Knappheitsverhältnisse abstellt, setzt daher aber qualifizierte Arbeitnehmer sparsamer ein, als wenn nur die Knappheitsverhältnisse in den entwickelten Industrieländern maßgeblich sind.

In den meisten OECD-Ländern lassen sich allerdings diese, sich aus dem Standardmodell zur Globalisierung zwingend ergebenden Entwicklungen gerade nicht beobachten. Die Intensität des Einsatzes von qualifizierter Arbeit ist in nahezu allen Sektoren über die Ländergrenzen hinweg angestiegen. Außerdem haben sich auch humankapitalintensive Produkte relativ zu arbeitsintensiven Produkten nicht nachhaltig verteuert. Diese Ergebnisse erscheinen überraschend, wenn man bedenkt, mit welcher Wucht vor allem die relativ reichlich mit gering qualifizierter Arbeit ausgestatteten südostasiatischen Länder die Märkte in den entwickelten Industrieländern durchdringen. Nach wie vor dominiert aber in den entwickelten Industrieländern der Warenaustausch untereinander. Der Handel mit Ländern, die eine ganz andere Ausstattung mit Produktionsfaktoren aufweisen, macht bis jetzt nur einen sehr geringen Teil aus, nämlich ein bis zwei Prozent des Volkseinkommens. Aufgrund dieser Einwände wird der Argumentation, daß die veränderte qualifikatorische Struktur der Arbeitsnachfrage auf vermehrten Außenhandel mit relativ arbeitsreichen Ländern zurückzuführen sei, meist nur ein geringes Gewicht beigemessen

2. Arbeitssparender technischer Fortschritt

In den USA ist bei weitgehend flexiblen Preisen die Intensivität des Einsatzes von qualifizierter Arbeit über alle Sektoren hinweg angestiegen. Gleichzeitig hat die Entlohnung qualifizierter Arbeit relativ zur Entlohnung gering qualifizierter Arbeit deutlich zugenommen. Eine solche Entwicklung läßt sich gut mit einem Bias des technischen Fortschritts zugunsten von qualifizierter und zu Lasten von gering qualifizierter Arbeit erklären. Weist der technische Fortschritt einen solchen Bias auf, dann erklärt sich, warum Unternehmungen selbst bei einer Verteuerung der qualifizierten Arbeit einen Anreiz haben, diesen Produktionsfaktor stärker als vorher in der Produktion einzusetzen. Findet diese Form von arbeitssparendem technischen Fortschritt über alle Sektoren hinweg statt, dann führt dies gesamtwirtschaftlich gesehen dazu, daß die Arbeitsnachfrage nach gering qualifizierter Arbeit sinkt, während diejenige nach qualifizierter Arbeit ansteigt. Ist der Bestand an gering qualifizierter bzw. an qualifizierter Arbeit kurz-bis mittelfristig gegeben, dann ist Vollbeschäftigung nur noch möglich, wenn sich die Lohn-struktur zugunsten von qualifizierter Arbeit anpaßt.

Bei gegebenem Faktorbestand werden die Produktionsfaktoren also nur noch dann voll ausgelastet, wenn wie in den USA die Entlohnung von qualifizierter relativ zur Entlohnung von gering qualifizierter Arbeit ansteigt. Ein derartiger, über alle Sektoren hinweg vorhandener Bias des technischen Fortschritts zugunsten von qualifizierter Arbeit erzeugt also einen Druck dahingehend, daß die qualifikatorische Lohnstruktur stärker aufgefächert wird, und er erhöht simultan in allen Sektoren den Anreiz, verstärkt qualifizierte Arbeit in der Produktion einzusetzen. Insofern steht die international zu beobachtende Entwicklung zumindest nicht im Widerspruch zu der Hypo-these, daß die veränderte Struktur der Arbeitsnachfrage auf einen Bias des technischen Fortschritts zugunsten von qualifizierter und zu Lasten von gering qualifizierter Arbeit zurückzuführen ist.

Allerdings bleiben auch bei diesem Versuch, den Rückgang der Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern zu erklären, einige Fragen offen. Zunächst einmal ergibt sich technischer Fortschritt stets als unerklärte Restgröße. Letztlich gelangt man zu diesem Ergebnis, indem man andere mögliche Erklärungen widerlegt, und nicht etwa durch direkte Evidenz für das Phänomen arbeitssparender technischer Fortschritt. Auf sich allein gestellt bleibt diese Erklärung daher immer etwas unbefriedigend, weil die Ursachen für den Bias des technischen Fortschritts nach wie vor unbekannt sind. Es spricht allerdings vieles dafür, daß zwei Faktoren eine Schlüsselrolle spielen. Erstens sind die atemberaubenden Veränderungen in der Informations-und Kommunikationstechnologie anzuführen. So erhalten etwa Arbeitnehmer, die mit Computern vertraut sind, im Schnitt deutlich höhere Löhne Zweitens wird die fordistische zunehmend durch die sogenannte post-fordistische Produktionsweise abgelöst. Da die Produktion standardisierter Massengüter an Bedeutung verliert, benötigen Arbeitnehmer immer mehr umfassende Fähigkeiten, nicht nur im Umgang mit Computern, sondern auch im kommunikativen und organisatorischen Bereich. Daraus resultiert eine wachsende Segmentierung des Arbeitsmarktes zwischen solchen Arbeitnehmern, die diese Fähigkeiten besitzen, und denjenigen, die nach wie vor ganz auf den Verkauf ihrer physischen Arbeitskraft angewiesen sind 3. Fazit Es ist allerdings letztendlich problematisch, die beiden Erklärungsansätze „Globalisierung der Handelsströme“ und „arbeitssparender technischer Fortschritt“ als wirklich konkurrierend anzusehen, wenn es gilt, den Rückgang der Nachfrage nach gering qualifizierter Arbeit zu erklären. Das Ausmaß und der Bias des technischen Fortschrittes sind endogene Größen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß die verstärkte tatsächliche und potentielle Konkurrenz aus arbeitsreichen Ländern die arbeitssparenden Rationalisierungsprozesse in der Produktionstechnologie in den Industrieländern beschleunigt hat. Außerdem dürfte die Bedeutung der Außenhandelsbeziehungen für die Entlohnung der Produktionsfaktoren in Zukunft im Zuge einer verstärkten Integration der südostasiatischen und osteuropäischen Länder in die Weltmärkte an Bedeutung gewinnen. Das Problem wird sich sogar noch insofern verschärfen, als zunehmend auch humankapitalintensive Produkte in sogenannten Billiglohnländern gefertigt werden können, so daß möglicherweise auch die Entlohnung von besser qualifizierten Arbeitskräften unter Druck geraten wird

Aufgrund der gestiegenen Mobilität vor allem des Produktionsfaktors Sachkapital, aber auch von qualifizierter Arbeit, sind die verstärkten Außen-handelsbeziehungen außerdem nur Teil eines umfassenderen außenwirtschaftlichen Ansatzes.

Der Standortwettbewerb um international mobile Produktionsfaktoren hat sich aufgrund der gesunkenen Kommunikations-und Transportkosten und aufgrund der zunehmenden Integration der internationalen Kapitalmärkte entscheidend verschärft. Die Löhne gering qualifizierter Arbeitnehmer liegen in Deutschland aber nach wie vor beträchtlich über den Löhnen gering qualifizierter Arbeitnehmer in nahezu allen anderen Ländern der Welt. Dies wird zwar häufig mit der höheren Produktivität gering qualifizierter Arbeitnehmer in Deutschland gerechtfertigt. Eine solche Sichtweise führt jedoch in die Irre. Die höhere Produktivität dieser Arbeitsplätze beruht zu einem beträchtlichen Teil auf der besseren Ausstattung dieser Arbeitsplätze mit Sachkapital und technischem Wissen. Je mobiler aber Sachkapital und technisches Wissen international werden, desto weniger lassen sich reale Unterschiede in der Entlohnung für gleich qualifizierte Arbeitnehmer verteidigen. In einem Umfeld intensiven Standortwettbewerbes können die deutschen Arbeitnehmer auf Dauer nur noch dann real mehr verdienen als ihre ausländischen Kollegen, wenn sie entweder besser qualifiziert sind, oder der Standort Deutschland andere Vorteile wie etwa eine hohe politische Stabilität aufweist

III. Wann führt die veränderte qualifikatorische Struktur der Arbeitsnachfrage zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit?

Abbildung 3: Veränderung von Beschäftigung und realen Arbeitskosten im Niedriglohnbereich ausgewählter Länder 1979-1990 (in Prozent) Quelle: Andrew Glyn, The Assessment: Unemployment and Inequality, in: Oxford Review of Economic Policy, 11 (1995) 1, S. 13.

Die geschilderten Veränderungen in der qualifikatorischen Struktur der Arbeitsnachfrage führen dazu, daß sich die Arbeitsnachfrage weg von gering qualifizierten und hin zu qualifizierten Arbeitnehmern verlagert. Die Auswirkungen dieser Datenänderung auf die Beschäftigung hängen nun aber entscheidend von der Flexibilität der qualifikatorischen Lohnstruktur ab. Im Extremfall einer vollkommen flexiblen Lohnstruktur kann diese Anpassungslast aufgrund der hohen Anpassungskapazität ohne einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verarbeitet werden. Auf jedem Teilarbeitsmarkt paßt sich in diesem Fall der Lohn in vollem Umfang an die veränderten Bedingungen an. Mengenbewegungen etwa in Form von Arbeitslosigkeit unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern finden nicht statt. Die Entlohnung gering qualifizierter Arbeitnehmer sinkt dann soweit, daß weiterhin Vollbeschäftigung unter dieser Gruppe von Arbeitnehmern herrscht. Die Entlohnung qualifizierter Arbeit steigt hingegen als Reaktion auf die gestiegene Nachfrage stark an. Diesem Extremfall scheinen die USA am nächsten zu kommen, da sich in den USA die qualifikatorische Lohnstruktur in den letzten zwanzig Jahren stark aufgefächert und die Arbeitslosigkeit im gleichen Zeitraum im Gegensatz zu den meisten anderen OECD-Ländern und insbesondere im Gegensatz zu Deutschland kaum zugenommen hat.

In Deutschland ist die qualifikatorische Lohn-struktur weitgehend inflexibel. Für diese Inflexibilität sind ganz offensichtlich vor allem zwei Gründe ausschlaggebend. Zum einen existiert in Deutschland zumindest relativ zu den USA ein großzügig ausgebauter Wohlfahrtsstaat. Dessen umfangreiche Leistungen in Form von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe führen zu einem relativ hohen Mindestlohn, unter dem Arbeitnehmer nicht bereit sind zu arbeiten. Die wohlfahrtsstaatliche Absicherung beschränkt also von unten die mögliche Auffächerung der Lohn-struktur. Hinzu kommt die starke Stellung der Gewerkschaften in Deutschland, welche erklärtermaßen das Ziel verfolgen, die Streuung der Einkommen zu reduzieren. Zu vergleichbaren Lohnsenkungen für gering qualifizierte Arbeitnehmer wie in den USA ist es aus beiden Gründen zumindest bisher in Deutschland nicht gekommen. Ist der Lohn für gering qualifizierte Arbeit aber nach unten inflexibel, dann kommt es für diese Arbeitnehmergruppe zu einem massiven Einbruch in der Beschäftigung. Die durch Wohlfahrtsstaat und Gewerkschaften hervorgerufene Rigidität der Löhne nach unten läßt im Ergebnis eine Anpassung an die veränderte qualifikatorische Struktur der Arbeitsnachfrage über den Lohn nicht zu.

An eine veränderte Struktur der Arbeitsnachfrage kann man sich aber nicht nur mit Hilfe einer flexiblen Lohnstruktur, sondern auch über eine entsprechend hohe Mobilität der Produktionsfaktoren anpassen. So ist es denkbar, daß die freigesetzten, gering qualifizierten Arbeitnehmer die entsprechende Qualifikation erwerben, um die gestiegene Nachfrage nach qualifizierten Arbeitnehmern auszunutzen. Es ist allerdings kaum möglich bzw. extrem teuer, alle freigesetzten, gering qualifizierten Arbeitnehmer innerhalb eines kurzen Zeitraums mit der notwendigen Qualifikation auszustatten. In diesem Zusammenhang ist es aber wichtig, zwischen einer kurz-und einer eher längerfristigen Anpassung zu unterscheiden. Kurzfristig wird die Mobilität der Arbeitnehmer in qualifikatorischer Hinsicht eher gering ausfallen. Sie wird kaum ausreichen, um die gesamte Anpassungslast in Form einer veränderten qualifikatorischen Struktur der Arbeitsnachfrage ohne das Auftreten von Arbeitslosigkeit zu verarbeiten. Längerfristig wird hingegen sicherlich ein größerer Teil dieser Datenänderung über eine veränderte qualifikatorische Struktur des Arbeitsangebots getragen. Dies wird sowohl bei einer flexiblen als auch bei einer rigiden qualifikatorischen Lohn-struktur der Fall sein, weil in beiden Szenarien der Anreiz erheblich zunimmt, eine höhere Qualifikation zu erwerben. Bei einer flexiblen Lohnstruktur steigt er aufgrund der gestiegenen Qualifikationsprämie. Bei einer rigiden Lohnstruktur nimmt hingegen dieser Anreiz zu, weil es ansonsten schlicht und ergreifend für die freigesetzten Arbeitnehmer kaum möglich ist, wieder in Arbeit und Brot zu kommen.

Es spricht nun aber einiges dafür, daß der qualifikatorische Wanderungsprozeß reibungsloser abläuft, wenn die Datenänderung zunächst durch eine flexible qualifikatorische Lohnstruktur abgefedert wird. Ein erster Grund ist darin zu sehen, daß in diesem Fall diejenigen gering qualifizierten Arbeitnehmer Anstrengungen unternehmen, sich weiterzubilden, denen dieser Schritt aus ihrer subjektiven Sichtweise am ehesten profitabel erscheint. Es ist also letztlich eine freiwillige Entscheidung der Betroffenen, und es erfolgt eineunter Effizienzgesichtspunkten sinnvolle Auswahl. Ganz anders findet die Selektion hingegen im Fall inflexibler Lohnstrukturen statt. Die Unternehmungen entlassen dann natürlich soweit möglich als erstes die unproduktivsten, gering qualifizierten Arbeitnehmer, deren Fähigkeiten, entsprechendes Humankapital aufzubauen, unterdurchschnittlich ausgeprägt sind. Die Freisetzung erfolgt also aufgrund eines negativen Ausleseprozesses. Von einer freiwilligen Entscheidung der Betroffenen und einer entsprechend großen Fähigkeit und auch Motivation, Humankapital aufzubauen, kann somit keine Rede sein.

Ein zweiter Grund für die Vorteilhaftigkeit flexibler Lohnstrukturen liegt darin, daß es bedeutend einfacher ist, marktverwertbares Humankapital „on the job" als „off the job“ aufzubauen. Ist man erst einmal arbeitslos, dann wird man eher Qualifikation verlieren als hinzugewinnen. Man verliert sehr leicht den Kontakt zur Arbeitswelt, und ein'Gewöhnungsprozeß an die Arbeitslosigkeit ist insbesondere im Umfeld eines großzügig ausgebauten Wohlfahrtsstaates durchaus wahrscheinlich. Im Ergebnis läßt sich also festhalten, daß vieles dafür spricht, daß eine flexible qualifikatorisehe Lohnstruktur einen effizienteren Anpassungsprozeß an eine veränderte qualifikatorische Struktur der Arbeitsnachfrage ermöglicht. Nimmt man die USA als Referenzmaßstab, dann verhindern in Europa allgemein und insbesondere in Deutschland der großzügig ausgebaute Wohlfahrtsstaat und mächtige Gewerkschaften eine entsprechende Flexibilität der qualifikatorischen Lohnstruktur.

Diese eher theoretischen Überlegungen lassen sich auch durch die Ergebnisse empirischer Untersuchungen untermauern. Für die achtziger Jahre besteht deutlich ein negativer Zusammenhang zwischen der Entwicklung der realen Arbeitskosten im 'Niedriglohnbereich und der Beschäftigungsexpansion im privaten Sektor (Abbildung 3). Länder wie Deutschland, in denen die Arbeitskosten für gering qualifizierte Arbeitnehmer stark angestiegen sind, weisen im Vergleich zu Ländern wie den USA, in denen die realen Arbeitskosten im Niedriglohnbereich weitgehend konstant geblieben sind, eine weitaus schlechtere Beschäftigungsentwicklung auf. Im Gegensatz zu den USA ist in Deutschland trotz des geschilderten Rückgangs der Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern die qualifikatorische Lohnstruktur weitgehend unverändert geblieben. Schlimmer noch, es gibt Hinweise darauf, daß die qualifikatorische Differenzierung in der Entlohnung in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung sogar zurückgegangen ist. Insbesondere die Prämie für eine abgeschlossene Lehre scheint in Deutschland gesunken zu sein

Die unterschiedlichen Entwicklungen in Deutschland und den USA in bezug auf die qualifikatorisehe Lohndifferenzierung können allerdings nicht ausschließlich auf die institutioneilen Faktoren Wohlfahrtsstaat und starke Gewerkschaften zurückgeführt werden. Bei im Prinzip gleichgelagerten Veränderungen der relativen Nachfrage nach unterschiedlich qualifizierten Arbeitskräften können daneben auch unterschiedliche Entwicklungen im relativen Arbeitsangebot verantwortlich sein. In Deutschland ist im Vergleich zu den USA in den achtziger Jahren das relative Angebot an akademisch gebildeten Arbeitskräften weitaus stärker gestiegen. Außerdem muß auch die in den USA ausgeprägtere Einwanderung von gering qualifizierten Arbeitskräften berücksichtigt werden. Das vollbeschäftigungskonforme Ausmaß an qualifikatorischer Lohnstrukturflexibilität in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung ist in Deutschland somit ohne Zweifel geringer als in den USA.

Dennoch muß davon ausgegangen werden, daß für die unterschiedlichen Entwicklungen in der qualifikatorischen Lohndifferenzierung in Deutschland und in den USA auch institutioneile Faktoren verantwortlich sind. Bei den institutioneilen Faktoren sind der weitaus großzügiger ausgebaute Sozialstaat und die starken Gewerkschaften besonders auffallend, die das Ziel „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sowie eine generelle Verringerung der Einkommensunterschiede anstreben. Im Gegensatz zu Deutschland ist in den USA der Organisationsgrad und damit auch die Macht der Gewerkschaften in den achtziger Jahren deutlich gesunken. Zusätzlich ist auch noch der gesetzlich festgelegte Mindestlohn in den USA real entwertet worden. Die Bedeutung institutioneller Faktoren wird auch noch dadurch unterstrichen, daß das Ausmaß der übertariflichen Entlohnung in Deutschland mit der Qualifikation der Arbeitnehmer zunimmt

Insgesamt spricht somit einiges dafür, daß der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren auch auf eine zu geringe Flexibilität der qualifikatorischen Lohn-struktur zurückzuführen ist. Aufgrund einer sehr begrenzten Flexibilität der Lohnstruktur und einer nur mäßig ausgeprägten Mobilität des Produktionsfaktors Arbeit waren die Möglichkeiten der Anpassung nicht ausreichend, um der veränderten qualifikatorischen Struktur der Arbeitsnachfrage ohne Arbeitslosigkeit zu entsprechen. Die institutioneilen Faktoren großzügig ausgebauter Wohlfahrtsstaat und starke, relativ zentral organisierte Gewerkschaften spielen dabei eine tragende Rolle. Voraussichtlich wird aber in Zukunft der Bedarf an Lohnstrukturflexibilität eher noch zunehmen. Da es kaum gelingen kann und auch in Deutschland nicht gelungen ist, die Qualifikation der Arbeitnehmer schnell genug an die veränderte qualifikatorische Struktur der Arbeitsnachfrage anzupassen, wird es in Wohlfahrtsstaaten mit starken Gewerkschaften unweigerlich zu weiterer Arbeitslosigkeit kommen

IV. Welcher Anteil der Arbeitslosigkeit ist auf den Rückgang der Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern zurückzuführen?

Abbildung 4: Beveridge-Kurve für Westdeutschland 1970-1994 (Angaben in Prozent) Quelle: Sachverständigenrat, Den Aufschwung sichern -Arbeitsplätze schaffen, Jahresgutachten 1994/95, Stuttgart 1994.

Es ist umstritten, welcher Anteil der Arbeitslosigkeit auf den Rückgang der Nachfrage nach gering qualifizierter Arbeit und damit auch auf eine mangelnde Flexibilität der qualifikatorischen Lohn-struktur zurückzuführen ist. Einen ersten Hinweis darauf, daß eine flexiblere qualifikatorische Lohn-struktur allein nicht ausreicht, um die Arbeitslosigkeit umfassend abzubauen, erhält man dadurch, daß die Arbeitslosigkeit nicht nur in allen Qualifikationsgruppen, sondern auch in allen Sektoren und Regionen zugenommen hat. Es ist zwar ohne Zweifel richtig, daß das Niveau und der Anstieg der Arbeitslosigkeit besonders ausgeprägt unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern ausfallen. Aber dafür muß nicht unbedingt eine veränderte qualifikatorische Struktur der Arbeitsnachfrage verantwortlich sein. Vielmehr werden auch bei einem allgemeinen Anstieg der Arbeitslosigkeit gering qualifizierte Arbeitnehmer davon besonders stark betroffen sein. Dies läßt sich wie folgt begründen: Zum einen sind die Löhne im unteren Qualifikationsbereich aufgrund der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung zwangsläufig weniger flexibel als im oberen Qualifikationsbereich. Weder werden Arbeitnehmer bereit sein, für einen Lohn zu arbeiten, der unter dem staatlich garantierten Existenzminimum liegt, noch ist es für die Tarifparteien sinnvoll, eine solche Lohnhöhe auszuhandeln. Unter diesen Bedingungen führt ein gleichmäßiger Rückgang der Nachfrage nach Arbeitnehmern aller Qualifikationsgruppen zu einem besonders ausgeprägten Anstieg der Arbeitslosigkeit unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern. Entscheidend für die Beantwortung der Frage, welche Bedeutung dem Rückgang der Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern für die Erklärung des allgemeinen Anstiegs der Arbeitslosigkeit zukommt, ist somit die Veränderung des Verhältnisses der Arbeitslosenraten auf den unterschiedlichen Teilarbeitsmärkten. Das Verhältnis der Arbeitslosenrate unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern zu der Arbeitslosenrate unter den besser qualifizierten Arbeitnehmern ist vor allem in den siebziger Jahren angestiegen, während es in den achtziger Jahren weitgehend konstant geblieben ist. Von daher ist es problematisch, die Ursache der Probleme auf dem Arbeitsmarkt ausschließlich in einer veränderten qualifikatorischen Struktur der Arbeitsnachfrage zu sehen

Zum anderen versucht jede Unternehmung bei einem allgemeinen Anstieg der Arbeitslosigkeit ihre knappen Arbeitsplätze mit möglichst gut qualifizierten Arbeitnehmern zu besetzen. Es steigen also die qualifikatorischen Anforderungen für ein gegebenes Arbeitsplatzprofil, so daß für die am schlechtesten qualifizierten Arbeitnehmer die geringste Wahrscheinlichkeit besteht, ihre Stelle zu behalten oder nach einer etwaigen Entlassung eine neue zu erlangen Die bloße Feststellung, daß sich die Arbeitslosigkeit besonders stark auf bestimmte Problemgruppen konzentriert, stellt folglich aus beiden Gründen noch keinen Nachweis dafür dar, daß die Arbeitslosigkeit vor allem ein Resultat des Rückgangs der Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern in Verbindung mit einer zu inflexiblen qualifikatorischen Lohnstruktur ist. Es spricht somit einiges dafür, daß neben der veränderten qualifikatorischen Struktur der Arbeitsnachfrage auch ein allgemeines Defizit an rentablen Arbeitsplätzen in Deutschland zu verzeichnen ist. Dieses ist primär auf die relativ zur Arbeitsproduktivität allgemein überhöhten Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit über die Qualifikationsgruppen hinweg zurückzuführen. Um das Gewicht dieser beiden Komponenten der Arbeitslosigkeit beurteilen zu können, wird häufig auf das Instrument der Beveridge-Kurve 17 zurückgegriffen (Abbildung 4). Verschiebt sich die Kurve nach außen, das heißt nach Nord-Osten, dann deutet dies auf eine veränderte Struktur der Arbeitsnachfrage hin. Ein sich verschärfendes allgemeines Defizit an rentablen Arbeitsplätzen führt hingegen zu einer südöstlichen Bewegung auf einer stabilen Beveridge-Kurve. Es steigt also die Arbeitslosenquote bei gleichzeitigem Absinken der Quote an offenen Stellen. Für Deutschland lassen sich für die letzten zwanzig Jahre beide Vorgänge konstatieren. Insgesamt existieren allerdings nur für einen Bruchteil der Arbeitslosen offene Stellen. Die Zahl der Arbeitslosen überwiegt schon seit rund zwanzig Jahren die Zahl der offenen Stellen bei weitem. Die Beveridge-Kurve hat sich nicht nur nach außen verschoben, sondern es hat sich auch eine sehr ausgeprägte südöstliche Bewegung entlang einer stabilen Beveridge-Kurve vollzogen. Der besondere Rückgang der Arbeitsnachfrage nach gering qualifizierten Arbeitnehmern in Verbindung mit einer weitgehend inflexiblen qualifikatorischen Lohnstruktur leistet somit zwar einen erheblichen Beitrag zur Erklärung des Anstiegs der Arbeitslosigkeit. Daneben ist aber auch ein großer Teil der Arbeitslosigkeit auf die allgemein überhöhten Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit relativ zu dessen Produktivität zurückzuführen.

V. Wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen

Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland wird man nur dann in den Griff bekommen, wenn auf allen Teilarbeitsmärkten der Lohn wesentlich stärker auf ein Überschußangebot an Arbeit reagiert. Dann würde nicht nur die qualifikatorische Lohnstruktur weiter aufgefächert, sondern auch das allgemeine Lohnniveau würde zumindest vorübergehend zurückgehen. Beide skizzierten Komponenten der Arbeitslosigkeit würden also gleichermaßen abgebaut. Die Wiederbelebung der Marktkräfte in diesem Sinne stellt ohne Zweifel den Schlüssel zum Abbau der Arbeitslosigkeit dar.

Eine solche Strategie muß aber aus mehreren Komponenten bestehen. Erstens muß die Macht der gewerkschaftlich organisierten Arbeitsplatzbesitzer reduziert werden, so daß deren Möglichkeiten eingeschränkt werden, sich gegen marktkonforme Anpassungen beim Lohn zur Wehr zu setzen. Dies ist insbesondere dadurch zu erreichen, daß der international zu beobachtende Trend hin zu dezentraleren Lohnverhandlungen auch in Deutschland an Fahrt gewinnt. Dezentrale Lohnverhandlungen leisten sowohl einen Beitrag zu flexibleren, marktkonformen Lohnstrukturen als auch zu einem flexibleren Lohnniveau Die Arbeitsplatzbesitzer stimmen aber niedrigeren Lohnkosten für den Arbeitgeber um so eher zu, je weniger zu diesem Zweck ihre Nettolöhne sinken müssen. Der Staat ist also gefordert, die weit geöffnete Steuer-und Abgabenschere wieder stärker zu schließen. Er sollte sich wieder auf seine eigentlichen Aufgaben beschränken -und insbesondere die Ausgaben für konsumtive Zwecke reduzieren -, weil diese ohnehin in der Regel privatwirtschaftlich effizienter gelöst werden können. Ein solches Zurückschrauben der staatlichen Aktivitäten würde deutliche Steuersenkungen ermöglichen. Es kann aber nur dann gelingen, die Steuer-und Abgabenschere wirklich zu schließen, wenn auch die Systeme der sozialen Sicherung gründlich reformiert werden. Dabei muß der privaten Eigen-vorsorge wieder ein wesentlich größeres Gewicht zukommen. Außerdem ist die durch den Sozialstaat gewährte Mindestabsicherung auf den Prüfstand zu stellen, weil ansonsten gerade für gering qualifizierte Arbeitnehmer das Arbeitsanreizproblem kaum gelöst werden kann

Der letzte Punkt spricht genau die Dilemmasituation an, in der sich die europäischen Wohlfahrts-Staaten allgemein und Deutschland ganz besonders derzeit befinden. Die veränderte Struktur der Arbeitsnachfrage kollidiert mit den herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen in bezug auf die zu gewährende Mindestabsicherung und die Einkommensverteilung. Dabei handelt es sich allerdings durchaus nicht um eine permanente Dilemma-situation. Vielmehr werden solche Länder, die versuchen, sich gegen die Marktentwicklung mit nicht marktkonformen Mitteln zur Wehr zu setzen, Wachstumseinbußen erleiden und im Einkommensniveau zurückfallen. Die mobilen Produktionsfaktoren werden aufgrund des verschärften Standortwettbewerbes aus diesen Ländern abgezogen. Die skizzierte Strategie der Wiederbelebung der Marktkräfte wird aber in den europäischen Wohlfahrtsstaaten kaum politisch durchzusetzen sein. Nur in Phasen der Zuspitzung der Dauerkrise auf dem Arbeitsmarkt und unmittelbar nach einem Regierungswechsel scheinen echte Reformen durchführbar zu sein 20.

Häufig wird versucht zu suggerieren, daß sich die Probleme auf dem Arbeitsmarkt weitgehend durch staatliche Qualifikations-und Arbeitsbeschaffungsprogramme und ein generelles Umschwenken auf eine expansivere Geld-und Fiskalpolitik lösen ließen. Diese weichen Politiken 20 Vgl. dies., The Positive Economics of Unemployment and Labor Market Inflexibility, in: Kyklos, (1996) 4 (i. E.). werden aber keine nachhaltige Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt bewirken können. Wie das Beispiel Schwedens nachdrücklich gezeigt hat, stößt dieser Weg unweigerlich an seine Grenzen. Man läuft leicht Gefahr, die Probleme lediglich in die Zukunft zu verschieben. Langfristig kann allerdings eine verstärkte Bildung von markt-verwertbarem Humankapital einen Beitrag zur Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt leisten. Dies setzt jedoch eine deutliche Steigerung der Effizienz im Bildungssystem voraus.

Insofern ist es besonders wichtig, nach wirtschaftspolitischen Instrumenten zu suchen, die die Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit auf allen Teilarbeitsmärkten senken, ohne die Einkommensungleichheit zu sehr ansteigen zu lassen und sich ein massives Problem der „working poor“ einzuhandeln. Es sollte daher verstärkt darüber nachgedacht werden, inwieweit es möglich ist, niedrigere Löhne für gering qualifizierte Arbeitnehmer durch staatliche Zuschüsse aufzustocken. Dadurch ließe sich möglicherweise die Misere auf dem Arbeitsmarkt lindern, ohne die Verteilungskonflikte zu sehr zu verschärfen. Es muß auf jeden Fall auch in Deutschland ähnlich wie in den USA gelingen, das bislang nahezu unausgeschöpfte Beschäftigungspotential im Bereich der niedrig entlohnten Dienstleistungen zu erschließen. Ansonsten wird ein umfassender Abbau der Arbeitslosigkeit nicht zu bewerkstelligen sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Strukturbericht des Ifo-Institutes für Wirtschaftsforschung, München 1995; Karl-Heinz Paque, Arbeitslosigkeit und sektoraler Strukturwandel -Eine Interpretation von vier Dekaden westdeutscher Arbeitsmarktgeschichte, in: List Forum für Wirtschafts-und Finanzpolitik, 21 (1995) 2, S. 167-194.

  2. Vgl. Katherine Abraham/Susan Houseman, Earnings. Inequality in Germany, NBER Working Paper No. 4541, Cambridge, Mass. 1993.

  3. Vgl. George Alogoskoufis u. a., Unemployment: Choices for Europe, CEPR Report: Monitoring European Integration 5, London 1995; Paul Krugman, Past and Prospective Causes of High Unemployment, in: Federal Reserve Bank of Kansas City, Reducing Unemployment: Current Issues and Policy Options, Jackson Hole, Wyoming 1994, S. 49-80; Anmerkung der Redaktion: Siche hierzu auch den Beitrag von Otto G. Mayer in diesem Heft.

  4. Dies ist lediglich ein theoretisches Konzept. Diejenigen Personen, die von verstärkten Handelsbeziehungen profitieren, müßten einen Teil ihrer Gewinne an diejenigen Personen abtreten, die durch den verstärkten Außenhandel Verluste erleiden. Zum Beispiel führt eine Liberalisierung des Handels mit Ländern der Dritten Welt zu verstärktem Export von deutschen Industricprodukten und einer Zunahme des Imports von Agrargütern. In diesem Falle müßte die Industrie an die Landwirte Ausgleichszahlungen leisten. Aufgrund von praktischen Problemen bei der Umsetzung solcher Ausgleichszahlungen finden diese in der Regel jedoch nicht statt.

  5. Vgl. Adrian Wood, North-South Trade, Employment and Inequality: Changing Fortunes in a Skill-driven World, Oxford 1994.

  6. Vgl. G. Alogoskoufis u. a. (Anm. 3), S. 51 ff.; P. Krugman (Anm. 3), S. 66 ff.; Jagdish Bhagwati, Trade and Wages: Choosing Among Alternative Explanations, in: Economic Policy Review of the Federal Reserve Bank of New York, 1 (1995) 1, S. 42-47.

  7. Alan Krueger, How Computers Have Changed the Wage Structure: Evidence from Microdata, in: Quarterly Journal of Economics, 108 (1993), S. 33-60.

  8. Der Begriff „Fordismus“ bezeichnet die zuerst von Henry Ford in den USA eingeführte Fließbandproduktion von weitgehend standardisierten Gütern in sehr hoher Stückzahl.

  9. Vgl. Assar Lindbeck/Dennis Snower, Restructuring Production and Work, CEPR Discussion Paper No. 1323, London 1995.

  10. Vgl. G. Alogoskoufis u. a. (Anm. 3), S. 53; Dennis Snower. Evaluating Unemployment Policies: What Do the Underlying Theories Teil Us?, CEPR Discussion Paper No. 1081, London 1994, S. 21 f.

  11. Vgl. Henning Klodt u. a., Standort Deutschland: Strukturelle Herausforderungen im neuen Europa, Kieler Studie Nr. 265, Tübingen 1994.

  12. Tessa van der Willigen, Unemployment, Wages, and the Wage Structure, in: Robert Corker u. a., United Germany: The First Five Years, IMF Occasional Paper No. 125, , Washington DC 1995, S. 21-50.

  13. Vgl. K. Abraham/S. Houseman (Anm. 2); Kornelius Kraft, Wage Differentials Between Skilled and Unskillcd Workers, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 130 (1994) 2, S. 328-349.

  14. Vgl. Jacques Drze/Henri Sneessens, Technical Development, Competition from Low-Wage Economies and Low-Skilled Unemployment, in: Swedish Economic Policy Review, 1 (1994), S. 185-214; Richard Jackman, Unemployment and Wage Inequality in OECD Countries, Centre for Economic Performance, Discussion Paper No. 235, LSE, London 1995; P. Krugman (Anm. 3).

  15. Vgl. Stephen Nickell/Brian Bell, The Collapse in Demand for the Unskilled and Unemployment Across the OECD, in: Oxford Review of Economic Policy, 11 (1995) 1, S. 40-62.

  16. Vgl. Olivier Blanchard, Macroeconomic Implications of * Shifts in the Relative Demand for Skills, in: Economic Policy Review of the Federal Reserve Bank of New York, 1 (1995) 1, S. 48-60.

  17. Vgl. Norbert Berthold/Rainer Fehn. Arbeitslosigkeit -Woher kommt sic? Wann bleibt sie? Wie geht sie?, in: List Forum für Wirtschafts-und Finanzpolitik. 20 (1994), S. 304336; dies., Evolution von Lohnverhandlungssystemen -Macht oder ökonomisches Gesetz?, in: Werner Zohlnhöfer, (Hrsg.), Die Tarifautonomie auf dem Prüfstand, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Berlin 1995 (i. E.).

  18. Vgl. Norbert Berthold/Rainer Fehn, Reforming the Welfare State: The German Case, in: Herbert Giersch (Hrsg.), Reforming the Welfare State, Symposium der Egon Sohmen Stiftung, Prag 1995.

Weitere Inhalte

Nobert Berthold, Dr. rer. pol., geb. 1952; 1987 bis 1990 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg; seit 1990 Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Monetäre Integration in Europa. Eine ordnungspolitische Analyse, Köln 1990; Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft -Gefahr im Verzug? Berlin 1992; (zus. mit Bernhard Külp) Grundlagen der Wirtschaftspolitik, München 1992; Allgemeine Wirtschaftstheorie, München 1995; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften. Rainer Fehn, Dipl. -Kfm., geb. 1968; seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am volkswirtschaftlichen Institut der Universität Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Norbert Berthold) Neuere Entwicklungen in der Arbeitsmarkttheorie, in: WiSt (Wirtschaftswissenschaftliches Studium),. 24 (1995) 3; (zus. mit Norbert Berthold) Evolution von Lohnverhandlungssystemen -Macht oder ökonomisches Gesetz?, in: Werner Zohlnhöfer (Hrsg.), Die Tarifautonomie auf dem Prüfstand, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Berlin 1996 (i. E.).