I. Vorbemerkung
Daß die unabhängigen Gruppen, die sich seit Ende der siebziger Jahre im Schutzraum der evangelischen Kirchen der DDR zu formieren begannen, eine Schlüsselrolle bei der Beseitigung der SED-Herrschaft gespielt haben, gehört zum Gemeingut jeder Analyse der friedlichen Revolution im Herbst 1989. Welche gesellschaftliche Relevanz ihnen in Ostdeutschland aber vor der Wende zukam, ist durchaus umstritten und wissenschaftlich bislang nur wenig erforscht. Die westdeutsche DDR-Forschung maß den Friedens-, Umwelt-oder Dritte-Welt-Gruppen vor 1989 nur eine geringe Bedeutung zu; wenn überhaupt, dann wurden sie als kirchenpolitisches Problem oder als eines von Außenseitern eingehender thematisiert Die Gesellschaftswissenschaften der DDR beteiligten sich -anders als in anderen „Bruderstaaten“ -überhaupt nicht an der Analyse, weil der ideologische Grundsatz galt, daß für eine Opposition im Sozialismus die „objektive politische und soziale Grundlage“ fehle
Auch nach 1989 beschrieben Wissenschaftler aus Ost und West die Gruppen oft als „Außenseiter, die aufgrund von Prozessen, die sie weder eingeleitet noch gewollt hatten, zu Repräsentanten der Gesellschaft aufstiegen“, oder konstatierten, daß es in der DDR „im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern ... keine machtvolle Bürgerrechtsbewegung“ gegeben habe Die Akteure selbst waren sich uneins, ob es sich bei den Gruppen „eher um eine Randerscheinung sowohl der DDR-Gesellschaft insgesamt als auch der evangelischen Kirche“ gehandelt oder ob durch sie „der politische Widerstand eine Massenbasis und erstmals auch einen sozialen Hintergrund erlangt“ habe
Wie stark oder schwach die Gruppen tatsächlich in der DDR-Gesellschaft verankert waren, ist ohne detailgenaue Forschungen freilich kaum überzeugend zu beantworten. Häufig scheinen die abgegebenen Urteile auf generellen politischen Einschätzungen und Erfahrungen zu fußen, während wenig nach Zeiträumen, Regionen und Ereignissen differenziert wird. Die Frage, wie die gesellschaftliche Bedeutung der Gruppen überhaupt näher bestimmt werden kann, wird kaum thematisiert, obwohl sich gerade hier beträchtliche methodische Schwierigkeiten auftürmen. Denn nicht nur für die Gruppen selbst -ihre Verbreitung, ihre Zusammensetzung und ihre politische Wirksamkeit -existieren keine begleitenden sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, auch ihre Resonanz in der Gesellschaft wurde in der DDR zu keiner Zeit, z. B. durch Meinungsumfragen, gemessen (und wäre in einem System, das die offene Meinungsäußerung ausschloß, wohl auch schwerlich objektiv zu messen gewesen). Befugt, Fakten über das heikle Thema zusammenzutragen, waren allein das Ministerium für Staats-sicherheit (MfS) sowie einzelne Gliederungen der Partei. Das ausgedehnte Berichtswesen innerhalb der SED brachte es mit sich, daß Kreis-und Bezirksleitungen, die Abteilung Sicherheit, der Sektor Parteiinformation u. a. m. regelmäßig an übergeordnete Parteiinstanzen Rapport erstatteten. Unter den parteiinternen Berichten finden sich zum Beispiel solche über „Besondere Vorkommnisse im Bezirk“, zu denen auch gerechnet wurde, wenn auf einer Toilette Aufschriften wie: „Was unser Volk braucht, sind Reformen, wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte“ gefunden wurden Doch systematische Analysen über die gesellschaftliche Relevanz der Gruppen wurden augenscheinlich nicht erstellt, und die Tendenz zur Ideologisierung und Schönfärberei bei der parteiinternen Berichterstattung ließ eine ungeschminkte Darstellung der Lage nicht zu
Brauchbarer, so sollte man meinen, müßten die schriftlichen Hinterlassenschaften des MfS sein, denn dieses mußte wie keine andere DDR-Institution an einem objektiven Bild interessiert gewesen sein -gerade im Bereich der kritischen Bestrebungen. Doch auch hier kam es zu starken, ideologisch und institutionell bedingten Verzerrungen; mit wissenschaftlicher Erkenntnisbildung hatten selbst die „Dissertationen“ der „Juristischen Hochschule“ (JHS) des MfS in Potsdam nichts gemein. So fußen die Analysen des MfS durchweg auf dem Postulat, daß „politische Untergrundtätigkeit .. . das Ergebnis des subversiven Einwirkens des Imperialismus“ und „nicht aus dem Wesen des Sozialismus erklärbar“ sei; die Selbstzeugnisse der Gruppen gelten als „antisozialistische Mach-werke“ und ihre Initiatoren als „verschworene Feinde des Sozialismus“ Das MfS dokumentierte zwar in einer Unzahl von „Vorgängen“ den größten Teil der Gruppenaktivitäten und fertigte daraus auch regelmäßig „verdichtete“ Informationen und Übersichten an; doch die Frage, wie sehr sich darin gesamtgesellschaftliche Interessenlagen und Konflikte spiegelten, lag außerhalb seines ideologisch verengten Vorstellungsvermögens.
Gleichwohl bieten die Unterlagen des MfS, insbesondere seine zusammenfassenden Berichte und Analysen, am Beginn des historischen Aufarbeitungsprozesses wohl noch am ehesten die Möglichkeit, die gesellschaftliche Bedeutung der Gruppen vor der Wende genauer zu bestimmen -vorausgesetzt, man konzentriert sich auf die Auswertung der darin enthaltenen Zahlen und Fakten und abstrahiert von den ideologischen Verzerrungen. Ihr unschätzbarer Vorteil ist, daß sie angesichts der flächendeckenden Überwachungstätigkeit ein auf andere Weise kaum zu erreichendes Maß an Vollständigkeit aufweisen und oftmals Angaben über die gesamte DDR enthalten, während in den sonstigen Darstellungen die Perspektive zumeist eingeschränkt ist, vor allem auf die Städte Berlin oder Leipzig Ihr großer Nachteil sind die gravierenden methodischen Mängel, die bei „verdichteten“ Materialien doppelt schwer wiegen, weil die vom MfS präsentierten Daten nachträglich zumeist nicht mehr verifiziert werden können; hinzu kommt, daß sie manchmal auch in sich widersprüchlich sind und bislang nur für einzelne Zeiträume und Regionen vorliegen. Insofern können die folgenden Ausführungen nur erste Anhaltspunkte dafür liefern, welche Relevanz den Gruppen in der DDR-Gesellschaft letztlich zukam.
II. Die Verbreitung der Gruppen
Ein wichtiger Indikator für die gesellschaftliche Bedeutung der Gruppen ist naheliegenderweise die exakte Feststellung ihrer Verbreitung in der DDR: Wie groß war die Zahl der insgesamt existierenden Gruppen, und wie veränderte sie sich in Zeitverlauf? Formierten sich die Gruppen lediglich in bestimmten Zentren der DDR oder überall im Land? Wieviel Akteure engagierten sich im engeren Kreis, wie viele waren fallweise zu mobilisieren? Systematische Übersichten über die zahlenmäßige Entwicklung der Gruppen von ihrer Entstehung bis zum Herbst 1989 sind bislang nicht bekannt geworden. Nach heutigem Kenntnisstand waren die ersten themenbezogenen Basis-gruppen im Schutzraum der Kirchen Arbeitskreise von Wehrdienstverweigerern, die aus religiösen oder pazifistischen Motiven in der DDR den Dienst mit der Waffe verweigerten Aus ihnen gingen Anfang der siebziger Jahre u. a.der „Friedensdienstarbeitskreis in der DDR“ bei der Zentralen Geschäftsstelle des Evangelischen Jungmännerwerkes (JMW) in Berlin sowie das jährliche Friedensseminar in Königswalde hervor, an dem nach MfS-Angaben 1983 bereits ca. 400 Menschen teilnahmen Ein zweites, z. T. überlappendes Entstehungsfeld bildete die evangelische Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Jungen Gemeinden (JG), Evangelischen Studentengemeinden (ESG), im Jungmännerwerk und in „offener Jugendarbeit“, aus der sich -verstärkt in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre -gesellschaftskritische Veranstaltungen und Diskussionen sowie kontinuierlich arbeitende Kreise, vor allem zur Friedensproblematik, herausbildeten
Friedenskreise der ESG gab es 1980 zum Beispiel in Dresden, Berlin und Magdeburg, und an den vom Ostberliner Pfarrer Rainer Eppelmann erstmals 1979 organisierten „Blues-Messen“ in Berlin nahmen regelmäßig mehrere hundert Jugendliche teil Aus der kirchlichen Jugendarbeit gingen 1980 auch die jedes Jahr im November veranstalteten „Friedensdekaden“ hervor, in deren Rahmen es zu zahlreichen innerkirchlichen Veranstaltungen und auch zu ersten Aktionen außerhalb der Kirchen kam -etwa ein als „Stiller Weg“ bezeichneter Marsch von 500 bis 600 Jugendlichen in Halle oder die Verbreitung von mehr als 100 000 Aufnähern mit dem Symbol „Schwerter zu Pflug-scharen“ im Jahre 1981 Am Dresdener Friedens-forum im Februar 1982 -eigentlich als Demonstration geplant -nahmen schon rund 5 000 junge Leute teil, die Berliner Friedenswerkstatt zählte im Juli ähnlich viele Besucher. Zur Friedensbewegung stießen zu diesem Zeitpunkt auch einzelne sozialistisch inspirierte Intellektuelle, darunter Robert Havemann, sowie Mitglieder von konspirativ arbeitenden Zirkeln, die in den siebziger Jahren den real existierenden Sozialismus vor allem theoretisch kritisiert hatten
Auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung konstatierte das MfS die Existenz von mehr als 50 Friedenskreisen in der DDR (1983) und befürchtete die Gründung von „weiteren derartigen Basisgruppen“ Einer später angefertigten MfS-Darstellung zufolge gab es 1983 sogar bereits 100 Friedenskreise, deren Zahl im folgenden Jahr allerdings auf 60 zurückgegangen sei. Der Rückgang wurde jedoch durch die Bildung anderer Gruppen (50 Ökologiekreise, 12 Frauenfriedenskreise) mehr als kompensiert, so daß das MfS -zu Recht -nur von einer veränderten thematischen Ausrichtung bei den Gruppen seit 1983/84 ausging Hinzu kamen ab 1986/87 die Gruppen des „Arbeitskreises Solidarische Kirche“ (AKSK) und der „Kirche von Unten“ (KvU), die -ebenso wie die kirchenunabhängige „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) -eine schrittweise Emanzipation der Basisgruppen von ihrer Mutter-institution, den Kirchen, anzeigten.
Umfangreiches Zahlenmaterial über die Verbreitung der Gruppen liegt bisher nur für den Zeitraum 1988/89 vor. Nach der „Information Nr. 150/89“ für das SED-Politbüro zählte das MfS Anfang 1989 in der gesamten DDR ca. 160 „feindlichnegative Personenzusammenschlüsse“, darunter knapp 150 kirchliche Basisgruppen Davon hätten sich 35 Gruppen als „Friedenskreise“ bezeichnet, 39 als „Ökologiegruppen“, 23 als gemischte „Friedens-und Umweltgruppen“, 7 als „Frauengruppen“, 3 als „Ärztekreise“, 10 als „Menschenrechtsgruppen“ und 39 als „ 2/3-Welt-Gruppen“. Zu etwas anderen Ergebnissen kommt man, wenn man die der Information beigefügten „Auskünfte zu Personenzusammenschlüssen“ heranzieht und auf dieser Basis das inhaltliche Profil der Gruppen bestimmt: Danach existierten 49 Friedensgruppen, 42 Umweltgruppen, 21 gemischte Friedens-und Umweltgruppen, 27 Demokratie-oder Menschenrechtsgruppen und vier 2/3-Welt-Gruppen Vergleicht man dabei die für die einze als gemischte „Friedens-und Umweltgruppen“, 7 als „Frauengruppen“, 3 als „Ärztekreise“, 10 als „Menschenrechtsgruppen“ und 39 als „ 2/3-Welt-Gruppen“. Zu etwas anderen Ergebnissen kommt man, wenn man die der Information beigefügten „Auskünfte zu Personenzusammenschlüssen“ 19 heranzieht und auf dieser Basis das inhaltliche Profil der Gruppen bestimmt: Danach existierten 49 Friedensgruppen, 42 Umweltgruppen, 21 gemischte Friedens-und Umweltgruppen, 27 Demokratie-oder Menschenrechtsgruppen und vier 2/3-Welt-Gruppen 20. Vergleicht man dabei die für die einzelnen Gruppen genannten Gründungsjahre, so fällt auf, daß sich die Ausgangsthemen bei den Gruppengründungen im Laufe der Zeit deutlich verschoben: Während sich die Anfang der achtziger Jahre entstandenen Gruppen ausschließlich zu den Themen Frieden, Umwelt und 2/3-Welt konstituiert hatten, gründeten sich 1986 erstmals drei Gruppen zur Demokratie-und Menschenrechtsproblematik, 1987 waren es schon dreizehn -also ein ziemlich abrupter Anstieg. Berücksichtigt man außerdem, daß nach den Festnahmen im November 1987 und Januar 1988 auch zahlreiche anders orientierte Gruppen diesen Themen einen prominenten Platz einräumten und sich an den DDR-weiten Solidaritätsaktionen beteiligten, wird die zunehmende „Politisierung“ der Gruppen in den letzten Lebensjahren der DDR deutlich.
Obwohl das MfS alles unternahm, die Arbeit der Gruppen einzuschränken oder ganz zu verhindern 21, gelang es offensichtlich nicht, die Gesamtzahl der Gruppen zu verringern, da den aufgelösten Zusammenschlüssen eine gleich große Anzahl neugebildeter gegenüberstand. Allein im Jahr 1988 hätten sich sieben Regionalgruppen des „Arbeitskreises Solidarische Kirche“ sowie je acht Friedenskreise bzw. Ökologiegruppen neu gegründet; viele Gruppen waren sogar erstaunlich stabil, denn „über die Hälfte aller derartigen Zusammenschlüsse wurde vor dem Jahre 1985 gebildet“ 22. Die „Auskünfte zu Personenzusammenschlüssen“ zeigen eine ähnliche Tendenz: Von den 1989 erfaßten 159 Gruppen wurden danach 35 im Jahr 1988 gegründet, 26 im Jahr 1987 und 24 im Jahr 1986; zahlreiche Gruppen waren aber noch früher entstanden -1985 (11), 1984 (20) und 1983 (16); nur 18 Gruppen existierten jedoch länger als sieben Jahre.
Aufschlußreich sind auch die Angaben über die regionale Verteilung der Gruppen im Frühjahr 1989. Als territorialer Schwerpunkt galt der „Information Nr. 150/89“ zufolge Berlin mit insgesamt 19 Gruppen, darunter „die aktivsten und gefährlichsten in der DDR“. Als weitere Schwerpunkte wurden die Bezirke Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Halle, Dresden, Gera und Erfurt ausgemacht 23. Nach den detaillierteren „Auskünften zu Personenzusammenschlüssen“ gab es keinen einzigen Bezirk, in dem überhaupt keine Gruppen existierten. An erster Stelle lag nach dieser Quelle mit 27 Gruppen der Bezirk Karl-Marx-Stadt, gefolgt von Halle (20), Leipzig und Berlin (je 19) sowie Dresden (16); im Mittelfeld befanden sich mit jeweils acht Gruppen die Bezirke Erfurt, Magdeburg und Potsdam, mit jeweils sieben Gruppen die Bezirke Gera und Schwerin sowie mit je sechs Gruppen die Bezirke Cottbus, Rostock und Suhl; nur wenige Gruppen existierten hingegen in den Bezirken Neubrandenburg (drei) und Frankfurt/Oder (eine).
Die Gruppenbildung beschränkte sich in keinem einzigen DDR-Bezirk auf die jeweilige Bezirks-hauptstadt (mit Ausnahme von Frankfurt/Oder, wo es nur eine einzige Gruppe gab), sondern erfaßte ebensosehr die Subzentren und oftmals sogar kleinste Ortschaften. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt existierten beispielsweise zehn Gruppen in Karl-Marx-Stadt selbst, fünf in Zwickau, drei in Freiberg und je eine in Marienburg, Neuhausen, Annaberg, Penig, Königswalde, Frauenstein, Oels-nitz, Auerbach und Schönborn. Ein ähnliches Erscheinungsbild zeigt sich auch in den anderen Bezirken, was deutlich macht, daß die Gruppen kein vorrangig großstädtisches Phänomen waren, sondern -ungeachtet ihrer besonders hohen Konzentration in Berlin, Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Dresden und Halle -mit insgesamt 73 verschiedenen Standorten ein vergleichsweise dichtes Netz in der DDR bildeten.
Neben der Intensität der Gruppenbildung ist auch die Zahl der in ihnen engagierten Personen ein wichtiger Indikator, um ihre gesellschaftliche Bedeutung festzustellen. Im Januar 1988 schätzte das MfS ein, daß das „im Sinne politischer Untergrundtätigkeit mobilisierbare Potential ... in Berlin etwa 500, im Republikmaßstab ca. 1 000 Personen umfaßt“ In der „Information Nr. 150/89“ wird hingegen das Gesamtpotential der Zusammenschlüsse einschließlich derjenigen, die lediglich als Teilnehmer von Aktivitäten oder Veranstaltungen fungierten, für Anfang 1989 auf 2 500 Personen (= ca. 0, 015 Prozent der Gesamtbevölkerung) beziffert. Den sogenannten Führungsgremien werden etwa 600 Personen zugerechnet, während ca. 60 Personen als „harter Kern“ der Gruppen gelten Den „Auskünften“ zufolge hatten die Gruppen zum selben Zeitpunkt 802 aktive Mitglieder
Untersucht man die regionale Verteilung der Mitglieder, zeigt sich -deutlicher als bei der der Gruppen -die Vorrangstellung Berlins mit insgesamt 118 namentlich erfaßten Personen. In Dresden und Leipzig, die statistisch an zweiter und dritter Stelle stehen, waren es mit 57 bzw. 54 Mitgliedern weniger als halb so viele; im weiteren folgen die Städte Halle (45), Karl-Marx-Stadt (38), Potsdam Erfurt (19), Weimar (16), Cottbus (14) und Magdeburg (13). Setzt man allerdings die Zahl der Mitglieder in Beziehung zu der der Einwohner, ergibt sich ein anderes Bild: Unter den Großstädten liegt dann Potsdam an der Spitze, gefolgt von Halle, Karl-Marx-Stadt, Dresden, Cottbus, Leipzig und erst dann Berlin sowie Erfurt und Magdeburg.
III. Die Mitgliederstruktur
Ein weiterer Indikator für die gesellschaftliche Bedeutung der Gruppen sind Angaben über die Zusammensetzung der Gruppen, über die bislang zumeist nur vage Urteile existieren 27. Waren es vornehmlich Jugendliche, die sich in den Gruppen engagierten, oder war es die Generation der 25-bis 45jährigen, die in der Bundesrepublik die Neuen Sozialen Bewegungen prägte? Waren die Gruppen vorrangig von Intellektuellen geprägt, oder dominierten in ihnen eher Pastoren und kirchliche Mitarbeiter? Deckten sie in ihrer sozialen Zusammensetzung ein relativ breites oder nur ein schmales gesellschaftliches Spektrum ab?
Über die Altersstruktur der Gruppen finden sich in der „Information Nr. 150/89“ nur allgemeine Angaben wie die, daß die Mehrzahl der Führungskräfte im Alter zwischen 25 und 40 Jahren sei. Aus den „Auskünften zu Personenzusammenschlüs-sen“ lassen sich hingegen exaktere Angaben ableiten, da von gut 93 Prozent der namentlich genannten Mitglieder auch das Alter (im Jahr 1989) ange. geben wird” Danach gehörten von den 753 altersmäßig erfaßten Gruppenmitgliedern fast 40 Prozent der Generation der 25-bis 34jährigen an, weitere 27 Prozent waren zwischen 35 und 44 Jahre alt. Der Anteil der 15-bis 24jährigen lag bei knapp 20 Prozent, der der 45-bis 54jährigen bei 11 Prozent. 55 Jahre und älter waren nur 2, 5 Prozent.
Der größte Teil der Gruppenmitglieder wurde also erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, was augenfällig macht, daß es sich bei den Gruppen um ein Phänomen handelte, das auf dem Boden der sozialistischen Gesellschaft herangereift war. Auf der anderen Seite umfassen die Gruppen ein relativ breites Altersspektrum, was zeigt, daß die Gruppenbildung keine Form des Jugendprotestes war, obzwar die jüngste Generation ein wichtiges Segment der Gruppenmitglieder bildete. Vorherrschend waren jedoch diejenigen, die die Bildungssozialisation bereits durchlaufen hatten und im berufsfähigen Alter waren oder sogar schon ein längeres Berufsleben hinter sich hatten. Zwischen den verschiedenen Bezirken zeigen sich dabei gewisse Unterschiede wie die Dominanz der 35-bis 44jährigen in Berlin oder die deutlich jüngere Altersstruktur der Gruppen im Bezirk Leipzig; die weniger großstädtisch geprägten DDR-Bezirke zeigen oftmals eine Tendenz zu jüngeren Gruppen-mitgliedern. Insgesamt handelt es sich aber bei den Gruppenmitgliedern überwiegend um jene Alterskohorten, die auch in der Bundesrepublik thematisch verwandte Bewegungen wie die Ökologie-oder Friedensbewegung hervorgebracht haben.
Schwieriger als die Analyse der Altersstruktur gestaltet sich die Bestimmung des Sozialmilieus der Gruppen. Verantwortlich ist dafür nicht nur der Mangel an Daten über Herkunft, Schichtenzugehörigkeit, Beruf oder kirchliche Bindung der Akteure, sondern auch die Verzerrung des sozialen Erscheinungsbildes durch spezifische Faktoren des gesellschaftlichen Lebens in der DDR. So führte die staatliche Berufslenkung oftmals dazu, daß Kinder „bürgerlicher“ Elternhäuser gar nicht oder nur milieufremde Fächer studieren durften. Der politische Druck in zahlreichen Berufen löste auch bestimmte Ausweichstrategien aus, so daß eine erkleckliche Anzahl von Gruppenmitgliedern mit Hilfsarbeiten seinen Lebensunterhalt verdiente -was zu dem irreführenden Schluß verleiten könnte, daß die unteren sozialen Schichten in den Gruppen besonders stark vertreten waren. Auch die große Zahl kirchlicher Mitarbeiter kann nicht einfach zu dem Resümee verlängert werden, diese Gruppen seien in erster Linie eine religiöse, kirchliche oder, wie verschiedentlich argumentiert wurde protestantische Erscheinung gewesen, sondern muß zugleich mit der Tatsache erklärt werden, daß die Kirchen strukturellen Ersatz boten für anderswo verweigerte Bildungschancen und berufliche Freiräume.
Gleichwohl können die vom MfS erhobenen Daten zumindest Anhaltspunkte dafür geben, welche sozialen Milieus in den Gruppen von Bedeutung waren. Nach der „Information Nr. 150/89“ war der Anteil von Arbeitern und anderen im produktiven Bereich Tätigen relativ gering, während zwölf Prozent aller aktiven Mitglieder 1989 gar kein Arbeitsrechtsverhältnis besaßen. Unter den „Führungskräften“ befand sich danach ein erheblicher Anteil kirchlicher Amtsträger und Mitarbeiter, von Hoch-und Fachschulabsolventen sowie promovierten Personen, die z. T. im Bereich der Kirche oder anderweitig eine nicht ihrer Qualifikation entsprechende Tätigkeit ausübten Einer anderen Quelle zufolge handelte es sich bei den aktiven Kräften um „Personen aus Kreisen der Kunst-und Kulturschaffenden, der wissenschaftlich-technischen, medizinischen und pädagogischen Intelligenz und der studentischen Jugend“ mit und ohne religiöse Bindung
Die „Auskünfte zu Personenzusammenschlüssen“ enthalten demgegenüber sehr viel genauere Berufsangaben zu insgesamt 739 namentlich genannten Gruppenmitgliedern. Angesichts der oftmals blumigen Berufsbezeichnungen in der DDR und den z. T. unsystematischen Angaben des MfS ist es freilich nicht ganz einfach, diese in eine systematische Übersicht zu bringen. Für die Analyse wurden deshalb ausschließlich die 1989 tatsächlich ausgeübten Berufe herangezogen und in Groß-gruppen zusammengefaßt. Ins Auge fällt dabei wiederum zuallererst die erhebliche Dominanz des kirchlichen Milieus in den Gruppen: 103 Gruppenmitglieder waren Pastoren, 139 Beschäftigte der Kirchen in unterschiedlichsten Berufen (vom Küster über die Gemeindehelferin bis zum Dozenten), zuzüglich 13 Vikare, 35 Studenten der Theologie oder anderer kirchlicher Ausbildungsgänge sowie 4 Theologen; zusammengerechnet sind dies knapp 40 Prozent aller Gruppenmitglieder. Relativierend muß dazu allerdings festgestellt werden, daß viele kirchliche Mitarbeiter auch qua ihres Amtes mitwirkten, da die Kirchen den Gruppen ihre Räumlichkeiten und oftmals auch eine Betreuung zur Verfügung stellten. Darüber hinaus bildeten die Kirchen für viele „gebrochene“ Biographien ein berufliches Auffangbecken -sei es, daß sie jemanden als Hausmeister beschäftigten oder, nach einer entsprechenden Ausbildung, in qualifizierteren Tätigkeiten. Unbestritten bleibt aber die starke Prägung sowie die relative Unkontrollierbarkeit der Gruppen durch die kirchlichen Berufe zahlreicher Mitglieder.
Eine zweite Großgruppe, die zur ersten eine gewisse Affinität aufweist, bilden jene 90 Gruppenmitglieder (= 12 Prozent der Gesamtangaben), die -in der Regel außerhalb der Kirchen -im medizinisch-pflegerischen Bereich beschäftigt waren, darunter 34 Ärzte, Pfleger oder Krankenschwestern sowie 11 Beschäftigte in sozialen Diensten. Nimmt man auch jene mit in den Blick, die als kirchliche Mitarbeiter in diesem Sektor beschäftigt waren, wird deutlich, daß dieses überdurchschnittlich stark von sozialen oder humanen Orientierungen geprägte Milieu in den Gruppen ein relativ bedeutendes Segment stellte. Eher schwach vertreten war hingegen das geisteswissenschaftlich-kulturelle Milieu, das in anderen sozialistischen Ländern oftmals eine Schlüsselfunktion bei der Konstituierung unabhängiger politischer Bestrebungen innehatte: Höchstens 37 Personen (= 5 Prozent) können dem Bereich Kultur und Bildung zugerechnet werden, davon 13 freischaffende Künstler (darunter 2 Autoren), 4 Bibliothekare bzw. Buchhändler, 5 Lehrer sowie einige wenige Beschäftigte in Theatern (5), Museen (3), kulturpolitischen Einrichtungen (2) etc.
Ein überraschend großes Gewicht hatte demgegenüber ein in gewisser Weise entgegengesetztes Sozialmilieu: 82 Gruppenmitglieder waren in technischen Berufen tätig (= 11 Prozent), darunter allein 39 Ingenieure; hinzu kommen 39 Naturwissenschaftler, 57 Arbeiter sowie verschiedene kleinere Kontingente von Handwerkern, Verwaltungsangestellten etc. Die Angaben zeigen nicht nur, daß das Spektrum der in den Gruppen vertretenen Berufe vergleichsweise breit war, sondern auch, daß immerhin rund 30 Prozent der Mitglieder nicht in einem eher humanorientierten Beruf tätig waren.
Ein nicht unbedeutendes Kontingent (7, 8 Prozent) haben schließlich auch solche Gruppenmitglieder gebildet, die keiner regelmäßigen Berufstätigkeit nachgingen und deshalb nicht nur über einen größeren Zeitfonds verfügten, sondern -zum Bedauern des MfS 32 -auch dem politischen Konformitätsdruck weniger ausgesetzt waren; allein 40 Personen zählte das MfS „ohne Arbeitsrechts-verhältnis“. Angehörige des Parteiapparates oder der Sicherheitsorgane waren dagegen überhaupt nicht in den Gruppen vertreten.
IV. Die gesellschaftliche Wirksamkeit der Gruppen
Für die gesellschaftliche Relevanz der Gruppen ist neben den soziologischen Faktoren vor allem die Frage nach ihrer politischen Wirksamkeit von Bedeutung -also nach der Überzeugungskraft ihrer inhaltlichen Vorstellungen sowie nach ihrer praktischen Fähigkeit, sich Gehör zu verschaffen und politisch Einfluß zu nehmen. Dafür sind die MfS-Materialien freilich nur in begrenztem Maße von Nutzen, da die Programmatik der Gruppen zumeist stark verzerrt wiedergegeben wird und eine Anerkennung echter gesellschaftlicher Resonanz im Widerspruch zum Selbstverständnis der MfS-Mitarbeiter gestanden hätte. Hier würden nur vielfältige Fallstudien weiterhelfen, die das politische Profil und die gesellschaftliche Wirksamkeit der Gruppen möglichst detailgenau rekonstruieren. Einige Aspekte sollen an dieser Stelle gleichwohl angeschnitten werden, bei denen auch eine Auswertung der MfS-Analysen hilfreich sein kann. 1. Programmatische Überzeugungskraft Über die politischen Vorstellungen der Gruppen wird oft bemerkt, daß sie die zentralen gesellschaftlichen Anliegen -etwa im Konsumbereich oder in der Frage der Reisefreiheit -nicht genügend berücksichtigt hätten: „Die Position der Mehrheit der Bevölkerung kam nicht hinreichend zum Ausdruck. Deren Bedürfnisse wurden ... kaum reflektiert, die nationale Frage galt als Tabu.“ Demgegenüber ist freilich festzuhalten, daß es den Gruppen bis zum Herbst 1989 in erster Linie darum gehen mußte, in der DDR überhaupt einen minimalen -eigentlich gar nicht vorhandenen -Spielraum für ein unabhängiges politisches Engagement herzustellen und nach Möglichkeit auszuweiten. Allein die Tatsache, daß jemand kontinuierlich Widerspruch erhob und damit das harmonistische Gesellschaftsbild der SED als aufgezwungen entblößte, verlieh den Gruppen -auch und gerade in den Augen des MfS -eine eminent politische Bedeutung. Vor diesem Hintergrund erscheinen die programmatischen Vorstellungen der Gruppen in der Rückschau weit weniger marginal als beispielsweise die inhaltlich umfassenderen und radikaleren Alternativkonzepte von Rudolf Bahro oder den Autoren des sogenannten „Spiegel-Manifestes“ Vielfach zeigten die Gruppen programmatisch sogar ein besonders ausgeprägtes Gespür für die jeweils vorhandenen Freiräume und die Chancen ihrer Ausdehnung, wie der folgende Überblick deutlich macht.
Zu Beginn der Ausbreitung der Gruppen im Schutzraum der Kirchen spielten offensichtlich eher vorpolitische Diskussionen -insbesondere unter Jugendlichen -eine wichtige Rolle, wie aus einer Analyse des MfS von 1983 hervorgeht: „Durch angeblich religiöse Veranstaltungen“, heißt es dort über die frühen achtziger Jahre, werde „Eigenständigkeit und Unabhängigkeit dokumentiert. Sie beinhalten eine , kritische Distanz'zur offiziellen Politik.“ Insbesondere in der offenen Jugendarbeit würden „unter religiösem Deckmantel .. . zunehmend gesellschaftspolitische Probleme mit negativen Grundaussagen gegen die Partei-und Staatspolitik aufgegriffen und diskutiert ... Zunehmend größere Teile der Jugend . . . finden in kirchlichen Zusammenkünften eine interessante’ Atmosphäre, sie dürfen frei’ diskutieren, es gibt unpolitische’ und pluralistische Themen.“ Auch Lesungen von kritischen
Schriftstellern, die Bemühungen um eine neue Wissenschaftsethik oder die Beratungsarbeit für Wehrpflichtige werden in diesem Zusammenhang angeführt -Beispiele für die Herstellung gesellschaftlicher Autonomie in winzigen Teilbereichen
Eine Erweiterung gesellschaftlicher Wirksamkeit ist zweifelsohne auch im Bedeutungsgewinn der Friedensproblematik zu erkennen: Durch das Anwachsen der Friedensbewegung im Westen fand nämlich das vorher eher isolierte pazifistische Engagement in der DDR plötzlich deutlich verbesserte Wirkungsbedingungen, weil die SED im eigenen Land schlecht verbieten konnte, was sie in anderen Ländern propagandistisch feierte.
Forderungen wie die nach Einführung eines „Sozialen Friedensdienstes“ (SOFD) ermöglichten nicht nur eine bis dahin unerreichte Mobilisierung politischer Kritik, sondern schufen darüber hinaus eine begrenzte Fähigkeit zur politischen Intervention, denn das Thema wurde über die Kirchen auch mit dem Staat verhandelt. Die massenhafte Verbreitung des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“ (die Wiedergabe eines sowjetischen Denkmals vor der UNO-Zentrale und gleichzeitig ein Bibel-Zitat) macht ebenfalls deutlich, wie sich die Mobilisierungsfähigkeit durch das Anknüpfen an offizielle Standpunkte erweiterte. In einer MfS-Dissertation von 1989 wird diese Symbolaktion rückblickend nicht ohne Grund „als erster massiver Versuch des provokatorisch-demonstrativen öffentlichkeitswirksamen Vorgehens feindlich-negativer Kräfte“ und „die feindliche Konzeption einer , staatsunabhängigen Friedensbewegung'als theoretische und organisatorische Basis für die Schaffung einer inneren Opposition“ angesehen
Die Friedensprogrammatik der Gruppen setzte mit ihrer blockübergreifenden Perspektive auch die für die Selbstlegitimation der SED zentrale Freund-Feind-Logik außer Kraft und eröffnete zahlreiche praktische Möglichkeiten zur internationalen Zusammenarbeit. Die „Internationalisierung“ der Gruppen -zunächst in Richtung Westen, dann auch in Richtung Osten -wird in den MfS-Analysen frühzeitig als alarmierend hervorgehoben, da man dem Ost-West-Dialog „sowohl orientierende und organisierende als auch schützende’ Funktionen“ zumaß In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre schätzte man bereits „die Bestrebungen zur Herstellung und Stabilisierung der Verbindungen feindlich-negativer Kräfte mehrerer sozialistischer Länder ... als wesensbestimmendes Handlungsmerkmal“ ein und fürchtete die Entstehung einer gesamteuropäischen Friedens-, Bürgerrechts-und Naturschutzbewegung, die in einzelnen sozialistischen Ländern sogar auf staatliche Duldung oder Unterstützung treffe Darüber hinaus zeigte sich das MfS besorgt über die im Zuge der Friedensdiskussion entstandene Beschäftigung mit den Methoden des gewaltfreien Widerstandes, mit deren Anwendung die Gruppen „unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Relevanz bleiben und das Eingreifen der Sicherheitsorgane erschweren und diskreditieren“ wollten. Ziel sei es u. a., damit „, Freiräume‘ für das Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte auszuloten und auszudehnen, ... angestrebte Legalisierungseffekte’ zu erreichen, .. . sowie . Internationale Anerkennung'... zu erreichen“
Die programmatische Schwerpunktverlagerung von der Friedens-zur Umweltpolitik ab 1983, die man auch als Depolitisierung der Gruppen interpretieren könnte, wurde vom MfS keineswegs mit Erleichterung aufgenommen. In einem „Studienmaterial“ aus dem Jahre 1983 wird vielmehr das Bestreben hervorgehoben, „den Etikettenschwindel mit der Friedensbewegung schrittweise auf weitere Themenbereiche auszudehnen“. Mit Sorge sah das MfS insbesondere die Verbreitung alternativer Informationen zum Umweltschutz, bei denen „Materialien vertraulichen und geheimzuhaltenden Charakters Anwendung finden . . . Die vorgeblichen Umweltschützer versuchen auch, in staatliche Organe und gesellschaftliche Organisationen einzudringen.“ Tatsächlich gelang es den Gruppen zuvörderst im Umweltbereich, unter den Bedingungen der kommunistischen Diktatur eine begrenzte praktisch-politische Handlungsfähigkeit zu entwickeln.
Nachdem sich die Gruppen in den Themenfeldern Frieden und Umwelt organisatorisch stabilisiert hatten, wandten sie sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre verstärkt neuen Themen wie der Bildungspolitik, den Menschenrechten, der Medienpolitik, der Wirtschafts-und Sozialpolitik sowie der Kulturpolitik zu; in zunehmendem Maße thematisierten sie dabei auch die „harten“ politischen Fragen -also das Macht-und Wahrheitsmonopol der SED, den zentralistischen Staats-und Gesellschaftsaufbau, die Einschränkung der Frei-
Zügigkeit Frage sowie -vereinzelt -die nationale Den „ersten konzentrierten Ausdruck“ dieser Entwicklung sah das MfS in einer Eingabe an den XI. Parteitag der SED vom April 1986, der in der Folgezeit zahlreiche weitere „feindliche“ Positionspapiere gefolgt seien: „Betrachtet man diese antisozialistischen Machwerke in ihrer Gesamtheit, wird zunehmend klarer erkennbar, daß damit allmählich ein geschlossenes Programm zur Destabilisierung der sozialistischen Gesellschaftsordnung entsteht.“ Als problematisch betrachtete das MfS insbesondere die zunehmenden Bemühungen der Gruppen um eine verbesserte konzeptionelle Arbeit sowie „den demagogische(n) Mißbrauch des KSZE-Prozesses“, zumal nachdem sich auch die DDR (auf der Wiener Folgekonferenz der KSZE) zur Respektierung von Menschenrechts-gruppen verpflichtet hatte. In den von den Gruppen vertretenen basisdemokratischen Prinzipien sah es hingegen weniger eine Vorwegnahme und Einübung der Demokratie als vielmehr einen Ansatzpunkt für die ge ielte „Zersetzung“ der Gruppen durch systematis ies Schüren innerer Auseinandersetzungen. Beruhigt meldete deshalb das MfS noch im Mai 1989 an das Politbüro: „Die in der DDR wirkenden feindlichen, oppositionellen und anderen negativen Kräfte verfügen über kein einheitliches politisches Konzept bzw. über kein in sich geschlossenes , alternatives 4 Gesellschaftsmodell.“ 2. Organisatorische Stärke Ergiebiger als für die programmatische Analyse erscheinen die MfS-Studien bei der Untersuchung der organisatorischen Stärke der Gruppen, wobei eine detailliertere Organisationsgeschichte hier nicht entfaltet werden kann. Zunächst kann nicht genug betont werden, wie umfassend die Bemühungen des MfS mit seinen zuletzt fast 100 000 hauptamtlichen Mitarbeitern waren, „es gar nicht erst zur Bildung feindlich-negativer Personenzusammenschlüsse, zu feindlich-negativen Handlungen, Aktivitäten im Sinne politischer Untergrund-tätigkeit kommen zu lassen“ Gemessen an dieser „Zielstellung“ nimmt es Wunder, daß überhaupt eine kontinuierliche politische Arbeit entwickelt werden konnte.
Zu Beginn der achtziger Jahre registrierte das MfS neben der vermehrten Gründung von Basisgruppen auch erste „Versuche zur überörtlichen Vereinigung“ sowie zur Institutionalisierung „unter dem Schirm der Kirchen“; zugleich stellte es eine „Eskalation öffentlichkeitswirksamer, anti-sozialistischer Aktionen und Maßnahmen“ fest. Namentlich genannt wird die Initiative des Magdeburger Pfarrers Hans-Joachim Tschiche, eine „Brüderschaft -Frieden konkret“ zu gründen (1982), sowie das erste „Zusammentreffen leitender Mitglieder (125) von ca. 32 , Friedenskreisen‘ aus der gesamten DDR“ (1983), das sich dann zur jährlichen, mit Delegierten aus allen Gruppen beschickten Versammlung „Konkret für den Frieden“ institutionalisierte Unerwähnt bleibt allerdings, daß alle Versuche, eine stärker strukturierte Organisationsform zu entwickeln, von der Mehrheit der Gruppen abgelehnt wurde -gefördert nicht zuletzt durch die geheime Einflußnahme des MfS. Trotz DDR-weiter Vernetzung und Einrichtung eines sogenannten „Fortsetzungsausschusses“ konnte das MfS deshalb auch vom VII. Treffen (1989) berichten: „Vorstellungen nach einer einheitlichen zentralen Führung aller kirchlicher Basisgruppen trat die Mehrzahl der Teilnehmer entgegen und beharrte auf der Position der Beibehaltung ihrer Eigenständigkeit.“
In der Tendenz trifft die Einschätzung des MfS vom Mai 1989 aber durchaus zu, daß Organisationsgrad und Kommunikationsstrukturen der Gruppen systematisch gefestigt worden seien. Beigetragen hätten dazu u. a. eine bessere Anpassung an kirchliche Strukturen, regionale und DDR-weite Zusammenkünfte, „ein relativ stabiles und gut funktionierendes Verbindungs-und Nachrichtensystem (u. a. , Kontakttelefone 4, Kuriereinsatz)“, zunehmende Kontakte in das nichtsozialistische Ausland und zu Oppositionsgruppen in anderen sozialistischen Staaten sowie die „Bereitstellung illegal in die DDR eingeführter Druck-und Vervielfältigungstechnik sowie weiterer, für eine moderne Informationsvermittlung/-verbreitung bedeutsamer Materialien wie Videotechnik und Heimcomputer“. Die Solidarisierungswelle nach den Verhaftungen im November 1987 und im Januar 1988 veranlaßte das MfS, insgesamt von einer ,, neue(n) Qualität des Zusammenwirkens“ der Gruppen zu sprechen
Aufmerksam, aber in gewisser Weise hilflos registrierte das MfS, wie die Gruppen ein zunehmend breites Repertoire an Aktionsformen entwickelten -von der „Verweigerung der Zusammenarbeit“ (z. B. durch die demonstrative Rückgabe von Wahlbenachrichtigungskarten) über die „, Wahrnehmung von Mitwirkungsrechten 4 mit antisozialistischer Zielrichtung“ (z. B. durch förmliche Klageschriften gegen Staatsvertreter oder durch organisierte Eingabenkampagnen) bis hin zu Formen des gewaltfreien Widerstandes und des zivilen Ungehorsams (z. B. Fahrradkorsos, Schweigeminuten, Unterschriftensammlungen, Mahnwachen etc.) Neben der Nutzung der legalen Wirkungsmöglichkeiten der Kirchen hätten sie neue Methoden der öffentlichkeitswirksamen Artikulation entwickelt und gezielt „Tests zur Ausweitung des Handlungsraumes und der , Belastbarkeit 4 des Staates vorgenommen, wie die Durchführung vielfältigster , stiller Demonstrationen 4 provokatorisch-demonstrativen Charakters (... u. a. Kerzenmahnwachen vor Kirchen)“
Von besonderer Bedeutung -vor allem für die innere Selbstverständigung und Information, aber auch für die Mobilisierungsfähigkeit und den Abbau von Angst -war die Herstellung und Verbreitung einer wachsenden Zahl „nichtgenehmigter Druck-und Vervielfältigungserzeugnisse“. In einer Information für das Politbüro konstatierte das MfS 1989 eine Forcierung dieser Aktivitäten seit 1986 und eine steigende Tendenz im laufenden Jahr; über die Hälfte von den ca. 25 „beachtenswerten“ Blättern würde erst seit einem Jahr hergestellt. Territoriale Schwerpunkte bildeten Berlin mit sieben mehr oder weniger regelmäßig erscheinenden Schriften sowie die Bezirke Leipzig, Halle, Dresden und Karl-Marx-Stadt. Die Auflagenhöhe habe bei bis zu 2 000 Exemplaren gelegen, der Umfang von wenigen Blatt bis zu 100 Seiten gereicht -bei Zunahme beider Werte Die Informationsblätter würden fast ausschließlich mittels in kirchlichen Räumen installierter Druck-und Vervielfältigungstechnik hergestellt, während die Verbreitung über den Postversand erfolgte, auf Zusammenkünften der Basisgruppen, auf kirchlichen Veranstaltungen, durch Auslegen in Treffpunkten wie der „Umweltbibliothek“ sowie durch individuelle Weitergabe, so daß sich die Leserschaft im Vergleich zur Auflagenhöhe potenziere; zusätzlich vergrößert werde der Rezipientenkreis durch die Auswertung in westdeutschen elektronischen Medien.
Publiziert wurden vor allem Positionspapiere oder Selbstdarstellungen der Gruppen, Beiträge zur Situation in der DDR, insbesondere in der Umweltpolitik, oppositionelle Erklärungen aus anderen sozialistischen Staaten sowie Abdrucke von Pressebeiträgen vor allem aus der UdSSR; von Bedeutung waren darüber hinaus die regelmäßigen Terminankündigungen. Der Inhalt der Schriften war dem MfS zufolge gekennzeichnet durch „hohe Anlaßbezogenheit, eine schnelle Reflexion auf solche aktuellen innen-und außen-politischen Probleme, die im Blickfeld feindlicher, oppositioneller Kräfte stehen, sowie auf staatliche und gesellschaftliche Maßnahmen gegen personelle Zusammenschlüsse und einzelne Mitglieder derselben, aber auch auf andere staatliche Maßnahmen/Entscheidungen zu Personen und Sachverhalten“ Ungeachtet einer Vielzahl differenzierter und zentral abgestimmter Maßnahmen zur Verhinderung der Herstellung und Verbreitung der Schriften habe die Gesamtsituation auf diesem Gebiet nur unwesentlich positiv beeinflußt werden können, wozu auch die tolerierende und teilweise unterstützende Haltung verantwortlicher Pfarrer sowie kirchenleitender Personen beigetragen hätte „Es muß davon ausgegangen werden, daß sich der offene feindliche Inhalt dieser , Untergrund-Periodika 1 weiter ausprägen, die Auflagenhöhe und damit ihre Verbreitung steigen und weitere neue Hetzpamphlete erscheinen werden.“ 3. Ausstrahlung auf die Bevölkerung Welche Ausstrahlung die Gruppen auf die Bevölkerung ausübten, gehört zu den am schwierigsten zu beantwortenden Fragen. Rein quantitativ konnten sie -über die westdeutschen audiovisuellen Medien -mit einzelnen Inhalten oder Aktivitäten einen erheblichen Teil der DDR-Bevölkerung erreichen. 1989 traf deshalb das MfS die Feststellung, „daß die Wirksamkeit innerer feindlich-negativer Kräfte wesentlich abhängig ist von der Art und dem Umfang ihrer Zusammenarbeit mit Korrespondenten und Journalisten sowie von deren hetzerischen Publizierung in westlichen Massenmedien“. Besorgt konstatierte es in diesem Zusammenhang „eine neue Qualität im Zusammenwirken“ und die Herstellung einer breiten Öffentlichkeit In seiner Wirkung war dieser „Umweg über den Klassenfeind“ aber durchaus ambivalent und blieb deshalb unter den Gruppen lange Zeit umstritten; erst in den letzten Jahren der DDR fand er zunehmend Anerkennung. Nicht zuletzt aus diesem Grund kam dem Aufbau eigener „Medien“ große Bedeutung zu -nicht nur im Untergrund der DDR-Gesellschaft, sondern auch außerhalb der Staatsgrenzen, was das MfS wegen der befürchteten größeren Ausstrahlung stark beunruhigte Am wichtigsten für die Stabilisierung und Ausbreitung der Gruppen war aber wohl bis zum Sommer 1989 die Wirkung in und über die Kirchen mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, zumindest in einem Teil der Gesellschaft Öffentlichkeit herzustellen.
In den Analysen des MfS finden sich nur selten Reflektionen darüber, ob, warum und in welchen Bevölkerungskreisen die Gruppen Resonanz erzielten, obgleich bereits 1980 festgelegt worden war, „verdichtete Aussagen über Pläne, Absichten und Maßnahmen des Gegners zur Inspirierung und Organisierung politischer Untergrundtätigkeit, die erzielte Wirksamkeit .. . und über Zielbereiche und Zielgruppen des Gegners zu erarbeiten“ In der Regel sind die diesbezüglichen Einschätzungen sehr pauschal und stark ideologisiert. In einer Arbeit der MfS-Hochschule aus dem Jahr 1979 wird das Vorhandensein „gesellschaftswidriger, antisozialistischer Denk-und Verhaltensweisen“ vorrangig auf die „Zählebigkeit überlebter Ideen“ und auf den „ständigen Einfluß der bürgerlichen Ideologie von außen“, aber auch auf „Wachstumsschwierigkeiten“, „subjektive Fehler und Mängel“ sowie „engherziges und bürokratisches Verhalten“ zurückgeführt, auf die jedoch „die überwiegende Mehrheit der Werktätigen ... mit sachlicher Kritik“ reagiere Während es hier recht allgemein heißt, daß „der Gegner für die Verwirklichung seiner Ziele in der sozialistischen Gesellschaft noch (Hervorhebung v. Verf.) bestimmte Potenzen“ vorfinde, ist in einer vier Jahre später erstellten Analyse mit einem Mal die Rede von „gefährlichen Bestrebungen zur Schaffung antisozialistischer Gruppierungen und Organisationen unter Mißbrauch der Kirchen " Unter der Überschrift „Das Sammeln und Zusammenführen von feindlich-negativen Personen unter Ausnutzung der kirchlichen Möglichkeiten zur Formierung einer oppositionellen Bewegung und die Um-bzw. Neubildung feindlicher Zusammenschlüsse“ wird insbesondere die Resonanz der kirchlichen Jugendarbeit, die Beratung von Wehrpflichtigen, die Unterstützung von Ausreiseantragstellern, der Ausbau, die Institutionalisierung und die Vernetzung der Basisgruppen, die Zunahme öffentlichkeitswirksamer Aktionen sowie der wachsende Druck auf kirchenleitende Gremien angeführt. „Alle diese Aktionen führten in der Vergangenheit zu nicht unbedeutenden Wirkungen z. B. was die Konzentration von Jugendlichen auf kirchlichen Veranstaltungen anbetrifft, Erscheinungen des Rücktritts Jugendlicher von Verpflichtungen für militärische Berufe, das Schmieren von pazifistischen Losungen oder die Teilnahme an nichtgenehmigten Demonstrationen u. ä.“ Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine andere Studie von 1983, die darüber hinaus das „Eintreten für „Alternative’ ... oder für Personen, die eine dekadente Lebensweise führen“ und das Auftreten „feindlich-negative(r) Kulturschaffende(r) wie z. B. Liedermacher“ anführt, womit „zielgerichtet ein Vorfeld für politische Untergrundarbeit“ geschaffen werde
Die Anziehungskraft auf Jüngere blieb offensichtlich ungebrochen, denn das MfS kam auch 1989 noch zu der Erkenntnis, „daß sich Jugendliche mangels gesellschaftspolitischem und erzieherischem Einfluß sowie wegen Nichtvorhandenseins ihren Vorstellungen entsprechender Betätigungsmöglichkeiten in sogen, kirchliche Basisgruppen eingliederten, ohne sich in jedem Fall mit deren Zielen vollständig zu identifizieren“ Anders als früher konstatierte es jetzt aber „die Gefahr der Herausbildung einer oppositionellen Bewegung, in der sich feindlich-negative Kräfte, reaktionäre kirchliche Kreise, Übersiedlungsersuchende und sich neu herausbildende antisozialistische Kräfte vereinigen, wobei die demagogischen Berufungen auf Entwicklungen in der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern an Gewicht gewinnen“. Der Gegner verfüge über Möglichkeiten, „Kräfte ... in der DDR zu mobilisieren, die in diesem Sinne in Erscheinung treten“ Aufgrund der durch höhere Teilnehmerzahlen gegebenen Anonymität sei inzwischen ein größerer Personenkreis bereit, „sich öffentlich für antisozialistische Aktionen zu engagieren“ 64.
Als verantwortlich für diese Entwicklung identifizierte das MfS 1989 -neben dem ständigen Verweis auf den „Imperialismus“ -auch einige innere Faktoren wie die unzureichende Befriedigung aktuellen Informationsbedarfes (etwa im Umweltschutz), Bedürfnisse nach eigenständiger Meinungsbildung und -äußerung, zunehmende Kontakte ins nichtsozialistische Ausland, jugendliche Ausbruchsversuche, Unverständnis gegenüber bestimmten staatlichen Maßnahmen sowie den von den Kirchen gewährten materiellen und ideellen Schutz für subversives Handeln. Als soge-nannte „Zielgruppen des feindlichen Vorgehens“ betrachtete es konfessionell gebundene Bürger, die relativ große soziale Schicht der Intellektuellen, Jugendliche, Übersiedlungsersuchende, ein- zelne Teilnehmer von Großveranstaltungen, Vertreter alternativer Vorstellungen und einer speziellen interessen-und bedürfnisorientierten Lebensweise sowie Personen mit feindlich-negativen Einstellungen Andererseits stellte es fest, daß sich die aktiven Kräfte „aus den verschiedensten Teilen der Bevölkerung“ zusammensetzten und das Entstehen feindlich-negativer Einstellungen sowie ihr Umschlagen in Handlungen „vielfältige“, z. T. auch zufällige Ursachen habe. Eine wesentliche Voraussetzung sei, daß „die Integration in einem feindlich-negativen Personenzusammenschluß für den einzelnen ... persönlich bedeutsam ist ... und er gleichzeitig zunehmend von positiven Einflüssen abgeschirmt wird“. Auch bei den „Führungskräften“ wurden vor allem individuelle Charaktereigenschaften -ein überhöhtes Geltungsbedürfnis, übersteigerter Ehrgeiz oder Besserwisserei -verantwortlich gemacht
V. Fazit
Die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Gruppen vor dem Herbst 1989 muß nach der Auswertung des hier vorgestellten MfS-Materials auf verschiedene Weise beantwortet werden: Einerseits ist deutlich geworden, daß es sich bei den politisch engagierten Gruppen in und neben den Kirchen um ein zahlenmäßig eher geringfügiges Phänomen handelte; gemessen an der Gesamtbevölkerung hat sich bis zum Frühjahr 1989 nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Gesellschaft an den Aktivitäten der Gruppen beteiligt. Andererseits erscheint die zahlenmäßige Verbreitung der Gruppen angesichts ihres prekären Status im politischen System, ihrer latenten oder akuten Kriminalisierung und der sonstigen mit einer Mitarbeit verbundenen individuellen Risiken sowie der umfangreichen Maßnahmen des MfS zu ihrer Zurückdrängung als verhältnismäßig groß; die Gruppen beschränkten sich auch nicht auf wenige urbane Zentren, sondern arbeiteten -im Unterschied zu den Dissidentengruppen in den meisten anderen sozialistischen Staaten -über das ganze Land verteilt.
Die Analyse der Alters-und Berufsstruktur hat überdies deutlich gemacht, daß die Gruppen ein relativ breites gesellschaftliches Spektrum umfaßten; im Gegensatz zu anderen Oppositionsbewegungen in der Geschichte ist keine soziale Schicht erkennbar, die die politischen Aktivitäten in auffälliger Weise dominiert hat. Allerdings ist das starke Gewicht des kirchlichen Milieus unübersehbar, das Wertehorizont und Aktionsradius der Gruppen weitgehend determinierte. Der Widerspruch zwischen sozialer und regionaler Breite der Gruppen auf der einen und der geringen absoluten Zahl der Mitglieder auf der anderen Seite weist darauf hin, daß die Schwelle für einen Eintritt in die Gruppen relativ hoch gewesen sein muß, so daß es einer speziellen individuellen Bereitschaft und/oder besonderer Anlässe bedurfte, um sich auf die Konsequenzen eines derartigen Engagements einzulassen. Insofern waren die Gruppen tatsächlich Außenseiter der Gesellschaft, und die Vermutung des MfS, daß die Bereitschaft, diese Rolle auf sich zunehmen, mit charakterlichen Eigenschaften, biographischen Erfahrungen und der Ausbalancierung durch die Gruppe zu tun hatte, erscheint durchaus plausibel.
Was die gesellschaftliche Ausstrahlung der Gruppen betrifft, zeigen die MfS-Darstellungen vor allem zwei Tendenzen: In ihren programmatischen Vorstellungen waren die Gruppen tatsächlich eher ungeeignet, breite gesellschaftliche Resonanz zu erzielen -doch eben dieses eingeschränkte Themenprofil bildete offensichtlich eine entscheidende Voraussetzung für ihre Konsolidierung und allmähliche Ausbreitung; erst relativ spät und unvollkommen entwickelten sie Ansätze einer umfassenderen programmatischen Alternative zur Honecker-Herrschaft. In ihrer praktischen Arbeit hingegen wird ein deutlicher Trend zur Effektivierung und Professionalisierung erkennbar, der notgedrungen vor allem nach innen gerichtet war, aber nach und nach auch den äußeren Aktionsradius der Gruppen vergrößerte. Besonders wirksam waren sie immer dann, wenn es ihnen gelang, breitere gesellschaftliche Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen oder in einem begrenzten Konflikt mit der Staatsmacht größere Personenkreise zu mobilisieren -z. B. bei dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ (1981), bei den Mahnwachen in Berlin (1987/88), bei den Friedensgebeten in Leipzig (1988/89), bei der „Kontrolle“ der Kommunalwahlen (1989) oder bei bestimmten Umweltprotesten wie gegen die Braunkohleverschwelung in Espenhain (ab 1983) oder gegen das Reinst-Silizium-Werk in Dresden (1989).
Gesellschaftlich relevant waren die Gruppen also insofern, als sie erstmals seit den fünfziger Jahren wieder eine verhältnismäßig breite, organisierte und halbwegs offen wirkende Form unabhängiger politischer Bestrebungen in der DDR konstituier-'ten. Als tatsächliches Sammelbecken der vorhandenen gesellschaftlichen Unzufriedenheit konnten sie sich demgegenüber nur partiell etablieren, bis sie -für sie selber unerwartet -durch die Zuspitzung der Ereignisse im Herbst 1989 plötzlich in eine politische Schlüsselrolle gerieten.
Ihre zahlenmäßige Ausdehnung, ihre inhaltliche Profilierung und ihre organisatorische Schlagkraft waren zwar in den letzten Jahren der DDR deutlich gewachsen, doch für die Metamorphose der Gruppen in eine gefestigte und von der Gesellschaft getragene Oppositionsbewegung kam der Zusammenbruch der SED-Herrschaft gewissermaßen zu früh.