I. Einführung
In der Debatte um die Akteure und die Vielfalt widerständigen Verhaltens in der DDR ist es heute alles andere als selbstverständlich, auch die Frage nach einer Opposition in der SED aufzugreifen. „Opposition“ wird im zeitgeschichtlichen Diskurs vornehmlich als Monopol außerparteilicher Dissidenz beschrieben. Gemeinhin wird selbst bei jenen Oppositionellen, deren Herkunft aus oder deren Mitgliedschaft in der SED biographisch hervorstechend war, eher die Kluft zwischen ihren abweichenden Ansichten und den damaligen zeitgenössischen parteioffiziellen Dogmen hervorgehoben, als daß die Frage nach der Bedeutung ihrer politischen Sozialisierung in dieser Partei gestellt und zu beantworten versucht wird.
Dabei ist weithin bekannt, daß die in der SED Herrschenden vielfältige Unterdrückungsmaßnahmen nicht zuletzt auch gegen Mitglieder der eigenen Partei richteten. Die Spannweite reichte von innerparteilichen Disziplinierungen gemäß dem SED-Statut über abgestufte Repressionen jenseits der Reichweite des Sanktionsrahmens einer Mitgliederpartei -vor allem in Form von Berufsverboten und anderen staatlichen, insbesondere strafrechtlichen Maßnahmen -bis hin zum nackten Terror. Zu bestimmten Zeiten waren sogar in erster Linie Mitglieder dieser Partei Opfer härtester Maßnahmen aller Art.
Hierbei darf man sich jedoch keinesfalls dazu verleiten lassen, den ermittelten Umfang und die Härte der Repressionen -namentlich in der terroristischen Phase stalinistischer Partei-und Gesellschaftsformierung in der SBZ/DDR -zum Indikator des Ausmaßes tatsächlich geübten Widerstands gegen das politbürokratische Systems zu erheben. Die Logik der Repressionen gerade gegenüber SED-Mitgliedern und -Funktionären folgte einem anderen Begründungszusammenhang als dem der Antwort auf solche Gegenwehr. Jene Logik wird sich vielmehr aus systemimmanenten Zwängen und den daraus entspringenden Herrschaftstechniken des in Ostdeutschland und anderen nominal-sozialistischen Ländern praktizierten Diktaturtyps ableiten lassen. Unter diesem Aspekt ist, wie noch zu erläutern sein wird, auch der vielfach als „irrational“, „dysfunktional“ oder „ökonomisch bzw. politisch kontraproduktiv“ bezeichnete Terror stalinistischer Parteiführungen gegenüber den Mitgliedern der eigenen Partei und ihrer Apparate als im System durchaus „rational“ nachweisbar.
Und schließlich wird es notwendig sein, eine differenzierte Begrifflichkeit gerade in der Analyse innerparteilicher Dissidenz zu entwickeln. Das Spektrum solcher Dissidenz reichte von spontaner Kritik, bewußter Widerspruchsbereitschaft in systemkonformem oder die Loyalität zur Partei bereits aufkündigendem Sinne über innerparteiliche Opposition bis hin zum organisierten Widerstand. Warum gerade letztere Form von Dissidenz innerhalb der SED oder aus ihr heraus kaum zu ermitteln war, wird noch interpretiert werden
Einerseits ist bekannt, daß unterlegene Fraktionen aus dem Führungskreis oder dissidente Personen-zusammenschlüsse in der eigenen Parteibasis durch die jeweils amtierenden SED-Politbürokraten überwiegend als parteifeindliche Verschwörungen zum Zwecke des staatsfeindlichen Umsturzes oder zumindest des Sturzes der jeweiligen Parteiführung abgestraft wurden. Solcherart Qualifizierung auszuschaltender innerparteilicher Dissidenten war zutiefst dem Dogma machtgeleiteter Gesellschaftsveränderung „von oben“ verpflichtet. Die Borniertheit eines Politikverständnisses, welches die eigene dirigistische Praxis als einzig mögliche gesellschaftliche Gestaltungsweise verabsolutierte und daher Widerspruch immer als Angriff auf ihr Politikmonopol verfolgte, war allerdings verbunden mit einem realistischen Instinkt für die Gefährlichkeit potentiellen Widerspruchs oder Widerstands an der Basis. Die martialischen Anklagen gegen deren Träger waren tatsächlich in erster Linie als demonstrative und präventive Drohung gegenüber Herausforderungen „von unten“ ausgelegt. Von daher wurde jede Opposition als um so gefährlicher eingeschätzt, je mehr die Parteiführung fürchtete, daß ein solcher Angriff auf das Politikmonopol der Bürokratie auch aus den Reihen der eigenen Partei vorgetragen werden könnte. Die offiziellen Anklagen lagen allzu häufig fernab der Realität wie auch des Selbstverständnisses vor allem prominenter SED-Dissidenten, welche sich zumeist in der Tat als Reformer begriffen.
Andererseits wurde im SED-Apparat die Chance der „Domestizierung“ innerparteilichen Widerspruchs „von unten“ in Gestalt seiner Instrumentalisierung im Dienste letztendlich „von oben“ zu verwirklichender Reformen zu nutzen versucht. Mißlang dies, so erklärte man bis dato geduldete Reformer und nun nicht mehr integrierbare Parteimitglieder zu verbrecherischen Umstürzlern, die angeblich das Politbüro als einzigen Ort gesellschaftlichen Wandels anvisierten. Das entsprach wieder dem eigenen Politikverständnis der herrschenden Bürokratie: Opposition „von unten“ war gefährlicher als ein Angriff auf die Zentren der Macht „von innen“, um Positionen „ganz oben“ zu erobern.
II. Zur Geschichte innerparteilicher Dissidenz und Repression bis 1950
Zunächst sei an die Tatsache erinnert, daß gerade die mit erheblichem Kampagnendruck seitens der KPD-Führung und mittels repressiver Beihilfe durch die sowjetischen Kontrollorgane herbeigeführte zonale Vereinigung von KPD und SPD zum Ergebnis hatte, daß massenhaft „unzuverlässige Elemente“ die neue Einheitspartei SED bevölkerten. Die rasche Vereinigung sollte natürlich die aus der Sicht der KPD beängstigend schnell anwachsende und sich gut konsolidierende SPD in Ostdeutschland möglichst früh abfangen. Doch das hatte seinen Preis: Die anfangs nominell paritätisch geführte Partei SED war „zusammengewürfelt“ und deshalb aus der Sicht der tonangebenden „Moskauer“ KPD-Führungsgruppe mit ihrer Option, die ganze Partei unter ihre Kontrolle zu bringen, durchsetzt mit „Fremdkörpern“. Hinzu trat der Umstand, daß zuvor in beiden Parteien die Mehrheit der Mitglieder Neuzugänge waren: In der neuen KPD waren sie noch nicht stalinistisch gedrillt, und die Mehrheit der SPDler war nicht einmal im sozialdemokratischen Parteiverständnis diszipliniert worden
Zu diesem , Defizitan stalinistischer politischer Sozialisierung in der SED kam das Dilemma hinzu, daß die Bevölkerung der SBZ in erster Linie die SED (wie zuvor die KPD) mit der sowjetischen Besatzungsmacht und ihren Maßnahmen identifizierte und dies häufig beider Ansehen beeinträchtigte. Damit sind die Begründungszusammenhänge für den „Repressionsbedarf“ nach den Maßstäben der stalinistischen Führungsfraktion formulierbar: Ohne hinreichend große politische und soziale Basis in der Bevölkerung sowie bei einem zunächst noch unberechenbaren Mitgliederstamm in der neuen Massenpartei SED war das durch die Besatzungsmacht gedeckte Mittel der Gewalt nicht nur ein naheliegendes, sondern auch das einzige den Stalinisten zur Verfügung stehende Instrument der Partei-und Gesellschaftsformierung.
Noch vor dem Höhepunkt der 1947 beginnenden Säuberungen der SED von ehemaligen Sozialdemokraten wegen „Schumachertätigkeit“ oder „Fraktionismus“ mußte sich das Zentralsekretariat immer wieder mit illegalen Flugschriften über von ihr mitzuverantwortende Amtsenthebungen, Verfolgungen und Verhaftungen früherer SPD-Mitglieder in der SED befassen. Solches Material wurde natürlich auch in Westdeutschland hergestellt und verbreitet. So wertete zum Beispiel das SED-Zentralsekretariat im Februar 1948 ein ihm vom Zentralbüro der Arbeitsgemeinschaft SED-KPD übermitteltes, in Hessen verteiltes SPD-Flugblatt über diese Verfolgungspraktiken mit umfangreichen Angaben und Namenslisten über Hunderte abgesetzte und verhaftete ehemalige sozialdemokratische Mitglieder und Funktionäre in der SBZ aus. Im gleichen Monat wurde das Zentralsekretariat auch über „Schumachertätigkeit und linke Gruppen innerhalb des FDGB“ im Erzgebirge, in Cottbus und in Potsdam informiert Obwohl in einem illegalen Rundschreiben vom 9. November 1948 sogar die Existenz einer geheimen SPD in der Ostzone beschworen wurde kann aber angenommen werden, daß es über Einzelaktionen und Funktionärsproteste hi November 1948 sogar die Existenz einer geheimen SPD in der Ostzone beschworen wurde 4, kann aber angenommen werden, daß es über Einzelaktionen und Funktionärsproteste hinaus kaum organisierte Gegenwehr ostdeutscher Sozialdemokraten innerhalb der SED gegeben hat -schon gar nicht im Verhältnis der dann gegen sie angewandten Repressionen. Es liegt auf der Hand, daß viele verfolgte Sozialdemokraten Kontakte zur SPD-West suchten, weshalb später die SED-Organe jede Form von „Sozialdemokratismus“ in der Regel als vom Ostbüro der SPD gesteuert bewerteten.
Doch auch schon innerhalb oder im Umkreis der 1945 neu formierten KPD gab es aus der Sicht der stalinistischen Parteiführung genug „verdächtige Subjekte“, die mit in die Einheitspartei schlüpften oder der SED ab 1946 beitraten: Es ist nachweisbar, daß viele Mitglieder ehemals oppositioneller Parteien (KPD-Opposition, Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands [KAP], Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands [SAP], Leninbund, Allgemeine Arbeiterunion Deutschlands [AAU]) sowohl in die KPD gingen als auch zu beträchtlichen Teilen (und aus ganz anderen Gründen als die KPD-Führung) die Vereinigung mit der SPD befürworteten. Der Parteiführung wurde schon sehr frühzeitig klar, daß es eine Anzahl von vielfach noch unerkannten SED-Mitgliedern aus solchen oder anderen früheren Zusammenhängen gab, die wegen ihrer damaligen kritischen Haltung zur KPD von den Parteiführungen in Berlin und Moskau als potentielle Störfaktoren für die Umformung der SED in eine stalinistische Kader-organisation gesehen wurden.
Lange bevor die Parteikontrollkommissionen gebildet wurden, sammelte die Personalpolitische Abteilung im Zentralsekretariat akribisch Material über die Aktivitäten trotzkistischer und anderer „organisierter feindlicher Oppositionsgruppen“, wie es etwa in einem Bericht vom 9. Januar 1947 heißt. Dort wird für Berlin konstatiert, „daß die Querverbindungen der einzelnen Oppositionsgruppen immer dichter werden“ 5. Die Einrichtung eines besonderen Referats mit der Erfassung dieser Aktivitäten war angesichts solcherart Einschätzungen folgerichtig: Im April 1948 teilte Franz Dahlem auf eine erstaunte Anfrage Paul Merkers letzterem mit, daß in der Abteilung Personalpolitik seit Monaten ein Referat „Abwehr gegnerischer Propaganda“ unter der Leitung von Bruno Haid und Paul Laufer arbeite 6. Hier wurde mit zum Teil geheimdienstlichen Methoden Material über oppositionelle Gruppen in der SED (und mittels der Kontakte zur KPD übrigens auch in den anderen Besatzungszonen) gesammelt, welches Verbindungsleute beschafften, die solche Gruppen infiltrierten oder aus ihnen rekrutiert wurden.
In jener Zeit vor den großen organisierten Über-prüfungen und Säuberungen 1949-1951 wurden derartige Informationen, sofern nicht verwertbar für sofortige Maßnahmen, zur späteren Verwendung aufgehäuft. Jedoch mangelte es dieser Form der Sammlung von Material durch das Referat Abwehr und ab 1948 durch die Referate Untersuchung bei den Personalpolitischen Abteilungen der Landes-und Kreisvorstände sowohl hinsichtlich der Systematik als auch angesichts der Größenordnung des sich abzeichnenden Säuberungsund Disziplinierungsbedarfs noch an herrschaftstechnischer Konsequenz. Es kann daher keineswegs überraschen, daß nach dem Beschluß zur Umformung der SED in eine „Partei neuen Typs“ auf der 10. Tagung des Parteivorstands im Mai 1948 das gleiche Gremium im September die Bildung von Parteikontrollkommissionen auf allen Ebenen beschloß: „Die Partei-Kontrollkommissionen haben die Aufgabe, den Kampf zu führen gegen die im Auftrage ausländischer Kräfte tätigen feindlichen Agenten, die besonders vom soge-nannten , Ostbüro'der SPD entsandt werden.“ 7 In der „Entschließung der Tagung der Parteikontrollorgane am 3. und 4. September 1949“ hieß es über die Situation in der Partei bereits: „Wo trotzkistisehe und Ostbüroeinflüsse die Ursache [des Versagens oder einer falschen Politik, T. K. ] sind, muß die Parteikontrolle eingreifen und deren Träger vor der Mitgliedschaft entlarven, die Leitungen auf diese Zustände aufmerksam machen. So helfen wir der Partei, die Beschlüsse durchzuführen, und erziehen sie zur Wachsamkeit gegenüber Abweichungen von der Generallinie der Partei und zum Kampf gegen feindliche Einflüsse und gegen die Arbeit anglo-amerikanischer Agenturen.“ 8 Hier wird schon ganz im Sinne des neuen KOMIN-FORM-Kurses 9 die ultimative Verbindung von Linienabweichungen mit Feind-und Agententätigkeit formuliert. Mit der nun offen betriebenen Stalinisierung der Partei sollte insbesondere mit dem Instrument der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) sowohl die Verwandlung des SED-Apparats in den einer stalinistischen Kaderpartei als auch des Mitgliedskörpers in den einer disziplinierten und gefolgschaftstreuen Massenpartei betrieben werden. Das schon erwähnte sich entwickelnde Mißverhältnis zwischen tatsächlichem Widerstand aus der SED heraus und der enormen repressiven Energie gegen SED-Mitglieder und -Funktionäre charakterisiert bereits den vom Autor unterstellten, in erster Linie präventiv-einschüchternden und autoritär-„erzieherischen“ Charakter demonstrativer Säuberungshandlungen von Parteikontrollorganen.
Natürlich gab es reale Gefährdungen des sich herausbildenden stalinistischen innerparteilichen Politikmonopols. Besonders gefährlich erschienen der SED-Führung die früher von der KPD zur KPD(O) (KPO) gewechselten Kommunisten. Bekannt war, daß die KPO früher vor allem in Sachsen und Thüringen starken Zulauf hatte. Tatsächlich haben ehemalige KPOler in nicht ganz unbeträchtlichem Umfang nach 1945 in allen Besatzungszonen wieder den Kontakt miteinander hergestellt und die politische Lage sowie die organisatorische Zukunft der oppositionellen Kommunisten diskutiert. Schon im Januar 1947, als „eine systematische Beobachtung der feindlichen Gruppen in der Partei . . . noch nicht (existierte)“ wurden laut einem „Bericht über Aktivitäten oppositioneller Elemente in Berlin, der Ostzone und den Westzonen“ vom 28. Januar 1948 in fast allen Berliner Stadtbezirken reorganisierte Gruppen der KPO, aber auch Gründungen von Spartakus, der KAP, der Gruppe „Neu Beginnen“ und Zusammenschlüsse trotzkistischer Tendenz, zum Teil mit Beteiligung und unter der Führung von SED-Mitgliedern (so die Gruppe unter Führung des SED-Mitglieds Alfred Weiland, ehemals AAU) ausgemacht. Spätere genauere Erhebungen der ZPKK rekonstruierten zum Beispiel die Versuche der vom Naziterror relativ wenig dezimierten KPOler Berlins, 1946 ihre Verbindungen wiederherzustellen, ohne allerdings die KPO als solche zu reorganisieren
Die ZPKK behauptete im oben erwähnten Bericht, die Taktik der KPOler in der SED bestünde darin, kleine Gruppen zu bilden, die Unzufriedenen in der SED kennenzulernen und daraufhin mit ihnen direkte Verbindung aufzunehmen. So ist leicht nachvollziehbar, wie ängstlich die Parteiorgane von Anfang an nach Beispielen solcher in der Tat erfolgversprechenden und klugen Taktik Ausschau hielten. Im ZPKK-Bericht heißt es jedoch auch, daß aus Befragungen ehemaliger KPOler hervorgehe, sie lehnten in der Mehrzahl nach 1945 die Aufrechterhaltung ihrer Partei oder eine Fraktionsarbeit in der SED ab. Die Parteiakten dokumentieren trotzdem schon sehr früh Maßnahmen gegen solche Mitglieder, so gegen die 1947 aus der SED ausgeschlossene und aus dem Volksbildungsministerium entfernte Käthe Draeger, KPO-Aktivistin in der illegalen Arbeit nach 1933, oder gegen den seinem Parteiausschluß durch Austritt zuvorkommenden Heinz Krause, aufgefallen als Verteiler von KPO-Material, durch seine kritische Haltung zur SED-Politik und gegenüber Stalin sowie als Verfechter der Aufrechterhaltung einer KPO-Fraktionstätigkeit in der SED
Exemplarisch war dann die Abrechnung mit dem früheren KPD-und dann KPO-Landtagsabgeordneten und späterem SED-Mitglied Alfred Schmidt. Wegen Reorganisation der KPO in Erfurt und Teilnahme am Aufbau der KPO in Thüringen wurde dieser linke Kritiker der sowjetischen Besatzungs-und Reparationspolitik im Juni 1948 aus der SED ausgeschlossen und einige Tage später mit anderen zusammen von der sowjetischen Besatzungsmacht in Erfurt verhaftet
Er wurde von einem sowjetischen Militärtribunal wegen antisowjetischer Propaganda zum Tode verurteilt und dann zu 25 Jahren Arbeitslager , begnadigt‘. Schmidts KPO-Genosse Paul Elflein aus Saalfeld wurde im September 1948 aus der SED ausgeschlossen und entkam seiner drohenden Verhaftung durch die Flucht nach Westdeutschland
Die Furcht der SED-Führung vor einer Revitalisierung der KPO schien also alles in allem keineswegs abwegig. Deren Anhänger, welche wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber allen Besatzungsmächten auch in den Westzonen nie eine Legalisierung für sinnvoll hielten, waren geschult in konspirativer politischer Arbeit und ausgestattet mit den Erfahrungen des illegalen Kampfes gegen das Naziregime. Besonders provozierend für die SED-Stalinisten war es, daß die KPO im übrigen für sich in Anspruch nehmen konnte, mit ihrer damaligen Faschismusanalyse und ihrer Kritik einerseits an der Sozialfaschismusdoktrin der KPD, andererseits an der verfehlten SPD-Politik in der Weimarer Republik vor der Geschichte recht behalten zu haben. In einem Beschluß des Sekretariats des ZK vom 24. 8. 1950 hieß es dann auch: „Die ZPKK wird ersucht, unverzüglich alle früheren Mitglieder der KPO, ihre Beziehungen und Tätigkeit festzustellen und die notwendigen Maßnahmen zu beschließen.“ Es erfolgte eine Überprüfung der Parteiapparate der Kreise mit ehemals starkem KPO-Einfluß durch sechs Partei-kontrollkommissionen besonders in Oschatz und in Oelsnitz/Vogtland. Im diesbezüglichen „Bericht über die Tätigkeit von Genossen ehemaliger parteifeindlicher Gruppierungen“ vom 11. 1950 wird aber kein Anhaltspunkt für eine breitere Fraktionstätigkeit ausgemacht. Zur Rekonstruktion früherer KPO-Verbindungen wurden von den Parteikontrollorganen sogar die Akten der Gestapo Thüringen vom Februar 1935 über deren Verfolgung von KPOlern ausgewertet 16.
Während der zahlenmäßig große „SPD-Flügel“ in der SED weitgehend auf organisierte Opposition verzichtete -obwohl bis 1950 über 5 000 Sozialdemokraten mindestens zeitweilig inhaftiert waren -, übten die wenigen Aktivisten ehemaliger linker Splittergruppen offenbar zeitweise einen für ihre Verhältnisse beträchtlichen Widerstand gegen die Stalinisierung der SED und waren daher härtesten Verfolgungen ausgesetzt. Doch auch wer als ehemaliges Mitglied oppositioneller Splittergruppen jeglicher Opposition abschwor, war verdächtig. So wurde zum Beispiel der aus faschistischem Zuchthaus und KZ in die KPD und dann SED zurückgekehrte Robert Siewert, Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt, 1950 wegen seiner KPO-Vergangenheit seiner Funktionen enthoben. Auch Jakob Walcher, ehemals SAP und Chef der Gewerkschaftszeitung „Tribüne“, wurde in einer Stellungnahme der Landesüberprüfungskommission vom 29. April 1951 als seit Jahrzehnten „zu den ärgsten Feinden der revolutionären Arbeiterklasse und ihrer Partei“ gehörend für den Parteiausschluß vorgeschlagen Solche an prominenten früheren KPO-oder SAP-Mitgliedern statuierte Exempel hatten den Zweck, alle potentiellen Abweichler in die Deckung zu treiben.
III. Die Säuberungen 1950-1955
Auch die meisten Opfer des Anfang der fünfziger Jahre von der Parteiführung entfesselten Kampfes „gegen die Tito-Faschisten“, gegen den Trotzkismus und Sozialdemokratismus, zur „Abwehr imperialistischer Agenten-und Spionagetätigkeit“ und zur „Entlarvung zionistischer Verschwörungen“ in der Partei im Umfeld der Prozesse um Lazio Rajk und Rudolf Slansky in Budapest und Prag bekamen keineswegs die Quittung für eine etwaige oppositionelle Tätigkeit. Sie waren vielmehr Geiseln im Dienst der SED-Stalinisierung und der Transmission wechselnder sowjetischer außenpolitischer (insbesondere ost-und südosteuropapolitischer) Interessen während der Entfaltung des Kalten Kriegs. Besonders geeignet für Verschwörungslegenden erschienen auch jene Genossen, bei denen sich aufgrund ihrer ehemaligen Westemigration außerordentlich leicht parteifeindliche Verbindungen behaupten ließen. In diesem Licht entschlüsseln sich zum Beispiel auch die Deklarierung Paul Merkers als Trotzkist und die „Entlarvung“ der „Verräter“ Bruno Goldhammer, Maria Weiterer, Lex Ende, Leo Bauer und Willi Kreikemeyer wie auch die spätere Untersuchung gegen Franz Dahlem Bereits im Jahre 1949 verfügte das Politbüro auf seiner Sitzung vom 18. Oktober die systematische Überprüfung aller früheren Westemigranten oder ehemals in westalliierter bzw. jugoslawischer Kriegsgefangenschaft befindlichen führenden SED-Funktionäre. Sonderkommissionen untersuchten unter Aufsicht der ZPKK besonders intensiv den Partei-, Regierungs-und Verwaltungsapparat nach Parteifeinden. Vorerst sprach der am 22. 4. 1952 vom Politbüro bestätigte Abschlußbericht der Zentralen Kommission von nicht weniger als 150 696 au 4. 1952 vom Politbüro bestätigte Abschlußbericht der Zentralen Kommission von nicht weniger als 150 696 ausgeschlossenen oder gestrichenen Mitgliedern und Kandidaten der SED 20.
Anders als bei den meisten Opfern solcherart Schaustücke „revolutionärer Wachsamkeit“ handelte es sich in den Fällen erwiesener maßgeblicher Beteiligung von Mitgliedern und Funktionären der SED an den Streiks des Juni 1953 (zum Teil führend bei den Streik-und Protestaktionen) tatsächlich um Beispiele für Widerstand. Am 14. Juli 1953 war etwa die Duldung oder Unterstützung der Proteste in der Warnow-Werft in Rostock durch verantwortliche Parteimitglieder sogar Politbürosache 21.
Die sich dann 1953/54 in den Führungsgremien der SED abspielenden Auseinandersetzungen waren typischer Ausdruck innerbürokratischer Rationalitätskonflikte. Solche Konflikte spiegelten lediglich differierende Optionen in der Frage möglichst effektiver Herrschaftstechniken unterhalb des Niveaus strategischer Zwecksetzungen wider. Sie spielten sich ausschließlich im Apparat ab und verließen niemals den Rahmen parteibürokratischer Loyalität. Im Falle der gemaßregelten Zaisser/Herrnstadt-Gruppe 22 kann ebensowenig wie bei Merker von innerparteilichem oppositionellem Handeln, sondern es muß (allerdings anders als bei Merker) von apparatkonformer Konfliktbereitschaft gesprochen werden, wobei die „politischen Unkosten“ einer Niederlage gemäß der Logik des bürokratischen Zentralismus unter Verhältnissen einer stalinistischen Diktatur ebenfalls auf den Parteiausschluß oder Schlimmeres hinausliefen. Diese Konfliktbereitschaft von Zaisser und Herrnstadt, die übrigens entgegen der offiziellen Anklage niemals als „Fraktion“ auftraten, äußerte sich in ihrer scharfen Kritik an dem auch aus innerbürokratischer Sicht fatalen Kurs Ulbrichts vor dem Juni 1953. Diese Kritik blieb jedoch „apparatkonform“ im Sinne der aufrechterhaltenen Anerkennung des bürokratischen Monopols gesellschaftspolitischer Zwecksetzung.
IV. Poststalinistische Säuberungspraxis
Nach den Eröffnungen Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 zur Neubewertung der stalinistischen Repressionswellen in der sowjetischen Partei stand die Parteiführung der SED vor einem doppelten Problem: Erstens mußte diesem Deutungswandel Rechnung getragen werden, ohne dabei mit der oben beschriebenen Logik der eigenen innerparteilichen Disziplinierungen während der Konstitutionsphase des Stalinismus in der SBZ/DDR zu brechen. Es ging vielmehr darum, die terroristische Phase der Parteinormierung abzulösen durch differenziertere Formen der Repression, die allerdings ebenso konsequent gehandhabt werden sollten wie zuvor die hochstalinistische Säuberungspraxis.
Zweitens sahen sich seit 1956 die vormalig verantwortlichen Betreiber der Säuberungen in der SED wegen der kaum gebrochenen personellen Kontinuität in der Parteispitze mit der heiklen Frage ihrer Verantwortung für die damalige Praxis angesichts befürchteter diesbezüglicher Nachfragen aus den eigenen Reihen konfrontiert. Obwohl in der SBZ/DDR zuvor auf Schauprozesse nach dem Vorbild der Rajk/Slansky/Kostoff-Inszenierungen verzichtet war, worden gewann das Problem für die SED zusätzlich an Schärfe, da noch 1954/55 eine Reihe von Geheimprozessen mit drakonischen Strafmaßen stattfanden (so gegen Friedrich und Anna Schlotterbeck, Bruno Goldhammer, Fritz Sperling/KPD, Hans Schrecker, Paul Merker, Max Fechner) und die Parteisäuberungen 1949 bis 1951 noch in frischer Erinnerung waren. Um Irritationen über die Funktion von Parteikontrolle und Disziplinierungszielen vorzubeugen, mußte so schnell wie möglich die , Entsorgung 1 stalinistischen Ballasts mit der neuen Legitimation fortgesetzter Anstrengungen für die Erhaltung der „Einheit und Reinheit der Partei“ kombiniert werden. Inkonsequente Entstalinisierung unter Abwendung jeden Autoritätsverlusts des Ulbrichtsehen Politbüros und die Definition der neuen Disziplinierungsoption „Kampf gegen den Revisionismus“ hatten sich 1958 endgültig durchgesetzt. Der Prozeß gegen die Harich-Janka-Gruppe 1957 stand eindeutig im Dienst der Durchsetzung dieser Linien zur Wiederbefestigung der Autorität des angeschlagenen Politbüros
Die 1957/58 erfolgte Abrechnung mit der fälschlich als „Fraktion“ verurteilten Gruppierung um Schirdewan, Oelßner, Selbmann, Wollweber und Ziller ist entgegen den scharfen offiziellen Anklagen als Ausdruck innerbürokratischer Rationalitätskonflikte anzusehen Die „Opposition“ sowohl der Harich-Janka-Gruppe als auch von Schirdewan, Wollweber, Ziller, Oelßner und Selbmann 1957/58 war tatsächlich eine vorsichtige apparatimmanente Gegnerschaft zur Ulbricht-Linie in der Parteiführung. Dabei gaben Ulbricht ebenso wie seine Kreaturen Matern und Honecker in der Tat wegen ihrer rigiden Verweigerung noch so kleiner Öffnungen des innerparteilichen Diskurses zu Fragen der Parteivergangenheit und des „Demokratismus“ mehr als genug Anlaß, ihren Kurs selbst nach den Maximen politbürokratischer Rationalität in Frage zu stellen. Bereits auf der 30. ZK-Tagung Ende Januar 1957 wurde der antirevisionistische Kampf in den Wirtschafts-, Staats-, und Rechtswissenschaften eröffnet, und Ernst Bloch sah sich als Repräsentant des „philosophischen Revisionismus“ kritisiert. Wirtschaftswissenschaftler übten erste vorsichtige Kritik am praktizierten Wirtschaftsmechanismus. Daraufhin beschäftigten sich zur Jahreswende 1956/57 sowohl das Politbüro wie das Sekretariat des ZK mit der „Angelegenheit Behrens/Benary", um die Früh-starter in Sachen Wirtschaftsreform auszubremsen.
Ein zur Sitzung des Politbüros am 21. Februar 1961 vorliegender „Bericht der ZPKK über die Ergebnisse und Erfahrungen ihrer Arbeit im Kampf um die Einheit und Reinheit der Partei“ enthält eine Fülle von Beispielen für Widerspruch und zum Teil sogar organisierten Widerstand in Parteigrundorganisationen und aus Parteileitungen heraus. So ist von Erscheinungen feindlicher Ideologien in den Parteiorganisationen von Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Neubrandenburg sowie von Auffassungen wie denen vom undemokratischen Charakter der Wahlen, der nötigen Wiederzulassung der SPD und diktatorischen Verhältnissen in der SED (Ortsparteiorganisation Gornau) die Rede. Es heißt: „In der Parteiorganisation im Holzverarbeitungswerk Klosterfelde wurde offen die Forderung nach einem menschlichen Sozialismus 1 erhoben und mit einem neuen 17. Juni gedroht.“ Es „konnte in der APO Entwicklungsbau Pirna. .. eine parteifeindliche Gruppe eine offene Hetze gegen Partei und Regierung entfalten, die von dem größten Teil der Mitglieder unterstützt und geduldet wurde. Diese parteifeindlichen Kräfte gehörten der Parteileitung an ... Die Hauptprovokateure wurden aus der Partei ausgeschlossen.“ Der Bericht spricht auch von Streiks mit unterschiedlicher Beteiligung und Dauer: „Die Analyse der Streiks zeigt ..., daß Mitglieder der Partei sich an ihnen beteiligten und in einigen Fällen zu Organisatoren von Streiks wurden.“
V. Parteidisziplinarische Normalität unter Ulbricht und Repressionspraktiken unter Honecker
Die parteidisziplinarische Normalität unter Ulbricht während der sechziger Jahre läßt sich beschreiben als Schwanken zwischen dem Bemühen um mehr Realismus bei der Beherrschung der sich entwickelnden Widersprüche und der Suche nach neuen, zeitgemäßeren Herrschaftstechniken. Der „Kulturkampf“ im Umfeld des 11. ZK-Plenums Dezember 1965 und die sich nun entfaltenden Angriffe gegen ideologische Abweichler wie Havemann, Biermann und andere waren vor diesem Hintergrund nicht einfach nur die Wiederkehr ideologischer Militanz der fünfziger Jahre, sondern auch mit dem gezielteren Einsatz erprobter Disziplinierungstechniken (z. B. Berufsverbote) verbunden. Dies sollte sich in der DDR besonders bei der Bewältigung der Auswirkungen der tschechoslowakischen Krise nach 1968 „bewähren“. Nach dem Einmarsch der Truppen der Warschauer Vertragsstaaten informierte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über Parteiaustritte bzw.deren Ankündigung Es ist davon die Rede, daß sich im Querschnitt die innerhalb der SED geäußerten kritischen Haltungen zur Intervention in der CSSR nicht von denen in der Bevölkerung unterschieden.
Nach der Ablösung Ulbrichts durch Erich Honekker 1971 schien zunächst vieles auf eine innenpolitische Entspannung hinzudeuten. Jedoch führte die Ausbürgerung des im Westen auf genehmigter Konzertreise befindlichen Wolf Biermann im November 1976 zur schwersten Krise der Beziehungen zwischen der wissenschaftlichen und künstlerischen Intelligenz und der Politbürokratie seit 1965. Unter den in der Folgezeit in die Bundesrepublik getriebenen Autoren gab es eine ganze Reihe von ehemaligen Parteimitgliedern, die zum Teil auch in Partei-und Berufsverbandsfunktionen tätig gewesen waren. Eine neue Methode bestand in diesem Zusammenhang auch in der Aushändigung von Dauervisa für den Aufenthalt im westlichen Ausland bei gleichzeitiger Behinderung der Arbeits-und Veröffentlichungsmöglichkeiten in der DDR. Man versprach sich davon, die Glaubwürdigkeit der Kritik unangepaßter Autoren an den Zuständen in der DDR durch ihre privilegierte Ferne zu untergraben und sie langfristig ganz loswerden zu können, ohne sie mit hohen politischen Kosten (wie im Falle Rainer Kunzes 1977) ausbürgern zu müssen.
Das Beispiel des aus der SED kommenden Rudolf Bahro und sein 1977 in der Bundesrepublik erschienenes Buch „Die Alternative“ waren eine schallende Ohrfeige für die parteilinientreuen intellektuellen Apologeten der systematischen Verfälschung marxistischer Theorie in Gestalt des „ML“. Bahros Verurteilung und sein Buch blieben nicht ohne Wirkung: In Berlin arbeiteten zu dieser Zeit parallel wenigstens drei aus SED-Mitgliedern bestehende konspirative Gruppen, die zum Teil mit anderen Zirkeln und untereinander vernetzt waren und von den Sicherheitsorganen als Operativer Vorgang geführt bzw. als Einzelpersonen erfaßt wurden Die von den Gruppen angestrebte Intensivierung der Verbindungen nach Osteuropa -insbesondere nach Polen -, das Vorhaben eines Offenen Briefes an die Mitglieder der kommunistischen und Arbeiterparteien anläßlich des 60. Jahrestages der russischen Oktoberrevolution und Geldsammlungen für die streikenden polnischen Arbeiter in Radom veranlaßten die Organe der Staatssicherheit, diesen Personenzusammenschluß zu zerschlagen.
Bei den wenigen kritischen Parteiintellektuellen der achtziger Jahre vollzog sich dann mehrheitlich ein Paradigmenwechsel: Sie bewegten sich weg von den Begriffen eines „demokratischen Sozialismus“ der sechziger und siebziger Jahre hin zu Begriffen eines „modernen Sozialismus“: Nun wurde den Herrschenden die Implantation marktwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen des entwickelten Kapitalismus, angereichert durch sozialstaatliche Wohlfahrtsregulierung, anempfohlen
Doch auch in den achtziger Jahren und trotz des über drei Jahrzehnte vorangetriebenen Prozesses der Subordination der Parteibasis unter ihre sich als ebenso unfehlbar wie unanfechtbar darstellende bürokratische Führung hat gerade in den Grundorganisationen der SED eine Minderheit von Parteimitgliedern immer wieder in sehr klarer und entschiedener Weise Widerspruch geübt. Für die Parteikontrollorgane kam es darauf an, solchen Widerspruch so zu behandeln, daß sich Kritik innerhalb der Parteistrukturen nicht in organisierten politischen Widerstand verwandelte. Tatsächlich war in den seltensten Fällen innerparteilicher Widerspruch mit einem organisierten oppositionellen Selbstverständnis verbunden. Aber natürlich war sein Entstehen dort, wo eigentlich die Transmission machtgeleiteter bürokratischer Strategien in die Gesellschaft hinein erfolgen sollte, besonders gefährlich. Dieser richtigen Einsicht gemäß handelten auch die Kontrollorgane. Dies lief keineswegs immer auf drakonische Abstrafungen hin-aus, sondern das Bemühen um konforme Integration kritischer Ambitionen erwies sich häufig als die klügere Taktik. Doch auch hier waren die Grenzen klar gezogen. Als exemplarisch kann die Untersuchung der Bezirksparteikontrollkommission (BPKK) Berlin in den Abteilungsparteiorganisationen (APO) 16 und 17 der Betriebsparteiorganisation (BPO) Flugtechnik (Parteiorganisation Interflug) vom Dezember 1980 gelten. Die von der BPKK geprüften Rechenschaftsberichte beider APO-Leitungen übten „massive Kritik wegen der angeblich schlechten Informationspolitik der Partei“, insbesondere „zur Lage in Polen“. Neben der Kritik an übergeordneten Leitungen wegen der Duldung solcher Positionen verfügte die BPKK den Parteiausschluß des erwähnten APO-Sekretärs
Spätestens seit 1986 nahmen innerhalb der SED-Mitgliedschaft Unzufriedenheit, Kritik und schließlich sogar die Ablehnung der herrschenden SED-Politik zu. Während Teile der SED-Mitgliedschaft die Signale des Umbruchs aus der Sowjetunion sehr sensibel registrierten, blieb die Politik der SED-Führung zur Isolierung unabhängiger oppositioneller Gruppierungen von der Bevölkerung und der permanenten innerparteilichen Strafandrohungen zur Behinderung von Verbindungen innerparteilichen kritischen Potentials zu jener Opposition nach wie vor erfolgreich.
Lageberichte des MfS konstatierten hinsichtlich der Proteste gegen das „Sputnik“ -Verbot daß es „kaum Meinungs-und Argumentationsunterschiede bei sich äußernden Personen zwischen Mitgliedern der SED und Parteilosen“ gäbe und der Unmut eine „Vielzahl z. T langjähriger Mitglieder und Funktionäre der SED“ erfasse Ein Bericht des MfS vom 11. September 1989 mit „Hinweise(n) auf beachtenswerte Reaktionen von Mitgliedern und Funktionären der SED zu einigen aktuellen Aspekten der Lage in der DDR und zum innerparteilichen Leben“ sprach von „angekündigten Austrittserklärungen aus der SED“ wegen „Nichtverständnis der ökonomischen Politik der Partei“ und „Ablehnung der Informationspolitik“. Wegen „der wachsenden Tendenz unter den Werktätigen, die Partei-und Staatsführung für die entstandene Lage verantwortlich zu machen“, sei eine „scharfe Kritik von Mitgliedern und Funktionären der SED an der Arbeit der übergeordneten Parteileitungen“ zu konstatieren. Die „Abstempelung als Nörgler statt klare Antworten auf Parteiversammlungen“ zu geben wäre die Folge der zuvor in Umlauf gesetzten berüchtigten innerparteilichen Information über den Umgang mit Kritikern
Schon 1987/88 war in Bezirksparteikontrollkommissions-und Kreisleitungsberichten über Grundorganisations-Mitgliederversammlungen von Forderungen nach mehr innerparteilicher Demokratie, nach öffentlicher Problematisierung des wirtschafts-und sozialpolitischen Kurses sowie von wachsender Unzufriedenheit über die Reiseregelungen und die Praxis der Erfolgspropaganda die Rede Diese geäußerte Kritik schlug sich in einer Welle von Parteiausschlüssen, insbesondere wegen Protesten gegen das erwähnte „Sputnik“ -Verbot, nieder. Die das ZK bis Dezember 1988 gerade hierzu erreichenden 800 Eingaben waren zu 75 Prozent von SED-Mitgliedern, darunter 57 von ganzen Parteigruppen, verfaßt. Vorwiegend aus Kreisen der Parteiintelligenz stammend, sahen sich die Eingabenverfasser vom Apparat in Auseinandersetzungen mit dem Ziel der Rücknahme ihrer Kritik verwickelt Es verwundert daher nicht, daß der von Erich Mückenberger im Januar 1989 gegebene Bericht der ZPKK über die 1988 durchgeführten fast 23 000 Parteiverfahren und eine hohe Rate politisch motivierter Partei-strafen eindeutige Signale setzte. Gemessen an den 2, 3 Millionen Mitgliedern und der niedrigen Sanktionsschwelle ist diese Zahl zwar gering, dennoch markierte sie eine neue Dimension. Hinzu kam eine erste Austrittswelle, die ebenso eindeutig den wachsenden Unmut belegte. Es zeigte sich aber auch, daß die Mehrheit der innerparteilichen „Nörgler und Meckerer“ die Perspektive der von Gorbatschow damals betriebenen Politik als „Parteireform von oben“ akzeptierte, und dies zu einer Art Selbstbindung in Form -vergeblicher -Heilsserwartung auf eine „SED-Reformfraktion“ im oberen Funktionärskörper beitrug. Statt innerparteilichen Gegendrucks gab es mit dem 7. , Durchhalte-‘Plenum vom Dezember 1988 den letzten und wohl entscheidenden Sieg der Parteiführung über ihre Parteibasis, die sich auch in der Krise und trotz spürbar wachsender Unzufriedenheit weiter nachhaltig entmündigen ließ. Die erste, von der Parteibasis initiierte große Massendemonstration von über zehntausend SED-Mitgliedern vor dem ZK-Gebäude während der 10. ZK-Tagung am 8. November 1989 signalisierte der neuen Interimsführung unter dem Wendebürokraten Krenz die massive Unzufriedenheit der Parteibasis angesichts der geplanten halbherzigen Personalentscheidungen und des feigen Ausweichens vor politischen Konsequenzen. Das Versagen des ZK auf seiner 10. Tagung schlug sich danach in den Losungen der Massendemonstration von 150 000 SED-Mitgliedern im Berliner Lustgarten nieder.
Angesichts dieses Drucks von unten war die auf der 11. Tagung am 13. November 1989 eilig vollzogene Revision in Richtung Sonderparteitag nur die Quittung des ZK-Bankrotts. Die Partei war nicht mehr handlungsfähig. Das Tempo, mit dem sie zerfiel, kann nach der Schwächung des Zentralismus -der „Bewegungsform“ der SED, die als Massen-partei von der Parteibürokratie nur als Instrument gebraucht und aufgebaut wurde -gerade in der Krise nicht verwundern. Es sollte sich zeigen, daß die innerparteilichen Kräfte für einen radikalen Bruch zu schwach waren und sich das von der Krise diktierte Tempo als zu groß erwies, als daß diese Tendenz sich hätte durchsetzen können. Sowohl die Tiefe der Krise als auch die Schwäche innerparteilicher Opposition waren Folgen jahrzehntelanger politbürokratischer Gesellschaftsdestruktion und entpolitisierender Sozialisation der SED-Mitgliedschaft.