Das Verhältnis Jugendlicher und junger Erwachsener zur Politik: Normalisierung oder Krisenentwicklung?
Martina Gille/Winfried Krüger/Johann de Rijke/Helmut Willems
/ 34 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
In der öffentlichen Diskussion über Jugend hat seit einiger Zeit das Schlagwort von der „Politikverdrossenheit“ Konjunktur. Oft ist jedoch nicht erkennbar, inwiefern entsprechende Interpretationen und Trend-aussagen auch durch Ergebnisse der empirischen Jugendforschung gestützt sind. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, einige zentrale Aspekte der politischen Orientierungen sowie der Wertorientierungen von Jugendlichen in den alten und den neuen Bundesländern anhand der Daten des DJI-Jugendsurveys sowie anderer Untersuchungen zu beleuchten. Erstens wird gefragt, welche Bedeutung Politik für Jugendliche hat, wie das Interesse an Politik im Ost-West-Vergleich verteilt ist und ob sich in den letzten Jahren Trends erkennen lassen, die als Politikverdrossenheit beschreibbar sind. Daran schließt sich zweitens die Frage danach an, welches Vertrauen Jugendliche den politischen und gesellschaftlichen Institutionen entgegenbringen. Drittens schließlich wollen wir Fragen des Wertewandels und der Wertorientierungen von Jugendlichen diskutieren, auch hinsichtlich der Frage, welche möglichen Konsequenzen dies für die politischen Orientierungen von Jugendlichen hat. Schließlich wird es darum gehen, ob und inwiefern Jugendliche die Bereitschaft zeigen, sich politisch zu engagieren. Dabei interessiert im besonderen, welchen Einfluß politisches Interesse, Institutionenvertrauen und Wertorientierungen auf die Partizipationsbereitschaften junger Menschen haben.
I. Einführung
Die öffentliche Debatte über die Jugend und ihr Verhältnis zum politischen System war in den letzten fünf Jahren von unterschiedlichen, wenn auch z. T. sich überlappenden Diskursen gekennzeichnet. Zum einen stand die Frage im Vordergrund, wie insbesondere die junge Generation im Osten in die neue Gesellschaft hineinwächst und inwieweit es ihr trotz unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen und eines schwierigen Transformationsprozesses gelingt, sich auf die neuen politischen Institutionen und Werte einzustellen. Zum zweiten wurde diskutiert, ob sich vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung, der Krise auf dem Arbeitsmarkt und der Immigration eine gewaltbereite, fremdenfeindliche Protestbewegung insbesondere in der jungen Generation herausbildet. Und drittens schließlich wurde eine wachsende Entfremdung und Distanzierung der Jugendlichen im Verhältnis zur Politik diagnostiziert, die einerseits als Rückzug aus den etablierten politischen Institutionen und andererseits generell als Politik-verdrossenheit und Abkehr vom Politischen interpretiert wurde.
Manche dieser Diskurse sind stark von aktuellen Entwicklungen beeinflußt gewesen und werden heute mit einer ganz anderen Akzentuierung geführt als noch vor zwei oder drei Jahren. Dies gilt etwa für die Vermutung, die nach den Ereignissen von Rostock, Hoyerswerda und Solingen aufkam, die jüngere Generation könne Teil einer politisch radikalisierten rechten Bewegung werden. Auch ist nicht immer entscheidbar, inwiefern die jeweils verfügbaren empirischen Daten tatsächlich die jeweilige Interpretation und entsprechende Trendaussagen z. B. zur Politikverdrossenheit stützen. Schließlich spielen in der Beurteilung der politischen Interessen und Orientierungen von Jugendlichen häufig auch unausgesprochene normative Vorstellungen eine zentrale Rolle. Als Maßstab für die politische Involviertheit Jugendlicher wird häufig das Engagement Erwachsener herangezogen. Zudem hängt die Beurteilung des Engagements von Jugendlichen von den jeweils zugrundegelegten ordnungs-und demokratiepolitischen Konzepten ab, z. B. von der Vorstellung, daß sich der Bürger im demokratischen System als „Homo politicus“ verstehen sollte.
Ohne Zweifel sind demokratische Ordnungen in einem besonderen Maße auf eine Unterstützung durch ihre Bürger angewiesen; und sicherlich muß dem politischen Interesse und Engagement der jüngeren Generation besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, da sie als die zukünftigen Akteure besondere Verantwortung für die Stabilität und Weiterentwicklung der Demokratie tragen. Dennoch sind wir gut beraten, nicht jede Veränderung im Verhältnis der Jugendlichen zur Politik als Krise anzusehen und die politischen Orientierungen Jugendlicher lediglich in ihren extremen Ausprägungen der Apathie oder der politischen Radikalisierung wahrzunehmen.
Im folgenden wird der Versuch unternommen, einige zentrale Aspekte der politischen Orientierungen sowie der Wertorientierungen von Jugendlichen anhand der Daten des Jugendsurveys sowie anderer Untersuchungen zu beleuchten Zunächst steht die Frage im Vordergrund, welche Bedeutung Politik für Jugendliche hat, wie das Interesse an Politik im Ost-West-Vergleich verteilt ist und ob sich in den letzten Jahren Trends erkennen lassen, die als Politikverdrossenheit beschreibbar sind. Daran schließt sich die Frage an, welches Vertrauen Jugendliche den politischen und gesellschaftlichen Institutionen entgegenbringen, ob hier Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern erkennbar sind und mit welchen anderen Faktoren (z. B. Demokratiezufriedenheit) das Institutionenvertrauen zusammenhängt. Drittens schließlich wollen wir Fragen des Wertewandels und der Wertorientierungen von Jugendlichen diskutieren, hinsichtlich der Ähnlichkeit zwischen den Jugendlichen in den neuen und alten Bundesländern, aber auch hinsichtlich der möglichen Konsequenzen für die politischen Orientierungen von Jugendlichen. Schließlich wird es um die Frage gehen, ob und inwiefern Jugendliche die Bereitschaft zeigen, sich politisch zu engagieren. Dabei interessiert im besonderen, welchen Einfluß politisches Interesse, Institutionenvertrauen und Wertorientierungen auf die Partizipationsbereitschaften junger Menschen haben.
II. Interesse an Politik
Abbildung 2
Schaubild 2: Vertrauen west-und ostdeutscher Jugendlicher in Institutionen und Organisationen 1992 (in Prozent)
Quelle: DJI-Jugendsurvey 1992.
Schaubild 2: Vertrauen west-und ostdeutscher Jugendlicher in Institutionen und Organisationen 1992 (in Prozent)
Quelle: DJI-Jugendsurvey 1992.
Das Interesse an und die subjektive Bedeutung von Politik für Jugendliche gilt allgemein als relativ gering im Vergleich zur Bedeutung anderer Lebensbereiche wie Schule, Beruf oder Freizeit. Auch im Vergleich zu Erwachsenen spielt Politik bei jungen Menschen eine geringere Rolle, was u. a. darauf zurückgeführt wird, daß im Jugendalter die „innere Distanz“ zu Politik noch größer sei.
Dieses relativ geringe Interesse von Jugendlichen an Politik ist nun nicht einfach nur bedauerlich, sondern insofern von besonderer Bedeutung, als das Interesse an Politik eine zentrale Voraussetzung auch für politisches und gesellschaftliches Engagement darstellt Hier sind in den vergangenen Jahren Hinweise aus der Forschung gekom-men, die auf einen aktuellen Trend der Abwendung der Jugendlichen von der Politik und der Reduzierung des politischen Engagements hinweisen. Wir wollen uns daher im folgenden auf die Fragen konzentrieren, in welchem Ausmaß Jugendliche politisches Interesse bekunden, welche Bedeutung Politik als eigenständiger Lebensbereich für sie hat und wie sich dies in den letzten Jahren entwickelt hat.
Mit der Beantwortung der Frage nach der Wichtigkeit von Lebensbereichen wird eine Einordnung des Bereiches Politik im Vergleich zu anderen Lebensbereichen, etwa Partnerschaft, Beruf und Arbeit, Freunde, Freizeit und Erholung, Schulund Berufsausbildung, versucht. Im Kontext dieser Frage erhält Politik im Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI) deutlich geringere Wichtigkeitswerte als fast alle anderen erfragten Bereiche. Diese Differenz ist am größten für die jüngeren Altersgruppen der 16-bis 19jährigen, ändert sich aber auch mit höherem Alter nicht wesentlich, während andere Bereiche innerhalb der im Survey erfaßten Altersspanne von 16 bis 29 Jahren mit zunehmendem Alter durchaus andere Prioritäten erfahren: Der Bereich Schul-und Berufsausbildung wird mit steigendem Alter geringer bewertet, höher hingegen werden Beruf und Arbeit sowie Familie und Kinder eingestuft Ähnliches gilt auch für Befragte, die älter als 29 Jahre sind: Anhand der Daten der allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften aus dem Jahre 1992 (ALLBUS 1992) kann man sehen, daß auch bei älteren Befragten der Lebensbereich Politik die geringste Rolle spielt. Insgesamt wird man also nicht sagen können, daß der Politikbereich nur für jüngere Altersgruppen ein relativ geringes Gewicht besitzt. Im Vergleich zu den unmittelbar erfahrbaren und gestaltbaren Lebensbereichen der Berufswelt, der Familie, der Freizeit etc. bleibt der Lebensbereich Politik für die Mehrzahl der Menschen ein Bereich, dessen subjektive Relevanz und hohe Bedeutung sich nicht von selbst ergeben.
Dies wird ebenfalls deutlich, wenn man einen weiteren Indikator für die subjektive Bedeutsamkeit von Politik betrachtet: die Frage nach dem Vorhandensein und dem Ausmaß des politischen Interesses. Wegen der Unbestimmtheit der Frage hinsichtlich konkreter Inhalte von Politik wurde dieser Indikator häufig kritisiert. Andererseits zielt die Frage gerade auf eine eher grundlegende Orientierung, die als Voraussetzung für differen- zierte politische Einstellungen und Verhaltensorientierungen aufgefaßt werden kann. In der Formulierung „Wie stark interessieren Sie sich für Politik?“ ist der Indikator in Bevölkerungsumfragen wie auch in Jugendstudien weit verbreitet und erlaubt damit, Unterschiede von Altersgruppen und Veränderungen über Zeiträume auf der Aggregatebene auszumachen. Daher wird im folgenden auch auf diese Frage Bezug genommen.
In den neuen Bundesländern hat im ersten Jahr nach der Vereinigung im Oktober 1990 das Politik-interesse bei Jugendlichen stark zugenommen Dies wurde als besondere politische Sensibilisierung durch die Wende und den Prozeß der Vereinigung gedeutet. In den folgenden Jahren waren dann jedoch deutlich zurückgehende Werte zu beobachten, so daß von einer dauerhaften politischen Mobilisierung der ostdeutschen Jugendlichen bald nicht mehr gesprochen werden konnte Vielmehr wurde vermutet, daß sich die für den Vereinigungsprozeß auf politischer, ökonomischer und sozialer Ebene erkennbare Phase der Konsolidierung nun auch auf der Ebene der politischen Einstellungen und Erwartungen zeige. Allerdings lassen die unterschiedlichen Umfragen, auf die Bezug genommen wurde (Umfragen unter Schülerpopulationen, repräsentative Befragungen in Teilgebieten der neuen Bundesländer, gesamtrepräsentative Befragungen), und insbesondere die teilweise erheblich unterschiedlichen Frageformulierungen eine einheitliche Bewertung des Ausmaßes der Veränderung des politischen Interesses in diesen Jahren nur eingeschränkt zu. Im DJI-Jugendsurvey wurde noch 1992 festgestellt, daß das politische Interesse in den neuen Bundesländern etwas höher war als in den alten Bundesländern (22, 3 Prozent gegenüber 20, 6 Prozent), was u. a. auf Mobilisierungseffekte durch die Wende und den Transformationsprozeß zurückgeführt wurde. Zwischen 1993 und 1995 läßt sich dann in den Studien des Instituts für praxisorientierte Sozialforschung (IPOS) für den Osten wie für den Westen ein Rückgang des Politikinteresses beobachten, der im Osten stärker war als im Westen
Inwieweit von einem klaren „dramatischen“ Trend der Abnahme gesprochen werden kann, wie es zuweilen im Zusammenhang der Diskussion um die „Politikverdrossenheit“ behauptet wird, muß hier offenbleiben. Zunächst einmal scheint es sich eher um eine Normalisierung nach der vereinigungsbedingten Mobilisierungsphase zu handeln. Ob dieser Trend zu einem geringeren politischen Interesse sich jedoch weiter fortsetzt und sich dann tatsächlich als genereller Trend beschreiben läßt, kann erst durch die weitere Entwicklung belegt werden.
Wie variiert nun das politische Interesse innerhalb der Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Nach wie vor wird auch in den neueren Umfragen unter Jugendlichen ein geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägtes politisches Interesse bekundet. Frauen geben in Ost wie West ein geringeres Interesse an als Männer. Auch der Einfluß des Bildungsniveaus auf das politische Interesse ist immer wieder in allen Jugendumfragen festzustellen. Je höher die formale Bildung, um so höher ist auch der Anteil der Befragten mit starkem oder sehr starkem politischen Interesse. Dies konnte mit den Daten des Jugendsurveys bestätigt werden, ebenso in den IPOS-Jugendstudien von 1993 und 1995; der Zusammenhang ist im Osten wie im Westen etwa gleich stark. Ein deutlicher Anstieg der Interessiertheit läßt sich vor allem für die oberste Bildungsgruppe feststellen. Beim Jugendsurvey ist der Anteil der Befragten mit starkem bzw.sehr starkem Politikinteresse in dieser Gruppe jeweils fast doppelt so hoch (31, 2 Prozent im Westen, 35 Prozent im Osten) wie in der mittleren (14, 5 bzw. 17, 6 Prozent) und unteren Bildungsgruppe (13 Prozent im Westen, 11, 9 Prozent im Osten).
Die Altersabhängigkeit politischer Interessiertheit ist häufig festgestellt worden. Im Rahmen derAltersgruppen der 16-bis 29jährigen im Jugendsurvey 1992 lassen sich zunehmende Werte des Anteils stark Interessierter ebenso wie abnehmende Werte gering Interessierter über die Altersgruppen beobachten. Im Westen liegt der Anteil der stark Interessierten unter den 16-bis 17jährigen bei 11, 9 Prozent, steigt dann bei den 18-bis 20jährigen auf 19, 4 Prozent, beträgt bei den 21-bis 24jährigen 21, 1 und den 25-bis 29jährigen 23, 1 Prozent. Die entsprechenden Werte für die neuen Bundesländer steigen von 18 Prozent für die jüngste Altersgruppe auf 26, 3 Prozent für die 25-bis 29jährigen; hier läßt sich ein gleichmäßiger, eher moderater Anstieg ablesen. Andere Jugendstudien berichten deutlichere Differenzen der jüngeren Altersgruppen im Vergleich zu den älteren: In der IPOS-Jugendstudie 1995 sind es im Westen etwa 11 Prozent der 14-bis 17jährigen, die sich stark für Politik interessieren, bei den folgenden Altersgruppen (bis 27) liegen die Werte über 24 Prozent, bei den 25-bis 27jährigen sind es sogar 36 Prozent. Und auch in der Emnid-Umfrage für den „Spiegel“ 1994 (14-bis 29jährige) sind die Altersgruppen unter 18 Jahren deutlich geringer interessiert an politischen Themen als die älteren Befragten. Der gleiche Zusammenhang gilt auf niedrigerem Niveau im Osten.
Festgehalten werden soll an dieser Stelle noch, daß auch bei den Erwachsenen mit höherem Lebensalter das Interesse an Politik noch weiter zunimmt. In den ALLBUS-Umfragen von 1992 und 1994 sind jeweils die über 29jährigen stärker an Politik interessiert als die 18-bis 29jährigen (die Werte im ALLBUS 94: im Westen 28, 9 Prozent gegenüber 19, 9 Prozent, im Osten 28, 5 Prozent zu 15, 1 Prozent). Die kombinierte Betrachtung von Bildungsniveau und Alter (im Jugendsurvey 1992) liefert noch einen interessanten Hinweis. Die Ergebnisse weisen darauf hin, daß der Alterseffekt bezüglich eines zunehmenden politischen Interesses hauptsächlich der oberen Kategorie der Bildungsabschlüsse (Abitur/Fachabitur/EOS im Osten) geschuldet ist. Der Anteil der politisch sehr stark bzw. stark Interessierten steigt von der jüngsten zur ältesten Altersgruppe in den beiden unteren im Jugendsurvey unterschiedenen Bildungsgruppen relativ gering, der Anstieg liegt zumeist unter 10 Prozentpunkten. In der obersten Bildungskategorie dagegen, die schon bei den jüngeren ein höheres politisches Interesse aufweist (hier sind im wesentlichen die Schüler enthalten, die einen Abiturabschluß anstreben), ist im Westen wie im Osten die Differenz der 16-bis 17jährigen zu den 25-bis 29jährigen knapp 20
Prozentpunkte (s. Schaubild 1). Dazu tragen vor allem die Studenten bei, die ja die höchsten Werte beim Politikinteresse aufweisen. Aber auch bei den nicht bzw. nicht mehr Studierenden läßt sich noch ein stärkerer altersspezifischer Anstieg in der höchsten Bildungsgruppe feststellen, vor allem auch in den neuen Bundesländern. Insgesamt stützen diese Ergebnisse die Aussage, daß für die Ausbildung eines Interesses an Politik im Lebensverlauf eine höhere Ausbildung entscheidend ist.
Informationen über das politische Interesse junger Bürger sind nun insofern von besonderer Bedeutung, als dem politischen Interesse ein großer Einfluß auf die aktive Beteiligung am politischen Geschehen zugesprochen wird. Auch für die Gruppe der Jugendlichen im Jugendsurvey ergaben sich deutliche Beziehungen zum Engagement in politischen Organisationen und Verbänden sowie auch zu Verhaltensbereitschaften im konventionellen und nichtkonventionellen Bereich Im Abschnitt über Partizipation weiter unten wird darauf näher eingegangen.
III. Vertrauen in politische Institutionen
Abbildung 3
Schaubild 3a: Vertrauen westdeutscher Jugendlicher in Institutionen: Durchschnittliche Mittelwerte über alle Institutionen nach Altersgruppen im Zeitverlauf
Quelle: IPOS 1991 bis 1995 (ohne 1994), eigene Berechnungen.
Schaubild 3a: Vertrauen westdeutscher Jugendlicher in Institutionen: Durchschnittliche Mittelwerte über alle Institutionen nach Altersgruppen im Zeitverlauf
Quelle: IPOS 1991 bis 1995 (ohne 1994), eigene Berechnungen.
Wenn das Verhältnis Jugendlicher und junger Erwachsener zur Politik thematisiert wird, wird immer wieder auch ihre Haltung zu den verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen sowie zum politisch institutionellen System insgesamt kommentiert. Der Tenor solcher Äußerungen ist nicht selten negativ. Der Trend, so heißt es beispielsweise bei Hans-Joachim Veen laufe auf eine „Erosion des institutioneilen Bewußtseins“ hinaus. Die Daten, auf denen diese Feststellungen und Urteile basieren, sind allerdings selten befriedigend, insbesondere stützen sie als Einpunktmessungen keine Trendaussagen.
Trendaussagen erlaubt auch der Jugendsurvey mit seiner ersten Welle nicht. Nicht zuletzt auch um diesem grundsätzlichen Mangel an Zeitreihendaten zu begegnen und somit Entwicklungen im Bereich politischer Orientierungen von Jugendlichen nachzeichnen zu können, ist der DJI-Survey als replikative Untersuchung mit etwa fünfjährigem Rhythmus konzipiert. Allerdings haben wir gleichzeitig auch Fragen aus anderen Untersuchungen übernommen, so daß sich hierüber bereits jetzt, zumindest punktuell, durch die Reanalyse anderer Daten Zeitvergleiche vornehmen lassen.
Im folgenden soll zunächst anhand des Jugendsurveys der Aspekt der affektiven Unterstützung, den das institutionelle System in der Bundesrepublik erfährt, betrachtet werden. Die fünfzehn Institutionen und Organisationen, die wir von den Befragten unter dem Aspekt des Vertrauens beurteilen ließen, repräsentieren die Bereiche der Exekutive, der Legislative, der Rechtsprechung, der Medien, der Großorganisationen sowie der selbst-organisierten Assoziationen von Bürgern.
Der Transformationsprozeß, der durch die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands in Gang gebracht worden ist, lenkt das Interesse verständlicherweise auf die Frage, wie die Bürger der neuen Bundesländer damit zurechtkommen, daß sie auf allen staatlichen Ebenen mit Institutionen konfrontiert sind, mit denen sie bis dahin keine konkreten, sondern bestenfalls medienvermittelte Erfahrungen gemacht haben. Schon bei einem ersten Blick auf das Schaubild 2 ist bemerkenswert, daß bereits Ende 1992, zum Zeitpunkt der Erhebungen für den Jugendsurvey, also nach nur zwei Jahren gemeinsamer Institutionengeschichte, die Strukturen des Vertrauens der ost-und der westdeutschen befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen sich außerordentlich gleichen. Das Vertrauensniveau der ostdeutschen Jugendlichen bleibt allerdings durchgängig unter dem der westdeutschen.
Das geringste Vertrauen genießen nach Schaubild 2 in Ost und West die Parteien, die Kirchen, die Großunternehmen, die Bundesregierung und die Bundeswehr; im Osten außerdem noch die Presse. Im Westen vertraut etwa ein Viertel bis ein Drittel der befragten 16-bis 29jährigen diesen Institutionen; im Osten ist diese Gruppe jeweils kaum größer als ein Viertel aller Befragten. Demgegenüber werden Greenpeace, das Bundesverfassungsgericht, die Bürgerinitiativen sowie die Gerichte von der Hälfte bis zu zwei Dritteln der westdeutschen Heranwachsenden im oberen Bereich des Vertrauens plaziert. Für die ostdeutschen Befragten gilt diese Rangplazierung in gleicher Weise, allerdings mit geringeren Prozentanteilen.
Während sich für Ost und West eine nahezu gleiche Rangfolge der Institutionen insgesamt ergibt, ist zugleich jedoch ein Ost-West-Gefälle des Vertrauensniveaus erkennbar. Obwohl diese Differenz deutlich ist, wäre durchaus auch ein weitaus dramatischerer Abstand nicht überraschend gewesen angesichts der Unterschiedlichkeit der politischen Systeme, in denen die Befragten der beiden Teile Deutschlands jeweils aufgewachsen sind, und angesichts der Neuartigkeit und Unvertrautheit, die das institutionelle westliche System für die ostdeutschen Jugendlichen besitzt. Verschiedene Untersuchungen aus den Jahren 1990 und 1991 stützen die Annahme, daß diese relativ geringen Differenzen zwischen Ost und West eher das Ergebnis eines rapiden Angleichungsprozesses in den ersten beiden Jahre gemeinsamer Staatlichkeit sind als das Ergebnis einer medienvermittelten antizipatorischen Sozialisation in das institutioneile Gefüge Westdeutschlands Unter dem Aspekt, daß das institutioneile System von den Bürgern nicht nur als Gesamtensemble wahrgenommen wird, sondern sich auch nach Funktionszusammenhängen und Aufgabenbereichen strukturiert, sollen zwei Gruppen von Institutionen getrennt betrachtet werden: einmal die Parteien, der Bundestag und die Bundesregierung als Institutionen etablierter Politik sowie zum anderen Bürgerinitiativen und Greenpeace als die Institutionen, die neue, alternative Politikinhalte außerhalb des verfaßten Systems zu organisieren versuchen. Faßt man die Vertrauensurteile zu den Institutionen der beiden Politikbereiche jeweils zusammen, zeigt sich, daß der etablierten Politik nur von einer Minderheit der Befragten großes Vertrauen entgegengebracht wird. Im Osten ist der Anteil noch geringer als im Westen. Anders beim alternativen Politikbereich: Hier sind es im Westen wie im Osten jeweils etwa die Hälfte oder mehr aller jungen Leute, die diesen Institutionen Vertrauen bezeugen.
Die naheliegende Erwartung, daß das Vertrauen in alternative bzw. etablierte Institutionen die Befragten eindeutig polarisieren würde, wird allerdings nicht bestätigt. Vielmehr ist es so, daß die Befragtengruppe, die der traditionellen Politik Vertrauen entgegenbringt, durchaus auch Vertrauen gegenüber alternativer Politik an den Tag legt.
Der Mangel an Vertrauen in das institutioneile System einer Gesellschaft steht im Zusammenhang mit anderen Einstellungen zum politischen System, wie etwa dem Grad der generellen Zufriedenheit mit der Demokratie, so wie sie in der Bundesrepublik Deutschland besteht: Je geringer das Vertrauen in die Institutionen der etablierten Poli-tik, um so geringer auch die Zufriedenheit mit der Demokratie in der Bundesrepublik
Der Mangel an Vertrauen in das institutioneile System einer Gesellschaft kann darüber hinaus auch damit Zusammenhängen, daß die Bürger nicht den Eindruck haben, daß ihre Interessen und Ansprüche, soweit sie diese an das politische System und seine Akteure adressieren, berücksichtigt werden. Konkret geht es also um die Meinung der Befragten darüber, ob sich die Politiker viel darum kümmern, was die Bürger denken, ob sie nur gewählt werden wollen und an den Wünschen der Wähler gar nicht interessiert sind und ob die Bürger überzeugt davon sind, Einfluß auf das Handeln der Regierung nehmen zu können. Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen im Jugendsurvey lassen sich derart zusammenfassen, daß zwei Haltungen gegenüber dem politischen System und seinen Akteuren unterscheidbar werden Die erste -sie ist im Westen bei einem Drittel (32, 1 Prozent), im Osten bei etwa einem Viertel (23, 7 Prozent) aller Befragten zu finden -ist stark von der Überzeugung geprägt, daß das politische System und die Politiker bereit sind, Ansprüche und Interessen der Bürger aufzunehmen; die zweite ist von der Einschätzung bestimmt, daß eine solche Reaktion von Seiten des Systems und seiner Akteure kaum zu erwarten ist; sie wird im Westen von einem Viertel (26 Prozent), im Osten von rund einem Drittel (31, 8 Prozent) geteilt. Die These, daß ein geringes Vertrauen in die Institutionen der etablierten Politik eng zusammenhängt mit Zweifeln an der Reaktionsfähigkeit (Responsivität) des politischen Systems und seiner Akteure, läßt sich somit ebenfalls mit den Daten des Jugendsurveys belegen
Geringes Vertrauen in das institutionelle System etablierter Politik (also in die Parteien, das Parlament und die Regierung) geht also einher mit einer geringeren Zufriedenheit der Jugendlichen mit der Demokratie (so wie sie in der Bundesrepublik besteht) und hängt auch zusammen mit abnehmendem Vertrauen in die Reaktionsbereitschaft und Reaktionsfähigkeit des politischen Systems und seiner Akteure. Im Hinblick auf das Vertrauen in alternative Politikformen (repräsentiert in Bürgerinitiativen und Greenpeace) sind diese Zusammenhänge jedoch so nicht zu finden. Der alternative Politikbereich findet Vertrauen weitgehend unabhängig davon, ob die Befragten mit der Demokratie zufrieden sind oder von der Responsivität des politischen Systems überzeugt sind.
Um nun noch die bereits oben angesprochene Entwicklung des Institutionenvertrauens im Zeit-verlauf für verschiedene Altersgruppen einschätzen zu können, haben wir über die DJI-Surveydaten hinaus die hierzu vorliegenden Daten der jährlich durchgeführten Umfragen von IPOS reanalysiert Für jeden Erhebungszeitpunkt wurden dazu jeweils alle Institutionen zu einem Durchschnittswert zusammengefaßt -getrennt für zwei Altersgruppen, nämlich 18-bis 29 Jahre und 30 Jahre und älter, sowie außerdem nach alten und neuen Bundesländern. Die Schaubilder 3a und 3b lassen verschiedenes erkennen. Zum einen ist der bereits erwähnte Unterschied im Vertrauensniveau zwischen Ost und West klar erkennbar. Zum zweiten wird deutlich, daß die Vertrauenswerte ^sowohl im Osten wie auch im Westen einen ähnlichen Trend aufweisen: Die Vertrauensentwicklung ist danach gekennzeichnet durch einen Abwärtstrend in den frühen neunziger Jahren, der in den alten Bundesländern 1992, in den neuen 1993 endet Seit 1993 ist eine leichte Zunahme des Institutionenvertrauens festzustellen.
Deutlich wird weiter, daß die Vertrauenswerte der erwachsenen Alterskohorten -hier der Bevölkerungsgruppen, die zum Befragungszeitpunkt 30 Jahre oder älter waren -im Westen sich vor allem im Skalenbereich über 1 bewegen, im Osten dagegen deutlich näher am Skalennullpunkt. Mit einer Verschiebung zu noch niedrigeren Vertrauenswerten sind die gleichen Ost-West-Unterschiede auch bei den jüngeren Kohorten zu finden.
Die Differenz der Vertrauenswerte zwischen den Jugendlichen einerseits und den Erwachsenenkohorten andererseits ist zwar gegeben, aber nicht sehr beträchtlich. Die Frage, ob diese Differenz tatsächlich die Feststellung eines besonderen Vertrauensdefizits bei den jüngeren Kohortenstützt, ist nicht ohne weiteres zu bejahen. Das Institutionenvertrauen scheint vielmehr insgesamt seit Mitte der achtziger Jahre leicht zurückzugehen. Dies betrifft sogar stärker noch als die jüngeren Kohorten die der ab 30jährigen, so daß die Differenz zwischen jugendlichen und erwachsenen Bürgern der Bundesrepublik hinsichtlich ihres Vertrauens in das institutionelle System geringer wird. Wir vermuten, daß sich in dieser Entwicklung zwei Effekte mischen: erstens der generelle Wertewandel, der sich bei den älteren Kohorten in einem stärkeren Maß an distanzierter Skepsis gegenüber den Institutionen niederschlägt, und zweitens insgesamt eine mehr outputbegründete Distanz gegenüber dem institutionellen System angesichts einer gesellschaft-liehenEntwicklung, bei der es innerhalb der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte immer weniger zu verteilen gab.
IV. Wertorientierungen
Abbildung 4
Schaubild 3b: Vertrauen ostdeutscher Jugendlicher in Institutionen: Durchschnittliche Mittelwerte über alle Institutionen nach Altersgruppen im Zeitverlauf
Quelle: IPOS 1991 bis 1995 (ohne 1994), eigene Berechnungen.
Schaubild 3b: Vertrauen ostdeutscher Jugendlicher in Institutionen: Durchschnittliche Mittelwerte über alle Institutionen nach Altersgruppen im Zeitverlauf
Quelle: IPOS 1991 bis 1995 (ohne 1994), eigene Berechnungen.
Werte bzw. Wertorientierungen sind grundlegende Orientierungsleitlinien für menschliches Handeln. Sie verkörpern keine temporären Einstellungen, sondern sind relativ stabile, in der Persönlichkeitsstruktur verankerte Orientierungen, die in einem längerfristigen Sozialisationsprozeß insbesondere im Kindes-und Jugendalter erworben werden. Werten kommt daher eine große Bedeutung zu für die Herausbildung von Einstellungen und Verhaltensbereitschaften im allgemeinen und für politische Orientierungen und Aktivitätsbereitschaften im besonderen. Im folgenden sollen die Wertorientierungen Jugendlicher im Ost-West-Vergleich dargestellt sowie der Zusammenhang von Werten und politischen Orientierungen exemplarisch beschrieben werden. Die aktuelle Wertediskussion in Deutschland wird einerseits bestimmt durch allgemeine Wertewandelthesen, wie sie vor allem durch Ronald Inglehart und Helmut Klages vertreten werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so die Thesen, änderten sich mit den weiter voranschreitenden Modernisierungsprozessen die Sozialisationsbedingungen junger Menschen dahingehend, daß soziale Sicherheit und wirtschaftlicher Wohlstand für die heranwachsenden Generationen zu einer Selbstverständlichkeit wurden. Gerade diese gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse haben nach Inglehart einen Wandel in den Wertorientierungen junger Menschen ausgelöst, der durch einen Bedeutungsverlust materialistischer Werte zugunsten eines Bedeutungsgewinnes postmaterialistischer Werte gekennzeichnet ist. Für „materialistisch“ orientierte Personen haben wirtschaftliche Belange und die Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen Priorität, während für „postmaterialistische“ Personen nicht-wirtschaftliche Belange sowie Selbstverwirklichung und auch gesellschaftliche Mitbestimmung Vorrang haben.
Die Bedeutungszunahme von Werten der Selbstentfaltung ist auch für Klages das Hauptmerkmal des Wertewandels in der Bundesrepublik seit Mitte der sechziger Jahre; aber nach den Vorstellungen von Klages muß die Zunahme von Selbstentfaltungswerten nicht notwendigerweise mit einer Abnahme von Werten der Pflicht und Akzeptanz verbunden sein. Für Klages ist daher auch eine Werte-Koexistenz möglich, d. h. ein Bedeutungsgewinn von Werten der Selbstverwirklichung bei gleichbleibender Wichtigkeit von konventionellen Werten.
Die empirischen Belege dafür, daß ein entsprechender Wertewandel in der Bundesrepublik stattgefunden hat, sind reichhaltig Während für Inglehart die Bedeutungszunahme postmaterialistischer Werte mehr oder minder einen linearen Trend darstellt, konnten Klages und seine Forschungsgruppe Ende der achtziger Jahre mit der Entdeckung des neuen Wertetyps „hedonistischer Materialist“ eine neue Richtung des Wertewandels ausmachen. Die Wertekoexistenz bzw. Wertesynthese zwischen der hedonistischen Komponente der Selbstentfaltungswerte mit einzelnen Teilen der Pflicht-und Akzeptanzwerte gewann offensichtlich an Bedeutung, insbesondere bei jungen Menschen
Neben diesen allgemeinen Wertewandeltrends spielen andererseits für die Wertewandeldiskussion in Deutschland auch spezielle Aspekte des Wertewandels in der DDR und in den jetzigen neuen Bundesländern eine wichtige Rolle. Mit der Vereinigung beider deutscher Staaten stellte sich im Hinblick auf die Wertorientierungen die Frage, inwieweit in West und Ost ähnliche Wertewandelprozesse stattgefunden haben und inwieweit die Wende selbst und ihre Verarbeitung insbesondere bei den Ostdeutschen Einfluß auf die Wertorientierungen genommen haben. Wie ähnlich sind sich Jugendliche in Ost und West in ihren Wertorientierungen? Wird es zukünftig eher getrennte, eigenständige Wertewandelprozesse in Ost und West geben, oder ist hier eine gemeinsame Entwicklung zu erwarten?
Für die These eines parallelen Wertewandels im Osten sprechen die Ergebnisse des Zentralen Institutes für Jugendforschung (Leipzig) in der DDR, das seit Mitte der siebziger Jahre in seinen regelmäßig durchgeführten Jugendbefragungen eine Zunahme von Werten der Selbstentfaltung und des Hedonismus bei Jugendlichen in der DDR feststellen konnte. Mit diesem Wertewandel war auch eine nachlassende Bereitschaft der Jugend verbunden, gesellschaftliche Pflichten ernst zu nehmen bzw. gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen Für die Parallelität des Wertewandels im Osten bereits vor der Wende sprechen auch die zum Westen parallel verlaufenden Modernisierungstendenzen wie z. B. die Verstädterung der Siedlungsweise und die Bildungsexpansion dieinsbesondere verantwortlich für die Verbreitung von Selbstentfaltungswerten sind, wie Hans Bert-ram und Helmut Klages empirisch nachgewiesen haben
Gemäß der Annahme eines parallelen Wertewandels in Ost und West finden sich in den repräsentativen Jugendbefragungen seit 1990 erstaunlich große Übereinstimmungen in den Wertorientierungen junger Menschen wie auch die Ergebnisse des DJI-Jugendsurveys zeigen. Hier werden Wertorientierungen junger Menschen zum einen in einer sehr allgemeinen Weise über persönliche Wertschätzungen von unterschiedlichen Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen erfaßt, und zum anderen findet auch der Postmaterialismus-Index von Inglehart Anwendung, der als Standardinstrument zur Erfassung postmaterialistischer Orientierungen international benutzt wird und auch Vergleichsmöglichkeiten mit repräsentativen Bevölkerungsumfragen in der Bundesrepublik bietet.
Aus dem Fragebereich des Jugendsurveys zu den allgemeinen Wertorientierungen werden hier die beiden Wertedimensionen Selbstentfaltung und Konventionalismus herausgegriffen, da in der Wertewandeldiskussion hauptsächlich auf Veränderungen dieser beiden Dimensionen Bezug genommen wird und diese Wertorientierungen in besonderem Maße Einfluß nehmen auf die Entwicklung politischen Interesses und politischer Verhaltensbereitschaften Werte der Selbstverwirklichung, wie z. B. Unabhängigkeit und Durchsetzungsfähigkeit, sind jungen Menschen heute am wichtigsten. Konventionelle Werte, die Pflicht-und Leistungsbereitschaften sowie materielle Orientierungen beinhalten, haben demgegenüber deutlich geringere Bedeutung. Dabei wird aber die Wichtigkeit dieser Werte keineswegs als unvereinbar angesehen mit einem Streben nach Selbstentfaltung. Eine Orientierung an Selbstentfaltung kann durchaus mit konventionellen Zielsetzungen einhergehen. Gerade die Synthese dieser theoretisch scheinbar widersprüchlichen Wertebereiche spielt für junge Menschen heute eine große Rolle
Die besondere Bedeutung von Werten der Selbstentfaltung gerade für jüngere Menschen wiesen Klages und seine Forschungsgruppe mit Kohorten-analysen anhand von repräsentativen Erhebungen in der Gesamtbevölkerung vielfach nach Die älteren Geburtskohorten zeichnen sich dabei durch einen hohen Anteil von Konventionalisten aus, während die jüngeren Kohorten deutlich stärker Werte der Selbstentfaltung und des Hedonismus vertreten. Dies gilt -wie repräsentative Querschnittserhebungen von 1990 und 1993 zeigen -sowohl für West-als auch für Ostdeutsche. Auch die materialistischen und postmaterialistischen Zielvorstellungen Ingleharts zeigen eine deutliche Altersabhängigkeit, wie sich anhand der Daten des ALLBUS 1992 veranschaulichen läßt. Die 18-bis 29jährigen sind weitaus stärker postmaterialistisch bzw. weniger materialistisch orientiert als beispielsweise jene Befragten, die 60 Jahre und älter sind. Die Ähnlichkeit der Alterseffekte -die hier als Generationseffekte interpretiert werden -in West und Ost weist darauf hin, wie weit der allge-meine Wertewandel auch in den neuen Bundesländern vorangeschritten ist.
Während man also einerseits von einem parallel verlaufenden Wertewandel in West-und Ostdeutschland sprechen kann -insbesondere was die Zunahme an postmaterialistischen Orientierungen in der jüngeren Generation anging gab es andererseits auch eigenständige Wertewandelprozesse in der DDR. die sich bis heute fortgesetzt haben. Diese betrafen vor allem das verstärkte Streben der jungen DDR-Bürger nach Wohlstand, Luxus und Konsum, was den Dogmen der sozialistischen Ideologie und Erziehung entgegenlief. Der Bedeutungsanstieg sowohl hedonistischer als auch materialistischer Orientierungen vor der Wende war daher eng mit einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber dem politischen System der DDR verknüpft. Sie wurde mitbeeinflußt durch die massiven Wünsche nach Wohlstand und Konsummöglichkeiten, wie sie nur in der alten Bundesrepublik und anderen westlichen Gesellschaften befriedigt werden konnten. Das Nachholbedürfnis der DDR-Bürger nach uneingeschränktem Konsum verlor dann aber bereits kurz nach der Vereinigung an Bedeutung. Während sich 1990 noch 29 Prozent der 18-bis 29jährigen in den neuen Bundesländern dem Wertetyp „hedonistischer Materialist“, der nach Klages vor allem maximalen Lebensgenuß in der Konsumgesellschaft realisieren möchte, zuordnen ließe Prozent der 18-bis 29jährigen in den neuen Bundesländern dem Wertetyp „hedonistischer Materialist“, der nach Klages vor allem maximalen Lebensgenuß in der Konsumgesellschaft realisieren möchte, zuordnen ließen, waren es 1993 nur noch 21 Prozent 28.
Diese Abnahme von hedonistisch geprägten Konsumorientierungen ging jedoch einher mit relativ stabilen bzw. sogar leicht zunehmenden konventionalistischen Orientierungen. In allen empirischen Untersuchungen nach der Wende wird daher den jungen Menschen in Ostdeutschland auch eine stärkere Betonung traditioneller Werte bescheinigt. Die ostdeutschen Jugendlichen bewerten traditionelle Sekundärtugenden wie Pflicht, Anpassung und Leistung höher als Jugendliche im Westen. Zugleich sind ihnen Sicherheit und materieller Wohlstand wichtiger (vgl. Tabelle 1). Ähnliches zeigt sich im Wohlfahrtssurvey 1993 auch für die Erwachsenen. Die Ostdeutschen schreiben sich sehr viel häufiger eine konventionelle Lebensweise zu als die Westdeutschen 29.
Diese stärkere Gewichtung von Werten der Pflicht, Leistung und materiellen Sicherheit im Osten ist angesichts der vollkommenen Umstrukturierung der DDR-Gesellschaft eine plausible Reaktion. Die gesamte Lebensgrundlage hat sich für ostdeutsche Jugendliche verändert. Der Wegfall der umfassenden sozialen und beruflichen Absicherung, wie sie in der DDR bestand, führte angesichts der schwierigen Wirtschafts-und Arbeitsmarktlage in den neuen Bundesländern zu Verunsicherungen und zu einem verstärkten Sicherheitsbedürfnis gerade auch bei jungen Menschen. Zugleich stand die Expansion konventioneller Werte nach der Wende in den neuen Bundesländern auch damit in Zusammenhang, daß Pflicht-und Leistungsgesichtspunkte in Antizipation der Forderungen einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft aufgewertet wurden. Mit der Bedeutungszunahme postmaterialistischer Wertorientierungen, die sowohl für die alten als auch für die neuen Bundesländer nachgewiesen werden konnte, steht nun auch das Aufkommen von neuen politischen Partizipationsformen wie Demonstrationen und anderen direkten politischen Aktionen in Zusammenhang Auch die Ergebnisse des Jugendsurveys weisen auf diesen Zusammenhang hin. Selbstentfaltungswerte und postmaterialistische Orientierungen verstärken eine Aufgeschlossenheit gegenüber öffentlichen und politischen Belangen generell und die Neigung zur Nutzung direkter politischer Partizipationsformen im besonderen. Demgegenüber wirken konventionelle Werte in entgegensetzter Richtung: Konventionalisten interessieren sich nur wenig für Politik, zugleich ist ihr politisches Engagement eher auf traditionelle Beteiligungsformen beschränkt. Bei jenen Befragten, bei denen eine Synthese sowohl hedonistischer als auch konventioneller Werte zu finden ist (28, 2 Prozent in den alten Bundesländern bzw. 39, 1 Prozent in den neuen, DJI-Jugendsurvey 1992), setzen sich, wenn man den Einfluß von Werten auf die politische Partizipation betrachtet, eher die konventionellen Werte durch. Jugendliche, die eine Wertesynthese eingehen, weisen in bezug auf politische Interessiertheit und Engagementbereitschaft in den neuen sozialen Bewegungen ein ähnlich niedriges Niveau auf wie die rein konventionell orientierten Befragten. Insofern führt in den neuen Bundesländern die stärkere Ausprägung der Wertesynthese nicht zu einer stärkeren Aufgeschlossenheit gegenüber Politik. Dies spricht für die bereits oben vorgenommene Interpretation, daß die Ostdeutschen zwar Selbstentfaltungswerte in ihr Werterepertoire aufnehmen, jedoch auch an den traditionellen Werten festhalten
V. Politische Partizipation
Abbildung 5
Tabelle 1: Wichtigkeit von Werten der Selbstentfaltung und des Konventionalismus nach Region 1992 (Prozent und Mittelwerte)
Quelle: DJI-Jugendsurvey 1992
Tabelle 1: Wichtigkeit von Werten der Selbstentfaltung und des Konventionalismus nach Region 1992 (Prozent und Mittelwerte)
Quelle: DJI-Jugendsurvey 1992
Die Teilhabe der Bürger am politischen Prozeß kann als ein zentraler Aspekt demokratischer Ordnungen angesehen werden. Sowohl hinsichtlich der Legitimität politischer Ordnung als auch in bezug auf ihre Problembewältigungskapazitäten kommt ihr eine hervorragende Bedeutung zu. Von daher wird eine Untersuchung zum Verhältnis von Jugend und Politik sich mit der Frage beschäftigen müssen, in welchem Ausmaße politische Partizipationsmöglichkeiten von Jugendlichen wahrgenommen und welche Partizipationsformen dabei bevorzugt werden.
Daß die Frage nach der politischen Partizipation insbesondere junger Menschen nicht nur aus grundsätzlichen Erwägungen heraus heute wieder Gegenstand von Diskussionen und öffentlichen Auseinandersetzungen geworden ist, dafür sind eine Reihe von Beobachtungen und Entwicklungen verantwortlich, die gerade in den letzten Jahren Fragen nach dem Verhältnis von Jugend und Politik neu aufgeworfen haben. So hatte die soge-nannte „partizipatorische Revolution“, d. h. die Ausweitung und verstärkte Nutzung unkonventioneller, nichtinstitutioneller Partizipationsformen (vor allem Proteste, Demonstrationen, Unterschriftensammlungen etc.), seit den sechziger Jahren in besonders starkem Maße die politische Mobilisierung von Teilen der jüngeren Generation bewirkt 32. Nachdem die Popularität von nichtinstitutionalisierten Partizipationsformen dann in den achtziger Jahren wieder leicht zurückgegangen war, ist zu fragen, wie sich die Bereitschaft zu unkonventionellen Partizipationsformen heute darstellt und ob diese nach wie vor für Teile der Jugendlichen von großer Bedeutung sind.
Im Bereich der konventionellen, institutionalisierten Partizipationsformen (Wahl, Parteiarbeit) hat sich als Gegentrend zur politischen Mobilisierung im nichtinstitutionalisierten Bereich eine eher reduzierte Beteiligungsbereitschaft beobachten lassen, die sich z. B. durch eine geringere Wahlbeteiligung und geringere Parteiidentifikation insbesondere bei Jugendlichen ausdrückt Zu fragen ist hier, ob die institutionalisierten Formen der Partizipation generell von den Jugendlichen heute stärker abgelehnt und skeptischer beurteilt werden oder ob es hier lediglich zu einer Ausweitung des Partizipationsrepertoires insgesamt gekommen ist, ob also konventionelle und unkonventionelle Partizipationsformen durchaus als kompatibel angesehen werden.
Schließlich spielt die Frage eine wichtige Rolle, wie insbesondere Jugendliche in den neuen Bundesländern im Vergleich zu den alten sich hinsichtlich der verschiedenen Partizipationsformen verhalten. In der DDR, in der diese Jugendlichen zum großen Teil aufgewachsen sind, konnten zum einen lange Jahre nur sehr begrenzt Erfahrungen mit unkonventionellen Partizipationsformen gemacht werden; andererseits jedoch verfügen gerade die Jugendlichen aus den neuen Bundesländern über die für die politische Geschichte Deutschlands einzigartige Erfahrung einer gewaltlosen Protestbewegung, die zum politischen Umsturz des DDR-Regimes führte. Sowohl vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund als auch hinsichtlich einer generell vermuteten Abwendung „der Jugend“ von der etablierten Politik dürfte die Frage nach dem Partizipationsverhalten von Jugendlichen heute daher sehr interessant sein. Da in der Jugendpopulation tatsächliches Partizipationsverhalten noch eher begrenzt vorhanden ist, wollen wir uns im folgenden auf Fragen nach den Partizipationsbereitschaften konzentrieren, wohl wissend, daß die Werte für bekundete Verhaltensbereitschaft in der Regel um einiges höher liegen als die Werte für tatsächliches Verhalten.
Die Daten des DJI-Jugendsurveys aus dem Jahre 1992 verdeutlichen zunächst, daß „zur Wahl gehen“ nach wie vor von der überwiegenden Mehrheit der befragten Jugendlichen als eine zentrale Partizipationsform in Betracht gezogen wird, d. h., über 90 Prozent der befragten Jugendlichen halten die Beteiligung an Wahlen für eine Möglichkeit der politischen Teilhabe, die sie nutzen würden, um in einer Sache politisch Einfluß zu nehmen. Demgegenüber sind die anderen Formen institutioneller politischer Partizipation, die einen ganz erheblichen persönlichen Einsatz verlangen wie Parteiarbeit und Übernahme eines politischen Amtes, nur für Minderheiten von ca. 18 bis 24 Prozent jeweils denkbar.
Die hohe Zahl von Befragten, für die Wählen grundsätzlich als eine Möglichkeit der politischen Einflußnahme in Betracht kommt, läßt sich freilich nicht einfach als unkritisch-konventionelle Partizipationsbereitschaft identifizieren. Denn wie der DJI-Jugendsurvey ebenfalls zeigte, gibt es durchaus starke Minderheiten, die sich vorstellen können, die Teilnahme (oder Nichtteilnahme) an Wahlen als Ausdruck des Protestes oder der Kritik an den etablierten Parteien zu nutzen: Ca. 30 Prozent würden daher auch absichtlich nicht zur Wahl gehen, ca. 20 Prozent eine extreme Partei wählen. Zugleich jedoch lassen die Daten erkennen, daß das Wählen als klassische Form politischer Einflußnahme für einen Großteil der befragten Jugendlichen nur als eine unter vielen denkbaren Formen der Partizipation angesehen wird; andere, direktere problemorientierte und nichtinstitutionalisierte Partizipationsformen spielen im politischen Handlungsrepertoire der jungen Bürger offensichtlich eine ganz erhebliche Rolle. So sind ca. drei Viertel aller Befragten bereit, sich an einer Unterschriftensammlung zu beteiligen; mehr als zwei Drittel würden an genehmigten Demonstrationen teilnehmen, und mehr als die Hälfte an einem gewerkschaftlich organisierten Streik. Auch die Mitarbeit in Bürgerinitiativen kommt grundsätzlich noch für über 40 Prozent der befragten Jugendlichen in Betracht -ein deutlich höherer Wert als die Mitarbeit in Parteien (über 20 Prozent).
Im Vergleich zu diesen verschiedenen Formen unkonventioneller, aber legaler Partizipation fällt die Bereitschaft zu den verschiedenen illegalen Partizipationsformen (ziviler Ungehorsam) sowie zu gewaltverwandten Partizipationsformen deutlich niedriger aus. An nicht genehmigten Demonstrationen würden zwar noch ca. 27 Prozent im Westen und ca. 37 Prozent im Osten teilnehmen. Hausbesetzungen, wilder Streik oder gar politische Gewalt werden jedoch nur noch von kleinen Minderheiten in Betracht gezogen.
Insgesamt betrachtet dürften diese Daten verdeutlichen, daß sich die Ausweitung des Aktionsrepertoires der Jugendlichen um problemorientierte Beteiligungsformen weiter stabilisiert hat, ohne daß damit prinzipiell die konventionellen Partizipationsformen abgelehnt würden. Vielmehr werden problemorientierte Beteiligungsformen heute offensichtlich von vielen Jugendlichen als Teil eines normalen Repertoires an politischen Partizipationsformen wahrgenommen. Dies gilt übrigens für die neuen Bundesländer zum Teil stärker noch als für die alten: Insbesondere hinsichtlich einer Teilnahme an genehmigten, aber auch an nichtgenehmigten Demonstrationen sowie an gewerkschaftlichen Streiks sind die bekundeten Bereitschaften in den neuen Bundesländern höher als in den alten (was in der Regel als Ausdruck der Erfahrungen mit diesen Partizipationsformen in der Zeit des politischen Umbruchs angesehen wird).
Gleichwohl sollten die Zahlen nicht dazu verleiten, aus dieser bekundeten Akzeptanz von verschiedenen Partizipationsformen tatsächliche Partizipationspotentiale abzuleiten. Die prinzipielle Kluft zwischen Einstellung und Handlung dürfte sich wohl für die politische Partizipation Jugendlicher noch insofern vertiefen, als viele sich offensichtlich noch nicht in der Rolle eines politischen Akteurs sehen Die innere Distanz zum Lebensbereich Politik ist hier noch stärker ausgeprägt als bei anderen Altersgruppen; und das Interesse an Politik insgesamt ist -wie dargestellt -nur bei einer starken Minderheit vorhanden. Dies aber ist ein wichtiger Einflußfaktor für politische Partizipation. In der Literatur werden in der Regel eine Reihe von Einflußfaktoren der politischen Partizipation benannt, darunter soziodemographische (an erster Stelle die Schulbildung, weiterhin Alter und Geschlecht) wie auch gesellschaftliche und politische Orientierungen Im folgenden sollen die in den vorausgehenden Kapiteln thematisierten Merkmale in ihrem Zusammenhang zu politischer Partizipation betrachtet werden, wobei wir insbesondere fragen wollen, welche Faktoren problemorientierte und unkonventionelle Partizipationsbereitschaften fördern.
Insgesamt tragen alle hier diskutierten Merkmale (höhere Schulbildung, Postmaterialismus, höheres politisches Interesse und geringes Vertrauen in etablierte politische Institutionen) in den alten wie den neuen Bundesländern zur Verstärkung von problemorientierten und nichtkonventionellen Partizipationsbereitschaften bei Einen deutlichen Effekt weist das Bildungsniveau auf: Befragte mit höherem Bildungsabschluß zeigen eine stärkere Bereitschaft zu einem entsprechenden Engagement als solche mit Realschul-oder Hauptschulabschluß. Auch postmaterialistische Orientierungen polarisieren deutlich hinsichtlich der Partizipationsbereitschaft: Befragte mit vor-wiegender Betonung postmaterialistischer Werte sind im Durchschnitt weitaus eher bereit, problemorientierte und unkonventionelle Beteiligungsmöglichkeiten in Erwägung zu ziehen als materialistisch orientierte. Am stärksten wirkt freilich das politische Interesse: Je höher das politische Interesse der Befragten, desto eher werden problemorientierte und unkonventionelle Partizipationsformen in Betracht gezogen. In den neuen Bundesländern ist dieser Faktor sogar der weitaus stärkste, die anderen Faktoren haben im Vergleich dazu geringere Effekte. Schließlich zeigen auch Befragte mit geringem Vertrauen in etablierte Politikinstitutionen eine verstärkte Neigung zu problemorientierten und unkonventionellen Partizipationsformen. Die Effekte sind hier allerdings deutlich geringer.
Klar wird aus diesen Analysen, daß höhere Schulbildung alleine nicht eine verstärkte Partizipation indiziert: Auch in dieser Gruppe der höher Gebildeten differenzieren die anderen Faktoren, vor allem das politische Interesse und postmaterialistische Orientierungen, noch relativ stark, tragen also zusätzlich zu verstärkter Bereitschaft für problemorientiertes und nichtkonventionelles Engagement bei.
VI. Schlußbetrachtung
Im vorliegenden Beitrag sind einige zentrale Aspekte der politischen Orientierungen und Einstellungen der Jugendlichen Deutschland -in prä sentiert worden, mit dem Ziel, sie vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zum Verhältnis von Jugend und Politik einzuordnen. Dabei ist deutlich geworden, daß auf Grund der zur Zeit vorliegenden empirischen Daten aus den verschiedenen Jugenduntersuchungen weder von einer generellen Politikverdrossenheit noch von einer dramatischen Reduzierung politischer Partizipationsbereitschaften bei Jugendlichen die Rede sein kann. Die relativ geringe subjektive Bedeutung von Politik im Vergleich zu anderen sie Lebensbereichen unterscheidet keineswegs deutlich von der Erwachsenenpopulation, auch wenn die Jugendlichen ein geringeres Interesse an Politik zeigen. Auch muß berücksichtigt werden, daß die deutsche Wiedervereinigung und die durch den Transformationsprozeß bedingten Probleme und Belastungen zu einer zeitweilig starken politi-sehen Mobilisierung auch unter den Jugendlichen geführt hatten. Die jetzt (in einer Phase der Konsolidierung) feststellbare Reduzierung des politischen Interesses kann daher durchaus auch als „Normalisierung“ interpretiert werden und muß nicht unbedingt Anlaß für Dramatisierungen geben.
Darüber hinaus ist erstaunlich, daß die in den Umfragen ermittelten Partizipationsbereitschaften durchaus eine hohe Akzeptanz sowohl konventioneller (z. B. Wahlen) als auch unkonventioneller (z. B. Demonstrationen, Unterschriftensammlungen) Partizipationsformen in Ost wie in West erkennen lassen, obwohl die subjektive Bedeutung von Politik im Jugendalter relativ gering ist. Dies verweist einerseits darauf, daß ein relativ niedriges politisches Interesse im Jugendalter nicht umstandslos zu Apathie und politischer Inaktivität führt, andererseits zeigt es, daß politisches Engagement offensichtlich von einer Reihe von Kontextbedingungen abhängig ist, die im Rahmen der Umfrageforschung nur sehr schwer ermittelbar sind. Hier spielt möglicherweise auch eine Rolle, daß sich in den jüngeren Generationen (insbesondere vor dem Hintergrund ökologischer Fragen und angesichts der im Wertewandel sichtbar werdenden veränderten Lebenskonzepte und Orientierungen) Ansätze für ein neues Politikverständnis herausgebildet haben, die mit den traditionellen Vorstellungen von Interessenartikulation und politischer Partizipation nur schwer zu erfassen sind. Für diesen Problembereich die geeigneten Instrumente zu entwickeln und diesen offenen Fragen nachgehen zu können dürfte eine Herausforderung für die Jugendforschung darstellen.
Martina Gille, Dipl. -Soz., geb. 1954; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Jugendinstitut, München. Veröffentlichungen u. a.: (Mitautorin) Schüler an der Schwelle zur deutschen Einheit, hrsg. vom Deutschen Jugend-institut, Opladen 1992; (Mitautorin) Jugend und Demokratie in Deutschland, hrsg. von Ursula Hoffmann-Lange, Opladen 1995. Winfried Krüger, M. A., geb 1939; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut, München. Veröffentlichungen u. a.: (Mitautor) Schüler an der Schwelle zur deutschen Einheit, hrsg. vom Deutschen Jugendinstitut, Opladen 1992; (Mitautor) Jugend und Demokratie in Deutschland, hrsg. von Ursula Hoffmann-Lange, Opladen 1995. Johann de Rijke, Dipl. -Soz., geb. 1946; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut, München. Veröffentlichungen u. a.: (Mitautor) Was tun Kinder am Nachmittag?, hrsg. vom Deutschen Jugendinstitut, München 1992; (Mitautor) Jugend und Demokratie in Deutschland, hrsg. von Ursula Hoffmann-Lange, Opladen 1995. Helmut Willems, Dr. phil., geb. 1954, Leiter der Abteilung „Jugend und Politik“ am Deutschen Jugendinstitut, München. Veröffentlichungen u. a.: Fremdenfeindliche Gewalt. Einstellungen, Täter, Konflikteskalation, Opladen 1993; (zus. mit Marianne Wolf, Roland Eckert) Soziale Unruhen und Politikberatung, Opladen 1993; (Hrsg. zus. mit Wilfried Schubarth u. Fritz-Ulrich Kolbe) Gewalt an den Schulen. Ausmaß, Bedingungen und Prävention, Opladen 1996.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.