I. Ein deutscher Literaturstreit mit kleinen Fehlern
Jedes DDR-Schulkind der fünfziger Jahre kannte Stalins Ausspruch: „Die Hitler kommen und gehen. Das deutsche Volk, der deutsche Staat aber bleibt.“ Wie man sieht, können auch große Verbrecher wahre Sätze sagen. Stalin abwandelnd, möchte ich sechs Jahre nach dem Untergang der DDR formulieren: Staatswesen wie die DDR kommen und gehen, die deutsche Literatur aber bleibt -und das heißt auch: ein guter Teil der Literatur aus der DDR. Das war in den ersten Jahren nach der Wende 1989/90 nicht die allgemeine Auffassung der nun wieder gesamtdeutschen literarischen Öffentlichkeit. Vielmehr erlitt die DDR Literatur einen gewaltigen Kurssturz, der in unerwarteter Weise andere Werte und Papiere in Mit-leidenschaft zog, so die gesamte westdeutsche Literatur des Nonkonformismus aus vier Jahrzehnten, ja mehr noch: eine Literatur, die sich selbst eine gesellschaftliche Aufgabe stellte, also litterature engagee überhaupt.
Gewiß kennt die Literaturgeschichte seit langem Kursschwankungen an der literarischen Börse. Zeitgeist und Zeitgeschmack, wechselnde Erfahrungs-und Erwartungshorizonte entscheiden über die jeweilige Wertschätzung einer Kunst-und Literaturepoche oder die Einstufung einzelner Autoren und Werke. Barock und Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik und Romantik, Biedermeier und Vormärz, Jugendstil, Expressionismus und Neue Sachlichkeit, Literatur des Exils und der Inneren Emigration: dies sind, so schien es jedenfalls, (kultur-) historische Alternativen, die immer wieder gegeneinander ausgespielt wurden. Die Hochwertung der einen Tendenz schloß die Abwertung der gegenläufigen ein. Dabei wurde häufig suggeriert, daß es vor allem oder sogar ausschließlich um Fragen des Stils, der Ästhetik gehe, wo doch auch weltanschauliche und politische Kontroversen ausgetragen wurden.
Gleichzeitig mit diesem Aufsatz erscheint vom Verfasser die überarbeitete, stark erweiterte und bis an das Jahr 1995 herangeführte Neuausgabe seiner „Kleinen Literaturgeschichte der DDR “ (Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1996).
Damit ist aber schon der eine der beiden kapitalen Fehler angesprochen, der den deutschen Literatur-streit von 1990 bis 1993 in allen Phasen kennzeichnet. Es ist die bewußte oder unbewußte Vermischung, ja Verwechslung der literarischen Werke mit ihren Autoren und deren weltanschaulichen Irrtümern, politischen Verfehlungen und moralischen Schwächen -oder umgekehrt: deren einschlägigen Leistungen. Bis zum Herbst 1989 waren an erster Stelle die Texte der Dissidenten mit einem nicht nur moralischen Bonus (der ihnen allemal zustand) ausgestattet, sondern auch mit einem geborgten ästhetisch-literarischen. An zweiter Stelle wurde den reformsozialistischen Autoren -Christa Wolf, Heiner Müller, dem 1984 verstorbenen Franz Fühmann, Volker Braun, Christoph Hein und einigen anderen -fast noch ungeteilte Sympathie und moralische Wertschätzung entgegengebracht, ja: Sie wurden häufig mit den inzwischen ausgebürgerten oder übergesiedelten Autoren als zusammengehörig wahrgenommen, waren doch auch Schriftsteller wie Wolf Biermann, Günter Kunert, Sarah Kirsch, Jurek Becker, Erich Loest oder Monika Maron zum Teil bis an das Datum der Übersiedlung heran vehemente Vertreter eines „wahren“, utopischen Sozialismus gewesen -und zum Teil blieben sie es noch danach. Wenn Hans (Chaim) Noll oder Marcel Reich-Ranicki schon 1987 namentlich Christa Wolf scharf angriffen und ihr die politisch-moralische wie literarische Glaubwürdigkeit absprachen, war das noch die Ausnahme.
Nun war es zweifellos so legitim wie notwendig, daß nach dem Untergang der DDR und damit dem Wegfall möglicher Sanktionen seitens des SED Regimes offen und kontrovers über politische und moralische Leistungen und Fehlleistungen von Schriftstellern in diesem Staat gesprochen wurde. Durch die Enthüllung der Verstrickung von nicht wenigen Autoren in die Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit, vor allem durch ihre Tätigkeit als Informelle Mitarbeiter, bekam die Debatte seit 1991 eine neue, so erschreckende wie unabweisbare Dimension. Diese Debatte, zumal die Kontroverse um die Prenzlauer-Berg-Poeten und Stasi-Informanten Sascha Anderson und Rainer Schedlinski, machte deutlich, daß Literatur, die Kunst aus bedeutungstragenden Worten, nichtmoralfrei gedacht werden kann; daß also die DDR Literatur -in Gestalt einzelner Autoren, wohlbemerkt -tatsächlich Schaden genommen hatte.
Andererseits: Literatur als Kunst und Moral gehen nicht wechselseitig und ohne Rest ineinander auf. Auch Verbrecher oder Gegner unserer zivilen Ordnung können bedeutende Literatur verfassen. Überdies darf Moral nicht ohne weiteres mit Weltanschauung oder gar Gesinnung gleichgesetzt werden; Moral ist anderes und mehr als diese. Man kann (und konnte auch in der DDR) ideologisch verblendet sein und trotzdem moralisch handeln. Also machen einschränkende oder gar verwerfende Urteile über Autorpersonen nicht automatisch ihr Werk zunichte. In diesem Sinne war der Literaturstreit ein Fall jener von Thomas Bernhard als „ungeheuerliche Mißbildung unserer ganzen Kultur“ gebrandmarkten „Geistesniedertracht ..., Person und Arbeit eines Schriftstellers [zu] vermischen“ Indem im Literaturstreit kaum je von der Literatur selber die Rede war (und von ihren Urhebern als empirischen Personen um so mehr), war er eine Fortsetzung des früheren bornierten Umgangs mit DDR-Literatur -im Feuilleton wie in der Literaturwissenschaft insofern sie auch jetzt noch und wieder pur politisch traktiert wurde, gleichgültig, ob aus dem Blickwinkel des Liebhabers und Verteidigers oder aus dem des Verächters dieser Literatur. Demgegenüber gilt Lichtenbergs Satz, den Heiner Müller gern zitierte: „Der Autor ist klüger als die Allegorie. Die Metapher ist klüger als der Autor.“ Damit ist gesagt, daß der poetische Diskurs nicht im nur rationalen Wachbewußtsein des Autors aufgeht und mehr Wahrheit als dieses enthalten kann.
Natürlich muß auch das Lehrstück über die Irrungen und Wirrungen, die Verheißungen und Versuchungen intellektueller und künstlerischer Arbeit in der sozialistischen Diktatur namens DDR im Gedächtnis aufbewahrt werden -und mit ihm die projektiven Fehlleistungen einer linken westdeutschen Intelligenz im Hinblick auf dieses Thema (den Verfasser dieser Zeilen inbegriffen) -, vor allem aber bleibt viel Literatur aus diesem Land, und zumal solche, die nicht nur der geborgten Funktion gehorchte, Ersatzöffentlichkeit in einem autoritären Staat herzustellen.
Von zwei kapitalen Fehlern im deutschen Literaturstreit war die Rede. Der zweite war die Enthistorisienmg von vierzig Jahren DDR und mit ihr die nivellierende Ineinssetzung von vier Jahrzehnten DDR-Literatur unter Etiketten wie „Gesinnungskitsch“ (Karl Heinz Bohrer), „Gesinnungsästhetik“ (Ulrich Greiner), „Anerkennungsliteratur“ (Chaim Noll/Manfred Wilke), „Stillhalteliteratur“ (Veit-Ulrich Müller), Literatur als „Sedativ“ (Werner Fuld) oder „Staats-dichtung“. Solche Literatur gab es zweifellos, und mehr als genug, aber im Lauf von vierzig Jahren in unterschiedlicher Verteilung und mit sehr verschiedenem Gewicht. Insgesamt hat die DDR-Literatur eine Emanzipationsbewegung vollzogen. „Ernstzunehmende Literatur“ -so schrieb ich schon vor acht Jahren -„löst sich aus der angestammten Haltung des Verdrängens und Verschweigens wie aus dem didaktischen Gestus der ersten fünfzehn Jahre . . . und findet zu Haltungen des erkennenden Experimentierens, zum ästhetischen Text als Differenz zur Wirklichkeit, nicht als deren planes Abbild.“ Die -mit guten Gründen -antifaschistischen Schriftsteller der fünfziger Jahre, zumal die jüngeren, von Nazi-Mitläufern zu gläubigen Sozialisten gewandelten unter ihnen, schrieben zunächst tatsächlich , Gesinnungsliteratur. Armin Müllers „Hallo, Bruder in Krakau“ (1950), Franz Fühmanns frühe Lyrik oder sein Stalingrad-Epos (1953) und Christa Wolfs „Moskauer Novelle“ (1961) sind Beispiele dafür. Als der autoritär-bürokratische Sozialismus sich über die Jahrzehnte hin zur Kenntlichkeit entstellte (die einen , erkannten ihn langsamer, die andern rascher -je nach Grad und Tiefe der weltanschaulichen und existentiellen Bindung), zerbrach die Gesinnung, gerade bei den Besten, unter ihnen die drei Genannten. Die Literatur der guten Gesinnung wurde abgelöst von einer solchen der Sinngebung, oder doch wenigstens der Sinnsuche, die sich mehr und mehr als radikale Sinnkrise manifestierte. , Die Wahrheit'hatte längst nicht mehr die feste Konsistenz von , Gesinnung, vielmehr wurde sie brüchig und immer brüchiger -und entrückte zugleich als Ideal in eine unbestimmbar ferne Zukunft des ersehnten „wahren Sozialismus“. Damit aber war die bessere DDR-Literatur nun nicht mehr affirmativ, wie noch das Gros der literarischen Texte in den fünfziger Jahren und bis in die sechziger Jahre hinein, sondern im Wortsinn kritisch, ja immer häufiger subversiv. Indem sie, in der Regel verdeckt, die schlechte DDR-Wirklichkeit an einem zwar illusionären, aber zugleich hohen moralischen Ideal maß, entblößte sie das Beengte, ja oft Niedrige und Häßliche der Lebensverhältnisse in der DDR, die manches zuwege gebracht hatten, aber gewiß nicht den proklamierten „neuen Menschen“.
So bewegt sich die kritische DDR-Literatur -abgesehen von ihrem strikt dissidentischen Teil -in ihren letzten fünfzehn Jahren in einer andauernden Ambivalenz: Sie zeigt mit ästhetischen Mitteln und Modellen, und teilweise radikal, das Scheitern des sozialen Großversuchs DDR -und zieht doch ihre Sympathie, ihr Interesse nie endgültig von diesem Experiment ab. Die aus diesem Widerspruch gezeugten Texte mag man kritisieren und ablehnen, aber sie zum affirmativen Gesinnungskitsch zu erklären, zeugt weder von historischem Differenzierungsvermögen noch von einem entwickelten Gerechtigkeitssinn. Es ging im deutschen Literaturstreit ja auch, wie gelegentlich am Rande eingeräumt wurde, in erster Linie um kulturelle Definitionsmacht, und bestenfalls in zweiter Linie um Literatur. So stellte Uwe Wittstock zu Recht fest: „Es geht nicht um die Literatur, sondern um eine exemplarische Abrechnung mit exemplarischen Lebensläufen. Die Schriftsteller sind Stellvertreter.“ Die „Deutung der literarischen Vergangenheit“, die „Durchsetzung einer Lesart“ ist, so formulierte Ulrich Greiner in der „Zeit“ erfreulich offenherzig, „keine akademische Frage. Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird. Der Streit um die Vergangenheit ist ein Streit um die Zukunft.“ Daß diese Kritik -übrigens ohne, daß es dazu konspirativer Absprachen bedurft hätte, wie von östlicher Seite oft behauptet -vom sicheren westlichen Port der „Unbelastetheit“, des „aufreizend guten Gewissens einer moralisch ausgeruhten Gesellschaft“ (so der Münchner Althistoriker Christian Meier aus vorgetragen wurde, machte sie für die Betroffenen doppelt schwer erträglich.
Auch der Verteidiger der kritischen DDR-Literatur wird nicht pauschal die ganze DDR-Literatur aufbewahren wollen; nicht einmal die Texte, die sich durch politische Brisanz auszeichnen, sind automatisch als Literatur aufhebenswert. Für viele gilt, was Jurek Becker 1994 rückblickend feststellte: „Vieles davon, was mir früher aufregend vorkam, interessiert mich heute kaum mehr. Die Erwartungen an diese Literatur waren eher politische als ästhetische. Es ist ein Unterschied zwi-sehen der Arbeit eines Autors und der eines Widerstandskämpfers, aber im Kampfgetümmel DDR neigte man wohl dazu, beides miteinander zu verwechseln. Das ist mir auch passiert, nicht nur einmal. Das müssen viele von sich sagen, der Verfasser dieser Zeilen zum Beispiel auch. Um so wichtiger ist es, diese Leseweise nun nicht, wie häufig im Literaturstreit, seitenverkehrt fortzusetzen, sondern tatsächlich die literarischen Werke für sich so ernst wie möglich zu nehmen. Das kann freilich auch nicht heißen, sie, dem Ideal ästhetischer Autonomie entsprechend, künstlich zu pur ästhetischen Gebilden zu verwandeln, wo sie es nicht waren.
Zwar hat sich die interessantere DDR-Literatur im Lauf von Jahrzehnten einen immer größeren Freiraum des Ästhetischen erobert, und doch ist sie, gewiß mehr als die Literatur in westlich-modernen, offenen Gesellschaften, tief und widersprüchlich verwachsen geblieben mit der Sozialordnung und dem politischen Entwurf, denen sie entstammte. Immerhin läßt sich schon vorab sagen, daß es von der bisher hochgehaltenen DDR-Literatur am häufigsten Prosatexte sein werden, die ihren Nimbus eingebüßt haben, eben weil sie sich am direktesten, damit aber zumeist eher kunstlos auf die widrigen Verhältnisse eingelassen haben. Mit ihrer mittlerweile abgegoltenen Funktion, Ersatzöffentlichkeit zu sein, ist ihr Potential erschöpft. Umgekehrt werden vermutlich gerade lyrische Texte künftig angemessener als genuin literarische wahrgenommen werden können; Texte, die weniger der pragmatischen Rolle gleichsam ausgelagerter politischer Systemkritik gehorchen mußten und deshalb freier blieben für die Kunst.
Der nachstehende Rückblick auf die Literatur der DDR soll das Augenmerk auf einige Autoren und Werke lenken, die sich schon in der Zeit ihrer Erstveröffentlichung, nicht minder aber über den Tag hinaus als bedeutsam erwiesen haben; Texte, die zeigen, daß auf diesem östlichen deutschen Territorium in vierzig Jahren nicht nur realsozialistische Agitation, Propaganda und Erbauungsliteratur entstand, sondern Literatur von europäischem Rang, die in vieler Hinsicht in den guten wie den problematischen Traditionen der deutschen Literaturgeschichte steht und diese auf hohem Niveau fortschreibt. Natürlich ist die Auswahl der , bleibenden Texte subjektiv und anfechtbar. Sie mag Überlegungen zu einer Fortschreibung des literarischen Kanons anregen, will aber einen solchen keineswegs setzen.
II. Die Wiederaneignung des Verschwiegenen
Die „volkseigene Erfahrung“ der jungen DDR-Bürger, mit denen der neue sozialistische Staat gebaut werden sollte, war zu wesentlichen Teilen nur Diktaturerfahrung aus der Zeit des NS-Regimes. Zu ihr trat jetzt mittelbar die Prägung durch eine zweite Diktatur hinzu. Indem die Macht in der frühen DDR auf allen Ebenen primär von kommunistischen Kadern ausgeübt wurde, die durch die autoritäre Schule der Parteidisziplin gegangen waren und in vielen Fällen während des sowjetischen Exils stalinistische Herrschaftspraktiken internalisiert hatten, wurden nach und nach der gesamten DDR-Bevölkerung zusätzlich autoritäre Prägungen auferlegt, denen sich freilich nicht alle unterwarfen. Insgesamt entwickelte sich die DDR zu einer undemokratisch-hierarchischen Gesellschaft, die ihre zweifache Diktaturprägung nie verleugnen konnte, auch wenn die SED die gesamte Bevölkerung des Landes, ungeachtet ihrer Vergangenheit im Dritten Reich, zu „Siegern der Geschichte“ erklärt hatte.
Aus dieser Konstellation eines anhaltenden Verdrängens und Verschweigens der verhängnisvollen doppelten Vorgeschichte des „realen Sozialismus“ und den daraus entstandenen Prägungen erwuchs der Literatur in der DDR eine große Aufgabe, die sie immerhin zum Teil wahrnahm: das zweifache Schweigetabu zu brechen und anzuschreiben gegen das Verdrängen und Vergessen. Statt antifaschistische und kommunistische Heldensagen zu schreiben -sie entstanden en masse -galt es, die aus dem Nazismus wie aus dem Stalinismus stammenden menschlichen Deformationen offenzulegen und sich trauernd der zahllosen Opfer zu erinnern. Zwar hat die DDR-Literatur -anders als die westdeutsche und sonstige deutschsprachige Nachkriegsliteratur -bemerkenswerterweise das Zentralereignis der NS-Herrschaft, den Massenmord an den Juden, kaum je angemessen thematisiert, aber dennoch hat sie wichtige Werke hervorgebracht, die sich gegen das Verdrängen stellten. Von einigen wenigen soll die Rede sein.
Als im deutschen Literaturstreit der Wert und Unwert der DDR-Literatur pauschal verhandelt wurde, war von einem Autor kein einziges Mal die Rede: von Johannes Bobrowski (1917-65). Kein anderer DDR-Autor hat so gleichbleibend stark gegen die grassierende Vergeßlichkeit, das bequeme Vergessen der deutschen Schuld angeschrieben wie er. „Ich bin dafür“, so sagte er Ende 1962, „daß alles immer wieder neu genannt wird, was man so ganz üblich als , unbewältigt‘ bezeichnet, aber ich denke nicht, daß es damit , bewältigt'ist. Es muß getan werden, nur auf Hoffnung.“ Also schrieb der gläubige Christ (und Sozialist zugleich) Bobrowski in den fünfziger und frühen sechziger Jahren seine Gedichte -später auch Prosa -entlang der „Blutspur“ der Geschichte. Dabei nahm er einen vermeintlichen Umweg über die Natur und Landschaft, in die diese Spur eingesenkt war. Was so entstand, waren keine , reinen'Naturgedichte ä la Wilhelm Lehmann, vielmehr wurde Natur als lebendiges, geschichtsträchtiges Gegenüber angesprochen, in der Menschen lebten, aber auch ihre Male und Untaten hinterließen; so zum Beispiel in dem Gedicht „Holunderblüte“:
Es kommt Babel, Isaak.
Er sagt: bei dem Pogrom, als ich Kind war, meiner Taube riß man den Kopfab.
Häuser in hölzerner Straße, mit Zäunen, darüber Holunder. Weiß gescheuert die Schwelle, die kleine Treppe hinab -Damals, du weißt, die Blutspur.
Leute, ihr redet: Vergessen -
Es kommen die jungen Menschen, ihr Lachen wie Büsche Holunders. Leute, es möcht der Holunder sterben an eurer Vergeßlichkeit.
Von den Greueln der Nazizeit zu sprechen, war in der DDR durchaus erwünscht (wobei freilich die optimistische Perspektive nicht verlorengehen durfte). Gänzlich unmöglich war es dagegen, zumindest bis weit in die achtziger Jahre hinein, von der anderen Diktaturerfahrung, der des Stalinismus, zu sprechen. Auch nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, mit Chruschtschows Geheimrede gegen den Personenkult Stalins (die nicht lange geheim blieb), wurde das kaum besser. Wer es versuchte, mußte Umwege der historischen und mythologischen Einkleidung oder anderer Camouflage gehen.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist Erich Arendts Gedicht „Nach den Prozessen“ von 1961, das die blutigen Moskauer Schauprozesse von 1936 bis 1938 meint und eben deshalb in der DDR nur unter dem Titel „Nach dem Prozeß Sokrates“ druckbar war. In dem langen Gedicht heißt es unter anderem:
Gleichgeschaltet mit abwaschbaren Handschuhn gleichgeschaltet durch die gezeichneten Finger das erschöpfte tausendströmige Herz.
Die da handeln, an Tischen, mit deiner Hinfälligkeit, allwissenden Ohrs, ledernen Herzens ihr Gott, sie haben das Wort:
Worte, gedreht und gedroschen: Hülsen gedroschen, der zusammengekehrte Rest.
Gehend im Kreis der erschoßnen Gedanken -wie war doch der Atem groß -halt versiegelt den Mund, daß der Knoten Blut nicht Zeugnis ablege!
Wo Freude und Recht gemeuchelt lag, an der Wand der Geschichte stets noch: Du!
Gehend im Kreis -doch der Meteor Verfinsterung jagt am ummauerten Himmel.
Knie nicht -Blutwimper, schwarz: das Jahrhundert. Erich Arendt (1903-1984), zuerst von August Stramms Wortalchimie geprägter spätexpressionistischer Lyriker, der in Herwarth Waldens berühmter Zeitschrift „Sturm“ veröffentlichte, dann Kommunist, dem es freilich nie glücken wollte, Gedichte im „Kaderwelsch“ (Brecht) seiner Partei zu verfassen, später Teilnehmer am Spanischen Bürgerkrieg und als Exilierter in Lateinamerika, war 1950 nach Ost-Berlin zurückgekehrt. Dem phantasie-und produktionsfeindlichen „realen Sozialismus“ paßte er sich nie an, und schon gar nicht in seiner Dichtersprache, die erkennbar radikalen Avantgarde-Impulsen verpflichtet war und die Einzelworte als dynamische Potenzen zueinander in Beziehung setzte -fern allen Erwartungen der Doktrin des „sozialistischen Realismus“ auch an die Lyrik. Freilich, der einst gläubige Kommunist Arendt hatte spätestens in den sechziger Jahren die Hoffnung verloren, daß die Sowjetunion oder die DDR zu einem irdischen Paradies werden könnten: „Blutwimper schwarz: /das Jahrhundert.“ Für die jungen Poeten seines Landes -Sarah und Rainer Kirsch, Karl Mickel, Adolf Endler, Elke Erb, Heinz Czechowski und andere -hat der avantgardistische Doyen der DDR-Lyrik eine gar nicht zu überschätzende Rolle als Anreger und Vermittler gespielt.
In den fünfziger und frühen sechziger Jahren waren es nur einzelne, die das über die Vergangenheit verhängte Schweigegebot übertraten. Danach wurden es immer mehr. Zumal das Syndrom des „gewöhnlichen Faschismus“ geriet, wie verspätet auch immer, in den Blick. Endlich wurde sagbar, daß auch die DDR Erbin der deutschen Geschichte einschließlich aller Hypotheken und Schulden war und daß auch auf ihrem Territorium Menschen lebten, denen zwölf Jahre Naziherrschaft eingeschrieben waren. „Diese Bürde zu tragen“, so erkannte Hermlin, „waren nur wenige imstande. Die meisten retteten sich in unverbindliches Bedauern, in Verkleinerung, in Schweigen.“ Damit korrespondieren Worte Heiner Müllers, gleichfalls von 1975: „Das Thema Faschismus ist aktuell und wird es, fürchte ich, in unserer Lebenszeit bleiben. . . . Heute ist der gewöhnliche Faschismus interessant: wir leben auch mit Leuten, für die er das Normale war, wenn nicht die Norm, Unschuld ein Glücksfall.“ Damit ist genauer bezeichnet, was den Autoren bei ihren Versuchen der literarischen Arbeit am Vergangenheitsstoff wichtig wurde. Jetzt ging es ihnen um das nazistische Syndrom in den Subjekten, „Faschismus“ als Gesinnung und als Bündel von Verhaltensmustern, die mit dem Datum der Niederlage und Befreiung von 1945 nicht ausgelöscht waren, sondern auch die Formierung des „realen Sozialismus“ mitprägten. Nach Vorgängern wie Hermlin, Bobrowski und Fühmann sowie den ersten Deutschlandstücken Heiner Müllers („Die Schlacht“; „Traktor“; „Germania Tod in Berlin“) erkannten nun auch jüngere Prosa-Autoren wie Christa Wolf, Klaus Schlesinger, Karl-Heinz Jakobs, Helga Schütz, Jurek Becker und Christoph Hein, daß hier nicht nur eine Lücke in der Literatur, sondern auch im individuellen wie öffentlichen Bewußtsein der Menschen klaffte, die gerade mittels Literatur geschlossen werden konnte
Christa Wolfs (geb. 1929) Roman „Kindheitsmuster“ (1976) ist der vielleicht wichtigste Text dieses , neuen Denkens'. Er stellt eine Frage, die in der vorherigen Vergangenheitsbewältigung der DDR gerade keine Rolle gespielt hat: „Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?“ Anders gesagt: Wie war eigentlich der ganz normale, alltägliche Nazismus beschaffen, der von Massen von Menschen mitexekutiert oder ertragen, nicht aber bekämpft wurde? Es geht also nicht um die Heroen des Widerstandes, auch nicht um die sadistischen Naziverbrecher, sondern um die Millionen von Mitläufern. Die Autorin findet sie, ehrlicherweise, in ihrer eigenen Familie, der des Lebensmittelhändlers und (gar nicht unsympathischen) Kleinbürgers par excellence Bruno Jordan. Der Titel „Kindheitsmuster“ meint die in der Kindheit, in Familie, Schule und Bund deutscher Mädchen (BdM) erworbenen und geprägten Muster des Verhaltens im Sinne des englischen pattem. Angst, Haß, Härte, Verstellung, Schein-heiligkeit, Verleugnung ursprünglicher Empfindungen, Hörigkeit und Treue und Pflicht ohne Ansehen der Person -Eigenschaften, die ein Individuum einem Regime wie dem nationalsozialistischen anheimgeben, es innerlich widerstandslos machen. Davon wird hier erinnernd, wort-und bildkräftig erzählt. -Doch damit ist nur eine Erzählebene gekennzeichnet. Eine kurze Reise an den Ort der Kindheit (Landsberg an der Warthe im heutigen Polen) ist für die Autorin der Hebel, die vergessenen, verdrängten Bilder der Vergangenheit wieder freizusetzen. In einer Art Gerichtsverfahren mit sich selbst, einem Selbstverhör, konfrontiert die Erzählerin ihre eigene kleinbürgerlich beschädigte Kindheit mit ihrer Gegenwart im Jahr der Reise, 1971; schließlich noch einmal -das ist die dritte Erzählebene -mit den alltäglichen Erfahrungen während der Zeit der Niederschrift 1972-75. Auf einer vierten Ebene endlich reflektiert sie die „Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ (Brecht), die aus der Abwehr des tabuierten Themas bei ihr selbst und anderen erwachsen.
Keine einlinige Fabel also, keine runde Geschichte, sondern eine komplizierte Schreib-technik, die es fertigbringen soll, „die fast unauflösbaren Verschränkungen, Verbindungen und Verfestigungen, die verschiedenste Elemente unserer Entwicklung miteinander eingegangen sind, doch noch einmal zu lösen, um Verhaltensweisen, auf die wir festgelegt zu sein scheinen, zu erklären und womöglich (und wo nötig) doch noch zu ändern“ Dieser „Kampf um die Erinnerung“ (Alexander Mitscherlich) ist schwierig: Am Anfang steht ein Ich, das eingeübt ist in Verdrängen, Vergessen, Verschweigen; steht die Sprachlosigkeit, das Nichtwissen-Wollen, die „Unfähigkeit zu trauern“ (Margarete und Alexander Mitscherlich). Das Buch dokumentiert den Lernprozeß der Erzählerin, die Zensur über das eigene Ich aufzuheben und trauern zu lernen, um in der gegenwärtigen Lebenspraxis mit den dem „gewöhnlichen Faschismus“ verhafteten Verhaltensmustern -Anpassung, Verstellung, Angst -umgehen zu können, vielleicht sich von ihnen freizumachen. Damit wurde der Roman zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung auch zu einem brisanten Gegenwartsbuch, nämlich einer vehementen Kritik am Untertanenstaat DDR und seinen auch stalinistischen Wurzeln. An dieses wichtige Buch von vor zwanzig Jahren zu erinnern heißt auch, Frank Schirrmachers Polemik gegen Christa Wolfs „autoritären Charakter“ vom 2. Juni 1990 die sich später als Initialzündung des Literaturstreits erwies, in ihre Schranken zu verweisen. „Kindheitsmuster“ zeigt in aller Deutlichkeit, wie ernst-haft bohrend sich die Autorin längst mit den psychischen Diktaturmustern als gesellschaftlichem und persönlichem Erbe auseinandergesetzt hatte. Um wieviel leichter hatte es ein Autor einer jüngeren Generation wie Wolfgang Hilbig (geb. 1941) bei seiner Abrechnung mit dem Erbe der beiden Diktaturen! Auf seine sprachmächtige Erzählung „Ahe Abdeckerei“ von 1991, in der die Sphären Phantasie und Wirklichkeit souverän und bis zur Ununterscheidbarkeit durchmischt werden, sei wenigstens hingewiesen. Sie erzählt von einem stillgelegten Kohleschacht namens „Germania II“, der inmitten einer Landschaft kaputter Industrieanlagen und toter Bergwerke liegt, auf schwankendem, unterhöhltem, , bodenlosem'Grund. Schon als Kind hatte der Erzähler, nichtsahnend und verständnislos, diesen rätselhaften Ort entdeckt und an ihm einen Unfall erlitten. Später verdingt er sich dort als Arbeiter, etwas, was , man‘ eigentlich nicht tut. Schon auf den ersten Seiten tauchen Wörter wie Rampe und Gleisanschluß, später dann Kadaver, Massengräber, Rauchschwaden und Seifenproduktion auf. Die Alte Abdeckerei, in der Tierkadaver entsorgt werden, entpuppt sich als Zentralmetapher für alle Massen-Entsorgungsanstalten von Toten in den totalitären Diktaturen dieses Jahrhunderts, als nicht mit Sinn aufzuladendes Schreckenszeichen einer in die Irre gegangenen Geschichte. Sie ist das namenlose, stinkende Grab der Opfer von Auschwitz, und zugleich ist sie der Ort, an dem „der Kadaver der Republik angestochen“ wurde. All das berichtet der Erzähler nicht als einer, der völlig unbeteiligt und über diese Dinge erhaben wäre. „Ich war einer der Männer von Germania II“ heißt es. Hilbigs Prosastück ist durch eine immer anschauliche, zuweilen wild wuchernde und visionäre Sprache gekennzeichnet, wodurch es der naheliegenden Gefahr purer Allegorese entgeht. Es ist gleichsam der radikale, nicht mehr rücknehmbare Schlußstrich unter die doppelte Diktaturvergangenheit der DDR, aus der ihre Literatur sich langsam, aber zu guten Teilen erfolgreich herausgearbeitet hat.
III. „Neue Herrlichkeit“ -Die Provinz als Universum
Viele Texte der Weltliteratur sind bei Lichte besehen Regionalliteratur, gar Heimatliteratur in dem Sinne, daß ihre Autoren ihr Objektiv auf die nächste Nähe einer Provinz einstellen, die sie in-und auswendig kennen, und in dieser dann die große Welt spiegeln. Man denke nur an James Joyce, Alfred Döblin, William Faulkner oder Italo Svevo. Nun ist gewiß die meiste DDR-Literatur, die sich mit der eigenen Lebenswelt beschäftigte, alles andere als Weltliteratur, sondern tatsächlich Provinzliteratur im Sinne von Provinzialismus und Enge. Aber die „Neue Herrlichkeit“ (Günter de Bruyn) des realsozialistischen Alltagslebens in der DDR hat im letzten Dutzend Jahren, die das Land existierte, einige äußerst plastische Darstellungen erfahren; und in den besten Fällen wurde die Provinz tatsächlich zum Universum (nach einer Formulierung von Christoph Dieckmann oder doch wenigstens zu einem interessanten Ausschnitt desselben.
In gewisser Weise hatte Uwe Johnson mit „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953“ (1956; posthum 1985 veröffentlicht) und „Mutmassungen über Jakob“ (1959) diesen Typus welthaltiger DDR-Heimatliteratur initiiert und ihn bis hin zu den „Jahrestagen“ fortgeschrieben. Aber ihn hatte man nicht zum DDR-Autor werden lassen. Später dann haben Erich Loest, Günter de Bruyn, Jurek Becker, Klaus Schlesinger und Christoph Hein -mit Abstrichen auch Uwe Saeger, Brigitte Burmeister, Harald Gerlach und einige andere -diese eigentümliche neue Heimatliteratur, die alles andere als borniert ist, fortgeschrieben. Aus dem Abstand der Nach-Wende-Zeit gibt diese Literatur über zweierlei beredt Auskunft: über die „gestockten Widersprüche“ (Franz Fühmann die Wandlungsunfähigkeit einer künstlich stillgestellten Gesellschaft -und über die emotionalen Werte dieser verlangsamten, partiell vormodernen Welt, von der sich zu trennen heute, nach jahrzehntelanger Gewöhnung, vielen schwerfällt.
Hier sei wenigstens von einem einzigen Werk die Rede, das diese Tendenz der kritischen DDR-Literatur verkörpert: Günter de Bruyns Roman „Neue Herrlichkeit“ (1984 in der Bundesrepublik, 1985 nach großen Schwierigkeiten auch in der DDR erschienen). Der Roman erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, Viktor Kösling, der sich daran gewöhnt hat, „der zu sein, der gewünscht wird“ Der Sohn eines hohen Funktionärs zieht sich mitten im Winter in das staatliche Erholungs heim „Neue Herrlichkeit“ zurück (der „allegorische Hintersinn“ des Namens fiel dem Kritiker des „Neuen Deutschland“ mit Recht auf), um seine Dissertation zu schreiben, denn der Doktortitel ist die Voraussetzung für die vom Vater arrangierte Diplomatenkarriere. Doch daraus wird erst einmal nichts. Viktor bringt nichts zustande, statt dessen verliebt er sich in das Zimmermädchen Thilde, und eine Weile sieht es so aus, als würde er das fremdgeplante Leben preisgeben und durch eine Verbindung mit Thilde einen anderen, zwar nicht privilegierten, aber selbstgewählten Weg einschlagen. Es zeigt sich jedoch, daß er schon allzusehr ein Meister der Anpassung geworden ist (von de Bruyn psychologisch meisterhaft dargestellt): „Seine Fähigkeit, der zu werden, der verlangt wird, ist groß. Um Erwartungen zu entsprechen, braucht er nur deren Kenntnis; wenn er die hat, ist er bald, was er soll.“ Am Ende -die von den Schneemassen eingeschlossene „Neue Herrlichkeit“ ist nun wieder mit der Außenwelt verbunden -läßt Viktor Thilde sitzen (ihre Mutter war „Republikflüchtling“, was seine Karriere verhindert hätte). Vorher schon war Thildes Großmutter Tita Viktors Plänen zum Opfer gefallen; Viktor überredete die Enkelin, die eigensinnige alte Frau in ein Altersheim zu bringen. Dessen Schilderung durch de Bruyn macht ganz nebenbei deutlich, wie erschreckend gleichgültig die DDR mit ihren , Alten umging.
De Bruyns , Kammerroman spielt souverän mit alten Mustern: mit der Geschichte von der sitzen-gelassenen Braut niederen Standes (die DDR hatte also offenbar Züge einer ständischen Gesellschaft), mit Thomas Manns „Zauberberg“ (Viktor Köslings . Genesung kann als eine Parodie auf diejenige Hans Castorps gelesen werden), mit Fontanes „Stechlin“, in dessen Roman es um eine „Gegenüberstellung von Adel, wie er bei uns sein sollte, und wie er ist“ (Fontane), geht; vor allem aber mit Jean Pauls „Hesperus“, wie Helmtrud Mauser überzeugend nachgewiesen hat Aus dessen „Maiental“ als Ort der Utopie -„dieser Irr-und Blumengarten meiner wärmsten Träume“ -ist eine Mülldeponie und ein Ort der Phrasen geworden (nur der Name ist geblieben). Der , neue Adel, der „neue Mensch“, die „neue Herrlichkeit“ der DDR: sie sind nicht, wie sie sein sollten. Das Erholungsheim, eingeschneit, im Winkel, etwas baufällig schon, wie es heißt, hat die Züge einer restaurativen, biedermeierlichen Idylle.
Nach der Wende blieb die gewesene DDR weiterhin Stoff der Literatur -wie sollte es auch anders sein, war sie doch in vielen Fällen die erzwungenermaßen ausschließliche Erfahrungswelt derer, die da schrieben. Und traten einerseits DDR-nostalgische literarische Retrospektiven ans Licht der Öffentlichkeit -exemplarisch Erwin Strittmatters „Der Laden“ (Band 3), der mittlerweile an die 200 000 ostdeutsche Leser in Bann schlug (westdeutsche dagegen kaum) -, so wurden andererseits mehrere eindrucksvolle Bücher vor allem jüngerer Autoren veröffentlicht, aus denen Ingrimm und Zorn gegen die als mißraten erfahrene Lebensform DDR spricht -eine Lebensform, zu der es seit 1961 keine Alternative mehr gab und die, gleichsam eingewachsen, als andauernde Kränkung wahrgenommen wird, über den Untergang der DDR hinaus. Eine Suche nach dem verlorenen Leben wird hier unternommen. Aber das meint weniger den Versuch, aus dem Gedächtnis entschwundene gelebte Vergangenheit wiederzuerinnern, sondern die literarische Recherche nach den Gründen eines verlorenen im Sinne von geraubten Lebens -geraubt von der Führungsschicht eines durch und durch ideologisierten, autoritären Machtstaats.
Ein einprägsames Beispiel hierfür ist Kurt Drawerts (geb. 1956) Prosatext „Spiegelland. Ein deutscher Monolog“ (1992). Das Buch stellt hartnäckig bohrend, ja geradezu verbohrt, aber zweifellos eindrucksvoll die altvertraute Frage nach den eigenen Kindheitsmustern: Wie bin ich so geworden, wie ich heute bin? Drawert unternimmt den Versuch, mittels „einer Sammlung fotografischen Empfindens“ eine „Hinterlassenschaft“ zu sichern -nicht zuletzt, um einmal vor den eigenen Kindern (denen das Buch „im Sinne einer Erklärung“ gewidmet ist) bestehen zu können. Im Mittelpunkt von Drawerts Blick zurück im Zorn, geboren aus dem Wunsch nach einer zweiten, endgültigen Abnabelung, steht der Vater, ein Polizeioffizier von der Kripo, dessen Blick „nicht auf die Menschen ..., sondern . . . auf den Abgrund im Menschen gerichtet“ war; für den , die Wahrheit des Menschen erkannt zu haben hieß: sie „überführt zu haben“ Ebendas ist die kindheitslange Erfahrung des Sohnes: ein Delinquent, ein , zu Überführender zu sein.
Drawerts Durcharbeitung der familiären wie staatlichen DDR-Vergangenheit endet nicht mit dem Gestus des „Alles verstehen heißt alles verzei hen“. Er verharrt bei der unerbittlichen Beschreibung des Gewesenen. Nahe kommt ihm der verlorene Vater am ehesten dann einmal, wenn er vor den Trümmern seines eigenen Lebens steht. Am faszinierendsten ist der immer wieder neu ansetzende und doch in sich kreisende Text dort, wo er traumatische Kindheitsgeschehnisse gleichsam aus der wiedererrungenen Innenperspektive des Kindes von damals erzählt und dabei große Anschaulichkeit und Eindringlichkeit erreicht -z. B. wo es um den „Augenblick der Beschädigung der Stimme“ geht: die Geschichte des Kindes, das nicht wie sein Vater oder Großvater sprechen will und folglich das Sprechen ganz verweigert. Drawerts Verfahren der assoziativen, parataktischen Reihung, des ständigen Umkreisens und Wiederholens quälender Erinnerungsfragmente, durchsetzt zudem von Assoziationen aus der Zeit der Niederschrift 1990/91, beschert dem Leser eine so anstrengende wie lohnende Lektüre von beträchtlicher Sogwirkung. „Spiegelland“ zeigt, daß die DDR als literarisches Sujet wenigstens so lange virulent bleiben wird, wie noch Generationen leben, die von ihr tief geprägt sind.
IV. Verrückte Geschichten und entfesselte Sprache
Bislang war von Literatur aus der DDR die Rede, die weitgehend mimetisch die Vorgefundenen widrigen Lebensverhältnisse und deren doppelte schreckliche Vorgeschichte beschrieb. Aber es gab seit den siebziger Jahren immer mehr Autoren, die diesen langewährenden ästhetischen Grundkonsens des kritischen Realismus verließen oder doch wenigstens zuweilen überschritten, indem sie der souveränen Fiktion, der kühnen Metapher, der Sprachphantasie zu ihrem Recht verhalten.
In seinem Werk „Die Ordnung der Dinge“ hat Michel Foucault der (modernen) Literatur eine Sonderstellung unter den Diskursen eingeräumt. Moderne Literatur (Foucault nennt Nietzsche, Artaud, Bataille) unterscheide sich von anderen Diskursen als repressiven Aussagesystemen, deren Funktion darin bestehe, eine bestimmte „Ordnung“ zu bestätigen, der sie ihre Kohärenz verdanken. Moderne Literatur sei nur bedingt dem rationalen Sprachgebrauch sowie dem Gebot der Kohärenz unterworfen und auf das Schema der Repräsentation reduzierbar. Sie zeichne sich durch radikale „Intransitivität“ aus, und in ihr offenbare sich die Sprache in ihrer „schroffen Existenz“.
Damit sei sie -in der Angst, Utopie und Spiel einen Platz hätten -potentieller „Gegendiskurs“ zum Leitdiskurs einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung in einer bestimmten gesellschaftlichen Epoche
Foucaults Hypothese läßt sich, gewiß mit Vorbehalten, auf den Wandel des Verhältnisses zwischen dem System „realer Sozialismus“ und der Literatur in der DDR anwenden. Wesentliche Teile der DDR-Literatur lösen sich seit Mitte/Ende der sechziger Jahre von der Funktion, den politischen Offizialdiskurs zu bestätigen, und entwerfen Literatur als Gegentext, als Subversion des Leitdiskurses. Hierzu zähle ich Heiner Müllers Stücke, die Lyrik Erich Arendts, Günter Kunerts und mancher Autoren der „Sächsischen Dichterschule“ sowie Prosa von Fritz Rudolf Fries oder Christa Wolf, später auch von Ulrich Plenzdorf, Irmtraud Morgner, Volker Braun, Hans Joachim Schädlich oder Christoph Hein und manchen anderen.
Die Literatur verwirft in Schritten oder Sprüngen, behutsam oder aggressiv, die Doktrin des „sozialistischen Realismus“ und entwickelt Schreibweisen, die den Foucaultschen Bestimmungen des Gegendiskurses nahekommen. In der Prosa können sich von der Norm radikal abweichende, verrückte'Erzählhaltungen durchsetzen, die die Jahrzehnte vorher erreichten Standards der modernen Prosa (z. B. in puncto Autoreflexivität, Diskontinuität oder Fabellosigkeit) wieder erreichen. Erzählgenres wie die phantastische Erzählung, die Groteske oder die Warnutopie können sich bemerkbar machen, die noch bis Mitte der sechziger Jahre zum formalistisch-dekadenten , Unerbe'gezählt wurden.
In vergleichbarer Weise verwerfen Heiner Müller und Volker Braun mit ihren Theatertexten das klassizistische Erbe einer auf Totalität zielenden Fabel mit „rationaler Idee“ zugunsten einer Fragmentarisierung von Vorgängen, für die längst nicht mehr nur Brecht Pate steht. Vielleicht bewegt sich die Lyrik der DDR, zumal die der damals jungen Generation, am weitesten in Richtung eines vom Herrschaftsdiskurs abgekoppelten subversiven Gegendiskurses, indem die damals jungen Lyriker -Adolf Endler, Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Karl Mickel, Volker Braun, Heinz Czechowski und andere -neue Sprech-und Schreibweisen erproben und im internen Dialog der „Sächsischen Dichterschule“ praktizieren, Sprechweisen der Intertextualität, der Redevielfalt, der Dialogizität, die dem monosemischen, affirmativen Sprachmilieu strikt zuwiderlaufen.
Hier sei exemplarisch auf ein frühes, damals noch einzigartiges Beispiel des neuen , verrückten, phantastischen Schreibens hingewiesen, das zugleich scharfe Kritik an der öden, zukunftslosen DDR-Wirklichkeit transportiert: Fritz Rudolf Fries’ (geh. 1935) Schelmenroman „Der Weg nach Oobliadooh“. Der Suhrkamp Verlag brachte ihn, auf die Vermittlung von Fries’ ehemaligem Leipziger Studienkollegen Uwe Johnson hin, 1966 heraus, nachdem er in der DDR nicht erscheinen konnte. 1989 wurde er auch in der DDR veröffentlicht -freilich selbst dann noch mit einigen dem Autor verschwiegenen Zensureingriffen. -Fries’ Roman wirkt auch aus dem Abstand von Jahrzehnten fremdartig, geradezu exotisch inmitten der gleichzeitig in der DDR entstandenen Literatur. Kein anderes Prosawerk der Zeit, vom Vorreiter Johnson einmal abgesehen, ist so unbekümmert um die immer noch geltenden Normen des „sozialistischen Realismus“ und seine Anforderungen an den Helden, keines so souverän in der Handhabung erzählerischer Mittel.
Fries’ Roman, der um 1957/58 an verschiedenen Orten der DDR und in West-Berlin spielt, hat gewissermaßen gleich zwei fragwürdige, ja negative Helden: die beiden Freunde Paasch, den Zahnarzt, und Arlecq, den Schriftsteller (eine stark autobiographische Figur). Beide sind weder willens noch fähig, die in ihrer Gesellschaft für sie vorgesehenen Plätze einzunehmen und ein entsprechend genormtes, langweiliges Leben zu führen. Sie -beider Leidenschaft ist der Jazz -zieht es vielmehr in das „land of Oobliadooh“ und zu seiner „wonderful princess“, wovon die Jazzkomposition Dizzie Gillespies spricht. „Oobliadooh“ ist in diesem Buch Chiffre des erträumten, aber auch im andern deutschen Staat nicht realisierbaren Lebens. Aus West-Berlin kehren beide ernüchtert in die DDR zurück, freilich nicht, um nun endlich zielstrebig am Aufbau des Sozialismus mitzuarbeiten. Paasch landet in einer psychiatrischen Anstalt, Arlecq, zunächst ebenfalls dort, verläßt die Anstalt wieder „und trägt die Folgen“, was immer das heißen mag.
Kein anderer DDR-Autor hat sich je so hartnäckig dem Schema des Bildungs-und Entwicklungsromans verweigert wie Fries in „Der Weg nach Oobliadooh“. Vielmehr handelt es sich hier um sein Gegenmodell, eben den Schelmenroman, worauf schon der Name Arlecq (= Harlekin) verweist. Offenbar schien Fries, der die spanische Tradition dieses Romantyps bestens kennt und aus ihr übersetzt hat (er hat von seiner Geburt bis 1942 in Spanien gelebt), der pikarische Held, der nicht zum normgerechten Verhalten verpflichtet ist, nicht Partei zu ergreifen und nichts zu lernen braucht, am ehesten geeignet, das Verhältnis von Individuum und DDR-Gesellschaft literarisch zu pointieren. Es dauerte bis weit in die siebziger Jahre hinein, daß andere DDR-Autoren ähnlich souverän, spielerisch und produktiv mit überkommenen Erzählmustern umgehen lernten wie Fries. Hier ist vor allem Irmtraud Morgner mit ihren historisch-mythologisch-phantastischen Romanen „Trobadora Beatriz“ und „Amanda. Ein Hexenroman“ zu nennen.
Seit den späten siebziger Jahren schrieb dann eine junge, nicht mehr etablierte und in das Projekt Sozialismus integrierte Autorengeneration, der solche Schreibhaltungen schon selbstverständlich geworden waren und die sich programmatisch als subversiv im Sinne Foucaults verstand (indem sie sich z. B. häufig auf ihn als theoretischen Inspirator bezog). Sie setzt jetzt auf eine Ent-Fesselung der Sprache in einer Radikalität und Ausschließlichkeit, die der DDR-Literatur bislang fremd war. Das geschieht auf dreierlei Weise. Die geläufige, die herrschende Sprache wird zunächst kritisiert, weitergehend: dekonstruiert. Damit einhergehend wird die Sprache als Spiel-Zeug entdeckt, aus dem heraus ein anderes, ein befreites Sprechen , generiert werden kann. Schließlich wird die poetische Sprache, über ihre destruktiven und nur spielerischen Anteile hinaus, zu einer Gegen-Sprache in Opposition zur Herrschaftssprache entfaltet. Sie will, mit Heiner Müller zu sprechen, einen Diskurs in Gang setzen, der „nichts ausläßt und niemanden ausschließt“ Dieser Anspruch manifestiert sich auf der Ebene poetologischer Konzepte, die die Doktrin des „sozialistischen Realismus“ nun nicht mehr nur verbessern, erweitern oder radikal verändern wollen, sondern sie endgültig sprengen.
Beredte theoretische Sprecher einer emphatisch auf Gegensprache gegründeten Literatur waren schon die um 1940 Geborenen Elke Erb, Wolfgang Hilbig und Gert Neumann, denen jetzt die etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre Jüngeren Uwe Kolbe, Bert Papenfuß-Gorek, Jan Faktor, Rainer Schedlinski, Stefan Döring und -als Begabtester und Außenseiter unter Außenseitern -Durs Grünbein folgten. Viele dieser Autoren gingen zunächst von einer Zersetzung des gegebenen ideologischen Sprachmaterials zu seiner gezielten Chaotisierung und Verballhornung über. Im Sinne der generati ven Transformationsgrammatik wurde Sprache als ein regelbares und zugleich unausschöpfliches, unbegrenzt erweiterbares System begriffen, aus dem heraus permanent „generiert“ und das dann Gegebene weiter transformiert werden kann -bis hin zu Neologismen, deren denkbare Anzahl unendlich ist. So übten sich die jungen Dichter im „Betasten des Materials“, vertieften sich in das „Periodensystem der Wörter“ (Velimir Chlebnikow), um aus ihm heraus ihre individuelle Gegen-sprache freizusetzen. Das festgefügte Syntagma weicht der Gleichzeitigkeit eines mehrdimensionalen Sprechens. Wortpermutationen und -kombinationen, Neologismen, Alogizität bestimmen die Texte; eine „antigrammatische Grammatik“ (Helmut Heißenbüttel) entstand. Bis zum Ende der DDR wurde eine Vielzahl von Techniken des Wort-Spiels kreiert, die nicht nur doppeldeutige, sondern vieldeutige Texte entstehen ließ, zu denen Adolf Endler nicht zufällig die Bilder M. C. Eschers assoziierte. Ein Beispiel von Stefan Döring (geb. 1954) für viele: wortfege weinsinnig im daseinsfrack feilt an Windungen seiner selbst wahrlässig er allzu windig im gewiihl fühlt er herum und windet sich nochmal heraus fund, kaum geborgen, bloss wort wasser, lauernd, von wall zu wall die Spiegel mitfeilen überzogen wetter, uns umschlagend, dunst die gewährten fegt es hinüber die bleibenden gefahren erneut der sich herausfand währt dahin
Hier sind, über die durchgängige Vertauschung von f und w, (mindestens) zwei Gedichte in einem entstanden. Dem Leser öffnen sich (sofern er dazu bereit ist) mittels der „wortfege“ Dörings . Fort-wege aus der befestigten Sprache heraus in ein Land der unbegrenzten Sprech-Möglichkeiten.
Natürlich handelt es sich hier um Grenzüberschreitungen aus dem über Jahrzehnte vertrauten Gelände der DDR-Literatur heraus. Die Nach-Wende-Zeit hat solche Grenzüberschreitungen beflügelt, aber im Grunde nur bestätigt, was vor 1989 schon galt: Bereits damals gab es längst kein homogenes Feld DDR-Literatur mehr, sondern eine Vielfalt affirmativer, emanzipativer und subversiver Schreibkonzepte. Und weil Mentalitäten und Welt-Anschauungen nicht automatisch mit dem Untergang von Staatswesen (wie der DDR) zu bestehen aufhören, sondern sich, zumal bei Älteren, nur langsam und unter Schwierigkeiten ändern, entsteht natürlich auch heute noch die alte, festhaltende, , ostalgische‘ DDR-Literatur, die ein breites Publikum findet.
Niemand kann, glücklicherweise, dekretieren, was die eigentliche DDR-Literatur (gewesen) sei. Für die einen ist es Hermann Kant und Erik Neutsch, für die andern Christa Wolf und Heiner Müller, für die dritten Hans Joachim Schädlich und Wolfgang Hilbig. Mein Plädoyer gilt dem großen Spektrum all jener Literatur aus der DDR, die als kritisches Gedächtnis einer fragwürdigen Vergangenheit wie als ästhetisch erfindungsreicher Gegentext durch andere historische Dokumente und Medien schlechterdings nicht zu ersetzen ist.