I. Einleitung
Kritik an der Entwicklungshilfe gibt es, seit es sie gibt. Aber in den letzten Jahren fand unter den Kritikern geradezu ein Wettbewerb um möglichst deftige Bankrotterklärungen statt. Mehr oder weniger reißerische Buchtitel brachten eine weit verbreitete Skepsis auf den Punkt und verstärkten sie. Viele Menschen befürworten, wie Umfragen immer wieder bestätigen, immer noch Hilfe an die armen Völker und sie spenden reichlich, aber sie zweifeln daran, daß die Hilfe bei den Zielgruppen ankommt. Eine Untersuchung der christlichen Dritte Welt-Gruppen offenbarte gerade dort eine massive Kritik an der staatlichen Entwicklungspolitik, wo ein großes Engagement für Belange der Dritten Welt vorausgesetzt werden kann -also bei den „edlen Seelen“, denen Siegfried Kohlhammer vorwarf, einem moralischen Masochismus zu frönen
Größere Aufmerksamkeit als all die amtlichen Erfolgsberichte und Rechtfertigungsversuche auf Hochglanzpapier konnten Kampfschriften erwarten, die dazu aufforderten, mit der „tödlichen Hilfe“ sofort Schluß zu machen, oder mit der These hausieren gingen, daß der Kolonialismus mehr zum Fortschritt armer Gesellschaften beigetragen habe als die sich uneigennützig gebärdende moderne Entwicklungshilfe
Es scheint fast so, als könnten nur noch die Nutznießer des „Entwicklungsgeschäfts“ -die „Hilfsindustrie“ aus Verwaltern, Experten, Consultants, Gutachtern und Auftragnehmern -dem Unternehmen Entwicklungshilfe etwas Gutes und Sinnvolles abgewinnen. Aber selbst die im Wissenschaftlichen Beirat beim BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) versammelten Ratgeber aus der Wissenschaft forderten in einem Memorandum vom Februar 1995 eine Entlastung des BMZ von „uneinlöslichen Ansprüchen“ der Armutsbekämpfung, eine „Korrektur des BMZ-Images als eines Ressorts, das in regionaler Hinsicht primär für die Armutsländer zuständig“ sei, und statt dessen eine Konzentration knapper Mittel auf „relativ erfolgversprechendere Maßnahmen“ in potentiellen Schwellenländern.
Die Beiratsmitglieder, die für sich den wissenschaftlichen Sachverstand reklamieren, stellten erstens dem BMZ das Zeugnis der Überflüssigkeit aus, weil die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit „Erfolgsländern“ besser beim Wirtschaftsministerium und die humanitäre Hilfe ohnehin schon beim Auswärtigen Amt ressortiert. Zweitens würde die Befolgung ihrer Ratschläge die Entwicklungspolitik in eine noch tiefere Bestands-und Rechtfertigungskrise stürzen, weil sie allenfalls durch eine gezielte Armutsbekämpfung die notwendige Zustimmung in der Bevölkerung bekommen kann. Drittens setzten sie sich bedenkenlos über alle ethischen Imperative hinweg, wie sie im Sozialpakt über soziale Menschenrechte und in der „Verpflichtung 2“ des Kopenhagener Weltsozialgipfels formuliert wurden: „Wir verpflichten uns, das Ziel der Ausrottung von Armut in der Welt durch entschiedenes -nationales Handeln und internationale Zusammenarbeit zu verfolgen.“ Sie lieferten der Politik das fatale Alibi, ganz auf das Ziel der Armutsbekämpfung zu verzichten. Schließlich ignorierten sie völlig die strategische Einordnung der Entwicklungspolitik in die „globale Strukturpolitik“ oder „präventive Sicherheitspolitik“, weil die „neuen Bedrohungen“
(Massenmigration, armutsbedingte Umweltzerstörung etc.) gerade aus den Armutsregionen erwachsen.
II. Entwicklungspolitik in der Irrelevanzfalle
Aber es waren nicht solche Elaborate aus wissenschaftlichen Schreibstuben, die die Entscheidungsträger nur zur Kenntnis zu nehmen pflegen, wenn sie in politische Konzepte passen, sondern weltpolitische und weltwirtschaftliche Strukturveränderungen, die Stellenwert und Funktionen der Entwicklungspolitik zu verändern begannen.
Schon vor der weltpolitischen Zeitenwende von 1989/90 hatte eine von der Schuldenkrise beschleunigte Abkoppelung eines Großteils der Entwicklungsländer von der weltwirtschaftlichen Dynamik stattgefunden. Etwa hundert von ihnen wurden für die OECD-Weit der Industrieländer aus ökonomischen Gründen -als Rohstofflieferanten, Exportmärkte und Investitionsstandorte -weitgehend bedeutungslos. Für die wenigen Rohstoffe, die sie liefern können, gab es auf dem Weltmarkt ein Überangebot zu Ramschpreisen. Das gesamte Bruttosozialprodukt von Subsahara-Afrika ist nur wenig größer als das von Österreich.
Was noch wichtiger ist: Dieser wirtschaftliche Bedeutungsverlust war gepaart mit dem Verlust der strategischen Schubkraft, den die Entwicklungspolitik durch das Gerangel der militärisch-ideologischen Blöcke um jeden Winkel der Erde erhalten hatte. Unter den strategischen Bedingungen des Ost-West-Konflikts hatten auch die internationalen Habenichtse mit ihrer bloßen Existenz pokern können. Nach seinem Ende verloren sie diese politische Trumpfkarte und die Geberländer ihr politisch-strategisches Interesse, das sie bisher dazu bewogen hatte, durch Wirtschafts-und Militärhilfe politischen Geländegewinnen des Ostens vorzubeugen.
Das Nord-Süd-Problem ist zum weltpolitischen Randproblem geworden -und die Entwicklungspolitik zum politischen Stiefkind. Auch die Entdeckung „neuer Bedrohungen“ aus dem Süden, die sich schnell zu einem „neuen Feindbild Dritte Welt“ aufschaukelten konnte den Finanzminister wie den Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages nicht von realen Kürzungen des Entwicklungsetats abhalten. „Entwicklungshilfeminister" Spranger versuchte in einer Bundestagsdebatte vom 23. November 1994 vergeblich, seinem Politikbereich eine sicherheitspolitische Dimension zu geben, die eher Gehör zu finden verspricht als alle Appelle an internationale Solidarität: „Viele Gefahren, die auch uns bedrohen, gründen letztlich auf Unterentwicklung ... Es ist in erster Linie die Entwicklungspolitik, die an den Ursachen ansetzt und sich so den Gefahren auch für unsere Zukunft entgegenstemmt. Deshalb muß Entwick-lungspolitik ... als globale Strukturpolitik verstanden werden.“ In einem ungewöhnlichen Akt trat er zusammen mit Vertretern der ansonsten unbequemen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf, um öffentlichen Druck gegen ein weiteres Abschmelzen seines Etats zu erzeugen -mit Zustimmung des Bundeskanzlers, der auf der Rio-Konferenz vor der Weltöffentlichkeit das deutsche Versprechen erneuert hatte, „möglichst bald“ das 0, 7-Prozent-Ziel (d. h. die Verwendung von 0, 7 Prozent des Bruttosozialprodukts für öffentliche Entwicklungshilfe) erreichen zu wollen.
Entwicklungspolitiker aller Parteien waren und sind sich in Rechtfertigungsversuchen einig, daß Entwicklungspolitik einen wichtigen Beitrag zur „präventiven Sicherheitspolitik“ und Zukunftssicherung des eigenen Landes leisten könne und müsse. Aber sie haben es zunehmend schwer, angesichts von leeren Staatskassen ihr exotisches Engagement oder gar ein Eintreten für mehr Entwicklungshilfe noch zu rechtfertigen. Die von Soziologen beobachtete und von Sozialethikern beklagte „Entsolidarisierung“ setzt sowohl die innerstaatliche als auch -und noch mehr -die internationale Solidarität unter verstärkten Rechtfertigungsdruck. Auch die außerparlamentarische Solidaritätsbewegung zeigt Resignationserscheinungen; viele Hilfsorganisationen erleiden erhebliche Einbußen beim Spendenaufkommen.
Dieses Abbröckeln der privaten Hilfsbereitschaft ist besorgniserregend, weil es der Politik das Signal erschlaffenden Engagements liefert. Entwicklungspolitik braucht aber die Verankerung in der Gesellschaft, um bei der Verschärfung interner Sozialkrisen nicht für populistische Kritik nach dem Motto „Wir haben doch genügend Armut im eigenen Land“ anfällig zu werden. In der Tat ist die Legitimation von Entwicklungshilfe schwieriger geworden, nachdem sich das einfache Begründungsmuster des Kalten Krieges verflüchtigt hat.
III. „Warum noch helfen, wenn doch nichts hilft?“
Die Überlagerung des Nord-Süd-Konflikts durch den Ost-West-Konflikt hatte auch eine wichtige Erkenntnis in den Hintergrund gedrängt, die nun -auch befördert durch die Suche nach den Ursachen der Verschuldungskrise -stärker ins Bewußtsein rückte und der Entwicklungspolitik keine guten Argumente lieferte: Ohne wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturveränderungen in den allermeisten Entwicklungsländern und ohne Verhaltensänderungen ihrer Führungsgruppen kann externe Hilfe kontraproduktive Wirkungen haben -eben die Stabilisierung entwicklungshemmender Strukturen. Die ständigen Forderungen nach mehr Geld konnten nun leicht mit Gegenforderungen gekontert werden: Bringt erst Euer eigenes Haus in Ordnung und kümmert Euch selbst um Eure Armutsgruppen, statt das vorhandene Geld für Rüstung und aufgeblähte Staatsapparate zu verschwenden, bevor Ihr Hilfe von uns fordert!
Wenn die Weltbank im Weltentwicklungsbericht von 1990 feststellt, daß in Lateinamerika schon durch eine wenig höhere Besteuerung der oberen Einkommensgruppen, die ein obszönes Luxusleben führen, genügend Steuereinnahmen mobilisiert werden könnten, um die Armutsgruppen über die Armutsschwelle zu heben, dann muß den Steuerzahlern in den Industrieländern die Einsicht schwerfallen, warum sie Solidarität üben sollen. Wenn dann durch viele Berichte noch der Eindruck entstehen kann, daß die Entwicklungshilfe allenfalls tröpfchenweise durch die Gitter der Korruption nach unten zu den Armutsgruppen durchsickert, dann werden alle Appelle an die internationale Solidarität schal und unglaubwürdig; dann wird auch das folgende Rezept plausibel: „Der Befund lautet eher: die starken (anpassungsfähigen, gut regierten) Entwicklungsländer brauchen all das nicht, sie entwickeln sich auch so; den schwachen (mit verkrusteten Strukturen und schlecht regiert bis unregierbar) helfen alle Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit auch nicht weiter. Abhilfe kann daher nicht von neuen Ordnungen kommen, die das alte Chaos belassen; auch nicht von mehr Transfers in Fässer ohne Boden. Statt dessen müssen die (schwachen) Entwicklungsländer stark werden, dem Faß muß gewissermaßen der Boden eingebaut werden.“
Aber wie soll dies ohne „Nachhilfe“ von außen gelingen? Hier beginnt, was in der Entwicklungstheorie und entwicklungspolitischen Diskussion lange sträflich vernachlässigt wurde: die Notwendigkeit der Differenzierung. Was für Lateinamerika, Ost-und Südostasien gelten mag, gilt noch lange nicht für Afrika, Südasien oder Zentralamerika. Zwischen diesen Regionen liegen „Entwicklungswelten“. Was die großen Länder Lateinamerikas, zu deren Wirtschaftsleistung externe Hilfe nur noch einen minimalen Beitrag leistet, und die „kleinen Tiger“ in Ost-und Südostasien aus eigener Kraft zu leisten vermögen, könnten die afrikanischen Habenichtse selbst beim besten Willen zu good governance nicht bewerkstelligen.
Es ist auch nicht richtig, wie eine pauschale Entwicklungshilfekritik häufig behauptet, daß Entwicklungshilfe mehr geschadet als genutzt habe. Sie hat dazu beigetragen, daß die Lebenserwartung auch in den ärmsten Entwicklungsländern von knapp 39 Jahren (1960) auf 51, 4 Jahre (1992) gesteigert und die Säuglingssterblichkeit in demselben Zeitraum von 170 auf 110 pro Tausend Lebendgeborene gesenkt wurde. In Subsahara-Afrika hat sich die Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen zwischen 1970 und 1992 von 27 Prozent auf 54 Prozent verdoppelt. Hier wird nicht die unhaltbare These vertreten, daß Entwicklungshilfe nichts bewirkt habe, sondern die These, daß sie hätte mehr bewirken können, wenn sie gezielter zur Armutsbekämpfung und nicht vorwiegend -wie schon der Pearson-Bericht von 199 kritisiert hatte 6 -zur Förderung außenpolitischer und kommerzieller Interessen eingesetzt worden wäre. Im Gegensatz zu dem oben erwähnten Memorandum des Wissenschaftlichen Beirats beim BMZ wurde hier das Ziel der Armutsbekämpfung nicht als illusorisch kritisiert, sondern als geboten für eine Entwicklungspolitik, die sich als „präventive Sicherheitspolitik“ oder als „globale Friedenspolitik“ begreifen will, gewertet.
Welche bedenklichen Folgerungen aus der Annahme, daß die „Hilfe nicht hilft“, gezogen werden können, illustriert die von Ulrich Menzel vorgeschlagene Rezeptur Sie gibt der ohnehin vorhandenen Tendenz den akademischen Segen, langfristig angelegte Entwicklungspolitik durch ein kurzfristiges Krisenmanagement zu ersetzen, das keines der Probleme zu lösen vermag, aus denen Krisen entstehen. Die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“ mag schon abgenutzt sein, behält aber einen gebieterischen Kern, wenn man Entwicklung im ursprünglichen Wortsinn als Auswickeln der eigenen Fähigkeiten versteht: „Wohlverstandene Entwicklung sorgt nicht nur für die Bedürftigen, sie vermittelt ihnen die Voraussetzungen, um für sich selbst sorgen zu können.“
IV. Warum die Hilfe so wenig geholfen hat
Die umstrittene Gretchenfrage der Entwicklungshilfe ist. ob sie bei den Armutsgruppen ankommt -sofern sie sich überhaupt das Ziel der Armutsbekämpfung setzt und sich nicht damit begnügt, die eigenen Exporte zu fördern. Wem sie zugute kommt, hat viel mit der Frage zu tun, in welche Bereiche sie fließt. Das BMZ erklärte seit Beginn der neunziger Jahre die Armutsbekämpfung, den Umweltschutz, die Grundbildung und die Frauen-förderung zu Förderschwerpunkten. Sind sie als solche in der Mittelvergabe zu erkennen?
Das Ministerium veröffentlicht Querschnittsauswertungen, um erklärtermaßen dem „Zweifel am Erfolg und an der Wirksamkeit der Maßnahmen“ zu begegnen. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß nur bei einem Drittel der Projekte Zweifel am Erfolg angebracht seien. Aber nach welchen Kriterien werden Erfolg und Mißerfolg gemessen? Wer sind die Nutznießer von Projekterfolgen? Wenn ein Bewässerungsprojekt als erfolgreich bewertet wird, weil es zu Produktivitätssteigerungen führte, schließt sich sofort die Frage an, wer davon profitiert. Eine armutsorientierte Entwicklungspolitik kann sich nicht mit der Steigerung des Bruttosozialprodukts begnügen. 1. Wenn die „Ernährungssicherung aus eigener Kraft“ ein vorrangiges Ziel ist, drängt sich sofort die Frage auf, warum so wenig Mittel in die klein-bäuerliche Nahrungsmittelproduktion investiert werden. Der britische Entwicklungsökonom Robert Cassen legte zwar eine insgesamt positive Bilanz der Entwicklungszusammenafbeit vor, bemängelte aber gerade die Vernachlässigung der Kleinbauern: „Nur ein Bruchteil der Hilfe fließt in direkt armutsorientierte Programme .. . Ob es der Hilfe gelingt, die Armen zu erreichen, hängt zum großen Teil vom Erfolg der Hilfe für die ländliche Entwicklung ab. . . In Afrika ist nur ein kleiner Teil -häufig ohne Erfolg -in Investitionen im kleinbäuerlichen Sektor geflossen.“ 2. Das BMZ betont mit guten Gründen die Wichtigkeit der Grundbildung für die Förderung von Humankapital. Das seit 1992 gültige Sektorprogramm für Grundbildung ist gut, hat aber große Vollzugsdefizite. Zwar stellt die Bildungshilfe im Bereich der Technischen Zusammenarbeit den bei weitem größten Etatposten dar. Aber von den 13, 4 Prozent, die 1993 für Bildung/Ausbildung/Wissenschaft ausgewiesen wurden, wurden nur 2, 1 Prozent in die Grundbildung investiert. Dieser geringe Prozentsatz kann schwerlich als Förderungsschwerpunkt bezeichnet werden.
Sieht die Leistung der deutschen Entwicklungshilfe in anderen Bereichen der sozialen Grundversorgung besser aus als bei der Ernährungssicherung und Grundbildung? Im Frühjahr 1994 legten die Welthungerhilfe und terre des hommes im Rahmen einer internationalen Vergleichsstudie über die „Wirklichkeit der Entwicklungshilfe“ eine sehr kritische Bilanz vor. Dieses EUROSTEP-Projekt schätzte, daß 1991 von den 55 Milliarden US-Dollar, die als öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) ausgewiesen waren, nur etwa Prozent in Programme der Armutsbekämpfung flossen. Bei dem internationalen Vergleich kam die deutsche Entwicklungshilfe nicht gut weg: Sie wandte nur etwa 5 Prozent der bilateralen Mittel für die soziale Grundversorgung (Ernährung, Trinkwasser, Grund-bildung, Basisgesundheitsdienste, Familienplanung, Sanitäranlagen) auf 10.
Das BMZ machte in einer ungewöhnlich polemischen „Kritik der Kritik“ eine andere Rechnung auf: Es wies für 1993 für die soziale Grundversorgung einen Anteil von 15, 9 Prozent aus, der 1995 auf 18, 5 Prozent anwachsen sollte Das neue sektorübergreifende Konzept der „selbsthilfeorientierten Armutsbekämpfung“ geht von der richtigen Erkenntnis aus, daß Armut an mehreren Fronten gleichzeitig bekämpft werden muß. Das Ministerium will in den Jahren 1-990/93 seine Verpflichtungsermächtigungen für dieses Konzept um 250 Prozent gesteigert haben. Man kann ihm unter der Leitung von Minister Spranger nicht das Bemühen absprechen, mehr für die Armutsbekämpfung zu tun, aber selbst wenn die Aufwendungen für sie nicht bei 5 Prozent, sondern sogar bei 20 Prozent liegen sollten, kann man mit einem Fünftel der bilateralen Leistungen kaum den Beweis antreten, daß die Armutsbekämpfung, wie die amtliche Sprachregelung vorgibt, das vorrangige Ziel der deutschen Entwicklungspolitik sei.
Die Entwicklungspolitiker im Deutschen Bundestag meinten wohl nicht ohne Grund, das BMZ in einer parteiübergreifenden Entschließung vom Mai 1990 zu einer stärkeren Armutsorientierung drängen zu sollen. Die Bundesregierung hat auf dem Kopenhagener Weltsozialgipfel die soge-nannte „ 20/20-Initiative" unterzeichnet, die ihr abverlangt, mindestens 20 Prozent ihrer Entwicklungshilfe in armutsorientierte Programme zu investieren. Sie könnte dieses Ziel ohne statistische Mogeleien leicht erreichen. Da der DAC (Entwicklungshilfe-Ausschuß der OECD) noch keine allgemein verbindlichen Kriterien entwickelt hat, welche Projekte zur Armutsbekämpfung gerechnet werden können, kann sich jede Entwicklungsbehörde eigene Kriterien zurechtlegen, die ohne Beweiskraft Erfolge belegen können. Man kann die Schlußfolgerung von Robert Cassen, daß die Bemühungen der Geberländer „selten zu einem schlüssigen Beitrag zur Linderung der Armut führen und gelegentlich den Armen sogar schaden“, auch auf die deutsche Entwicklungshilfe beziehen. Man kann aber dem BMZ zugute halten, daß es sich nicht die Empfehlungen seines Wissenschaftlichen Beirats zueigen machte, ganz auf das „illusionäre“ Ziel der Armutsbekämpfung zu verzichten. Man kann ihm auch durchaus positive Neuansätze bescheinigen.
In der entwicklungspolitischen Diskussion wird zuviel über Geldmengen und irgendwelche Quoten (wie die sogenannte LLDC-Quote, die den Anteil der ärmsten Entwicklungsländer an der Mittelzuweisung ausweist) gesprochen. Mit weniger Geld könnte durchaus mehr Qualität erreicht werden. Wenn das BMZ versuchen sollte, größere Anteile des verkleinerten Etats auf die erklärten Förderschwerpunkte zu konzentrieren, könnte es ein Gutteil der verlorenen Akzeptanz zurückgewinnen. Die Größe seines Etats liegt in der Verantwortung von Regierung und Parlament, die Qualität der Hilfe aber in seiner eigenen.
V. Der notwendige Abschied von der „Projektitis“
Die früher geführten Kontroversen über die Vor-und Nachteile der Projekt-und Programmhilfe wurden inzwischen durch wichtigere Streitfragen in den Hintergrund gedrängt: Kann die „Projektitis“ von isolierten Einzelprojekten überhaupt den notwendigen gesamtgesellschaftlichen Struktur-wandel fördern und Breitenwirksamkeit entfalten? Oder funktionieren nicht viele Projekte -nach einem Gleichnis von Reinold E. Thiel -wie die Maschinen des Schweizer Metallkünstlers Jean Tinguely, die zwar nutzlos sind, aber den Betrachter entzücken? Wie müssen Projekte angelegt sein, damit sie das Auslaufen der Förderung überdauern, also nachhaltig sind?
Eine Fallstudie zu Bolivien fand heraus, daß eine Vielzahl von Einzelprojekten, die in ihrer Reichweite begrenzt sind, einen „kaum fühlbaren Beitrag zur Strukturbildung“ leistet und sogar kontraproduktive Wirkungen haben kann, weil keine Koordination und Schwerpunktbildung stattfindet Die Folge ist, daß die Zahl solcher Projekte zu einem Entwicklungsproblem wird. Diese Erfahrung spricht gegen die von der NGO-Szene favorisierte Forderung nach „Millionen von Projekten statt Millionenprojekten“. Die wohl richtige Folgerung lautet: „Wir müssen uns der komplizierten Aufgabe stellen, wir müssen (statt Projekten) Programme fördern, die vielschichtig ganze Sektoren oder Regionen beeinflussen, wir müssen , systemisch 4 arbeiten. Die Vielzahl der Projekte in einem Land sollten wir aufgeben zugunsten von zwei oder drei Programmen.“
Sollten die intersektoralen Ziele der Armutsbekämpfung, des Umweltschutzes und der Frauen-förderung tatsächlich in entwicklungspolitische Schwerpunkte umgesetzt werden, hätte sich tatsächlich eine isolierte und unkoordinierte „Projektitis“ überholt. Notwendig wird eine Schwerpunktsetzung, die klare Prioritäten herausarbeitet und -in Zusammenarbeit mit den Zielländern -in internationale koordinierte Programmangebote umsetzt. Das BMZ hat mit der Erarbeitung von „EZ-Länderberichten“ begonnen, aber die gute Absicht stößt auf viele Widerstände, nicht zuletzt im eigenen Apparat und in den Durchführungsorganisationen, die sich nur schwer von den ausgetretenen Pfaden der „Projektitis“ trennen können. Diese innerbürokratischen Widerstände gegen konzeptionelle Innovationen werden durch Interessen der „Hilfsindustrie“ verstärkt: Exportfirmen oder Projektmanager sind nicht an Strukturreformen, sondern an konkreten Aufträgen interessiert.
Ihr Interesse ist nicht nachhaltig, weil es mit der Abwicklung des Auftrags endet.Der DAC-Bericht 1994 stellte für die Gesamtheit der OECD-Länder fest: „Der kommerzielle Druck auf die Entwicklungshilfe ist in den vergangenen Jahren gewachsen.“ Wenn dem so ist, dann hat es die Entwicklungspolitik schwer, als sinnvoll erachtete Konzepte, die sich kommerziell nicht auszahlen, umzusetzen. Das BMZ hat aus dem entwicklungspolitischen Ärgernis von sinnlosen Groß-und Prestigeprojekten, die nur Exportfirmen einen Gewinn einbrachten, gelernt. Aber der Lernprozeß ging noch nicht weit genug -wie die Beteiligung an dem geplanten Staudamm-Projekt in Nepal zeigt. Entwicklungspolitik ist eben auch Interessenpolitik -und das ökonomische Eigeninteresse ist ein dominantes Interesse.
Wie ein von Uwe Holtz und Eckhard Deutscher herausgegebener Sammelband dokumentiert, wurden seit Beginn der neunziger Jahre innovative Neuansätze für die entwicklungspolitische Praxis erarbeitet Die entwicklungspolitischen Arbeitsgruppen der Parteien und die außerparlamentarische Entwicklungslobby legten Leitsätze für eine „neue Entwicklungspolitik“ vor, die in wesentlichen Punkten große Übereinstimmung erkennen ließen: die Ablösung der herkömmlichen „Projektitis“ durch eine Programm-und Strukturhilfe, die darauf abzielen muß, die inneren Potentiale, Motivationen und Institutionen zu stärken und die Rahmenbedingungen für eine demokratische, sozial-und umweltverträgliche Entwicklung zu verbessern.
Das BMZ setzte seiner Politik das anspruchsvolle Ziel, einen Beitrag zu einer „globalen Strukturpolitik“ zu leisten. Aber diesen großen Ankündigungen folgten nur kleine Taten. Zusammen mit dem Bedeutungsverlust der Entwicklungspolitik in der Gesamtpolitik verkümmerte die von Konrad Adenauer gepflanzte „Rose ohne Dornen“ zum Mauerblümchen in der Ressorthierarchie. Das vereinigte Deutschland rang sich nicht zu einem entwicklungspolitischen Neubeginn durch, sondern wurstelte in den alten Gleisen weiter, die zunehmend Verschleißerscheinungen zeigen. Mit einem schrumpfenden Entwicklungsetat und einem um seine Existenz bangenden Ministerium läßt sich eben keine Politik der „globalen Zukunftssicherung“ gestalten.
VI. Plädoyer für eine Weltordnungspolitik (Global Governance)
Es ist nicht nur die Aufgabe einer „planetarischen Verantwortungsethik“, wie sie der Theologe Hans Küng fordert, sondern auch ein unerbittliches Diktat gemeinsamer Überlebensinteressen, daß die Staatengemeinschaft nach globalen Lösungen für globale Probleme sucht. Global Governance ist das neue Schlagwort für diesen Problemlösungsdruck. Eine Weltordnungspolitik, die das Entwicklungsproblem anzugehen versucht, verlangt Veränderungen auf drei Ebenen, die sich wechselseitig bedingen: -sozio-ökonomische und politische Strukturreformen in den Entwicklungsländern in Süd und Ost;
-eine Veränderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die den strukturellen Rahmen für den Reichtum weniger und für die Armut vieler Nationen bilden;
-Veränderungen in den Interessen-, Bewußtseins-
und Konsumstrukturen in den Industriestaaten, weil sie das Sagen -und damit auch eine besondere Verantwortung -in der Welt-gesellschaft haben.
Gesellschaftliche und politische Reformen, die durch mehr Demokratie und Partizipation eine Beteiligung der Menschen am Entwicklungsprozeß ermöglichen, sind ebenso wichtig wie wirtschaftliche Strukturreformen, welche die Dynamik der Marktkräfte, der Privatinitiative und des Eigennutzes freisetzen. Die Förderung von Reformen ist deshalb sinnvoller, obgleich viel schwieriger, als die „Projektitis“ von isolierten Projekten. Die Erfahrung von 40 Jahren Entwicklungspolitik hat gezeigt: Eine selbstbestimmte und dauerhafte Entwicklung kann durch externe Inputs von Geld, Expertise und Personal allenfalls gefördert, aber nicht herbeigeführt werden.
Veränderungen auf den beiden anderen Handlungsebenen müssen von den Industrieländern ausgehen, die an den Schalthebeln der Weltwirtschaft sitzen. Die wichtigsten Beiträge, die sie zu einer Weltordnungspolitik leisten müßten, bestehen -erstens in der Herstellung fairer weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die auch die Entwicklungsländer an den Vorteilen der internationalen Arbeitsteilung teilhaben lassen; -zweitens in ihrer Bereitschaft, sich auf Regeln einer internationalen sozialen Marktwirtschaft einzulassen, die den Schutz des Schwächeren dem Recht des Stärkeren überordnen;
-drittens in Entschuldungsinitiativen, die auch den Privatbanken und der Weltbankgruppe größere Forderungsverzichte abverlangen und die Schutzprinzipien des deutschen Insolvenz-rechtes auf die Schuldnerländer anwenden.
Die OECD-Länder als größte Rohstoffverbraucher könnten sich ohne wesentliche Wohlstands-verluste einen „fairen Handel“ leisten; sie müßten sich sogar im wohlverstandenen Eigeninteresse mehr Gerechtigkeit leisten, weil Länder, die aus Devisenmangel kaum noch importieren können, nicht nur schlechte Kunden, sondern auch Quellen von allerhand Ungemach sind. Dies gilt auch für die Bumerangeffekte der Schuldenkrise, die Susan George anschaulich illustriert hat
Schließlich hat spätestens der Brundtland-Bericht von 1987 verdeutlicht, daß die Industrieländer mit ihrer verschwenderischen Produktions-und Lebensweise zum eigentlichen Überlebensproblem des Global Village geworden sind. Eine globale „dauerhafte Entwicklung“ muß also bei den Hauptverursachern der drohenden Ökokatastrophe ansetzen. Die Studie des Wuppertaler Umweltinstituts hat nicht nur gezeigt, welche ökologischen Vorleistungen ein „zukunftsfähiges Deutschland“ erbringen müßte, sondern stellte auch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Naturverträglichkeit und Gerechtigkeit her: „Beide Ziele gehören in unserer Zeit untrennbar zusammen. Gerechtigkeit ist die zentrale Kategorie für friedensfähige Nord-Süd-Beziehungen, und ohne die wird der Menschheit der Schutz ihrer natürlichen Lebensgrundlagen nicht gelingen . .. Gute Nachbarschaft mit den Menschen und Ländern des Südens besteht also zuerst darin, die eigene ökologische Erneuerung voranzubringen. Was hier in Deutschland versäumt wird, ist durch kein Projekt der Entwicklungszusammenarbeit, durch kein Stipendium, auch durch keinen Technologie-Transfer im Rahmen der „gemeinsamen Umsetzung'zu ersetzen.“
Spätestens hier wird deutlich, daß Entwicklungspolitik nicht auf Entwicklungshilfe verkürzt werden darf, sondern ein umfassendes Projekt ist, das die Handels-, Finanz-und Umweltpolitik einschließen muß: Sie ist eine Querschnittsaufgabe, die aber in der Regierungsorganisation und Kompetenzverteilung zwischen den Ressorts noch keinen Standort gefunden hat. Das „zukunftsfähige Deutschland“ hat sich noch sehr ungenügend auf die Bewältigung seiner Zukunftsaufgaben vorbereitet. Global Governance ist nicht nur sprachlich ein Fremdwort geblieben.
VII. Es geht nicht um das Können, sondern um das Wollen
Willy Brandt hatte in der Einleitung zum Brandt-Bericht von 1980 dem Prinzip Hoffnung das Wort geredet: „Noch nie hat die Menschheit über so vielfältige technische und 'finanzielle Ressourcen verfügt, um mit Hunger und Armut fertig zu werden. Die gewaltige Aufgabe läßt sich meistern, wenn der notwendige gemeinsame Wille mobilisiert wird.“ Es ist schick, in Katastrophen-und Weltuntergangsszenarien zu schwelgen, aber auch verantwortungslos, solange noch Möglichkeiten bestehen, gegen die Bedrohungen anzugehen. Wer sagt, diese oder jene Katastrophe sei unabwendbar, hat bereits vor ihr kapituliert und sich in bequemen Ohnmachtsgefühlen eingenistet, die das notwendige Handeln lähmen. Es gibt auch Gründe für Hoffnungen:
Erstens gibt es im Süden nicht nur Rückschritte, sondern auch bemerkenswerte Fortschritte und hoffnungsvolle Ansätze zur Bewältigung von Überlebensproblemen. Dies gilt keineswegs nur für die fernöstliche Wirtschaftswunderregion und für Lateinamerika, wo nach dem „verlorenen Jahrzehnt“ der achtziger Jahre ein „Jahrzehnt der Hoffnung“ entdeckt wurde sondern auch für die Armutsregion Südasien und sogar für den sprichwörtlichen Krisenkontinent Afrika. Auch hier entwickelten sich im Schoße zusammenbrechender Staats-und Wirtschaftsstrukturen erstaunlich vitale Überlebensökonomien. Afrika ist viel leben-diger als die üblichen Berichte von Kriegen, Hunger und Flüchtlingselend vermuten lassen.
Ein zweiter Grund für die Gegenrede zum entwicklungspolitischen Defätismus liegt in den ungenutzten Chancen der Entwicklungspolitik. Wenn die Staaten einen größeren Teil der Verpflichtungen erfüllten, die sie in internationalen Erklärungen und Aktionsprogrammen unterschrieben haben, könnten sie die Welt verändern. Der Kopenhagener Weltsozialgipfel vom März 1995 hat nicht nur den „Krieg gegen die Armut“ ausgerufen, sondern auch Mittel und Wege aufgezeigt, wie dieser Krieg gewonnen werden könnte. Alle „Weltberichte“ und Weltkonferenzen hatten eine zentrale Botschaft: Es geht nicht um das Können, sondern um das Wollen.
Dies gilt auch für das anscheinend unlösbare Problem des Bevölkerungswachstums. Klaus M. Teisinger hielt mit guten Gründen allen malthusianisehen Horrorszenarien sein „Prinzip Hoffnung“ entgegen Diese Hoffnung schwindet allerdings, wenn das BMZ genau das Gegenteil dessen tut, was es im Kairoer Aktionsprogramm unterschrieben hat: Es kürzte ausgerechnet die Mittel für den Kontinent (nämlich Afrika), in dem die Armut am größten und das Bevölkerungswachstum am höchsten ist. Hier werden Chancen von Entwicklungspolitik, einem entwicklungspolitischen Schlüssel-problem den Schrecken zu nehmen, verspielt.
Nach einem halben Jahrhundert Entwicklungspolitik gibt es genügend Erfahrungen und Erkenntnisse, was getan oder gelassen werden müßte, um dieses oder jenes Entwicklungsproblem zu lösen oder zumindest zu entschärfen. Der Vorwand der Ratlosigkeit gilt nicht. Das Problem der Nord-Süd-Politik ist nicht so sehr die Ratlosigkeit, sondern die Tatenlosigkeit. Die Entwicklungspolitik ist nicht am Ende, sondern hat noch große Aufgaben vor sich. Sie muß allerdings aus der ärgerlichen Ecke der Mitleidspolitik herausgeholt werden, weil ansonsten nur kümmerliche Krümel vom Tisch der Reichen abfallen können. Sie muß vielmehr als Gebot der politischen Vernunft und des aufgeklärten Eigeninteresses begriffen werden.
Nach amtlicher Sprachregelung bedeutet Entwicklungspolitik „weltweite Friedenspolitik“ und „globale Strukturpolitik“ zur Abwehr von Gefahren, die dem eigenen Land aus krisenhaften Entwicklungen im Süden -und nun auch im Osten -erwachsen. Eine weitere Degradierung von Entwicklungspolitik zum Anhängsel kommerzieller Interessen käme also nicht nur einem Verlust an internationaler Solidarität, sondern auch einer Erkenntnisverweigerung gegenüber dem gleich, was im langfristigen Eigeninteresse läge. Die „planetarische Verantwortungsethik“ ist also nicht mit Idealismus oder Moralismus zu verwechseln, sondern bedeutet aufgeklärten Realismus, denn: „Wer heute nur für sich selbst sorgen will, verspielt mit der Zukunft anderer auch seine eigene“ (Gustav Heinemann).