I. Vom „Lücke-Kind“ zum gefragten Kind
Es ist kaum ein Jahrzehnt her, da galten die Kinderjahre vor der Jugend als Zeit der „Lücke" -Kindheit Sie fielen durch eine Lücke, sei es der pädagogischen und politischen Beachtung, sei es der Aufmerksamkeit von Forschung. Die Zeiten haben sich geändert: Kinder, die vor der Jugend stehen, rangieren im öffentlichen Bewußtsein schon beinahe vor diesem Lebensabschnitt.
Es fällt auf, daß Kinder in den neunziger Jahren vermehrt befragt werden. Die Altersgrenzen von Markt-und Umfrageforschung, auch von wissenschaftlicher Forschung, fallen. Begann Jugend in empirischen Jugendsurveys vor einiger Zeit noch irgendwo zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr, so werden heutzutage Altersgruppen ab dem 12. und 13. Jahr -Kinder also -einbezogen, und man stellt ihnen die gleichen Fragen wie den Älteren Beliebt sind auch Gruppenbefragungen von Schulkindern, die am Ende der Grundschulzeit und während der Orientierungsstufe beginnen Und es gibt mittlerweile eine ausgearbeitete Tradition von monographischen Studien, die sich ausschließlich auf Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren beziehen
Die 1995 gegründete Soziologie der Kindheit basiert im Wesentlichen auf der Thematisierung dieser Jahre.
Parallel dazu entwickelte sich eine politisch-pädagogische Aufmerksamkeit für die Jahre vor der Jugend. So werden gegenwärtig, allerdings nicht ohne Vorbehalt und Widerstand, die Berichte über die Lage der Jugend auf Bundes-und Länderebene auf Kinder ausgedehnt Eine Vorverlagerung des Wahlalters deutet sich an, eine Debatte, die die späte Kindheit allerdings noch ausschließt. Kommunale Politik, wenigstens in städtischen Regionen, geht bereits einen Schritt weiter. Wir finden hier vordem unbekannte Einrichtungen wie Kinderparlamente, Kinderkommissionen, Kinder-beauftragte, Kinderbüros und es gibt -anders als auf Bundesebene -auch eine Kinderberichterstattung. Eine Leitidee, die hinter diesem Wandel in der Einschätzung von Kindheit steht, heißt Glaubwürdigkeit der Kinder. Kinder klettern in der Hierarchie der Glaubwürdigkeit einige Stufen höher. Wenn wir in der Vergangenheit etwas über die Befindlichkeit der Jüngeren in Erfahrung bringen wollten, dann befragten wir deren Eltern und Lehrer. Forscher, Politiker und Pädagogen waren der Meinung, zuverlässigere Urteile abgeben zu können als die Kinder selbst. Diese Auffassung brökkelt allmählich ab; die Autorität der erwachsenen Betreuer ist ins Wanken geraten. Wir beginnen, Kinder für Autoritäten in eigener Sache zu halten. Sie wissen dieser neuen Überzeugung nach am besten darüber Bescheid, wie es ihnen geht, was ihnen guttut und möglicherweise sogar darüber, was das beste für ihre eigene und die Zukunft ihrer Generation ist. Eine zweite Leitidee läßt sich mit Partizipation umschreiben. Das Verständnis von Partizipation in einer demokratischen Gesellschaft hat sich seit Ende der sechziger Jahre erweitert, ohne daß zunächst Kinder bei der Gestaltung der Umwelt oder bei Zukunftsfragen berücksichtigt wurden. Es widerspricht einem progressiven (Selbst-) Verständnis einer demokratischen Gesellschaft, wenn ganze Bevölkerungsgruppen, seien diese nun „Einwanderer“ nach Deutschländ oder der eigene Nachwuchs, von der politischen Gestaltung prinzipiell ausgeschlossen bleiben.
Was wir beobachten ist, daß die Zeit vor der Jugend in neuartiger Weise „politisiert“ wird, von außen wie von innen. Die Politisierung der Jüngeren „im Inneren“ läßt sich am Beispiel politischer Protestbewegungen verdeutlichen Umwelt-oder Friedensbewegungen waren Anfang der achtziger Jahre noch eine Angelegenheit junger Erwachsener im dritten Lebensjahrzehnt. Diese Altersgruppe engagierte sich und fühlte sich zugehörig. Anfang der neunziger Jahre sind die 12-bis 15jährigen in diesen Bereichen engagiert, die jungen Erwachsenen haben sich zurückgezogen. (Proteste gegen den Golfkrieg wurden maßgeblich von 12-bis 15jährigen Schülerinnen und Schülern getragen. Kinder sind es, die Tiere und Pflanzen schützen möchten.) Das Gefühl, verantwortlich für zentrale Zukunftsfragen zu sein, ist demzufolge „nach unten“ weitergereicht worden.
II. Die neue Soziodemographie der Kindheit -oder was sichtbar wird, wenn man Kinder zählt
Da die Lebenslage von Kindern in der Vergangenheit politisch nicht zählte, wurden Kinder in der amtlichen Zählung nicht eigens erfaßt. Sie wurden, wie bekannt, als Bestandteil der Haushalt-und Familienstatistik geführt. Ähnlich, wie die Frauen-bewegung eine frauenspezifische Sozialstatistik forderte und teilweise durchsetzte -etwa um den Beitrag zu erfassen, den unbezahlte Hausarbeit zur wirtschaftlichen Gesamtrechnung leistet -, kämpfen Kinderrechtsbewegung und soziologische Kinderforschung für eine eigenständige Sozialberichterstattung über Kinder Indem die Bevölke-rungsgruppe Kinder als eigene Zähleinheit ernst-genommen wird, können einige gängige Vorstellungen über die Lage von Kindern rasch korrigiert, wenigstens präzisiert werden. Pionierarbeit in Deutschland leistete in dieser Hinsicht der Familiensurvey des Deutschen Jugendinstituts, der -nachträglich -auch als Kindersurvey genutzt wurde
So wurde schnell deutlich, daß Kinder eine Bevölkerungsgruppe bilden, die überdurchschnittlich häufig von Armut bedroht ist. Auch die Erforschung regionaler Ungleichheiten, die in den sechziger und siebziger Jahren in Blüte stand, kam durch die Kinderforschung zu neuen Ehren Es zeigte sich, daß die ländlich-konfessionellen Regionen, wo der Kinderanteil in der Bevölkerung relativ am höchsten ist, die schlechteste Infrastruktur für Kinder aufweisen, gemessen etwa an Kindergartenplätzen, Bildungseinrichtungen, kulturellen Anregungen, medizinischer Versorgung. Dort, wo nur vergleichsweise wenig Kinder anzutreffen sind, in großstädtischen Ballungsräumen, konzentrieren sich demgegenüber die Einrichtungen für Kinder.
Neben unterschätzten Problemen wurden auch überschätzte sichtbar. So korrigierte die neue Kinderberichterstattung populäre Annahmen über einen zunehmenden Anteil von Einzelkindern. Bis zum Ende ihrer Kindheit bleiben nur 10 bis 15 Prozent ohne Geschwister -ein Anteil, der sich nicht allzusehr von früheren Zahlen unterscheidet. (Man hatte übersehen: Durchschnittlich geringe Geburtenzahlen müssen nicht Einzelkindsein bedeuten, sondern nur, daß viele Kinder zu zweit aufwachsen, während relativ viele Ehepaare kinderlos bleiben.)
III. Junge Bürger in kleinen Körpern. Eine Fiktion und ihre Folgen
In der Umfrage-und Marktforschung werden 10-bis 14jährige Kinder als junge Bürger betrachtet, die informiert sind, die einen eigenen Standpunkt in politischen und Fragen des Konsums vertreten, die ihre Meinung nach außen kundtun möchten. Daß sie in kleinen Körpern stecken, nur 40 kg schwer und 150 cm groß sind, spielt bei der Abwä-gung der Kompetenz keine Rolle. Das ist natürlich, mehr noch als bei älteren Befragten, eine soziale Fiktion, eine folgenreiche allerdings.
In der „entwicklungspsychologischen“ Epoche der Kindheit, die jetzt möglicherweise ihrem Ende entgegensieht, dachte man anders. Entwicklungspsychologen, später auch Sozialisationsforscher legten fest, in welchen Stufen oder Etappen sich kognitive und soziale Fähigkeiten lebensgeschichtlich entwickeln und ab wann man Kindern dieses oder jenes sinnvollerweise abverlangen könne. Dabei dachte die ältere Entwicklungspsychologie an universale, relativ zeit-und kulturunabhängige Gesetzmäßigkeiten. Der Damm solcher altersgestufter Grenzziehung scheint in der Wissenschaft wie in der Alltags-orientierung gebrochen zu sein Die aktuelle Entwicklungspsychologie wird als eine kultur-und kontextgebundene neu aufgebaut. Was Kinder einer Zeit oder einer Kultur können und was nicht, wird als eine offene empirische Variable behandelt und nicht vorab aufgrund theoretischer Vorstellungen festgelegt.
Wenn wir Kindern Urteile, Orientierungen, Einsichten, Handlungskompetenzen zutrauen, die sie vielleicht noch gar nicht haben (können), so zeitigt das Wirkung bei den Beteiligten. Erwachsene -beispielsweise Eltern aber auch audiovisuelle Medien, kommunizieren solche Erwartungen an die Jüngeren, die sie als Herausforderung aufnehmen -oder auch als Zumutung -, und die sie zwingen, auf irgendeine Weise damit umzugehen. In der Umfrageforschung der fünfziger Jahre war es zum Beispiel selbstverständlich und allgemein akzeptiert, daß Jüngere und junge Frauen unter den befragten 15-bis 24jährigen zu bestimmten Lebensbereichen -Geschichte und Politik beispielsweise -keine eigene Meinung besaßen oder uninformiert waren Je nach Frage gaben bis zu 50 Prozent der Befragten „keine Meinung zu haben“ zu Protokoll. Diese Geschlechterdifferenz im Antwortverhalten ist heute natürlich verschwunden. Heute sollen bereits Zwölfjährige nicht ohne Meinung sein. Alle antworten entsprechend, auch wenn viele „in Wahrheit“ über die angesprochenen Fragen noch nie nachgedacht haben sollten.
IV. Kind oder Jugendlicher? Selbst-und Fremdbilder im Übergang
Wie sehen Kinder selbst das Ende ihres Kinderstatus? Nehmen wir zum Beispiel das Selbstbild als Kind oder Jugendlicher Klar ist, daß die Mehrzahl der 11jährigen sich noch als Kinder, die Mehrheit der 13jährigen sich bereits als Jugendliche betrachten; dies ist fast deckungsgleich in Ost-und Westdeutschland. Das Ende der Jugend und der Übergang zum Erwachsensein sind dagegen offener. Die ambivalente Selbsteinstufung als Jugendlicher oder Erwachsener dauert in diesem Fall fast zehn Jahre und liegt zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr Ein Drittel der jungen Westdeutschen und die Hälfte der jungen Ostdeutschen können lebensgeschichtliche Ereignisse als Marke für das Ende ihrer Kindheit nennen. Das sind in erster Linie Liebes-und Sexualitätserfahrungen, auch körperliche Entwicklungsdaten. Junge Ostdeutsche erfuhren nicht selten die Jugendweihe als einen solchen Einschnitt, im Westen sind es eher persönliche Konsum-und Krisenereignisse.
Die Selbst-und Fremdwahrnehmungen, die Eltern und Kinder innerhalb einer Familie über das Ende der Kindheit haben, weisen hohe Übereinstimmungen auf. Wenn ein Zwölfjähriger sich noch als Kind sieht, so stimmen Vater und Mutter dem im allgemeinen zu -und umgekehrt. Allerdings ist es auch so, daß die Gruppe der Eltern als ganze dazu neigt, die 10-bis 13jährigen häufiger noch als Kinder anzusehen, während die Kindergruppe selbst sich oftmals schon als jugendlich bezeichnet. Erwachsene neigen offenkundig dazu, den schnellen Übertritt der Kinder in die Jugendzeit gedanklich zu verzögern. Gleiches wiederholt sich zehn Jahre später, wenn es um die lebensgeschichtliche Datierung des Übergangs ins Erwachsenenalter geht. Jugendliche datieren es früher als Erwachsene dies wollen.
Schlafgewohnheiten -die Länge des nächtlichen Schlafes -eignen sich als gute Markierungszeichen zwischen Kindheit und Jugend Zwischen dem 10. und 18. Lebensjahr sinken die täglichen Schlafenszeiten von durchschnittlich gut neuneinhalb Stunden auf gut sieben Stunden. Kindsein heißt mit anderen Worten, früher (und unter Aufsicht) zu Bett zu gehen. Die Schlafgewohnheiten prägen auch das Selbstbild der Kinder. Bei gleichem Alter fühlen sich die, die länger schlafen, häufiger noch als Kind. Ebenso gilt: Zehnjährige, die schon einmal sehr verliebt waren oder die bereits Erfahrung mit Alkohol haben, schlafen bis zu einer halben Stunde weniger als die anderen Zehnjährigen, die das noch nicht erlebt haben. Auch die Eltern reagieren mit ihren Einschätzungen entsprechend. Wer länger schläft, der hat eine höhere Chance, von Vater und Mutter als Kinder behandelt zu werden. Natürlich ist es müßig zu fragen, was hier Ursache und was Wirkung ist. Es handelt sich allem Anschein nach um eine Bündelung von miteinander zusammenhängenden Einflüssen.
V. Eigene Biographien und Lebensstile
Kindern werden heutzutage von den Medien und von den Forschern und Forscherinnen eigene Biographien und eigene Lebensstile zugestanden. Es ist noch nicht allzulange her, da verneinte man beides. Eine spezifische Lebensgeschichte zu haben und einen eigenen Lebensstil zu entwickeln, das war Privileg der Erwachsenen und, aber auch noch nicht allzu lang, Sache der Jugendlichen. Heute lassen sich Forscher von Kindern, die vor ihrer Jugend stehen, in Erzählinterviews die „Geschichte ihres Lebens“ erzählen Kinderkulturelle Lebensstile sind zu einem begehrten Forschungsfeld geworden.
Wir lernen, die interne Differenzierung der verschiedenen Alters-und Statusgruppierung von Kindern und Jugendlichen neu zu unterscheiden. An die Stelle des entwicklungspsychologisch geschulten „Stufenblicks“ des Erwachsenen treten kinder-und jugendnähere Blickwinkel. Welche kulturellen Interessenprofile beispielsweise wechseln einander im Verlauf des Aufwachsens ab?
Kinder vor der Jugend sind, viel mehr als Adoleszente, also etwas ältere Jugendliche, sportbesessen 81 Prozent der 10-bis 13jährigen, Jungen wie Mädchen, zählen Sport zu ihren Hobbies, gegenüber 55 Prozent der 15-bis 19jährigen. Wenn Kinderforscher gelegentlich von der „Versportung“ der Kinder und des Kinderspieles als einer Tendenz der letzten Jahrzehnte sprechen, so hat das seine Berechtigung. Diese sportive Durchdringung der Kinderkultur ist bei jungen Westdeutschen sogar noch stärker ausgeprägt als bei jungen Ostdeutschen Die Mitgliedschaft in diversen Sportvereinen ist hoch; sie liegt im Westen um 50 Prozent bei den 10-bis 16jährigen, im Osten -aus unterschiedlichen Gründen -derzeit nur bei rund 20 Prozent. Die von den Verbänden vielbeklagte Austrittswelle setzt erst in den weiteren Jugendjahren ein. Das Profil der kindlichen Sport-begeisterung ist durch • spezifische Sportarten gekennzeichnet, denen Kinder viel mehr als Jugendliche anhängen. Die Sporttrias der Kinder heißt Schwimmen, Fußball und Radfahren. Fußball ist die Leidenschaft der (West) Jungen bis zum 13. Lebensjahr. Fahrräder und Fahrradfahren sind für Kinder das, was für die Jugendlichen später der Pkw und das Autofahren bedeuten.
Gewiß finden wir interne Unterschiede, was das Verhältnis heutiger Kinder zum Sport angeht. Fünf solcher Muster lassen sich bei 10-bis 13jährigen unterscheiden: Etwa 17 Prozent der Kinder trainieren intensiv in Vereinen; rund 10 Prozent sind als fanatische „Sportfans“ zu bezeichnen, die von großen Sportkarrieren träumen; 20 Prozent treiben Sport vor allem im Rahmen der Familie, 27 Prozent nur im Rahmen des Schulsports; 26 Prozent sind ausgesprochene „Nichtsportler“.
VI. Zeit der Bildung und Kultur
Kinder zeigen, gegenüber Jugendlichen auch im kulturellen Bereich ein ausgeprägt eigenes Interessenprofil. Hier handelt es sich allerdings nicht um die Gesamtgruppe der Kinder, sondern jeweils um Untergruppen in der Größenordnung zwischen 10 und 20 Prozent. Die Gruppen der Kinder, die schöne Künste betreiben (Malerei, Grafik, Plastik), die Instrumente spielen und singen, die Theater spielen, Tanzen und Ballett erlernen, sind jeweils größer als die entsprechenden Anteile von Jugendlichen -von den vorwiegend konsumptiven Kunst-und Kulturgewohnheiten der erwachsenen Generation nicht zu reden. Kinderforscher sprechen daher mit einem gewissen Recht von der Tendenz, die moderne Kindheit in ein „kulturelles Moratorium“ umzugestalten Kinder werden’als eine Art kulturelle „Mußeklasse“ angesehen, an die die edlen Künste als Betätigungsfeld delegiert werden, wo einem selbst die Zeit und Muße fehlten.
Solchermaßen kulturell geadelte Kinderkultur finden wir insbesondere bei gebildeten und bildungsbeflissenen Eltern, und entsprechende Ansprüche richten sich in erster Linie an die Mädchen. Die gute alte Tradition der „höheren Tochter“, eine bürgerliche Sozialfigur des 19. Jahrhunderts, hat sich zur Kultur von Mädchenkindheit verwandelt. Das bemerkenswert Andere gegenüber der Sozialgeschichte ist die Tendenz zur Verallgemeinerung des Musters, von den Mädchen auf die Jungen, von den bildungsbürgerlichen Schichten auf alle qua Bildung „aufstrebenden“ Eltern-und Kindergruppen. Auch die Kinder und Eltern, die sich solchen Ansprüchen an eine „veredelte“ Hochkultur der Kindheit nicht stellen können oder wollen, müssen sich daran messen lassen. Während früher Gegenentwürfe von Kindheit in die Waagschale geworfen werden konnten, etwa durch Hinweis auf eine „frei“ sich entfaltende Straßen-und Spielkindheit, oder durch die Besonderheit einer ländlich-bäuerlichen Kindheit, droht heute die soziokulturelle Marginalisierung jeglicher nicht kulturell geläuterten Kinderkultur. Man überdenke beispielsweise die Verachtung, ja Verteufelung, die das Muster einer „Fernsehkindheit“ trifft.
Als historischer Motor hinter diesem Hang zum „Kulturismus“, zur kulturellen Überformung der Kindheit, ist die wachsende Wertschätzung von Bildung und qualifizierten Abschlüssen zu sehen Rund die Hälfte der Eltern und Kinder streben heute wenn möglich das Abitur als Schulabschluß an; in den neuen Bundesländern setzt man -aus vielleicht gut zu verstehenden Gründen -fast noch häufiger auf Bildung als dies in den alten der Fall ist. Das Stichwort von der „Verschulung“ oder „Scholarisierung“ der Kindheit vor der Jugend ist in diesem Zusammenhang durchaus angebracht. Nur müssen wir dabei an andere Gegebenheiten denken, als wir das tun, wenn wir, was in aller Munde ist, von einer „Verschulung“ der Adoleszenz sprechen. Letzteres ist leicht an der soziodemographisch gut dokumentierten Verlängerung der Schul-und Studienzeiten bis in das dritte Lebensjahrzehnt hinein abzulesen. „Verschulung“ bis zum 13. Lebensjahr betrifft andere, auch kompliziertere Sachverhalte. Da diese Altersgruppe in Europa schon längst „beschult“ ist, geht es zunächst darum, daß der Anteil derer, die anspruchsvolle Schullaufbahnen nach der Grundschule wählen, erheblich zugenommen hat -gegenwärtig geht ein rundes Drittel auf gymnasiale Zweige, Tendenz wachsend.
Ein solcher Schulbesuch stellt mehr Anforderungen an die Zeit der Kinder außerhalb der Schule; statt Freizeit oder Hilfe im Haushalt stehen Schularbeiten, Nachhilfekurse, Besuch von Arbeitsgruppen am Nachmittag auf dem Programm Der Zeitplan vieler bildungsambitionierter Kinder enthält, analog zum wöchentlichen Terminplan von Erwachsenen, feste Termine. Die Bedeutung und Allgemeinheit solcher Termine für Kinder wurde im allgemeinen Diskurs um die Modernisierung von Kindheit übertrieben. Der „Terminkalender“ der Jüngeren wurde geradezu zum Symbol für Kindheit in der urbanen Zivilisation. Es war leicht, an Hand empirischer Untersuchungen zu zeigen, daß die Terminfixierungen nicht ganz so dramatisch ins Leben der Kinder eingreifen; und vor allem, daß sie nicht alle Kinder gleichermaßen betreffen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß Kinder in anspruchsvollen Schullaufbahnen zeitliche Beschränkungen in Kauf zu nehmen haben, die von den ersten Grundschuljahren an deutlich ansteigen
Zeitzwänge entstehen allerdings auch familienintern. Viele moderne Elternratgeber leiten Mütter dazu an, ihre Kinder zu Hause kulturell zu fördern. Auf diesem Weg findet so etwas wie eine Quasi-Professionalisierung der Mütterarbeit statt: die Mutter als Hauslehrerin Diese Art von „Verschulung“ des Familienlebens betrachten manche Kulturanthropologen als eine Eigenart entwickelter Industriekulturen, westlicher wie süd-ostasiatischer Prägung Eltern neigen dazu, das kulturelle Lernen der Kinder auf Formen der Unterrichtung und des systematischen Kursus ein-zugrenzen und spontane, nichtgeplante Lernprozesse zu unterschätzen.
VII. Der Streß der Erwachsenen ist bei den Kindern angelangt
Zu den am stärksten entwickelten Zweigen sozialwissenschaftlicher Kinderforschung gehört die Erforschung der Streßphänomene, denen Kinder unterliegen Die heutige Schulmedizin hat die traditionellen Kinderkrankheiten weithin besiegt, dafür aber haben Kinder die Krankheiten der Erwachsenen übernommen: Nervöse Leiden, Allergien, Herz-Kreislauf-Probleme. Daß Kinder keine „eigenen“ Krankheitsbilder mehr zeigen, sondern die der modernen Zivilisation, legt die Interpretation nahe, daß sich auch die eigenständige kindliche Lebensweise verflüchtigt hat. Schule und Unterricht, zwei hervorragende Streßquellen für Kinder und Jugendliche, rücken dann in die Nähe der Überlastung von Erwachsenen am Arbeitsplatz.
Die Streßforscher sind noch auf eine weitere gemeinsame Streßquelle von Kindern und Erwachsenen gestoßen: Kinder identifizieren sich heute mehr als ihre Vorgänger mit den großen Katastrophen und Zukunftsproblemen der Gesellschaft, ja der Menschheit Der „makrosoziale Streß“ -dies der fachliche Titel dieser neuen Streßart -mag unter Jüngeren sogar stärker als unter den „welterfahrenen“ Erwachsenen ausgeprägt sein. Wenn das Ozonloch größer, ein Friedenspolitiker ermordet oder eine atomare Katastrophe wie im Fall von Tschernobyl gemeldet wird, fühlen nicht wenige Kinder sich direkt bedroht, geraten in Identitätskrisen, verzweifeln an der Welt und sehen sich persönlich mitverantwortlich und zum Handeln aufgerufen. Auch hier also werden archaische Schemata durchbrochen, wonach Kinder in einer psychologisch „geschützten“ Welt leben sollten, getrennt von den ernsten Sorgen der Erwachsenenwelt
VIII. Auf das Tempo kommt es an
Die beschriebenen Streßerscheinungen signalisieren einen Wandel des Kindseins zwischen früheren und heutigen Kindergenerationen. Dabei ist der Grundgedanke leitend, daß früheres Älterwerden die Möglichkeiten von Streßerfahrung erhöht. Die Klagen darüber, daß Kinder immer früher aufhören Kinder zu sein, sind so neu nicht. Bereits Rousseau machte sich Mitte des 18. Jahrhunderts darüber Gedanken und hielt die Verführungen, die Paris als urbanes Zentrum der Zivilisation ausstrahlte, verantwortlich dafür. Dabei warf er die auch heute wieder aktuelle Frage auf, durch welche Einflüsse es kommt, daß Kinder biologisch früher reifen. Er war aufgrund soziodemographischer Statistiken davon überzeugt, daß soziale Lebensweisen -das von ihm verurteilte Pariser Stadtleben -biologische Frühreife bei den Kindern auslösten.
Entwicklungspsychologen haben diesen Gedanken erneut aufgegriffen und untersuchen die Wirkungen bestimmter belastender Einflüsse, denen Kinder vor der Pubertät unterliegen, auf ein früheres Einsetzen der Pubertät. Ein früheres biologisches Wachstum wiederum, so geht die Gedankenführung heute weiter, ist relativ risikobehaftet. Zwölfjährige werden durch eine frühe Pubertät in soziale Erfahrungen hineingezogen -Freundschaften zu Älteren, Alkohol-und Raucherfahrungen, jugendliche Treffpunkte -, die möglicherweise nicht ungefährlich für ihre weitere Entwicklung sind In der Tat läßt sich zeigen, daß Kinder, die mit nur einem Elternteil (die Mutter meistens) aufwachsen, etwas früher die Pubertät durchleben. Das gilt vor allem im Fall von Mädchen und dem frühen Eintritt der Menarche. Bei 10-bis 13jährigen Kindern in Deutschland zeigte sich, daß die Erfahrung mehrfacher belastender Ereignisse während der Kindheit -wenn also beispielsweise Krankheit oder Tod einer oder mehrerer wichtiger Bezugspersonen, Umzüge an einen anderen Ort, Sitzenbleiben in der Schule und Scheidung Zusammentreffen -, zu einem beschleunigten Eintritt in die biologische Pubertät und zu einem beschleunigten Übertritt in die soziale Lebensweise von Jugendlichen führte.
IX. Leben in Streßfamilien
Manche Kinder leben in ausgesprochenen Streßfamilien. Für diese hat die häusliche Umgebung die Qualität einer Schutzzone gegenüber außerhäusigem Streß teilweise verloren. Rund jedes vierte 10-bis 13jährige Kind beschreibt seine Familien-umwelt als streßhaltig In solchen Familien sind sowohl das Binnenklima zwischen Eltern und Kind als auch die äußeren Lebensbedingungen schwieriger als bei anderen Familienkindheiten. Der Zusammenhalt untereinander ist relativ schwach ausgeprägt, die Kommunikation zwischen den beteiligten Personen angespannt und konflikthaltig. Die Kinder fühlen sich weder von der Mutter noch vom Vater richtig verstanden, dafür aber kontrolliert und mit ehrgeizigen Ansprüchen belastet, etwa bezogen auf Schulleistungen. Das Niveau gemeinsamer Aktivitäten ist geringer als in anderen Familien. Die Kinder schätzen die Kompetenz der Eltern, sie zu beraten, nicht sehr hoch ein. Der inneren Situation entspricht die äußere Lage der Streßfamilien. Mütter und Väter sind jünger (und unerfahrener), die finanzielle Situation ist angespannt, Väter sind überhäufig abwesend oder Stiefväter. Die Eltern rechnen sich häufiger unteren Sozialgruppen zu, obwohl hinsichtlich des Bildungsstatus keine Unterschiede vorhanden sind.
X. Hänseln in der Schule oder Streß unter Gleichaltrigen
Die Beziehungen der gleichaltrigen Kinder sind gewöhnlich unter die Sozialbeziehungen zu rechnen, die streßmindernd wirken. Angesichts der allgemeinen Debatte um Jugendgewalt in den neunziger Jahren wurde jedoch vielfach die negative Seite herausgestrichen, die die Beziehungen der Gleichaltrigen, insbesondere im Umfeld der Schule, annehmen können. Wenn die Altersgleichen sich gegenseitig körperlich bedrohen, so ist das gewiß unter Streß zu verbuchen. In den letzten Jahren setzte eine lebhafte Erforschung solcher Verhaltensweisen unter Schülern ein Oftmals geschah das unter dem fragwürdigen Etikett „Gewalt“, das die kindliche Lebenswirklichkeit nicht gut beschreibt. Angemessener erscheinen hier Stichworte wie „mißlingende Aushandlungen“ und „Rücksichtslosigkeiten“ unter Schülern nicht zu vergessen der alte Schülerbrauch des „Hänselns“, der mit gefühllosem Spott, körperlichen Angriffen und Angriffen auf die persönliche Habe der Schüler und Schülerinnen verbunden sein kann
Bei 10-bis 13jährigen jungen Deutschen zeigt sich, daß 71 Prozent sich als gänzlich Unbeteiligte der beschriebenen Prozesse ansehen. Sie waren nach eigenen Angaben im Verlauf ihrer Kindheit weder Opfer noch Täter von Hänseleien unter Schülern und Schülerinnen. Dem stehen 7 Prozent gegenüber, die sich als Akteure des Hänselns, 13 Prozent, die sich als ausschließliche Opfer, und 10 Prozent, die sowohl aktiv wie passiv an Hänseleien unter Schülern beteiligt waren. Jungen sind etwas häufiger als Täter beteiligt, sie werden aber auch öfter als Mädchen Opfer von Hänseleien. Ein Vergleich nach Bundesländern zeigt, daß die Hänseleien unter Schülern in den neuen Bundesländern weniger mit Prügeleien unter Kindern verbunden sind als in Westdeutschland. Hier ist der Prozentanteil derer, bei denen Hänseln wechselseitig abläuft, die sich also sowohl hänseln lassen als auch selber hänseln, größer als im Westen. Hänselnde Schüler und Schülerinnen in Westdeutschland drohen anderen schon einmal mit Schlägen, haben andere auch schon bei Schlägereien verletzt.
XL Welche Rolle spielen Eltern bei der Auswahl und Weitergabe von Kultur an die nächste Generation?
Vertreter apokalyptischer Visionen von einem „Ende“ pädagogisch betreuter und geschützter Kindheit vergessen gewöhnlich die Familien-gruppe. Kinder werden als „vereinzelte Einzelne“ präsentiert, etwa vor dem Fernsehgerät, während sie in Wirklichkeit im Wohnzimmer der Familie ihre Sendungen sehen und wenigstens die Mutter von Zeit zu Zeit hereinsieht, wenn nicht gar strikte Familienregeln gelten, wieviel Zeit und wann Kinder welche Sendungen sehen dürfen Die Verzerr- rung unseres Blickwinkels wird dadurch noch verstärkt, daß -in jedem Fall in der Mediendebatte um Kindheit -ein „postmodernes Stadtkind“ mit stark hedonistischem Habitus im Vordergrund steht. Die leistungs-und bildungsbezogenen Kinder der Moderne und vor allem die Kinder, die in traditionalen Verhältnissen groß werden, werden im Mediendiskurs um die Gefährdung moderner Kindheit gern ausgeblendet.
Die Frage, die wir sinnvollerweise in den Vordergrund stellen sollten, lautet, ob Mütter und Väter heute (noch) einen Schutzpuffer gegen eine beschleunigte Moderne bilden. Einen guten Prüfstein bildet die Frage der kirchlich-religiösen Erziehung von Kindern. Eine bekannte General-these der Debatte um Modernisierung lautet, daß die historische Auflösung konfessioneller und kirchlicher Milieus weit vorangeschritten sei. Für die neuen Bundesländer läßt sich die Säkularisierung des Familienlebens gut belegen. Bezogen auf Familien mit Kindern in Westdeutschland übersieht ein solcher vereinfachender Blick Entscheidendes Zwischen 50 und 60 Prozent der 10-bis 13jährigen gehen zur Kirche, beten, glauben an einen persönlichen Gott -und fühlen sich in ihrer Familie religiös erzogen. Diese Sicht wird von Vätern und Müttern bestätigt. Die Abkehr von Religion und Kirchlichkeit ist keine Sache der Kinder, sondern eine der Jugendjahre und danach -bis eine erneute Familiengründung ansteht. Dann werden offenkundig religiös-kirchliche Muster der eigenen Familienkindheit reaktiviert, vor allem bei jungen Müttern. Heutige Familien haben gelernt, Kirchengemeinde und Religion ihren privaten Zwecken, und eben auch der Erziehung von Kindern, nutzbar zu machen. Dieses Muster ist allerdings stark von der Wohnregion abhängig; es ist am wenigsten in urbanen Ballungszentren und am häufigsten in Klein-und kleinstädtischen Gemeinden anzutreffen. Mehr noch: Beim Vergleich der Eltern-und Kindgeneration innerhalb der gleichen Familien stellt sich heraus, daß religiös-kirchliche Traditionen der Familienerziehung ein kultureller Bereich sind, der wie kein zweiter in hohem Maße zwischen den Generationen weitergegeben wird. Eltern, die in ihrer eigenen Kindheit religiös erzogen wurden, erziehen gewöhnlich die eigenen Kinder erneut religiös, und ihre Kinder bestätigen diese Einschätzung.
Diese interne Konsistenz des sozialen und kulturellen Familienmilieus über die Zeit, zumindest über zwei Generationen, die sich -wenn auch etwas schwächer -in verschiedenen kulturellen Lebensbereichen zeigt, läßt sich als eine Abpufferung abrupter Modernisierungsprozesse verstehen, die Kindern zugutekommt. In Fallstudien läßt sich zeigen, daß kirchlich-religiöse Erziehung von Eltern dazu genutzt wird, aus dem breiten und kontroversen kulturellen Angebot für ihre Kinder planmäßig eine Auswahl zu treffen und gewisse Paradoxien und Beliebigkeit von Postmodernität abzumildern.
Anders als im Fall des Jugendalters, wo 80 Prozent gegen „Vorbilder“ votieren, erkennen viele 10-bis 13jährigen Rollenmodelle oder „Vorbilder“ durchaus (noch) an Zwar sind die medial Bekannten, besonders Sportler, als „Vorbilder“ auf dem Vormarsch. Eltern, Väter wie Mütter, sind keineswegs ganz „out“ -wohl aber alle anderen pädagogischen Autoritäten. 47 Prozent der Kinder geben an, Vorbilder zu haben, durchschnittlich mehr als eine Person. Die Hälfte nennt Vorbilder aus dem persönlichen Nahbereich, die andere Hälfte bezieht sich auf „Medienbekannte“. Wer ein Vorbild hat, gibt zu 24 Prozent die Mutter und zu 20 Prozent den Vater an -eine nicht allzu große Gruppe, aber immerhin.
Väter, die von ihren Kindern als Vorbild genannt werden, verfügen über ein spezifisches Selbstbewußtsein. Sie sind davon überzeugt, daß das Kind bei ihnen und bei der Mutter in allen Fragen des Lebens besser beraten sei als bei seinen gleichaltrigen Freunden und Freundinnen. Die Väter sind zudem außergewöhnlich wertebewußt. Sie setzen sich stark für „hohe Werte“ im eigenen Leben ein, seien dies nun Autorität, Erfolg, Achtung vor der Tradition oder innere Harmonie, wahre Freundschaft und Welt der Schönheit. Nicht die Art der Werte, sondern daß und wie sie vertreten werden, scheint für die Kinder von Belang zu sein.
Diese letzten Hinweise sind nicht als pädagogischer Ratschlag oder Aufruf zu mehr Wertebewußtsein mißzuverstehen -über die günstige oder weniger günstige Wirkung von Vorbild-Vätern auf ihre Kinder ist damit noch nichts ausgesagt. Beabsichtigt war nur, mittels Eltern-Kind-Empirie ein Gegengewicht zu Schreckensszenarien moderner und postmoderner Kindheitsbilder zu setzen und auf diesem Weg auch den leicht vergessenen Traditionalismus in der modernen Gesellschaft zu Wort kommen zu lassen. Die künftige Pädagogik und Politik mit und für Kinder sollte sich auf alle drei Möglichkeiten des Kindseins heute, postmodern, modern und traditional, einlassen.