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Österreich: EU-Mitgliedschaft als Katalysator | APuZ 10/1996 | bpb.de

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APuZ 10/1996 Die neue Agenda für die europäische Politik Österreich: EU-Mitgliedschaft als Katalysator Schweden und die Europäische Union Finnland in der Europäischen Union

Österreich: EU-Mitgliedschaft als Katalysator

Anton Pelinka

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das politische System Österreichs befindet sich in einem Wandlungsprozeß. Dessen wichtigste Merkmale sind der Rückgang der Parteienstaatlichkeit und der Rückgang der Verbändestaatlichkeit. Die EU-Mitgliedschaft hat diesen Wandlungsprozeß nicht verursacht -es gibt aber viele Anzeichen dafür, daß der Beitritt zur Europäischen Union diesen Prozeß beschleunigt. Die Mitgliedschaft in der EU bewirkt vor allem einen Bedeutungsverlust der Sozialpartnerschaft und der Neutralität. Damit werden zwei wichtige Merkmale der politischen Kultur Österreichs schwächer, die mit der politischen Dualität der Zweiten Republik identifiziert worden sind. Das politische System Österreichs verwestlicht -viele seiner Merkmale gleichen sich den Erscheinungsformen anderer westeuropäischer Demokratien immer stärker an. Die Ausnahme von diesem Angleichungsprozeß ist die Freiheitliche Partei Österreichs, die -anders als alle anderen österreichischen Parteien -im europäischen Kontext keiner der traditionellen Parteienfamilien zuzurechnen ist und gerade auch in Deutschland keine Schwesterpartei hat.

Das politische System Österreichs ist in einem dramatischen Wandel begriffen, der den Abstand zwischen Österreich und den anderen westeuropäischen politischen Systemen rasch verringert. Österreichs politische Kultur -viele Jahrzehnte nach 1945 durch besondere Merkmale charakterisiert -unterliegt einem Veränderungsprozeß, der Österreich immer ähnlicher den politischen Kulturen Westeuropas macht Die wichtigsten Indikatoren dieser Veränderung sind: -Rückgang der Parteienstaatlichkeit, ausgedrückt im Rückgang der überdurchschnittlichen Rekrutierungsfunktion der traditionellen Großparteien und deren Mobilisierungsfähigkeit von Wählern und Mitgliedern. -Rückgang der Verbändestaatlichkeit, ausgedrückt im Rückgang der Kompetenz des spezifisch österreichischen Neokorporatismus („Sozialpartnerschaft“) und der Legitimität des spezifisch österreichischen Verbändetypus der Kammern. Im Hintergrund dieser Veränderung ist ein gesellschaftlicher Wandel auszumachen, der die traditionell für Österreich bestimmenden Konfliktlinien („cleavages“) an Bedeutung verlieren und andere Konfliktlinien an Bedeutung gewinnen läßt: Die Konfliktlinien „Klasse“, „Religion“ und „Nation“ sind, als bewußtseinsprägende und politisch konstitutive Faktoren, deutlich rückläufig; andere Konfliktlinien -„Ökologie“, „Geschlecht“, „Erziehung“, „Generation“ -gewinnen an politischer Prägekraft.

Die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ), nach ihrem historischen Selbstverständnis die Partei der Arbeiterbewegung, hat -als Arbeiterpartei -seit 1986 wachsend Konkurrenz durch die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) bekommen. Diese wiederum hat das historische deutsch-nationale Lagerdenken -teilweise auch in Richtung bewußt katholischer Wähler -überschritten und macht so auch der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) Konkurrenz, der historischen Repräsentantin des christlich-konservativen Lagers und des politischen Katholizismus

Die drei traditionellen Parteien haben somit zueinander, bezogen auf ihr Elektorat, eine tendenziell abnehmende Trennschärfe -eine Entwicklung, die in den letzten Jahren vor allem zugunsten der FPÖ gegangen ist. Das Wahlergebnis vom 17. Dezember 1995 hat freilich gezeigt, daß dieser Trend revidierbar ist. Allerdings ist das wiederum bessere Abschneiden von SPÖ und ÖVP nicht mit der Wiederherstellung der früheren Hyperstabilität gleichzusetzen: 1995 haben 20 Prozent der Wähler für eine andere Partei gestimmt als noch 1994 (vgl. Tab. 1).

Gegenüber den beiden neuen Parteien, den Grünen (vormals: Grün-Alternative Liste) und dem Liberalen Forum, unterscheiden sich SPÖ und ÖVP vor allem durch den Faktor Generation: Je jünger die Wähler sind, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie grün oder liberal wählen. Gegenüber der FPÖ wiederum unterscheiden sich Grüne und Liberale durch den Faktor Bildung sowie durch den Faktor Geschlecht: Freiheitliche Wähler sind signifikant weniger mit universitärer Bildung ausgestattet; überdies wird die FPÖ auffallend stärker von Männern als von Frauen gewählt (vgl. Tab. 2).

Eine vergleichende Untersuchung des Wahlverhaltens zeigt, daß die traditionellen „cleavages“ Klasse und Religion zwar noch immer eine gesellschaftliche Trennschärfe aufweisen, daß diese Trennschärfe aber mehr für das Verhältnis zwi-sehen SPÖ und ÖVP, aber kaum noch für das Verhältnis dieser beiden gegenüber der FPÖ gilt: Die Neigung konfessionell oder gewerkschaftlich gebundener Wähler, FPÖ zu wählen, ist nicht mehr viel geringer, als dem Wähleranteil der FPÖ vom 17. Dezember 1995 entspricht (22 Prozent) (vgl. Tab. 3).

II. Der Beitritt Österreichs zur EU

Tabelle 1: Wahlergebnisse der Nationalratswahlen

Der Beitritt Österreichs zur EU hat diese Entwicklung keineswegs verursacht. Die Merkmale des Wandels lassen sich bis in die frühen achtziger Jahre zurückverfolgen, als die Haltung Österreichs zur (damals) EG noch durch eine neutralitätspoli-tisch motivierte Ablehnung einer Mitgliedschaft bei gleichzeitig wirtschaftspolitisch motivierter Bereitschaft zu möglichst enger Kooperation im Rahmen des 1972 geschlossenen Freihandelsabkommens gekennzeichnet war. Österreichs Politik gegenüber der EG bis 1985 war vom Interesse an einer möglichst engen Partizipation an der europäischen Integration geprägt -bis knapp an eine „VolL-Mitgliedschaft heran

Die Volksabstimmung vom 12. Juni 1994, die der österreichischen Bundesregierung mit einer Ja-Mehrheit von 66 Prozent die rechtliche und politische Legitimation für den Beitritt Österreichs zur EU verschaffte war nur auf den ersten Blick ein einfacher Erfolg der beiden Regierungsparteien SPÖ und ÖVP (und des Liberalen Forums, das die Pro-EU-Politik der Regierung unterstützte) gegen die Anti-EU-Politik der FPÖ und der Grünen. Die Wählerstromanalyse des Abstimmungsverhaltens zeigt, daß die Parteiloyalitäten allein das Ergebnis überhaupt nicht erklären können. Starke Minderheiten der SPÖ-und vor allem der ÖVP-Sympathisanten stimmten gegen die Linie ihrer jeweiligen Partei, während eine auffallend starke Mehrheit der Grünen gegen die an der Spitze ihrer Partei dominierende Position mit „Ja“ stimmte

Die politische Einstellung zur EU folgte somit auch sehr stark dem Gegensatz zwischen „Modernisierungsverlierern“ und „Modernisierungsgewinnern“. Daß eine deutliche Mehrheit der vor allem durch höhere Bildung charakterisierten Grün-Sympathisanten mit „Ja“ stimmte, unterstreicht nur den Gegensatz zwischen Grünen (und Liberalen) auf der einen Seite, Freiheitlichen auf der anderen Seite. Die Verbindung der Analyse des Ergebnisses vom 12. Juni 1994 mit dem Trend des Wahlverhaltens weist die FPÖ als die Partei der nicht mehr durch Lagermentalität geprägten „Modernisierungsverlierer“ aus

Daß die hohe Zustimmung zum Beitritt zur EU im Laufe des Jahres 1995 einer kritischen Ernüchterung Platz gemacht hat, darf eigentlich nicht überraschen. Vergleichende Analysen der Einstellung zur EU-bzw. EWR-Mitgliedschaft in Europa zeigen generell Schwankungen Im Wahlkampf 1995 jedenfalls hat die EU-Mitgliedschaft keine signifikante Rolle gespielt -auch die FPÖ konzentrierte sich in ihrem Wahlkampf nicht auf die EU-Mitgliedschaft. Diese war kein Wahlkampfthema.

Doch Österreichs EU-Beitritt, dessen außenpolitische Dimension durch den Rückgang und schließlich das Ende des Ost-West-Konfliktes, dessen wirtschaftspolitische Dimension von der ökonomischen Vertiefung in Richtung Binnenmarkt und dessen innenpolitische Dimension vom Generationenwandel in den politischen Eliten der traditionellen Großparteien bestimmt wurde war und ist Teil des Wandlungsprozesses Er drückt das Ende einer bestimmten Phase der Entwicklung des politischen Systems und der politischen Kultur aus -und beschleunigt deren Weiterentwicklung. In direkter Form kommt diese beschleunigende

Funktion der EU-Mitgliedschaft am stärksten im Bedeutungsverlust der österreichischen Sozialpartnerschaft und in der Unklarheit über die Zukunft der österreichischen Neutralität zum Ausdruck.

III. Wandel der Sozialpartnerschaft

Tabelle 2: Strukturprofile der Parteiwählerschaft 1995 (in Prozent) Quelle: FESSEL + GfK, Exit Poll (1995).

Das systematische Zusammenspiel zwischen Staat (vertreten durch die Bundesregierung), Arbeitgebern (vertreten durch die Wirtschaftskammer Österreich und durch die Vereinigung Österreichischer Industrieller) und Arbeitnehmern (vertreten durch den Österreichischen Gewerkschaftsbund und die Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte), also die Sozialpartnerschaft, war ein besonderes Merkmal der politischen Kultur der 1945 gegründeten Zweiten Republik. Nach allen internationalen Vergleichsstudien sicherte die Sozialpartnerschaft Österreich den ersten Platz in der Rangordnung des europäischen Korporatismus: In keinem anderen Land Westeuropas war die institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Arbeit und Kapital so weit entwickelt und so bestimmend wie in Österreich Die Sozialpartnerschaft begann schon in den achtziger Jahren -unabhängig von Österreichs Annäherung an die EG -an Bedeutung einzubüßen Der Hauptgrund dafür war die Zunahme marktwirtschaftlicher Elemente in Österreich, bewirkt durch den Rückgang der verstaatlichten Industrie und eine allgemeine Orientierung an Westeuropa sowie den dort herrschenden gesellschaftspolitischen Entwicklungslinien. Die Sozialpartner hatten im Vorfeld von Österreichs EU-Beitritt sich entschieden für diesen Schritt ausgesprochen -trotz der Erkenntnis, daß dadurch das Gewicht der Sozialpartnerschaft weiter zurückgehen müßte Die Sozialpartnerschaft beginnt also auch unabhängig von dieser europäischen Dimension, an Boden zu verlieren. Eine österreichische Besonderheit, die mit für das Gewicht der Sozialpartnerschaft verantwortlich war und ist, ist das umfassende Kammersystem: Mit Ausnahme der öffentlich Bediensteten sind alle Berufsgruppen kraft Gesetzes in Kammern zusammengeschlossen, von denen die drei mit Abstand größten in der Sozialpartnerschaft eine wichtige Rolle besitzen: die Kammern für Arbeiter und Angestellte (bundesweit zusammengeschlossen in der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte), die Kammern der gewerblichen Wirtschaft (oder Handelskammern -zusammengeschlossen in der Wirtschaftskammer Österreich) und die Landwirtschaftskammern (bundesweit: Präsidenten-konferenz der Landwirtschaftskammern).

Gegen die gesetzlich vorgeschriebene Mitgliedschaft (Pflicht-oder „Zwangsmitgliedschaft“) richtet sich zunehmend Kritik, die das wachsende individualistische Verständnis eines Teiles der österreichischen Bevölkerung ausdrückt: Eine Mitgliedschaft in einem Verband, die automatisch an eine berufliche Tätigkeit geknüpft ist, wird von vielen als Teil eines „Zwangssystems“ gesehen -und nicht als eine Voraussetzung für ein nach wie vor positiv bewertetes System sozialpartnerschaftlicher Kooperation

Die 1995 und 1996 vorgesehenen „Mitgliederbefragungen“ sollen nun Aufschluß über die Legitimationsgrundlage des Kammersystems geben. Angesichts des auch und gerade bei Kammerwahlen (insbesondere bei den Wahlen für die Kammern für Arbeiter und Angestellte) zu beobachtenden Rückgangs der Wahlbeteiligung (und daher auch der Beteiligung an der Befragung) läßt selbst der insgesamt vermutlich positive Ausgang der Mitgliederbefragung kein Ende der Legitimationsprobleme der Kammern und der Sozialpartnerschaft erwarten.

IV. Wandel der Neutralität

Tabelle 3: Wahlverhalten stark konfessionell gebundener Wähler (I) und Wahlverhalten von Gewerk Schaftsmitgliedern (II), 1990-1991 (in Prozent) Quelle: FESSEL + GfK, Exit Polls (1990-1995).

Die 1955 vom österreichischen Nationalrat in Form eines Bundes-Verfassungsgesetzes erklärte immerwährende Neutralität war Jahrzehnte hindurch die Grundlage des außenpolitischen Selbstverständnisses Österreichs: Auf der einen Seite verstand sich Österreich als westliche Demokratie mit engen Bindungen an westliche Integrationsbemühungen -ausgedrückt in der schon 1956 (vor der Schweiz) erworbenen Mitgliedschaft im Europarat, in der (Gründungs) -Mitgliedschaft in der EFTA und in der OECD-Mitgliedschaft. Auf der anderen Seite wurde die Neutralität nicht nur als

Freiheit von militärischen Allianzen interpretiert, sondern auch als Begründung für die Nicht-Teilnahme an dem von den Römischen Verträgen initiierten europäischen Integrationsprozeß. Die Intensität der Integration der EG und deren enge faktische Verflechtung mit der NATO waren bis etwa Mitte der achtziger Jahre die Gründe, warum Österreich aus neutralitätspolitischen (nicht: neutralitätsrechtlichen) Gründen der EG zwar möglichst nahekommen, ihr aber nicht beitreten wollte

Als Österreich im Juli 1989 den Beitritt zur EG beantragte, existierten noch der Warschauer Pakt und die UdSSR. Österreich verband daher auch den Antrag mit einer Klausel, die Österreichs Verpflichtungen aus seiner Neutralität ausdrücklich festhielt. Als dann Österreich jedoch am 1. 1. 1995 Mitglied der EU wurde, war von einem solchen Vorbehalt keine Rede mehr -im Gegenteil, Österreich erklärte sich mit den Bestimmungen von Maastricht ausdrücklich einverstanden, die als ein Ziel der Union die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) festhielten. Und Österreich erhielt auch -folgerichtig -den Status eines Beobachters in der WEU; einen Status, den es mit Irland, Schweden und Finnland teilt, den anderen allianzfreien EU-Mitgliedern.

Die Frage der Vereinbarkeit von EU-Mitgliedschaft und Neutralität hat sich somit erheblich verschoben. Mit dem Ende des Kalten Krieges hat die österreichische Neutralität ihr wichtigstes internationales Bezugssystem verloren. Der Beobachter-Status in der WEU kann als eine Art Wartezimmer bezeichnet werden -ähnlich wie die „Partnerschaft für den Frieden“ der NATO, der Österreich 1995 auch beitrat. Solange die GASP allerdings keine deutlichen und verbindlichen Strukturen annimmt, wird Österreich sich weiterhin zu seiner Neutralität bekennen können -auch wenn unklar ist, was dies außer einer Nicht-Mitgliedschaft in der NATO international bedeuten soll Es bleibt freilich eine innenpolitische Dimension der Neutralität, die -ähnlich wie die allgemeine Zustimmung zur Sozialpartnerschaft -mehr eine allgemeine Befindlichkeit und weniger eine klar umrissene Position ausdrückt. „Neutralität“ ist als generelle Formel nach wie vor populär in Österreich Diese Formel steht für den insgesamt als Erfolg bewerteten Kurs der Zweiten Republik -für einen friedlichen Weg politischer Stabilisierung und wirtschaftlichen Wachstums, ohne Belastung durch internationale Konflikte.

Die Entwicklung eines europäischen Sicherheitssystems, in dem die GAS? der EU eine wesentliche Rolle spielt, würde dieser generellen Formel freilich die Grundlage entziehen. Wenn das Wartezimmer einer bloßen Beobachterfunktion in der WEU ebenso geschlossen wird wie die Konstruktion der „Partnerschaft für den Frieden“ mit der NATO, wird für Österreich -ebenso wie für Irland, Schweden und Finnland -eine Entscheidungssituation entstehen; bei der freilich, genau genommen, nichts mehr zu entscheiden sein wird: Denn die Weichen in Richtung auf eine volle Teilnahme Österreichs an einem von der EU wesentlich getragenen europäischen Sicherheitssystem sind durch den Beitritt zur EU gestellt. Ob die innenpolitische Befindlichkeit, die der Neutralität nach wie vor einen positiven Stellenwert gibt, dann noch eine Rolle spielen kann, darf bezweifelt werden.

V. Wandel der Identität?

Österreich

Die politische Kultur der Zweiten Republik war (ist?) durch die Merkmale einer Konkordanzdemokratie gekennzeichnet Diese Tradition der wechselseitigen Machtbeteiligungsgarantie des sozialistischen und des christlich-konservativen Lagers hat auch zur Entwicklung eines österreichischen Nationalbewußtseins beigetragen, das sich weder am alten, am Habsburgischen Österreich orientiert, noch an einer spezifisch „deutschen“ Rolle des Landes Mit dieser Entwicklung einer besonderen, auf die kleine Republik bezogenen Identität ist eine Abgrenzung gegenüber dem historischen Deutschnationalismus österreichischer Prägung ursächlich verbunden

Die politische Kultur der Konkordanzdemokratie, deren sichtbarster Ausdruck die Sozialpartnerschaft ist, wurde -historisch erklärbar -von jenem politisch-weltanschaulichen Lager demonstrativ abgelehnt, das die Konkordanzdemokratie auch nicht ursprünglich miteinschloß; eben vom deutschnationalen Lager, dessen politischer Arm die FPÖ war und -allen Wandlungen zum Trotz -weiterhin ist. Die Verbindung von konkordanzdemokratischer Kultur, österreichischem Nationalbewußtsein und außenpolitischer Orientierung an der Neutralität begründete die ursprüngliche Haltung der FPÖ, die 1955 (noch als Verband der Unabhängigen, VDU, der Vorläuferpartei der FPÖ) im Nationalrat gegen das Neutralitätsgesetz gestimmt hatte und bald nach Unterzeichnung der Römischen Verträge einen Beitritt Österreichs zur EWG befürwortete

Zum Zeitpunkt der Volksabstimmung vom 12. Juni 1994 war diese Frontstellung vollkommen umgekehrt: SPÖ und ÖVP vertraten eine eindeutige EU-Orientierung, die FPÖ wurde zur wichtigsten Stimme der Ablehnung eines österreichischen Beitritts. Damit ist auch der historische Zusammenhang zwischen österreichischer Identität und Europa-Orientierung umgestülpt: Die Kräfte, die stellvertretend für die Entwicklung einer spezifischen österreichischen Identität nach 1945 stehen, sehen nun zwischen dieser Identität und einer (west) europäischen Integration des Landes keinen Widerspruch; und der österreichische Deutschnationalismus -jedenfalls dessen politischer-Arm -hat sich zum Sprachrohr der EU-Skepsis gemacht.

Im Hintergrund dieser Entwicklung steht die Beziehung zwischen Österreich und Deutschland -eine Beziehung, die in vielem dem Muster einer „ungleichen Partnerschaft“ entspricht In dieser Beziehung kann die Neigung des „Großen“ zu einem Mangel an Sensibilität, die Neigung des „Kleinen“ zu einem Übermaß an Sensibilität dia-gnostiziert werden Das wohl besonders Paradoxe an diesem komplexen Beziehungsgeflecht ist aber, daß bei einem Vergleich der politischen Systeme Deutschlands und Österreichs kein Faktor einen signifikanteren Unterschied bedeutet als die FPÖ und damit die aktuelle Version des österreichischen Deutschnationalismus.

Während die allgemeine Entwicklung des österreichischen politischen Systems vom generellen Trend der „Verwestlichung“ gekennzeichnet ist, ist keine andere Partei, keine andere politische Tradition in Österreich so spezifisch österreichisch wie der österreichische Deutschnationalismus: Die SPÖ ist in vielem eine europäische Durchschnitts-werte aufweisende Sozialdemokratie; die ÖVP gleicht ebenso anderen Parteien der christlich-demokratisch-konservativen Parteienfamilie Europas. Die österreichischen Grünen wie die österreichischen Liberalen haben in anderen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, Schwester-parteien. Die FPÖ jedoch, gerade wegen ihrer auch rechtsextremen Erscheinungsformen ist in Europa isoliert -ihre Abgeordneten sind im Europäischen Parlament ohne Fraktionszugehörigkeit. Die Partei, die sich programmatisch als einzige österreichische Partei zu einer besonderen deut­ sehen Identität Österreichs bekennt, ist somit diejenige, die gegenüber Deutschland (wie gegenüber Europa überhaupt) am stärksten isoliert ist.

Die Zweite Republik Österreich ist als Parteien-staat gegründet worden. Die Rolle, die den Parteien -d. h.der Sozialdemokratie und der Volkspartei -zugekommen ist, war im Vergleich europäischer Demokratien einmalig. Diese Parteienstaatlichkeit hat sich, schon am Beginn der Zweiten Republik, in der Verbändestaatlichkeit (d. h. in der Sozialpartnerschaft) eine zweite, ebenso wichtige Ergänzung geschaffen.

Die Hauptaufgabe der ausgeprägten Parteien-und Verbändestaatlichkeit war die Stabilisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Daß dies geglückt ist, steht außer Zweifel. Deshalb sind die extrem ausgeprägte Parteienstaatlichkeit und die ebenso ungewöhnlich ausgeprägte Verbändestaatlichkeit gleichsam überflüssig geworden. Sie können auf ein in westlichen Demokratien durchschnittliches Maß zurückgeführt werden.

Dieser Prozeß ist in Gang gesetzt -schon vor Österreichs EU-Beitritt. Dieser Prozeß kann nun, im Rahmen der Gemeinschaft westeuropäischer Demokratien, weitergeführt werden. Dieser Prozeß ist jedoch nicht ohne Risiko -das Protestpotential, für das die FPÖ steht, ist dafür ein Beleg. Doch dieser Prozeß ist Ausdruck einer Normalisierung des politischen Systems und der politischen Kultur in Österreich. Deshalb sind seine Chancen wohl mindestens ebenso groß wie seine Risiken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Anton Pelinka, Die Entaustrifizierung Österreichs. Zum Wandel des politischen Systems 1945-1995, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, (1995) 1.

  2. Vgl. Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur, in: Heinrich Benedikt (Hrsg.), Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954; Kurt Steiner, Politics in Austria, Boston 1972; John W. Boyer, Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897-1918, Chicago 1995.

  3. Vgl. Fritz Plasser u. a., Analyse der Nationalratswahl vom 17. Dezember 1995, (Zentrum für angewandte Politikforschung) Wien 1995, S. 24.

  4. Vgl. ebd., S. 41.

  5. Vgl. ebd., S. 43.

  6. Vgl. Heinrich Schneider, Alleingang nach Brüssel. Österreichs EG-Politik, Bonn 1990; Christian Schallen Die innenpolitische EG-Diskussion in den 80er Jahren, in: Anton Pelinka u. a., Ausweg EG? Innenpolitische Motive einer außenpolitischen Umorientierung, Wien 1994.

  7. Vgl. Anton Pelinka (Hrsg.), EU-Referendum. Zur Praxis direkter Demokratie in Österreich, Wien 1994.

  8. Vgl. Erich Neuwirth, Wählerstromanalyse für die EU-Volksabstimmung, in: A. Pelinka (Hrsg.), ebd., S. 152.

  9. Vgl. Fritz Plasser/Peter A. Ulram, Wandel der politischen Konfliktdynamik. Radikaler Rechtspopulismus in Österreich, in: Wolfgang C. Müller u. a. (Hrsg.), Wählerverhalten und Parteienwettbewerb. Analysen zur Nationalratswahl 1994, Wien 1995.

  10. Vgl. Holger Rust (Hrsg.), Europa-Kampagnen. Dynamik öffentlicher Meinungsbildung in Dänemark, Frankreich und der Schweiz, Wien 1993.

  11. Vgl. Chr. Schalter (Anm. 6).

  12. Vgl. Peter Gerlich/Heinrich Neisser (Hrsg.), Europa als Herausforderung. Wandlungsimpulse für das politische System Österreichs, Wien 1994.

  13. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Introduction: Neo-Corporatism in Comparative Perspective, in: Gerhard Lehmbruch/Philippe Schmitter (Hrsg.), Patterns of Corporatist Policy-Making, London 1982.

  14. Vgl. Emmerich Talos (Hrsg.), Sozialpartnerschaft. Kontinuität und Wandel eines Modells, Wien 1993.

  15. Vgl. Ferdinand Karlhofer, Sozialpartnerschaft und EU, in: A. Pelinka (Hrsg.) (Anm. 7).

  16. Vgl. Peter Pemthaler u. a„ Kammern und Pflichtmitgliedschaft in Österreich, Wien 1994.

  17. Vgl. Paul Luif, Neutrale in die EG? Die westeuropäische Integration und die neutralen Staaten, Wien 1988.

  18. Vgl. Hanspeter Neuhold, Internationaler Strukturwandel und staatliche Außenpolitik. Das österreichische Außenministerium vor neuen Herausforderungen, Wien 1993.

  19. Vgl. Hanspeter Neuhold, Die dauernde Neutralität Österreichs in einem sich wandelnden internationalen System, in: ders. /Paul Luif (Hrsg.), Das außenpolitische Bewußtsein der Österreicher. Aktuelle internationale Probleme im Spiegel der Meinungsforschung, Wien 1992.

  20. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich, Tübingen 1967; Arend Lijphart, Democracy in Plural Societies, New Haven 1977.

  21. Vgl. William T. Bluhm, Building an Austrian Nation. The Political Integration of a Western State, New Haven 1973; Ernst Bruckmüller, Österreichbewußtsein im Wandel, Wien 1994.

  22. Vgl. Felix Kreissler, Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozeß mit Hindernissen, Wien 1984; Albert F. Heiterer (Hrsg.), Nation und nationales Bewußtsein in Österreich, Wien 1988; Anton Pelinka, Zur österreichischen Identität. Zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa, Wien 1990.

  23. Vgl. P. Luif (Anm. 17), S. 103.

  24. Vgl. Hans von Riekhoff/Hanspeter Neuhold (Hrsg.), Unequal Partners. A Comparative Analysis of Relations between Austria and the Federal Republic of Germany and between Canada and the United States, Boulder 1993.

  25. Vgl. Oliver Rathkolb u. a. (Hrsg.), Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis, Salzburg 1990; Gabriele Holzer, Verfreundete Nachbarn. Österreich -Deutschland. Ein Verhältnis, Wien 1995.

  26. Vgl. Hans-Henning Schärsach. Haiders Kampf, Wien 1992; ders., Haiders Clan. Wie Gewalt entsteht, Wien 1995; Brigitte Bailer-Galanda, Haider wörtlich. Führer in die Dritte Republik, Wien 1995.

Weitere Inhalte

Anton Pelinka, geb. 1941, Dr. phil.; seit 1975 o. Prof, für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck; seit 1990 zudem wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konfliktforschung in Wien. Veröffentlichungen vor allem zum politischen System Österreichs und zur Demokratietheorie. Letzte größere Veröffentlichung: Jaruzelski oder die Politik des kleineren Übels. Zur Vereinbarkeit von Demokratie und leadership, Frankfurt am Main 1996.