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Die neue Agenda für die europäische Politik | APuZ 10/1996 | bpb.de

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APuZ 10/1996 Die neue Agenda für die europäische Politik Österreich: EU-Mitgliedschaft als Katalysator Schweden und die Europäische Union Finnland in der Europäischen Union

Die neue Agenda für die europäische Politik

Hartmut Hausmann

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Auf dem EU-Gipfeltreffen im Dezember 1995 in Madrid wurde der Zeitplan für die künftige Gestaltung Europas im Hinblick auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts festgelegt. Werden die geplanten Schritte zur Vertiefung und Erweiterung der Integration im beschlossenen Umfang verwirklicht, so wird die Union in den nächsten zehn Jahren ihre Strukturen und ihre Bedeutung nach außen stärker verändern als in den 44 Jahren ihres bisherigen Bestehens seit der Gründung der Montanunion. Der Beitrag untersucht die wechselseitigen Auswirkungen der im März 1996 beginnenden Regierungskonferenz (Maastricht II), der Wirtschafts-und Währungsunion sowie der Erweiterung um Länder Mittel-und Osteuropas bzw.des Mittelmeerraums. Darauf aufbauend muß die Neufestlegung der Finanzplanung der Union im Rahmen einer finanziellen Vorausschau bis zum Jahr 2000 beschlossen werden, deren Volumen wiederum stark von einer unumgänglichen Reform der Agrarpolitik sowie von den Aufgaben abhängt, die sich aus der Schaffung der geplanten europäischen Sicherheitsstruktur und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten der Union im Osten und im Mittelmeerraum ergeben. In der Darstellung der verschiedenen Reformvorhaben wird zugleich deutlich, daß der in der politischen Diskussion immer wieder hervorgehobene Gegensatz zwischen Vertiefung und Erweiterung der Union nicht existiert, sondern daß eine enorme Interdependenz zwischen den Reformschritten besteht, die zum Teil bewußt von den Staats-und Regierungschefs in ihren Beschlüssen angelegt wurde.

Der Zeitplan für die zukünftige Gestaltung Europas zur Vorbereitung auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts liegt einschließlich einiger inhaltlicher Vorgaben fest. Nach den Beschlüssen der Staats-und Regierungschefs der Europäischen Union vom 15. und 16. Dezember 1995 in Madrid sollen sechs Hauptbereiche -zum Teil mit genauen terminlichen Vorgaben -in Angriff genommen werden, um eine große, den gesamten Kontinent umfassende Gemeinschaft zu errichten, in der Freiheit, Wohlstand und Stabilität herrschen Dabei handelt es sich um die Überarbeitung der Vertragsgrundlagen zur Europäischen Union (Maastricht II), den Übergang zur einheitlichen europäischen Währung, die Erweiterung um Länder Mittel-und Osteuropas sowie Maltas und Zyperns, die Neufestlegung des Finanzrahmens der Union, die Schaffung einer europäischen Sicherheitsstruktur und um die Begründung einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den dann an die Union angrenzenden Staaten im Osten und im Mittelmeerraum.

Mit dieser Absteckung des inhaltlichen und zeitlichen Horizonts für die Entwicklung der Union im nächsten Jahrzehnt wurde zugleich der in der politischen, vor allem aber in der akademischen Diskussion immer wieder hervorgehobene Gegensatz zwischen Vertiefung und Erweiterung der Union überbrückt. Aus dem Beschluß von Madrid, daß die Verhandlungen der beitrittswilligen Länder mit der Union sechs Monate nach Abschluß der Regierungskonferenz und unter Berücksichtigung der Ergebnisse dieser Konferenz beginnen sollen, geht eindeutig hervor, daß es ohne solche Ergebnisse -die ja erst die Handlungsfähigkeit der Union für den Fall einer Erweiterung schaffen sollen -keine Aufnahme neuer Mitglieder geben wird. Die Formulierung stellt ferner klar, daß die Verhandlungen erst dann beginnen können, wenn der Ratifizierungsprozeß in den 15 Mitgliedstaaten der Union abgeschlossen ist. Denn ohne das Zustandekommen des neuen Vertrages bliebe die Rechtsgrundlage für die Beitrittsverhandlungen unklar.

I. Die Regierungskonferenz von 1996

Die am 29. März in Turin unter italienischer Präsidentschaft beginnende Regierungskonferenz zur Überarbeitung der EU-Verträge soll einschneidende Korrekturen in den vorhandenen Institutionen, Entscheidungsverfahren und bei der Ausweitung der Zuständigkeiten der Union bringen. Schon im Vertrag von Maastricht zur Gründung der Europäischen Union wurde diese Regierungskonferenz für das Jahr 1996 fest vereinbart. Den damals zwölf beteiligten Staats-und Regierungschefs war klar, daß die ursprünglich für nur sechs Länder geschaffene institutioneile Konstruktion der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nicht in der Lage sein würde, die in der Zwischenzeit auf die Union übergegangenen zusätzlichen politischen Aufgaben zu bewältigen, geschweige denn mehr als die sich damals abzeichnende Erweiterung um die skandinavischen Staaten und Österreich überhaupt zu verkraften.

Unter dem Druck der politisch als unumgänglich erscheinenden Integration vor allem mittel-, aber auch einiger osteuropäischer Staaten weiteten die Staats-und Regierungschefs auf ihren Gipfeltreffen in den folgenden Jahren die zunächst begrenzte Aufgabenstellung der Konferenz erheblich aus. Anders als vor Maastricht ließen sie die Vertragsverhandlungen gleichzeitig durch ein Expertenteam aus Vertretern der Mitgliedstaaten und zwei Abgeordneten des Europäischen Parlaments sowie einem Kommissionsmitglied sorgsam vorbereiten. Der Abschlußbericht dieser Sondierungen über Reformbedarf und Reformwillen der Mitgliedstaaten lag rechtzeitig zum Gipfel in Madrid vor.

Als wichtigste Herausforderung im Innern sieht das im Sprachgebrauch der EU „Reflektionsgruppe“ genannte Vorbereitungsteam, die Legitimation der Union in den Augen der Bürger zu stärken Dazu ist nach dem Bericht eine klare Definition der Ziele der Union notwendig, die Glaubwürdigkeit der gemeinsamen Politik und des gemeinsamen Wollens, aber auch die Verständlichkeit der Zusammenarbeit. Deshalb muß die Union bei der bevorstehenden Reform mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet werden, um vorrangig die Probleme lösen zu können, die die europäischen Bürger am unmittelbarsten persönlich bewegen. Dazu gehören Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung, innere Unsicherheit und die Zerstörung der Umwelt.

Konnte der frühere deutsche Kommissionspräsident Walter Hallstein noch vom unvollendeten europäischen Bundesstaat sprechen -eine Zielvorgabe, die jeder Bürger verstand -, so fehlt ein solcher klärender Hinweis auf föderalistische Strukturen inzwischen völlig, weil London unter allen Umständen dagegen ist und Paris und Kopenhagen mit der derzeitigen Situation zufrieden sind. Statt dessen wurde als Ersatz die Forderung nach Bürgernähe und Subsidiarität aufgenommen -Begriffe, zu deren Erklärung in der breiten Öffentlichkeit viele blumige Umschreibungen notwendig sind und die dennoch wenig Konkretes vermitteln. Die „Reflektionsgruppe“ kam in ihrer Mehrheit deshalb zu der Auffassung, daß im Unionsvertrag stärker die gemeinsamen europäischen Werte, wie Demokratie und Schutz der Menschen-und Grundrechte, verankert werden sollten. Darüber hinaus sollte die Union durch ihr Eintreten für die Gleichstellung von Mann und Frau sowie für das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Religionszugehörigkeit oder sexuellen Neigungen bei den Bürgern Profil gewinnen. Gestärkt werden könnte ein europäisches Solidaritätsgefühl weiterhin durch die Schaffung von Gemeinschaftsdiensten in Form eines europäischen Friedenskorps, das sowohl bei humanitären Maßnahmen als auch bei Naturkatastrophen in der Union eingesetzt werden könnte.

Einigkeit herrschte in der „Reflektionsgruppe“ auch darüber, daß die Möglichkeiten der Union, die Bürger besser vor Terrorismus, Drogenhandel und illegaler Einwanderung zu schützen, verbessert werden sollten, da derartige Ansätze auf europäischer Ebene vielversprechender seien als im nationalen Bereich. Der vielfach in den letzten Jahren nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene zu beobachtenden Ankündigungspolitik im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit -indem vor jedem Gipfeltreffen Beschlüsse zur Schaffung neuer Arbeitsplätze gefaßt wurden -versucht das Vorbereitungsteam in seinen Vorschlägen entgegenzuwirken. Die Hauptverantwortung für das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen der Bürger liege nach wie vor bei den Mitgliedstaaten. Die Aufgabe der Union nach der Vollendung des Binnenmarktes und im Vorgriff auf die Verwirklichung der Wirtschafts-und Währungsunion könne nur darin liegen, eine gemeinsame Strategie für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu entwickeln, um so die einzelstaatlichen Maßnahmen zu verstärken. Da Arbeitsplätze nun einmal nicht durch bloße Vertragsänderungen entstehen könnten, sollte durch die Regierungskonferenz lediglich eine eindeutige Verpflichtung in den Vertrag aufgenommen werden, die die Unionspolitik auf eine die Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglichende wirtschaftliche und soziale Integration ausrichtet. Über diese Rahmenbedingungen hinaus warnt die Reflektionsgruppe vor der Aufnahme von Bestimmungen, die Erwartungen wecken könnten, die von der Union gar nicht zu erfüllen seien, weil deren Umsetzung hauptsächlich von Entscheidungen abhinge, die von der Wirtschaft und den Tarifpartnern auf einzelstaatlicher Ebene getroffen würden. In der Kombination verbesserter europäischer Rahmenbedingungen und nationaler Verantwortung in der Sozial-und Wirtschaftspolitik liegt denn auch ein wichtiger Schlüssel für die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas Wesentlich stärker sollten dagegen die Fähigkeiten der Union ausgebaut werden, im Umweltbereich effizienter zu handeln und auch selbst bestimmen zu können, auf welchen Gebieten die Europäische Union angesichts der grenzüberschreitenden Auswirkungen von Umweltschäden tätig werden solle oder wann ein Vorgehen Sache der Mitgliedstaaten bleiben könne.

Auch wenn Abläufe im Gesetzgebungsverfahren kaum das Interesse einer breiten Öffentlichkeit finden werden -weder national noch europäisch -, so sollten die interessierten Bürger doch die Möglichkeit haben, europäische Rechtsetzungsverfahren leichter nachvollziehen zu können. Dazu schlägt die Reflektionsgruppe eine Reduzierung der gegenwärtig über 20 verschiedenen Varianten auf drei Grundverfahren vor: die unverbindliche Anhörung der Europaabgeordneten durch den Rat, die Zustimmung des Parlaments vor allem bei außenpolitischen Verträgen und als Normalfall bei der Gesetzgebung sowie die weitgehend gleichberechtigte Mitentscheidung beim Ministerrat. Das erst durch den Vertrag von Maastricht geschaffene Mitentscheidungsverfahren sollte in wesentlich mehr Bereichen Anwendung finden als bisher und zugleich vereinfacht werden. Außerdem müßten die nationalen Parlamente stärker in die Beschlußfassungsverfahren der Union wie in die parlamentarische Kontrolle der EU-Politik eingebunden werden. Diese Ausweitung der Befugnisse des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente käme dem Bestreben nach einer stärkeren Demokratisierung der EU ebenso entgegen wie die Modifizierung der Beschlußfassung des Minister-rats durch Mehrheitsbeschlüsse. Eine derartige Stärkung der demokratischen Legitimation verlangte auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Maastrichter Vertrag bei künftigen Integrationsschritten. Die mit der Ausweitung der Mehrheitsbeschlüsse im Ministerrat verbundene Verbesserung der Handlungsfähigkeit wird nach Meinung der Reflektionsgruppe zugleich wesentlich dazu beitragen, daß die Politik der Union einen größeren Rückhalt in der Bevölkerung findet. Einige Mitgliedstaaten halten eine solche Reform allerdings nur dann für möglich, wenn zugleich die demokratische Legitimität durch eine Neugewichtung der Stimmenverhältnisse im Rat unter angemessener Berücksichtigung der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten vorgenommen wird. Ein äußerst schwer zu lösendes Problem bleibt die Führung der Union im Innern und ihre Repräsentation nach außen. Bei dem gegenwärtigen halbjährig wechselnden Vorsitz kann jedes Land nur alle siebeneinhalb Jahre für sechs Monate die EU-Präsidentschaft übernehmen. Bei einer erneuten Erweiterung würde sich der Zeitraum zwischen zwei Präsidentschaften desselben Landes noch weiter vergrößern. Die Reflektionsgruppe schlägt deshalb Überlegungen vor, die diese Form der Rotation mit Möglichkeiten einer kontinuierlichen Führung und Repräsentation nach innen wie nach außen verbinden soll. In den noch inoffiziellen Überlegungen spielen dabei ein von der Gesamtbevölkerung der Mitgliedsländer der EU zu wählender Präsident ebenso eine Rolle wie ein von Frankreich und Belgien favorisierter „Monsieur“, der die Union zumindest nach außen gemeinsam repräsentieren soll. Große Probleme stellt weiterhin die notwendige Reform der Zusammensetzung der Führungsspitze der Europäischen Kommission in Brüssel dar. Dieses ursprünglich für eine Gemeinschaft von sechs Mitgliedstaaten konzipierte Kollegial-gremium ist inzwischen zu einem Mammutgremium geworden, weil die kleineren Länder einen, die großen Mitgliedstaaten zwei Politiker in die Kommission entsenden. Das ursprünglich neunköpfige Gremium ist inzwischen auf zwanzig Mitglieder angewachsen und hat sowohl die Grenzen seiner Arbeitsfähigkeit wie die des inneren Zusammenhalts erreicht, wie das Auftreten einzelner Kommissionsmitglieder in jüngster Vergangenheit -insbesondere das der dänischen Kommissarin mit der Veröffentlichung interner Vorgänge -beweist. Zur Wiedergewinnung einer größeren Kollegialität schlägt die Reflektionsgruppe deshalb eine Verringerung der Zahl von Kommissionsmitgliedern und zugleich eine Erhöhung ihrer Unabhängigkeit vor. Zur Erreichung dieses Ziels sollten die Mitglieder stärker auf der Grundlage ihrer Qualifikation und ihres Eintretens für die allgemeinen Interessen der Europäischen Union ausgewählt werden. An den Grundaufgaben der Kommission -dem Eintreten für das gemeinsame europäische Interesse, dem Monopol für Gesetzgebungsinitiativen und der Hütung des Gemeinschaftsrechts -soll sich grundsätzlich nichts ändern. Eine Diskriminierung einzelner Länder oder Kandidaten soll -bei der Option zur Verringerung der Kommissionsmitglieder -dadurch ausgeschlossen werden, daß die Mitglieder vom Kommissionspräsidenten nach Maßgabe ihrer eigenen Verdienste aus einem Verzeichnis von drei Bewerbern ausgewählt werden sollten, welches jeder der Mitgliedstaaten vorlegt. Dieses System würde sicherstellen, daß sich das Kollegium, das insgesamt vom Europäischen Parlament bestätigt werden muß, aus besonders qualifizierten Persönlichkeiten zusammensetzt.

II. Die Wirtschafts-und Währungsunion

Nicht weniger einschneidende Auswirkungen als die Regierungskonferenz wird die Errichtung der Wirtschafts-und Währungsunion auf die Integration der Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben. Die Festlegung des konkreten Zeitplans in Madrid sowie des Namens Euro für die Währungseinheit haben das Projekt trotz vielfältiger nationaler Widerstände nach Aussage der Regierungschefs unwiderruflich auf den Weg gebracht. Bis Ende 1996 sollen alle rechtlichen, organisatorischen und logistischen Voraussetzungen zur Einführung der einheitlichen Währung vorbereitet sein; im Frühjahr 1998 wird über den Kreis der Teilnehmerstaaten, die die strengen Konvergenz-kriterien erfüllen, entschieden werden. Endpunkt dieser Entwicklung wird der 1. Juli des Jahres 2002 sein, wenn in den an der Währungsunion teilnehmenden Staaten die bisherigen nationalen Banknoten und Münzen ihre Gültigkeit als gesetzliches Zahlungsmittel verloren haben.

Spätestens mit diesem Datum ist dann in der Europäischen Union das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Integrationsstufen konkrete und auch gewollte Wirklichkeit geworden: Ein Kreis von Mitgliedstaaten, die dazu bereit und in der Lage sind, verwirklichen eine in den Verträgen angelegte Option zur vertieften Integration, die auch von den übrigen Mitglieds-ländern später noch -sofern sie dafür die Voraussetzungen erfüllen -wahrgenommen werden kann. Dieses Prinzip, das möglicherweise auch bei der gemeinsamen Außenpolitik und insbesondere beim Aufbau gemeinsamer Sicherheitsstrukturen Anwendung finden soll, gilt aber nur für neue Politikbereiche. Keinesfalls kann es rückwirkend angewandt werden, indem sich einzelne Mitgliedstaaten aus der vertraglich eingegangenen Verpflichtung zur gemeinschaftlichen Politik in einzelnen Sektoren -wie möglicherweise der Sozialpolitik oder der Umweltpolitik -wieder ausklinken. Diese Absage an ein Europa ä la carte könnte aber immer wieder, wie im Fall der Wiedereinführung von Grenzkontrollen durch Frankreich, Realität werden, wenn Politikbereiche -wie das Schengener Abkommen -auf der Ebene der schwachen Regierungszusammenarbeit geregelt und nicht in das Gemeinschaftsrecht übernommen werden.

III. Die Erweiterung der Europäischen Union

Auch bei den Verhandlungen mit den potentiellen neuen Mitgliedstaaten kann es zum Ende des Jahrzehnts nicht darum gehen, welche der Politikbereiche der Union sie übernehmen. Grundsätzlich müssen sie -wie auch Schweden, Finnland und Österreich bei ihrem Beitritt 1995 -den vertraglichen Besitzstand der Union ohne Einschränkung akzeptieren. Verhandelt werden kann allenfalls über den Umfang und die Dauer von Übergangsregelungen, um den Beitrittsprozeß im Interesse beider Seiten so unkompliziert wie möglich zu machen. Im übrigen aber ist bei der kommenden Erweiterungsrunde die Klärung außerordentlich tiefgreifender Probleme erforderlich.

Waren die letzten drei Neumitglieder sowohl von ihrer demokratischen Tradition als auch ihrer Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftskraft ohne jegliche Probleme in die Union zu integrieren, so ist die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik, Ungarns und Sloweniens politisch eine Notwendigkeit, die jedoch mit enormen wirtschaftlichen, finanz-und strukturpolitischen Konsequenzen verbunden ist. Gleiche Zusagen gibt es auch für Rumänien und Bulgarien, denen die Beitrittsperspektive in den Europaverträgen offiziell zugesichert worden ist. Eine solche Zusage erhielt zwar auch die Slowakei, doch ihre innenpolitische Entwicklung könnte sie schnell aus dem Kreis der unmittelbaren Beitrittskandidaten ausschließen. Nicht weniger konkret sind die Zusagen auf Eröffnung der Beitrittsverhandlungen nach Abschluß der Regierungskonferenz auch an Malta und Zypern, wobei die Regierung in Nikosia allerdings noch einige Vorleistungen zur Lösung des Zypern-problems zu erbringen hat, bevor sich die Union diesen Dauerkonflikt mit der Türkei freiwillig ins Haus holt. Mit diesen Ländern, zu denen auch noch die baltischen Staaten gerechnet werden müssen und, nach einer endgültigen Befriedung der Situation auf dem Balkan, auch hier noch das eine oder andere Land, würde sich die Zahl der Mitgliedstaaten der Union fast schlagartig verdoppeln.

Finanzierungsprobleme der Landwirtschaft

Was gesamtpolitisch und unter dem gesamteuropäischen Sicherheitsaspekt gewollt ist und sinnvoll erscheint, würde die Union in der gemeinsamen Agrarpolitik, in der Strukturpolitik und bei den Kohäsionsfonds vor fast unlösbare Probleme stellen. Da die mittel-und osteuropäischen Staaten nur ein Bruttosozialprodukt von weniger als 35 Prozent -gemessen am Durchschnitt der 15 EU-Staaten -aufweisen und damit zu den ärmsten Regionen der Gemeinschaft gehören würden, zählten sie nicht nur zu den Ziel-l-Regionen in der Strukturfondsförderung, sondern wären auch Kohäsionsfondsempfänger. Dadurch entstände ein jährlicher Bedarf allein für die vier Visegrädstaaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn von jährlich 20, 5 Milliarden ECU. Das entspräche einem Viertel des EU-Haushalts. Die Erweiterung der Union läßt im Bereich der Landwirtschaft einen weiteren Mehrbedarf in der gleichen Größenordnung erwarten. Da auch die übrigen Beitrittskandidaten Ost-und Mitteleuropas potentiell Agrarüberschußländer sind -insbesondere in den klassischen Interventionsbereichen Getreide, Fleisch und Milch würden sich die finanziellen Probleme vervielfachen, was zwangsläufig zu einer inflationsartigen Ausweitung des EU-Haushaltes und damit der Finanzbeiträge der bisherigen Mitgliedstaaten führen würde. Selbst aus bisherigen Nettoempfängern wie Irland, Portugal und Griechenland würden über Nacht Nettozahler, was wohl hier zu größten Spannungen führen würde.

Selbst in den vorsichtigeren Berechnungen der Kommission, die Agrarkommissar Franz Fischler im November dem Rat zuleitete, muß die Europäische Union mit Zusatzausgaben bei der Agrarpolitik in Höhe von zehn Milliarden ECU jährlich rechnen. Auch aus einem anderen Blickwinkel wird die gewaltige Dimension des Problems deutlich: Mit der Osterweiterung um zehn Länder würde die EU-Bevölkerung um rund 105 Millionen Menschen oder um etwa 29 Prozent zunehmen. Die Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Personen würde sich aber auf rund 13, 2 Millionen Beschäftigte verdoppeln. Wenn also die Binnenmarktintegration dieser zehn Länder -wie auf dem Gipfel im Dezember 1994 beschlossen -vollständig sein, gleichzeitig aber das Finanzgefüge der Europäischen Union nicht zusammenbrechen soll, bleibt der Union nichts anderes übrig, als sich im Agrarsektor dem Preisniveau des Ostens und damit demjenigen des Weltmarktes anzupassen.

Als Ausweg hat die Kommission drei alternative Szenarien aufgezeigt: zum einen eine Radikalkur mit einer sofortigen Anpassung der europäischen Preise an das Weltmarktniveau und folglich mit einem Verzicht auf mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen. Als zweiter Vorschlag wird eine Verstärkung des Drucks zum Abbau der geltenden Präferenzen -also eine längerfristige Angleichung an das Weltmarktniveau -ins Spiel gebracht; drittens die Fortschreibung des bisher beschrittenen Reformweges in der Agrarpolitik. Dieser auch von Fischler empfohlene Weg scheint politisch am einfachsten durchzusetzen zu sein, beinhaltet aber die Gefahr erheblicher sozialpolitischer Ausgleichszahlungen durch die Mitgliedstaaten und somit ebenfalls erhebliche finanzielle Aufwendungen. Fischlers Bericht weist darauf hin, daß eine Reform auch ohne die neuen Beitritte unumgänglich würde, und versucht damit, die Erweiterungsdiskussion zu entschärfen.

Die Produktivitätsfortschritte in der Landwirtschaft sowie die nächste Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation mit ihren Debatten über umweltgerechte und umwelterhaltende Landwirtschaftsproduktion erfordern weitere Reform-schritte. Doch selbst wenn die teurere Alternative gewählt würde -den Haushaltspolitikern in der Union wäre jede Entwicklung, die eine Abkehr vom bisherigen Subventionsvolumen bedeutete, willkommen. Die Agrarausgaben, die vor wenigen Jahren sogar über 70 Prozent des Gesamthaushalts der EU verschlangen, betragen auch 1996 noch fast 50 Prozent. Sie auf ein Niveau zu senken, bei dem nur noch die elementaren Aufgaben des Binnenmarktes zu finanzieren wären, würde Mittel für andere, zukunftssichernde Aufgaben der EU-Politik freimachen.

Eine andere Rechnung machen allerdings die Grünen auf. In einem vom deutschen Europaabgeordneten Friedrich Wilhelm Gräfe zu Barringdorf im Dezember 1995 vorgestellten Strategiepapier zur Osterweiterung wird eine Regionalisierung der Agrarmärkte vorgeschlagen. Danach darf der Weltmarkt nicht das Maß aller Dinge bei der Integration der osteuropäischen Länder in die EU sein. Anstatt bäuerliche Einzelbetriebe zu fördern, bevorzuge die Europäische Kommission in Brüssel nach wie vor eine agrarindustrielle Produktion. Doch was die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Landwirtschaft fördern solle, werde nicht nur die Umwelt zerstören, sondern bedrohe auch die Arbeitsplätze und damit die gesamte landwirtschaftliche Infrastruktur. Es sei zu befürchten, daß der derzeitige Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten weiterhin stark zurückgehe, vor allem in Osteuropa. Die Kosten für die Arbeitslosigkeit würden dann den beitritts-willigen Reformstaaten aufgebürdet. Statt dessen -so die Grünen -sollten die bisherigen Subventionsgelder, die hauptsächlich den Großbetrieben zugute kommen, gekürzt werden, um die Agrarpolitik darauf auszurichten, daß sich die europäischen Verbraucher mehr auf den heimischen Märkten und nicht auf dem Weltmarkt versorgen. Vor allem müßten subventionierte Exporte aus der Landwirtschaft des Westens nach Zentral-und Osteuropa unterbunden werden, da dies die dortigen Märkte ruiniere. Obwohl in dem Strategiepapier, das offensichtlich auch einigen Anklang in der sozialistischen Fraktion des Europäischen Parlaments findet, die finanziellen Auswirkungen einer solchen Regionalisierung der Agrarpolitik untersucht werden, lassen sich auch hier die finanziellen Konsequenzen in Verbindung mit den Strukturfördermaßnahmen und die Kompatibilitätmit den Welthandelsvorschriften zunächst noch schwer abschätzen.

Ungeklärte Finanzplanung

Wie immer die Reformschritte im Bereich der Struktur-und der Agrarpolitik auch aussehen werden, sie müssen in ihren Konturen innerhalb der nächsten drei Jahre beschlossen werden. Das entspricht dem Zeitraum, in dem auch die neuen EU-Verträge ratifiziert sein müßten. Andernfalls würde es schwierig, die Finanzplanung über den Fünfjahreszeitraum bis zum Jahre 2005 festzulegen, denn diese Vorausschau muß alle Konsequenzen einer Erweiterung bereits beinhalten. Eile ist auch geboten, um die Unsicherheit zu beseitigen, mit der -je nach Standpunkt -Politik betrieben wird und Ängste geweckt werden. So warnte Kommissionspräsident Sanier vor den falschen Zahlen, die bewußt oder unbewußt in Umlauf gesetzt würden und die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hätten Es würden daraus voreilige Schlüsse gezogen, die in den Beitrittsländern falsche Erwartungen weckten und innerhalb der Union zu Mißverständnissen über die künftige Finanzierbarkeit der Politik führen könnten. Mit einfachen Plochrechnungen bestimmter Beträge für den Nettotransfer bei unveränderten Spielregeln sei es nicht getan.

Festlegung einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur

Bis 1994 waren mit Ausnahme Irlands alle EU-Staaten auch Mitglied im Nordatlantischen Bündnis. Mit der Erweiterungsrunde 1995 kamen dann drei neutrale Staaten hinzu, die den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Sicherheits-und Verteidigungspolitik langfristig kaum erleichtern dürften. Andererseits steht für die mittel-und osteuropäischen Staaten, die im Rahmen der nächsten Erweiterung Mitglied werden möchten, der Sicherheitsaspekt im Vordergrund. Sie alle möchten auch Mitglied der Nato werden -ein Wunsch, der allerdings von Moskau als Bedrohung der eigenen Sicherheit bezeichnet wird. So sehr eine möglichst große Kongruenz zwischen EU-und Nato-Mitgliedstaaten eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik der Europäer begünstigen würde, so plausibel ist das alternative Modell der Aufwertung der Westeuropäischen Union (WEU) zu einer eigenständigen europäischen Verteidigungs-Identität. Es wäre eine Alternative mit einer freiwilligen Teilnahme an militärischen Strukturen, die der jeweils unterschiedlichen außenpolitischen Ausrichtung und dem individuellen Sicherheitsbedürfnis gerecht werden könnte. In diesem Bereich scheint sich daher das von der Reflektionsgruppe diskutierte Modell einer europäischen Außen-und Sicherheitsstruktur durchzusetzen, an der jeder EU-Staat mit gemeinsamen Aktionen teilnehmen kann, aber nicht dazu verpflichtet werden darf. Andererseits darf auch kein Mitglied die übrigen Staaten bei derartigen Aktionen behindern. Auch hier zeichnet sich ganz deutlich eine Entwicklung hin zu einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder der variablen Geometrie ab.

Institutionelles Gefüge

Das ursprünglich für sechs Mitgliedstaaten entwikkelte institutioneile Konzept der damaligen EWG stellte ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen kleinen und größeren Staaten dar, wobei die kleineren einen leichten Bonus und Luxemburg sogar einen größeren hinsichtlich seiner Repräsentation hatte. Dieses Gleichgewicht ließ sich auch bei den späteren Erweiterungen noch weitgehend aufrechterhalten, da mit Großbritannien ein weiteres großes Land und mit Spanien ein mittelgroßes Land neben mehreren kleineren hinzukam. Die sich nun abzeichnende Erweiterung auf maximal 30 Staaten bringt fast ausschließlich kleinere Länder in die Europäische Union. Lediglich Polen und Rumänien könnten zu den mittelgroßen gerechnet werden. Für die Konstruktion des Ratsvorsitzes als auch hinsichtlich der Stimmgewichtung im Ministerrat müßten ganz neue Berechnungen erfolgen. Schon bei der Erweiterung um Finnland, Schweden und Österreich wurde eine erste Konsequenz gezogen, indem von dem Prinzip der alphabetisch erfolgenden Rotation beim Ratsvorsitz abgewichen wurde. Es wurde nun ein Rhythmus festgelegt, der für die nächsten Jahre sicherstellt, daß immer ein großes Land in der aus dem Vorsitzland sowie seinem Vorgänger und Nachfolger bestehenden Troika vertreten ist -mit der Konsequenz, daß beispielsweise Deutschland häufiger den Ratsvorsitz übernimmt als Griechenland oder Portugal. Auch bei der Stimmengewichtung im Rat wird in Zukunft eine Konstruktion gefunden werden müssen, die keine Koalition aus Kleinstaaten zuläßt, die die sogenannten Großmächte Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien dominieren könnte. Probleme entstehen auch für das Europäische Parlament, das durch die letzte Erweiterung bereits auf 626 Abgeordnete angewachsen ist. Die Staats-und Regierungschefs haben 1992 auf dem Gipfel in Edinburgh auf Vorschlag des Europäischen Parlaments festgelegt, daß die Zahl von 700 Abgeordneten künftig nicht überschritten werden soll, um die Arbeitsfähigkeit der Versammlung nicht zu gefährden. Das bedeutet aber bei einer weiteren Zunahme der Länder eine Verringerung der nationalen Kontingente. Was soll unter diesem Aspekt beispielsweise mit Luxemburg geschehen, das bisher schon mit sechs Abgeordneten weitaus überproportional im Parlament vertreten ist? Eine weitere Verringerung der Zahl, die im Interesse einer ausgeglichenen demokratischen Repräsentation notwendig wäre, ließe aber kaum noch eine pluralistische Vertretung der verschiedenen Parteiströmungen in Luxemburg zu. Bei den großen Ländern würde das Verhältnis von Gewählten zu den Wählern sich der Grenze von eins zu einer Million annähern. Kann bei diesem Verhältnis noch von einer Identifikation der Wähler mit ihren Abgeordneten gesprochen werden? Wie ist Bürgernähe auch in einem Großeuropa noch zu erreichen? Die Beantwortung dieser und vieler anderer Fragen -die hier z. T. nur kurz skizziert werden konnten -auf der bevorstehenden Regierungskonferenz wird nicht einfach sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Europäischer Rat am 15. /16. Dezember in Madrid, Schlußfolgerungen des Vorsitzenden, Kapitel 4, Dokument des Europäischen Parlaments, PE 165. 708.

  2. Vgl. Bericht der Reflektionsgruppe, Teil 2, Erläuternde Agenda, Messina, 2. Juni 1995; Brüssel, 5. 12. 1995.

  3. Vgl. „Ökologisch und sozial erweitern“, Strategiepapier zur Osterweiterung der EU, Diskussionspapier frt AG 4 der Grünen im Europäischen Parlament, Dezember 1995.

  4. Vgl. Jacques Sanier, Langfristige Beitrittsstrategie entwickeln, in: EU-Nachrichten, Nr. 46 vom 17. November 1995.

Weitere Inhalte

Hartmut Hausmann, Dipl. -Pol., geb. 1940; Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin; freier Journalist in Straßburg und Hennef. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Europäischen Union und des Europarates.