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Das gesellschaftliche Verständnis der Familie in der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 52-53/1995 | bpb.de

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APuZ 52-53/1995 Zum Strukturwandel der Familie. Mythen und Fakten Das gesellschaftliche Verständnis der Familie in der Bundesrepublik Deutschland Familienpolitik als Gesellschaftsreform

Das gesellschaftliche Verständnis der Familie in der Bundesrepublik Deutschland

Herbert Susteck

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag geht den Ursachen für den in den sechziger Jahren beginnenden und bis in die Gegenwart nicht gebremsten Geburtenrückgang in der Bundesrepublik nach, der parallel zu einem Wertewandel im öffentlichen Bewußtsein verläuft bzw. durch diesen ausgelöst wurde. Uber verbale Bekundungen hinaus ist bislang wenig gegen die Benachteiligung und Abwertung der Familie unternommen worden, obwohl die Mehrheit der Bürger nach wie vor an dem Ideal der Ehe festhält. Der schon dramatisch zu nennende Nachwuchsmangel nach der Vereinigung in den neuen Ländern hat die Unzulänglichkeit der Familienpolitik eklatant sichtbar gemacht, die sich -ebenso wie große Teile der veröffentlichten Meinung -der langfristigen Folgen dieser Einbrüche offenbar nicht hinreichend bewußt ist.

I. Einleitung

Quelle: Fünfter Familienbericht, Deutscher Bundestag, Drucksache 12/7560, S. 51 Unterschiedliche Lebensformen 1991

Seit nunmehr zwei Jahrzehnten zählt die Bundesrepublik zu den „alten Völkern“, deren Einwohnerzahl zurückgeht, wenn man die jährliche Geburten-und Todesrate der deutschen Bevölkerung einander gegenüberstellt. Während 1993 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 795 430 Kinder das Licht der Welt erblickten, waren es 1994 nur noch 766 000, also 3, 7 Prozent weniger; hingegen wurden 879 000 Sterbefälle registriert. Im gleichen Jahr gab es 438 000 Eheschließungen. Ungeachtet aller Prognosen über die Veränderungen des Familienbildes verteilten sich 1994 die 9, 4 Millionen mit der häuslichen Kindererziehung befaßten Erwachsenen auf folgende Gruppierungen: 84 Prozent Ehepaare, 12 Prozent Alleinerziehende und 4 Prozent nichteheliche Lebens-gemeinschaften.

Daß ein Prozeß der allmählichen Ausdünnung der Bevölkerung bislang nicht sichtbar wird, liegt an der permanenten Einwanderung von Gastarbeitern, Aussiedlern und Flüchtlingen, deren Zustrom offensichtlich von den Parteien als Beitrag zur Lösung des Bevölkerungsproblems -der Überbevölkerung im Ausland, der Überalterung hierzulande -betrachtet wird. Seit 1964, spätestens seit 1967, sank als Ergebnis der heute vorrangigen Familienplanung und Geburtenkontrolle die von den Demographen so bezeichnte zusammengefaßte Fruchtbarkeitsrate -die Durchschnittszahl der in einem Staat von jeder Frau geborenen Kinder -in besorgniserregende Tiefen. In den siebziger und achtziger Jahren oszillierte diese Zahl in der Bundesrepublik zwischen 1, 3 und 1, 6 und stellte weltweit eine der niedrigsten Fruchtbarkeitsraten dar. Um die Bevölkerung eines Landes konstant zu halten, müßte bei Ausklammerung der Ein-und Auswandererquoten jede Frau im Durchschnitt 2, 3 Kinder gebären. In der DDR, die -im Gegensatz zur Bundesrepublik -erhebliche politische Anstrengungen unternahm, um die Zahl der Kinder zu erhöhen, lag die Fruchtbarkeitsrate jedoch nur geringfügig höher. Wegen der trotz Mauerbaus nicht völlig zu unterbindenden „Republikflucht“ und der nur sehr kleinen Gruppe der Einwanderer schrumpfte -für eine wache Öffentlichkeit unübersehbar -die Bevölkerungszahl in der DDR jedoch noch stärker als in der Bundesrepublik. Dafür dürfte weniger der im Weltmaßstab kaum ins Gewicht fallende geringere Lebensstandard als vielmehr das politisch-gesellschaftliche Lebensumfeld verantwortlich gewesen sein.

Für die in diesem Beitrag zu explizierende (Über-) Lebensfrage sind die pauschalen Rückgänge der jährlichen Geburtenraten durchaus bemerkenswert; noch augenfälliger sind jedoch die drastischen Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen. Das arithmetische Mittel der Geburten je Ehepaar ist nach der Vereinigung 1989 in den fünf neuen Bundesländern dramatisch auf 0, 7 gesunken -ein Phänomen, das es bisher auf der Welt noch nicht gegeben hat. 1989 wurden etwa 199 000 Kinder in der DDR geboren; 1993 waren es auf diesem Territorium nur noch 80 500! Über die Gründe für diesen rapiden Geburtenrückgang kann man lange spekulieren: Kenner der Szene sprechen von einem Neuland, das die Bewohner der ehemaligen DDR betraten, einem Kulturschock, den sie durch das ihnen abrupt übergestülpte fremde Rechts-und Wirtschaftssystem mit einer gänzlich anderen Werte-struktur erlitten hätten, der vielen den Mut nahm, Kinder in die Welt zu setzen, übrigens auch zu heiraten oder sich scheiden zu lassen. Andere verweisen auf die plötzliche umfangreiche Arbeitslosigkeit, den Wegfall vor allem einer geregelten Kleinkinderbetreuung, die Unüberschaubarkeit der Zukunft, reizvolle Alternativen wie Konsumgüter, Immobilien und Reisen in alle Welt.

Resümierend kann man gleichwohl feststellen, daß in den letzten Jahrzehnten innerhalb der politischen Führung der DDR sehr viel nachdrücklicher die Überzeugung verbreitet war, daß die Zukunft eines Staates wesentlich von der Zahl seiner Kinder abhängt, als dies in der öffentlichen Meinung und der Politik der Bundesrepublik der Fall gewesen ist. Es wäre überspitzt, der Bundesrepublikeine kinderfeindliche Einstellung nachzusagen; wohl aber muß man ihr eine Haltung attestieren, die auf die Mißachtung und Vernachlässigung von Kindern hinausläuft, da sie Kinder gewissermaßen als „Privatvergnügen“ ihrer Eltern betrachtet. Ein gesellschaftliches Bewußtsein -bei allen sonstigen Themen „hochgepriesen“ -fehlte und fehlt hier weitgehend.

II. Die Familie in der DDR

Quelle: Fünfter Familienbericht, Deutscher Bundestag, Drucksache 12/7560, S. 51 Nichtehehliche Lebensgemeinschaften nach Familienstand (1991, in Prozent)

Nicht erst jetzt, sondern schon früher verglich man die Stellung der Familie und die Bedingungen der Kindererziehung in der ehemaligen DDR und in der Bundesrepublik. Aus der in der Regel früheren Familiengründung (bei gleichfalls früherer Erwerbstätigkeit), dem geringeren Anteil Lediger und dem dichter gespannten Netz institutioneller Kinderbetreuung wurde mitunter eine familien-freundlichere Einstellung der politischen Führung der DDR gefolgert, wenn auch -vornehmlich in den Städten -ein geringerer Anteil an Haus-oder Wohneigentum wie auch an Wohnfläche pro Person zur Verfügung stand. Kritiker im Westen hielten dem entgegen, die vorschulischen Einrichtungen seien vornehmlich aus ideologischen Motiven geschaffen worden, weil die ökonomischen Zwänge eine nahezu vollständige Integration der Frauen und Mütter in das Erwerbssystem erforderten.

Ein Vergleich der Familienpolitik in beiden deutschen Staaten fördert Ähnlichkeiten und Unterschiede zutage Ähnlichkeiten sind erkennbar bei -der Förderung der Ehe und der aus ihr erwachsenden Familie als Institution (die Förderung setzte allerdings in der DDR früher ein und wurde konsequenter betrieben); -der Zielsetzung, eine Vereinbarkeit von Familienleben und Erwerbstätigkeit (insbesondere der Frauen) anzustreben; -der nur halbherzigen Förderung einer stärkeren Rollenflexibilisierung beider Geschlechter.

Gravierende Differenzen sind sichtbar bei -dem Verhältnis zwischen Familie und Staat. In der Bundesrepublik wird der Familie weitgehend Autonomie eingeräumt; in der DDR war der Einfluß gesellschaftlicher Organisationen und der Politik auf die Familie relativ groß; -der diych eine starke Arbeitsangebotsorientierung charakterisierten DDR-Familienpolitik, die vorwiegend den Mehrkinderfamilien eine umfassendere Unterstützung zukommen ließ; -dem Versorgungsgrad der Kinder, bei dem eine deutlich bessere Kleinkinderbetreuung in der DDR gewährleistet war.

Der Prozentsatz der Kindergartenabsolventen lag zwar bei den Fünfjährigen, ein Jahr vor dem Schuleintritt, mit über 95 Prozent in der DDR und der Bundesrepublik ähnlich hoch (bei ansonsten regionalen Unterschieden im Westen), doch war die Quote bei den Drei-und Vierjährigen in Westdeutschland erheblich geringer. Durch den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab Sommer 1996 soll dieser Rückstand überwunden werden. Unterschiedlich waren auch die Lebensverhältnisse bei Kindern bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres: Durch die Inanspruchnahme des sogenannten Babyjahres blieben in der DDR zuletzt rund 99 Prozent der Kinder im ersten Lebensjahr bei ihrer Mutter, hingegen besuchten bereits im dritten Jahr etwa 90 Prozent eine Kinderkrippe. Ein vergleichbares Angebot gab es in der Bundesrepublik nicht! Seltene Tagesbetreuungsstätten für die Jungen und Mädchen vor Vollendung des dritten Lebensjahres wurden, wie Klaus Hurrelmann schreibt, von der Bevölkerung als „Sozialhilfe für schwache Familien“ diskriminiert Der Anteil Lediger und Geschiedener mit Kindern im eigenen Haushalt war im Bereich der neuen Bundesländer weitaus größer als im Westteil Deutschlands, ebenso die Zahl der von Partnerwechseln und Trennungen betroffenen Kinder.

Ost-West-Unterschiede ergaben sich ferner hinsichtlich des Lebensortes der heranwachsenden Kinder: Junge Menschen im Westen leben oft noch bei ihren Eltern, häufiger freilich als Singles in Appartments, indes herrschte bei den in der Berufsausbildung oder im Studium stehenden Männern und Frauen in der DDR die Internatsunterbringung vor.

Bei im Detail mitunter gewiß berechtigter Kritik muß man doch das vorschulische Betreuungssystem in der DDR als dem der Bundesrepublik überlegen einstufen. Es wäre reine Spekulation, bei der Krippenerziehung ein häufigeres Auftreten von Sozialisationsschäden bei den Jungen und Mädchen anzunehmen als bei der Betreuung in den Familien. Dennoch tat sich angesichts der durch Umfragen immer wieder bestätigten hohen Erwartungen der jungen Leute an die Ehe in beiden deutschen Staaten gerade in der DDR eine tiefe Kluft zur Familienrealität auf. Entgegen manchen Hoffnungen haben die frauen-und familienfreundlichen Angebote in der DDR die herkömmliche geschlechtsspezifische innerfamiliäre Arbeitsteilung und Rollenzuweisung noch verstärkt. Das traf die durch die häusliche und berufliche Doppelbelastung ohnehin überstrapazierten Mütter um so härter, weil ihnen auch noch die arbeitserleichternden technischen Ausstattungen in den Wohnungen fehlten, über die die meisten Ehepaare im Westen verfügten. In der DDR lagen die Ehescheidungsziffern wesentlich höher als in der Bundesrepublik, wobei der Antrag dazu meist von den Frauen ausging. Die Weigerung der Männer, sich an der Hausarbeit und der Kindererziehung zu beteiligen, war als Scheidungsgrund anerkannt. Aus dieser Entwicklung läßt sich entnehmen, daß auch dort die Frauen gegen die traditionelle Arbeitsteilung aufbegehrten und die Ehe als Versorgungsinstanz an Bedeutung verlor.

III. Zum „Stellenwert“ eines Kindes in der Ehe

Quelle: Fünfter Familienbericht, Deutscher Bundestag, Drucksache 12/7560, S. 51 Privathaushalte 1957, 1982 und 1991 nach ihrer Zusammensetzung (in 1000)

Anders als in der DDR, in deren Endphase sich immerhin noch rund 99 Prozent der Frauen unter 35 Jahren ein Kind wünschten, wiewohl etwa 30 Prozent der werdenden Mütter nicht verheiratet waren, wird mittlerweile der Anteil der Frauen in der Bundesrepublik, die bewußt kein Kind haben wollen, auf ein Drittel geschätzt Der Hauptgrund dafür dürfte in der Doppelorientierung des weiblichen Lebenskonzepts liegen, das Erwerbstätigkeit und Mutterschaft miteinander in Einklang bringen möchte, aber bei den hierzulande im europäischen Vergleich nach wie vor schlechten Kinderbetreuungsangeboten mit Wahrscheinlichkeit zu einem Berufskarriereknick, wenn nicht sogar -abbruch führt.

Das soziale Phänomen der bewußt geplanten kinderlosen Ehe ist ein Novum der letzten drei Jahrzehnte, insofern die Verbreitung von Antikonzeptiva jedem Paar diese Entscheidungsalternative eröffnete. In der Vergangenheit wurde die überwiegend medizinisch bedingte Kinderlosigkeit zumeist der Frau angelastet, die zudem noch oft von der Gesellschaft geächtet wurde. Heute hingegen gelten sogenannte kinderreiche Familien mit drei und mehr Kindern in manchen Kreisen als asozial.

Was die Zahl kinderloser Ehen anbelangt, wirken sich außer den genannten Faktoren u. a. folgende Aspekte ungünstig aus: -eine zunehmende Bevölkerungsdichte im Wohngebiet; das bedeutet u. a. fehlende bzw.

teure Wohnungen; -der Anstieg des Heiratsalters der Frauen;

-als zunehmend problematisch wahrgenommene ökologische und soziale Umweltbedingungen;

-das Absinken des monatlichen Nettoeinkommens sowie -negative Zukunftserwartungen (Überbevölkerung, Kriege, Kriminalität).

Den Entschluß zur Kinderlosigkeit darf man sich in der Regel nicht als bewußte und gewollte lebenslange Entscheidung der Ehepartner vorstellen. Rosemarie Nave-Herz hat empirisch ermittelt: Ein großer Teil der Frauen mit starker Berufs-orientierung gerät in ihrem Lebensplan gleichsam in einen Konflikt zwischen gleichrangigen Optionen der Lebensgestaltung und wählt dabei nach der Eheschließung eine befristete Kinderlosigkeit Die Frauen schieben die Erfüllung des Wunsches nach Kindern erst einmal auf, um schließlich im weiteren Verlauf der Ehebiographie festzustellen: Aus der temporären Entscheidung ist mehr oder weniger unfreiwillig eine lebenslange geworden. Da über 90 Prozent der kinderlosen Ehefrauen einer Erwerbstätigkeit nachgehen, heißt das aber, daß nicht primär die materiellen Gegebenheiten die verursachende Bedingung für den Geburtenrückgang in der Bundesrepublik sind, sondern die beruflichen Karriereambitionen moderner Frauen bzw. eine mangelhafte Familienpolitik in Staat und Gesellschaft, die Beruf und Familie nicht in Übereinstimmung bringen kann.

Den Verzicht auf „Nachkommen“ wird man schwerlich monokausal erklären können. Es sind oft weniger finanzielle als vielmehr persönlichkeitsspezifische Gründe, die Ehefrauen zur Erwerbsarbeit veranlassen. Hier muß jedoch auch nach Schichten sowie nach Einkommensklassen differenziert werden. Ist das Familieneinkommen gering, sehen sich junge Mütter aus ökonomischen Gründen nach dem Auslaufen des Erziehungsgeldes gezwungen, ihre Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen. In anderen Fällen glauben Ehefrauen, zur Erhaltung ihres Selbstwertgefühls nicht längere Zeit auf ihre Berufsarbeit verzichten zu können. Sie empfinden die Kommunikation mit einem Kleinkind als unzureichend, gewinnen hingegen aus ihrer Erwerbstätigkeit ein hohes Maß an Zufriedenheit, die, wie sie es sehen, letztlich auch ihrem Kind zugute kommt. „Erst die Kontaktmöglichkeiten im Berufsleben vermitteln den Frauen das Gefühl, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und ein eigenständiger Mensch zu sein.“

Dennoch bleibt ihre Einstellung ambivalent, insofern ihre starke Berufsorientierung mit einer hohen Familienorientierung, einer traditionellen Mutter-Rollen-Konzeption, einhergeht. Das heißt, ein größerer Teil der Frauen in den alten Bundesländern vertritt die Auffassung, nur dann eine gute Mutter sein zu können, wenn sie nicht mehr (voll) erwerbstätig bleiben. Dieses Mutter-Rollen-Verständnis steht aber im Gegensatz zu ihrem Berufs-engagement. Bei den „befristet Kinderlosen“ rangiert der Berufsbereich unter den Lebenspräferenzen nach dem Eheleben an zweiter Stelle Erstaunlich ist die Einstellungskombination vieler Frauen, einerseits sozusagen auf der progressiven Ebene für lebenslange Erwerbstätigkeit zu votieren, andererseits auf der eher konservativen Ebene die „totale Mutterrolle“ zu befürworten. In dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit drückt sich der Wunsch aus, beides miteinander zu vereinbaren. Da dies aber unter den obwaltenden Verhältnissen nicht oder nur schwer möglich ist, fiel die Entscheidung immer mehr zugunsten des Berufes aus. Damit sind wir bereits bei dem Wertewandel, der in den letzten Jahrzehnten mit zu dem Rückgang der Geburten in der Bundesrepublik geführt hat.

IV. Veränderungen in der Werterangfolge

Bereits zu Beginn der achtziger Jahre hat Max Wingen die Veränderungen skizziert, die sich in unserer Gesellschaft in der Einstellung zur Familie und zu Kindern abzeichneten. Danach -gehören Kinder keineswegs mehr zu den'

Selbstverständlichkeiten verheirateter Menschen, sondern konkurrieren mit alternativen Lebensentwürfen, die aus einem veränderten Selbstverständnis der Partner resultieren;

-verlieren gesamtgesellschaftliche und religiöse Sinnbezüge zugunsten einer Verhaltensorientierung an überschaubaren sozialen Bezugs-gruppen an Bedeutung;

-ist ein ökonomischer Rollenverlust des Kindes in der Familie zu beobachten. Familien mit Kindern haben eine unzureichende „Lobby“;

-können „Vorteile“ von Kindern schon mit einem, allenfalls mit zwei Kindern realisiert werden; eine größere Zahl kollidiert mit dem Wunsch der Ehepartner nach einem größeren persönlichen Entfaltungsspielraum;

-wirkt sich das Schlagwort von der Emanzipation der Frau kinderablehnend aus, weil deren Selbstverwirklichung gewöhnlich auf außer-häusliche Erwerbstätigkeiten bezogen wird;

-lassen sich viele Erwachsene von wenig kinderfreundlichen Rahmenbedingungen beeindrukken; -dominiert in unserer Gesellschaft ein Sicherheitsstreben sowie Abneigung gegenüber längerfristigen persönlichen Risiken;

-sind die verbesserten Möglichkeiten der Empfängnisverhütung die Normalsituation, so daß die Partner quasi eine bewußte Entscheidung für ein Kind treffen müssen.

Der die Gegenwart reflektierende Zeitgenosse kann die Auflistung ohne Mühe fortsetzen. So wird der Mutter, die sich gänzlich ihrer Familie widmet, die Anerkennung der Hausarbeit von der Gesellschaft weithin verweigert. Das führt zu der paradoxen Situation, daß die gleiche Arbeit etwa im eigenen oder in einem fremden Haushalt unterschiedlich gewertet wird. Mütter suchen z. B. als Erzieherinnen eine Beschäftigung in Heimen oder Kindergärten: Die erwerbsmäßigen Verrichtungen dort verhelfen ihnen zu Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Sie beziehen ihre Selbstachtung aus der Fremdachtung, die ihnen bei der Ausübung dieser Berufstätigkeiten zufließt.

Es gibt noch einen zweiten Grund für die Geringschätzung der Hausarbeit durch die Betroffenen: Sie ist schlichtweg langweilig! Nicht wenige Berufsarbeiten sind ebenfalls monoton, doch pas-siert hier immer wieder etwas Unvorhersehbares, gibt es Kommunikation und nicht zuletzt mehr finanziellen Spielraum, was die Berufstätigen mit einer positiveren Erwartungshaltung an ihren Arbeitsplatz bindet.

Kurios erscheint auf den ersten Blick das Ergebnis einer Untersuchung von Eheschließungsjahrgängen von 1950 und 1981 Während bei den Heiratswilligen um 1950 eine Vielzahl von Gründen für diesen Entschluß auszumachen ist, war bei den Eheschließungen 1980 allein der Kinderwunsch der Anlaß. Damit stieg das Ehescheidungsrisiko, denn wenn es nur noch einen Grund für die Heirat gibt, erfolgt mit seinem Wegfall eine Infragestellung der Ehe.

Nun ist ein generelles Bekenntnis zum Kind eine Sache, die Realisierung dieses Zieles eine andere. Nach den meist schon im fortgeschrittenen Alter vorgenommenen Eheschließungen in der Bundesrepublik wird die Einlösung des Kinderwunsches aus unterschiedlichen Erwägungen zunächst aufgeschoben. Aus einer gewissen Überschätzung seiner individuellen Entscheidungskompetenz glaubt der heutige Mensch, sein Leben jederzeit selbst bestimmen zu können. Um so größer ist sein Erstaunen oder Entsetzen, wenn er plötzlich bemerkt, daß sich ein Kind aus biologischen Gründen nicht mehr einstellen will. Einige werden in der Phase der Midlife-crisis ob der Zukunftslosigkeit ihrer Ehe von Depressionen befallen.

Relativ häufig wird von zögerlichen Eheleuten auch das Argument einer sich verengenden Zukunftsperspektive vorgetragen, eine diffuse Zukunftsangst artikuliert. Dabei schrecken manche vor humanitären Begründungen nicht zurück: Es gelte, sich angesichts der weltweiten Bevölkerungsexplosion seiner Verantwortung bewußt zu bleiben, wenngleich man seinem eigenen Volk gegenüber -was den Generationenvertrag, die Rentenversicherung der Senioren anbelangt -seine doch näherliegende Verantwortung nicht sieht.

Eine solche Haltung wurde lange Zeit durch die offizielle Politik wie auch durch die veröffentlichte Meinung gestützt, die sich um Zuwandererquoten für mit Deutschen schlecht zu besetzende Arbeitsplätze sorgte, aber Anreize für mehr Geburten als nachrangig abtat -vielleicht, weil man in früheren Zeiten mit dem Zuzug ausländischer Arbeitnehmer den konjunkturellen Arbeitsmarkt regulieren konnte und das Ausland mit der gewährten Freizügigkeit zu beeindrucken hoffte, dagegen hinsichtlich einer entschlossenen Familienpolitik politischen Tabus unterlag. Es mag jedoch auch eine prinzipielle Schwäche demokratischer Staaten sein, daß Parlamentarier sich bei ihren politischen Entscheidungen auf die laufende Legislaturperiode konzentrieren und etwa Überlegungen zum Rentenaufkommen nach der Jahrtausendwende als „noch nicht spruchreif“ zurückstellen.

V. Die Pflegeversicherung als Symptom für die derzeitige familienpolitische Situation

Ein anschauliches Beispiel für die öffentliche Mißachtung bzw. Vernachlässigung der Kindererziehung stellt die vor einem Jahr in Kraft getretene Pflegeversicherung dar. Durch die Rentenreform des Jahres 1957 wurde die Altersversorgung in der Bundesrepublik zwar der Gesellschaft übertragen, indessen verblieb die Last des Kinderhabens privat bei den Eltern. Diese Auffassung, die Versorgung und Erziehung der Kinder als Privatangelegenheit einzuordnen, wird immer noch von einem großen Teil der Bevölkerung vertreten. Nach dem -in der Umweltpolitik angemessenen -Verursacherprinzip herrscht die Meinung vor, wer Kinder in die Welt setze, habe dafür auch selber aufzukommen. Weiter reicht zumeist der gedankliche Horizont nicht, und der sonst so beliebte gesellschaftliche Aspekt wird hier ausgeklammert, vielleicht nicht einmal wahrgenommen.

Das verabschiedete Pflegeversicherungsgesetz verstößt m. E. in mancher Hinsicht gegen das grundgesetzlich postulierte Gleichbehandlungsgebot und den Schutzauftrag gegenüber der Familie (GG Art. 5). Denn durch die Gleichstellung aller Bürger bei der Beitragsbemessung geschieht den Eltern, die unter finanziellen Opfern mehrere Kinder großgezogen haben, mit deren Rentenabgaben jetzt die Rentenzahlungen an Fremde geleistet werden, fundamentales Unrecht. Diese Ungerechtigkeit wird zwar durch den bisher steuerfinanzierten Kinderlastenausgleich geringfügig abgeschwächt, aber keineswegs beseitigt.

Bei der Neufassung des Ehegattensplittings in den siebziger Jahren ging der Gesetzgeber noch von der traditionellen Vorstellung aus, daß der Sinn der Ehe nicht zuletzt in der Erziehung der Kinder und damit in der Bestandssicherung der Gesellschaft wie auch der Renten liege. Möglicherweise konnte er nicht voraussehen, daß im Zuge der modernen Geburtenkontrolle Kinderlosigkeit von immer mehr Paaren absichtsvoll in ihren Lebens-plan hineingenommen wurde. Zwar mag es auch Gründe geben, kinderlose Ehen zu fördern, doch muß die Frage gestattet sein, ob dazu ausgerechnet das Splitting adäquat ist. Kritiker bezeichnen -vielleicht überspitzt -die inzwischen von rund 20 Prozent der Verheirateten gewählte Kinderlosigkeit als „Egoismus zu zweien“. Eine Rücknahme des Ehegattensplittings für Kinderlose ist allerdings politisch wohl kaum mehr durchsetzbar.

Daß so etwas wie eine Pflegeversicherung bei uns überhaupt notwendig wurde, liegt im wesentlichen an der Kinderarmut und der damit einhergehenden Verlagerung der Pflegelasten in sogenannte Sozialhilfeetats. Ähnlich wie manche Menschen bereits in der Geldmenge eines Staates den Wohlstand der Bürger garantiert glauben, sehen heute schon einige allein im Anstieg des Sozialetats ihre Altersversorgung gesichert. Hier liegt ein kostspieliger Denkfehler vor!

Solange Altenpflege ganz überwiegend in den Familien oder von Ordensfrauen für Gotteslohn geleistet wurde, war ihre Organisation bzw. ihre Finanzierung kein Thema. Erst heute erkennen viele den Opfermut selbstloser Menschen, die ihre Angehörigen bis zu deren Tod zuhause betreut haben. Mit dieser Einsicht wird aber auch deutlich, daß eine solche Pflege in der Zukunft ohne die heutigen Familien mit Kindern unbezahlbar und unrealistisch ist. Wer das familiäre Unterhaltsrecht abschaffen will -wie es auf Juristentagen diskutiert wird gibt sich gemeinschaftsideologischen Illusionen hin, bei denen ihm die Mehrheit der Bevölkerung nicht folgen kann. Jeder Mensch ist in seinen Möglichkeiten begrenzt; er kann einigen helfen, nicht jedoch allen. Und es ist plausibel, daß er zunächst für ihm nahestehende Menschen sorgen möchte, nicht jedoch für eine amorphe Gesellschaft, zu der er keine persönliche Beziehung aufbauen kann, für die er sich nicht zuständig fühlt.

Die Pflegeversicherung in ihrer heutigen Form begünstigt massiv den von jeder Verantwortung entbundenen Kinderlosen, der sich -solange er selber noch nicht zum „Pflegefall“ wird -in einer freiheitlichen Gesellschaft „selbstverwirklichen“ will. Sie übersieht, daß eine humane, persönliche Pflege auf Dauer nur in einer familienfreundlichen Gesellschaft durch die jeweils nachwachsende Generation gewährleistet werden kann.

Tatsächlich aber werden Familien durch die Pflege-versicherung in dreifacher Weise benachteiligt: 1. Eltern erbringen durch ihre Kinder die „unabdingbare Vorleistung“ für die zukünftige Pflege auch der Kinderlosen. 2. Mütter und Väter pflegen, nachdem einer von ihnen wegen der Erziehung der eigenen Kinder wenigstens eine Zeitlang auf Erwerbsarbeit verzichtet hat, viel öfter und länger ihre eigenen Eltern als etwa Alleinstehende. 3. Eltern bilden wegen ihrer eigenen Kinder und des damit zumeist gegebenen Familienzusammenhalts ein wesentlich kleineres Risiko für die öffentlichen Pflegekassen als Singles und kinderlose Paare.

Es ist eine inkompatible Situation, die Familien bei der Erziehung und Versorgung ihrer Kinder weitgehend allein zu lassen, bei der Betreuung der hilfsbedürftigen Alten hingegen ihre Solidarität, die Einheit der Gesellschaft zu beschwören. Wenn sich ein wachsender Teil der Bevölkerung den Luxus eines unabhängigen, kinderlosen Lebens leistet, ist es überfällig, insbesondere diese Bürgerinnen und Bürger zu Gemeinschaftsleistungen heranzuziehen, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit im Alter für sich selbst beanspruchen (müssen). Will die sich erweiternde kinderarme Gesellschaft eine Überlebenschance haben, müßte die finanzielle Verantwortung bei der Pflegeversicherung aus Gründen einer ausgleichenden materiellen (wie ideellen) Gerechtigkeit überwiegend den Kinderlosen übertragen werden.

VI. Freizeit statt Familie

In allen westlichen Industrieländern nimmt die Kinderlosigkeit zu, doch verzeichnete die Bundesrepublik den größten Geburtenrückgang. Für die meisten Männer und Frauen unter 30 sind Freunde, Sport und Hobbies wichtiger als Ehe, Kinder und Familiengründung, wie es der Freizeit-forscher Horst W. Opaschowski ermittelte Die dichotomische Einstellung „Freizeit oder Familie“ besagt, daß zahlreiche Bundesbürger Kinder und einen freizeitorientierten Lebensstil als beliebige Alternativen einschätzen. Durch die u. a. von den Massenmedien hochgespielte Freizeitkultur, die faktisch ein grenzenloser Freizeitindividualismus ist, erfährt die Familie, in der die Kinder auf die Zuwendung ihrer Eltern angewiesen sind, eine Abwertung. Mancher Ehepartner fühlt sich herab­ gesetzt, wenn sich -nach seiner Ansicht -die junge Mutter allzu intensiv dem Baby widmet. Bis auf den heutigen Tag entsteht gelegentlich die seltsame Situation, daß Männer, die vor dem Eintreffen des ersten Kindes ihren Frauen in der Wohnung leidlich halfen und auch einiges von der Gleichberechtigung hielten, sich danach gänzlich von der Hausarbeit zurückziehen und sich auf diese Weise „für ihre Vernachlässigung revanchieren“. Persönliche Freizeitinteressen sind höchster Lebensgenuß; ihre Einschränkung wird als drastische Senkung der Lebensqualität empfunden.

Das faszinierende Ziel „Selbstverwirklichung“ wird je nach Naturell und Interesse der Menschen inhaltlich mit Aktivitäten in unterschiedlichen Lebensbereichen gefüllt, eigenartigerweise aber nur selten auf familiäre Aufgaben übertragen. Ein aktives Familienleben, die Weckung der Lebensfreude und der „Liebe zur Welt“ in den Kindern, ihre Ermutigung, die Stärkung ihres Selbstwertgefühls, damit sie als engagierte, sozial sensibilisierte Söhne und Tochter ihr Leben meistern -das alles ist für sehr viele in unserer so fortgeschrittenen Gesellschaft mit ihrer „Betroffenheit“ für alles Mögliche offenbar keine Selbstverwirklichung. Besonders bei Eheleuten, die jung geheiratet haben (und vielleicht befürchten, „das Leben zu verpassen“) und/oder als ausgiebige Fernsehkonsumenten stark von der öffentlichen Meinung abhängen, herrscht diese Ansicht vor. Wer indes bei der Hektik unserer Zeit Ruhe für eine (Lebens-) Zwischenbilanz findet, kommt zu einem anderen Selbstverständnis: Er sieht auch die positive Seite, eine „Spur“ in der Welt zu hinterlassen, nimmt seine Elternschaft ernst und akzeptiert den sich daraus ergebenden veränderten Lebensstil, wobei etwa auf spontane Entschlüsse (z. B. Theater-oder Gaststättenbesuche) verzichtet werden muß und die außerhäuslichen Beschäftigungen mittelfristig und teilweise organisationsaufwendig zu regeln sind.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen, sei hervorgehoben: Der Trend zur möglichst dauerhaften Zweisamkeit ist in der Bundesrepublik stärker denn je, der neuralgische Punkt scheinen die Kinder zu sein. Noch im Kaiserreich war -zumeist aus materiellen Gründen -nur etwa jeder zweite verheiratet. In der Gegenwart sind rund 58 Prozent der Bürger zwischen dem 18. und dem 32. Lebensjahr ledig, aber mehr als 80 Prozent zwischen dem 33. und dem 55. Lebensjahr verheiratet; zählt man noch die Gruppe der unverheiratet zusammenlebenden Paare hinzu, liegt der Prozentsatz der Paarbeziehungen bei über 90 Prozent.

Den in der pädagogischen Diskussion mitunter eindringlich angemahnten Sozialisationsschäden von Einzelkindern, Scheidungswaisen usw. ist mit Vorsicht zu begegnen. Einen Ausgangspunkt zur Erhellung der Situation liefert der sogenannte Mikrozensus, eine jährlich durchgeführte Repräsentativerhebung auf der Grundlage einer Ein-Prozent-Stichprobe. Da es sich um eine rein quantitative Untersuchung handelt, sind die Ergebnisse interpretationsbedürftig

Die Auswertung des Mikrozensus aus dem Jahre 1991 zeigt deutlich, daß ungeachtet der „Klagelieder vom Zerfall der Familie“ knapp 90 Prozent der ca. 15 Millionen bundesrepublikanischer Kinder in sogenannten vollständigen Familien bei Mutter und Vater aufwachsen, auch wenn es sich nicht in jedem Fall um die leiblichen Elternteile handelt. Von den restlichen 1, 5 Millionen in Ein-Eltern-Familien lebenden Kindern bilden neun Zehntel mit ihrer Mutter eine Lebensgemeinschaft. Die größte Gruppe der alleinerziehenden Mütter ist geschieden, ihr folgt die Gruppe der ledigen Mütter, dann der Anteil verwitweter Frauen mit Kindern Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang eine „Vererbung“ des Scheidungsrisikos, das bei Töchtern zwar nur eine geringe, bei Söhnen hingegen eine um so größere Rolle spielt

Die bisweilen vertretene Auffassung, daß in der Bundesrepublik inzwischen über 50 Prozent der Kinder ohne Geschwister heranwachsen, ist wahrscheinlich viel zu hoch gegriffen. Eine genauere Sondierung ergab, daß etwa jedes fünfte Kind als Einzelkind aufwächst, ohne damit zwangsläufig mit Sozialisationsmängeln behaftet zu sein Sozialisationsdefizite wie eine starke Elternfixierung, Kontaktschwäche und Vereinsamung treten in der Regel erst dann auf, wenn die Eltern sich abschotten und außerfamiliale Beziehungen fehlen Die Vier-Kopf-Familie scheint derzeit mit einem Anteil von über 50 Prozent die häufigste Familienform zu sein.

VII. Kinder gegen Egozentrik

Ungebrochen ist hierzulande also das Bestreben zur Partnerschaft, das allerdings gekoppelt ist mit idealistischen Harmonievorstellungen und hohen Leistungsanforderungen. Die gestiegenen (Selbst-) Ansprüche dürften ein Grund für die Reduktion der Kinderzahl in der Familie sein Mit überhöhten Erwartungen an das Zusammenleben sind freilich Konflikte und Frustrationen „vorprogrammiert“. Diese Erwartungen richten sich in großen Bevölkerungskreisen vor allem auf die Kinder, um deren optimale Förderung man sich unentwegt müht. Mutter und Vater scheuen dazu keine Anstrengung, wie ein Blick in den Terminkalender des Sohnes oder der Tochter schnell erkennen läßt, und wollen dabei manchmal nicht wahrhaben, daß nicht alles erreichbar ist. Die „Pädagogisierung der Kindheit“ verlangt von den Eltern, sich ständig neu zu informieren und zu orientieren; der dazu erforderliche Organisationsaufwand ist so umfangreich, daß er bei mehr als zwei Kindern kaum noch zu leisten wäre -das ist ein nicht zu übersehender Faktor für den Geburtenrückgang.

Ein Bestseller der sechziger Jahre formulierte treffend: „Kinder fordern uns heraus“ In ihrer zunächst gegebenen Hilflosigkeit reißen sie uns aus unserem Egoismus, immunisieren sie uns gegen die Versuchung des Hedonismus, beanspruchen sie unsere gegen Fehlentwicklungen nicht immer gefeite „werktätige Liebe“. Fehlentwicklungen zeichnen sich ab, wenn Eltern ihr Kind auf ein Ziel fixieren, das es selbst gar nicht erreichen möchte; wenn sie ihr Kind überfordem; wenn sie es nicht „loslassen“ können. Fehlentwicklungen liegen vor, wenn Söhne und Töchter Opfer des Ehrgeizes ihrer Eltern werden; wenn die Erziehungsberechtigten sie bedrängen, die Lebensziele zu erreichen, die ihnen selbst vorenthalten geblieben sind.

Die Anleitung, Ermutigung und Unterstützung der eigenen Kinder ist die soziale Aufgabe, die wir Menschen auf Grund unserer Disposition am leichtesten annehmen können; kindliche Unbefangenheit und Vertrauensseligkeit befreien uns aus unserer Selbstverstrickung und Ichbefangenheit. Wann machen wir schon die Erfahrung, daß jemand den schwereren Schritt wählt, hingegen den leichteren meidet? Wie können wir von jemandem erwarten, egoistische Motive der Selbstsucht und Bequemlichkeit zu überwinden und eine soziale Einstellung zu entwickeln, wenn er in einer Ehe nicht einmal den Mut aufbringt, Vater oder Mutter zu werden?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Leitsätze und Empfehlungen zur Familienpolitik im vereinigten Deutschland (Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit), Stuttgart 1991, S. 20 ff.

  2. K. Hurrelmann, Eine gute Schule ist der beste Beitrag zur Jugendpolitik, in: Humane Schule, (1993) 5, S. 17.

  3. Vgl. K. Bollert, Die . wiedervereinigte Familie’. Zur Dominanz herkömmlicher Familienleitbilder, in: K. Bollert/H. -U. Otto (Hrsg.), Die neue Familie, Bielefeld 1993, S. 112125.

  4. Vgl. R. Nave-Herz, Kinderlose Ehen, Weinheim -München 1988, 8. 44 ff.

  5. H. Krüger/C. Bom/C. Einemann/S. Heintze/H. Saifi, Privatsache Kind -Privatsache Beruf, Opladen 1987, S. 45.

  6. Vgl. R. Nave-Herz (Anm. 4), S. 53 ff.

  7. Vgl. M. Wingen, Kinder in der Industriegesellschaft -wozu?, Zürich 1982.

  8. Vgl. R. Nave-Herz, Bedeutungswandel von Ehe und Familie, in: H. -J. Schulze/T. Mayer, Familie: Zerfall oder neues Selbstverständnis, Würzburg 1987, S. 18-27.

  9. Vgl. H. W. Opaschowski, Freizeitökonomie. Marketing von Erlebniswelten, Opladen 1993.

  10. Die amtliche Statistik des Mikrozensus bietet zwar ein grobes Raster über die unterschiedlichen Lebens(gemeinschafts) formen in der Bundesrepublik, bedarf jedoch der Ergänzung, wenn auch qualitative Aussagen etwa über die „gelebten Beziehungen“ hinzukommen sollen. Beim Studium des sogenannten „Familien-Survey“ „Die Familie in Westdeutschland“, herausgegeben vom Deutschen Jugendinstitut, München, unter Leitung von Hans Bertram (Opladen 1995) gewinnt der Leser ein positiveres Bild. Beispielsweise leben die gut, 10 Prozent in Einpersonenhaushalten wohnenden Menschen keineswegs so isoliert und kontaktarm, wie mancher vermutet, sind die Ledigen mit Kind nicht in die Beziehungslosigkeit abgedriftet, sondern haben zu 75 Prozent einen Lebenspartner, und bilden nicht nur 4 Prozent, wie es der Mikrozensus ausweist, sondern rund 21 Prozent einen Mehrgenerationenhaushalt, wenn man die im gleichen Haus oder in der Nähe lebenden Angehörigen mit durchaus intensivem familialem Kontakt hinzurechnet.

  11. Vgl. G. Bellenberg, Aufwachsen in dieser Zeit. Die Familiensituation von Kindern und Jugendlichen, in: Die Deutsche Schule, 87 (1995) 3, S. 313-326.

  12. Vgl. R. Nave-Herz/D. Krüger, Ein-Eltern-Familien, Bielefeld 1992, S. 14.

  13. Vgl. A. Diekmann/H. Engelhardt, Die soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, in: Zeitschrift für Soziologie, 24 (1995) 3, S. 215-228.

  14. Vgl. G. Bellenberg (Anm. 11), S. 317 f.

  15. Vgl. T. Kurthey, Einzelkinder. Chancen und Gefahren im Vergleich zu Geschwisterkindern, München 1988.

  16. Vgl. R. Nave-Herz, Familie heute, Darmstadt 1994, S. 122.

  17. Vgl. R. Dreikurs, Kinder fordern uns heraus, Stuttgart 1966.

Weitere Inhalte

Herbert Susteck, Dr. phil., geb. 1938; Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Politologie und Theologie; Dozent an der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Veröffentlichungen zu aktuellen bildungs-und gesellschaftspolitischen Fragen in der Bundesrepublik.