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Christliche Sozialethik und Wirtschaftsethik | APuZ 51/1995 | bpb.de

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APuZ 51/1995 Die Moderne, der Markt und die Moral Christliche Sozialethik und Wirtschaftsethik Christliche Sozialethik und Wirtschaftsethik Christliche Sozialethik und Wirtschaftsethik Sozialethik, Marktwirtschaft und Gemeinsinn

Christliche Sozialethik und Wirtschaftsethik

Joachim Wiemeyer

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Zusammenfassung

In der kirchlichen Sozialverkündigung wie in der wissenschaftlichen Sozialethik hat die wirtschaftsethische Reflexion eine lange Tradition. Sie wird gegenwärtig im Konsultationsprozeß der beiden Kirchen aktualisiert. Für wichtige sozioökonomische Kategorien (Arbeit, Eigentum, Option für die Armen) sowie eine Relativierung der Bedeutung der ökonomischen Dimension für das menschliche Leben kann die christliche Wirtschaftsethik auf biblische Grundlagen zurückgreifen. Für die wirtschaftsethische Reflexion der Gegenwart kommt der Ordnungsethik eine dominierende Rolle zu. Jede Wirtschaftsordnung bedarf der gesellschaftlichen Legitimation, die daran zu messen ist, daß ihr möglichst alle, vor allem die schwächsten Gesellschaftsmitglieder, zustimmen können. Dementsprechend müssen innerhalb der Wirtschaftsordnung die grundlegenden ökonomischen Institutionen (Markt und Wettbewerb, Arbeitsordnung, Eigentum, Sozialstaat, ökologische Ordnung, Staatstätigkeit) ausgestaltet werden. Ein hohes Ethos der einzelnen Bürger senkt die gesellschaftlichen Transaktionskosten. Die gravierendsten Ordnungsdefizite bestehen im Bereich der Weltwirtschaftsordnung, wo erhebliche Reformen für mehr Gerechtigkeit erforderlich sind.

I. Einleitung tum immer nur nach seinem Willen nutzen. Konkretisiert wird diese Grundposition im Alten Testament mit der gerechten Verteilung des Bodens, der beim Einzug Israels ins Gelobte Land verlost wurde, und der nicht endgültig verkauft werden darf, sondern später einmal rückzuübertragen ist. Weiterhin gibt es ein Recht auf Mundraub, ebenso wie das Recht auf die Erntenachlese der Armen und die Verpflichtung für Bessergestellte, diese zu unterstützen.

Im Geschäftsverkehr gilt die Grundforderung der Tauschgerechtigkeit, die sich im Verbot zu betrügen, etwa falsche Gewichte und Maße zu benutzen, äußert. Ebenso hat der Arbeitgeber die Pflicht, am Ende des Arbeitstages dem Tagelöhner den vereinbarten Lohn auszuzahlen und darf diesen nicht vertrösten. Von der prophetischen Sozialkritik bei Arnos wird die im Widerspruch zum biblischen Solidaritätsethos stehende Bereicherung wirtschaftlich und politisch Mächtiger auf Kosten der armen (Land-) Bevölkerung immer " wieder angeklagt. Papst Johannes Paul II. hat diese biblische Perspektive prägnant auf die Formel von der „Option für die Armen“ gebracht.

Außerdem verweist die biblische Perspektive immer auf eine Relativierung aller ökonomischen Kategorien im menschlichen Leben. Es besteht die Gefahr, daß der Mensch seine ganze Existenz der Arbeit, dem Erwerb von Einkommen, der Vermögensanhäufung und dem Konsum hingibt und damit nach christlichem Verständnis den eigentlichen Sinn des Lebens verfehlt. Diese „Relativierung des Ökonomischen“ für die Lebensordnung der Gesellschaft schlug sich im Sabbatgebot des Judentums nieder. Es hat für die gegenwärtige gesellschaftspolitische Diskussion zum Stellenwert arbeitsfreier Sonntage und ökonomisch bedingter Feiertagsstreichungen (Buß-und Bettag) praktische Relevanz und stellt einen Ort der wirtschaftsethischen Kontroversen dar, in die die Christliche Sozialethik ihre spezifische Sicht einbringt.

Eine Reihe der wirtschaftsethischen Elemente der Bibel hat heute keine Relevanz mehr wie etwa das Zinsverbot. Ebenso kann die Gütergemeinschaft der Urgemeinde heute allenfalls als Beispiel für freiwillige Zusammenschlüsse (z. B. Orden) gelten, nicht aber als Leitbild einer Eigentumsordnung für moderne Industriegesellschaften. Diese Beispiele zeigen, daß man generell vorsichtig sein muß, die biblischen Impulse auf heutige Problemstellungen unvermittelt zu übertragen.

III. Grundfragen der Wirtschaftsordnung

Eine moderne Wirtschaftsethik muß sich zunächst vor allem der Gestaltung der grundlegenden Regeln (z. B. Wettbewerbsrecht) und Institutionen (z. B. Bundesbank) der Wirtschaftsordnung widmen Dies gilt für den nationalen Rahmen, aber auch für die Europäische Union und für die globale Ebene, auf der die gravierendsten Ordnungsdefizite bestehen. Die Bedeutung der Ordnungsebene läßt sich daran ablesen, daß die Lebenssituation der Menschen in den früheren Ostblock-und den meisten Entwicklungsländern nicht von deren individueller Einstellung (etwa dem Arbeitsethos) bestimmt wird, sondern verfehlte Ordnungsstrukturen dazu führen, daß die Menschen ihr Leistungsvermögen nicht entfalten und fruchtbar einsetzen können. Solche grundlegenden Ordnungsdefizite können auch bei bester individueller Gesinnung nicht kompensiert werden, sondern bedürfen institutioneller Änderungen. Die Bedeutung des individuellen Wertbewußtseins liegt vielmehr darin, daß in Demokratien sich diese mehrheitlichen Wertüberzeugungen in institutioneilen Reformen Um­ sätzen müssen bzw. erst dazu führen, eine demokratische Ordnung zu erkämpfen. Demokratie und Rechtsstaat stellen eine unverzichtbare Vorbedingung der Wirtschaftsordnung dar, weil diese demokratisch legitimierter rechtlicher Rahmenbedingungen bedarf.

Christliche Wirtschaftsethik hat die empirisch erprobten grundlegenden Regeln und Institutionen der Wirtschaft zu vergleichen und sie nach ihren Wertmaßstäben zu beurteilen. Eine Wirtschaftsordnung muß für alle -vor allem die Schwächsten -zustimmungsfähig sein. Nach diesem Maßstab sind solche Institutionen zu fördern und über schrittweise Reformen durchzusetzen, die innovative Anstöße für eine humanere Wirtschaftsordnung verheißen. Entsprechend diesen Vorgaben sollen im Folgenden die grundlegenden Institutionen betrachtet werden.

1. Markt und Wettbewerb

In einer global immer mehr vernetzten Wirtschaft komplexer Gesellschaften sind Markt und Wettbewerb unverzichtbare und unersetzbare zentrale Steuerungsinstrumente. In der Marktwirtschaft erfolgt die Steuerung des ökonomischen Angebots durch die Konsumenten. Die Tatsache, daß mehr als die Hälfte der neu auf den Markt gebrachten Produkte sich nicht dauerhaft dort durchsetzen können, zeigt, daß es Unternehmen nicht möglich ist, im Wege manipulativer Werbung ein Produkt dauerhaft am Markt zu etablieren, zumal es ja auch kritische Gegeninformationen (Verbraucher-beratung) gibt. Durch den permanenten Anreiz zu Innovationen im Marktprozeß und die nachfolgenden Imitationen laufen dynamische gesellschaftliche Problemlösungsprozesse ab. Wie sich solche Prozesse in der Praxis auswirken, kann man z. B. am laufenden Preisverfall am PC-Markt bei gleichzeitiger Leistungsverbesserung ablesen. Individuelle Leistungsanstrengungen werden somit gesellschaftlich angeeignet.

Der Wettbewerb ist ein dezentraler Such-, Lernund Informationsprozeß, an dem sich alle Markt-teilnehmer beteiligen, und jeder kann damit entsprechend seinen Fähigkeiten zur gesellschaftlichen Problemlösung, der Knappheitsüberwindung beitragen. Wie die individuellen, , durch Eigeninteresse motivierten Anstrengungen, über den Markt koordiniert, zu einem positiven kollektiven Ergebnis führen, läßt sich an der Verarbeitung der beiden Ölpreiskrisen in den Jahren 1973 und 1979 ablesen. Die einen suchten neue Ölquellen, andere entwickelten Verfahren zur besseren Ausschöpfung vorhandener Vorräte, wiederum andere suchten nach alternativen Energieträgern, Einspartechniken wurden entwickelt, das Verbraucherverhalten änderte sich (Beispiele: Wohnungsbeheizung, Fahrweise), so daß fast jeder Marktteilnehmer aus eigenem Interesse an diesem kollektiven Problemlösungsprozeß teilnahm, der im Ergebnis zu einer Nachfragereduktion und zur Erhöhung des Angebots und damit zu einer Ölpreissenkung führte. Dies zeigt, daß die von manchen Sozialisten und christlichen Ethikem in der Vergangenheit unternommene negative Bewertung von Markt und Wettbewerb aufgrund der Motive der Marktteilnehmer (Eigeninteresse) verfehlt ist. Sozialethisch kommt es vielmehr auf die Folgen, die Marktergebnisse an. Von den Markt-ergebnissen her ist der Wettbewerb ein solidarischer Prozeß im globalen Kontext ist er das empirisch wichtigste Instrument universaler Solidarität. Der Markt selbst hat damit eine wichtige soziale Dimension und wird nicht erst nachträglich durch Sozialpolitik sozial.

Das soziale Ergebnis kommt aber nur dann zustande, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind: Erstens müssen in die Marktpreise alle anfallenden Kosten (z. B. Umweltbelastungen) eingerechnet werden, um Preisverfälschungen und damit induzierte Fehllenkungen zu vermeiden. Zweitens müssen Märkte offen sein, so daß neue Marktanbieter den Wettbewerb in vorhandenen Märkten aufnehmen können. Dies ist etwa ein Problem der Existenzgründungen in den neuen Bundesländern, in denen ein breiter Mittelstand als gesunde Basis einer Wettbewerbswirtschaft sich noch etablieren muß. Drittens muß gewährleistet werden, daß auf den einzelnen Märkten Tausch-gerechtigkeit herrscht, Marktergebnisse also nicht durch strukturelles Übergewicht einer Markt-seite zustande kommen. Dort, wo ein solches strukturelles Übergewicht besteht, muß die Rechtsordnung (Verbraucher-und Mieterschutz-gesetzgebung) systematische Machtasymmetrien ausgleichen. Viertens sind private Wettbewerbsbeschränkungen zu unterbinden, um die Bildung wirtschaftlicher Macht durch Kartellverbote und Fusionskontrolle zu verhindern. Der pauschale Ruf nach „Deregulierung“ ist verfehlt, beruhen doch vielfältige Regulierungen auf den genannten normativen Anforderungen an eine gerechte Markt-und Wettbewerbsordnung.

2. Die Stellung des arbeitenden Menschen

Bei der näheren Ausgestaltung des Produktionsprozesses kommt dem arbeitenden Menschen aus sozialethischer Sicht der erste Rang zu Eine gerechte Wirtschaftsordnung muß möglichst allen arbeitsfähigen und arbeitswilligen Menschen die Möglichkeit zur Arbeit geben, einen hohen Ertrag der Arbeit zur Bestreitung des eigenen und des Lebensunterhalts der Familie sichern, Entfaltungschancen in der Arbeit bei zumutbaren Arbeitsbedingungen bieten sowie Mitsprache ermöglichen. Wenn man an diesen Kriterien empirisch erprobte Formen der Arbeitsorganisationen mißt, läßt sich folgendes festhalten: Die heute auch noch in manchen Entwicklungsländern zu findenden Formen von Leibeigenschaft und (Schuld-) Sklaverei sind entschieden zu verwerfen. Ebensowenig waren die sozialistischen Modelle mit Staatseigentum aufgrund des geringen Arbeitsertrages und die Arbeiterselbstverwaltung im früheren Jugoslawien mit ihrer strukturellen, systembedingten Arbeitslosigkeit ethisch verantwortbare Organisationsfor-men. Vielmehr sind Wettbewerbsordnungen mit Privateigentum an Produktionsmitteln aus der Sicht der arbeitenden Menschen vorzuziehen, wenn dort das strukturelle Übergewicht der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt durch staatliche Arbeitsgesetzgebung, die Möglichkeit kollektiver Interessenvertretung (Gewerkschaften) und Mitbestimmungsrechte ausgeglichen wird.

Eine der Ursachen der Arbeitslosigkeit in einigen Industrieländern -darunter auch der Bundesrepublik Deutschland -liegt in der Kumulation von Arbeitsrecht und seiner Auslegung durch die Arbeitsrechtsprechung (z. B. Kündigungsschutz), Mitbestimmungsrechten sowie dem Einsatz gewerkschaftlicher Macht im Rahmen der Tarifhoheit. Wenn solche Arbeitnehmerrechte und deren Ergebnisse (Lohnhöhe) nicht mit der Sicherung von Vollbeschäftigung vereinbar sind, stellen sie keine gerechten Regeln, sondern Privilegien der Arbeitsplatzbesitzer dar, die diese nur durch Ausgrenzung der Arbeitslosen durchsetzen können. Die Christliche Sozialethik betrachtet diese Situation gemäß der „Option für die Armen“ aus der Perspektive der Schwächsten, wie etwa der unqualifizierten Langzeitarbeitslosen.

Von den Gewerkschaften ist daher zu fordern, daß sie erstens Arbeitslose als Mitglieder aufnehmen, ihnen zweitens in allen Entscheidungsgremien einen Minderheitenschutz gewähren und drittens den Vertretern der arbeitslosen Mitglieder bei Tarifvereinbarungen ein Vetorecht einräumen. So könnte aus der bloß verbalen Solidarität mit den Arbeitslosen eine institutionalisierte und damit reale Solidarität werden. Diese könnte dann die Gewerkschaften veranlassen, beschäftigungshemmende Vorschriften beim Arbeitsrecht und bei den Mitbestimmungsrechten so einzugrenzen, daß sie mit dem Ziel einer Wiederherstellung von Vollbeschäftigung vereinbar sind.

3. Die Eigentumsordnung der Gesellschaft

Die Gestaltung der Eigentumsordnung der Gesellschaft hat sich an Gemeinwohlerfordernissen zu orientieren, wobei die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen und die Würde der menschlichen Arbeit zentrale Gesichtspunkte sind. Wenn man die empirisch erprobten Eigentumsformen menschlicher Gesellschaften analysiert, muß man festhalten, daß diesen Anforderungen Privateigentum am besten gerecht wird.

Die von dem mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin (1225-1274) angeführten pragmatischen Begründungen für Privateigentum sind durch die Erfahrungen immer wieder bestätigt worden. Sie lauten: Erstens wird mit Gütern pfleglicher umgegangen, zweitens gibt es einen Anreiz zur Arbeit und zur Ersparnisbildung und drittens reduziert eine klare Abgrenzung von Eigentums-rechten Konflikte. Die Gesellschaft darf auch Eigentum ohne marktgerechte Entschädigung enteignen und neu zuteilen, wenn -wie etwa bei Großgrundbesitz in Lateinamerika -dieses sich als Fundament gravierender sozialer Ungleichheiten erwiesen hat und eine Entwicklungsblockade darstellt In Südkorea und Taiwan waren Agrarreformen Voraussetzung für eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung.

Die Eigentumsregelungen in den neuen Bundesländern sind verfehlt, weil schon 1990 bekannt war, daß sich die Rückgabe von Eigentum -bis 1995 ist nur über 30 bis 50 Prozent der Anträge entschieden worden -als ein die Schaffung von Arbeitsplätzen verhinderndes Recht darstellt. Das Eigentumsrecht der Einigungsgesetzgebung spiegelt ein altliberales Eigentumsverständnis wider, das sich auch nach der modernen Sozialphilosophie nicht konsistent begründen läßt Der Begründer der altliberalen Eigentumskonzeption, John Locke, setzte bei seinem vorstaatlichen Naturrecht auf Eigentum voraus, daß es für jeden frei zugängliche ungenutzte Bodenflächen gibt, so daß Fragen der Verteilungsgerechtigkeit nicht gegeben sind. Sobald aber nicht mehr jeder durch Arbeit sich herrenlosen Boden beliebig aneignen kann, muß die Gesellschaft kollektiv die Eigentumsrechte zuteilen. Weil von den Arbeitslosen in den neuen Bundesländern nicht erwartet werden kann, daß sie ihrer Arbeitslosigkeit zustimmen, damit westdeutsche Alteigentümer ihr Haus oder Grundstück zurückerhalten, widerspricht die Eigentums-regelung dem wichtigen wirtschaftsethischen Postulat des „Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital“

In einer modernen Industriegesellschaft nimmt ökonomisch wertvolles Eigentum vielfältigste Formen an. Schon Adam Smith wußte, daß das heiligste Eigentum jeder Gesellschaft das Eigentum ist, das der arbeitende Mensch in seiner Arbeitskraft erhält Heute ist der Wert dieses Eigentums -die Ökonomen sprechen von Humankapital -aufgrund immer qualifizierterer Ausbildungsgänge erheblich gestiegen Bei der Betrachtung von Verteilungsfragen muß man neben dem Humankapital, das langlebige Verbrauchsvermögen, Sozialversicherungsansprüche, Haus-und Grundbesitz, Geld-kapitalbildung (Sparguthaben, Versicherungen etc.) sowie Anteile am Produktionsvermögen (Aktien, andere Unternehmensanteile) berücksichtigen.

Bei einer Reihe von Vertretern der Christlichen Sozialethik erfolgt teilweise -beeinflußt durch marxistische Kategorien -eine Verengung auf die ungleiche Verteilung des Produktionsmittelbesitzes. Die Kritiker berücksichtigen aber nicht ausreichend, daß der soziale Sinn von Produktionsmittel-eigentum die Bereitstellung von Risikokapital ist. Diese Übernahme von Risiken wird zu Recht von vielen Arbeitnehmern gescheut. In den USA ist der Aktienbesitz nicht zuletzt deshalb stärker als in Deutschland verbreitet, weil es dort keine staatliche Lotterie gibt, so daß Personen mit Spiel-und Spekulationsleidenschaft diesem an der Börse frönen müssen

4. Der Sozialstaat Eine dynamische marktwirtschaftliche Ordnung ist ein „Prozeß der schöpferischen Zerstörung“ Die Früchte der Marktwirtschaft, die Innovations-pnd Problemlösungsfähigkeit, sind ohne das Zerstörerische der ökonomischen Revolutionen nicht zu haben. Dieses äußert sich im ökonomischen Strukturwandel mit dem Untergang ganzer Berufsgruppen, Unternehmen und Wirtschaftszweige. Um die negativen sozialen Folgen kollektiver (Arbeitslosigkeit) wie individueller Risiken (Krankheit, Unfall etc.) aufzufangen, ist ein soziales Sicherungssystem unverzichtbar, weil nur so eine marktwirtschaftliche Ordnung zustimmungsfähig ist. Daher ist der Sozialstaat ein der Marktordnung gleichgeordneter Bestandteil der Gesellschaftsordnung, nicht aber wie Neoliberale meinen, ein dem Markt untergeordneter Bestandteil, der beliebig -vor allem in Krisenzeiten -zur Disposition gestellt werden kann. Alle Bürger müssen jederzeit mit einem Mindestmaß an Kaufkraft ausgestattet werden, so daß sie am Marktgeschehen teilhaben können. Das Existenzminimum ist dabei als ein soziokulturelles Minimum anzusehen, das der allgemeinen Einkommensentwicklung anzupassen ist.

Verfehlt sind aber auch Positionen, die die Sozialordnung der Marktordnung verordnen wollen, wie dies etwa die Anhänger eines „Grundeinkommens ohne Arbeit“, des sogenannten Bürgergeldes, tun. Diese Auffassung, die auch vereinzelt in der Christlichen Sozialethik vertreten wird, berücksichtigt nicht, daß eine gerechte Ordnung auf einem gleich-gewichtigen Verhältnis von Rechten und Pflichten für jedes einzelne Gesellschaftsmitglied zu beruhen hat und daher dem Recht auf Grundeinkommen notwendigerweise eine staatlich kontrollierte Pflicht zur Arbeit gegenüberstehen müßte. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip hat jeder Arbeitsfähige die Verpflichtung, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu bestreiten, statt sich den Ertrag fremder Arbeit über den Sozialstaat ohne eigene Leistung anzueignen. Im Gegensatz zum Grundeinkommen hat die Arbeitslosen-und Sozialhilfe die Pflicht, die Bedürftigkeit und Arbeitswilligkeit der Betroffenen zu prüfen, um die Ausbeutung der Mitbürger zu verhindern, was leider nur unzulänglich geschieht; dies ist auch eine Ursache des berechtigten Unbehagens am Sozialstaat.

5. Umwelt

Aus sozialethischer Sicht gehört die Erde allen Menschen, d. h. auch allen Generationen. Jede Generation darf daher die Natur nur soweit für ihre Zwecke nutzen, wie dies mit den legitimen Ansprüchen nachfolgender Generationen vereinbar ist Der heutige Ressourcenverzehr muß aus der Sicht kommender Generationen zustimmungsfähig sein. Die intergenerationelle Gerechtigkeit fordert daher: -An die Umwelt dürfen nur soweit Schadstoffe abgegeben werden, wie es die Aufnahmefähigkeit und Selbstreinigungskraft der Natur zuläßt, so daß ökologische Kreisläufe nicht zerstört werden. -Regenerierbare Vorräte (Holz, Wild, Fische etc.) dürfen nur soweit genutzt werden, wie dies ihre natürliche Regenerationsfähigkeit zuläßt.

-Nichtregenerierbare Ressourcen (z. B. fossile Energien wie Erdöl) dürfen von den jetzigen Generationen nur verbraucht werden, wenn die nachfolgenden Generationen durch diesen unwiderruflichen Ressourcenverzehr nicht geschädigt werden, sondern durch einen erhöhten Kapitalstock, technischen Fortschritt, Entwicklung von Ersatzenergien etc. Kompensationen erhalten.

Diese ethischen Anforderungen müssen durch ein geeignetes umweltpolitisches Instrumentarium in der Wirtschaftsordnung installiert werden.

6. Der Staat in der Wirtschaftsordnung

Neben der Gestaltung der Wirtschaftsordnung hat der Staat auch für eine Stabilität des Geldes zu sorgen, indem dafür eine geeignete Institution, nämlich eine unabhängige Notenbank errichtet wird. Daneben hat er auch Aufgaben einer aktiven Wirtschaftspolitik wahrzunehmen. Zu diesen Aufgaben gehören die Installierung eines Bildungswesens, welches Chancengerechtigkeit für alle ermöglicht, die Bereitstellung einer Infrastruktur, die die Voraussetzungen für privatwirtschaftliche Aktivitäten schafft (z. B. Verkehr, Abfallentsorgung), sowie eine Politik des regionalen Ausgleichs. Außerdem hat der Staat Marktrisiken einzugrenzen und unzumutbare teilweise zu übernehmen. Dies geschieht z. B. durch Forschungsförderung und zeitlich begrenzte Subventionen als Start-und Anpassungshilfen, nicht aber wie gegenwärtig durch dauerhafte Erhaltungssubventionen für Landwirtschaft und Kohlebergbau.

Für seine vielfältigen Aufgaben benötigt der Staat Einnahmen, die überwiegend über Steuern beschafft werden. Die Christliche Sozialethik sieht eine progressive Besteuerung als legitim an, weil Einkommen in einer komplexen Gesellschaft nicht allein auf individuellen Leistungen beruhen, sondern erst durch gesellschaftliche Vorleistungen, die Ausbildung individueller Fähigkeiten (Bildungswesen) und individuelle Leistungserstellung (Rechtsordnung) ermöglicht werden. Daher ist es legitim, daß die Gesellschaft auf hohe Einkommen einen überproportionalen Zugriff nimmt. Daneben muß der einzelne aber auch erst seine angeborenen Begabungen und Fähigkeiten entfalten und ausbilden und diese dann auch produktiv einsetzen. Daher hat man dem „Leistungsträger“ auch einen erheblichen Eigenanteil zu belassen. Eine (fast) vollständige gesellschaftliche Aneignung individueller Leistungseinkommen wird entweder Personen zur Abwanderung ins Ausland veranlassen oder sie an einem umfassenden Einsatz ihrer Fähigkeiten zum Wohle der Gesamtgesellschaft hindern. Die Leistungsgerechtigkeit fordert, daß auch nach der Besteuerung Leistungsunterschiede erhalten bleiben.

Neben der Steuer stellt die Staatsverschuldung in den letzten Jahren eine wachsende Einnahmequelle dar. Die Christliche Sozialethik sieht diese nur dann als legitim an, wenn sie genutzt wird, um im engen Sinne rentable Investitionsobjekte zu finanzieren. Die heutige Staatsverschuldung geht aber weit darüber hinaus. Dies ist abzulehnen, weil sie erstens Politikern vor allem ermöglicht, den Bürgern Staatsleistungen anzubieten, ohne zugleich deutlich zu machen, wer genau wieviel dafür bezahlen muß. Es widerspricht daher dem Demokratieprinzip. Zweitens hat sie negative Verteilungswirkungen. Während nur eine Minderheit der Bürger Staatsschuldentitel hält und weitgehend einkommensteuerfreie Zinseinkommen bezieht, sind fast alle Staatsbürger an der Finanzierung der Zinsen durch Steuern beteiligt. Heute zahlen auch Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner, kinderreiche Familien etc. mindestens 20 Prozent ihres Einkommens als Steuern, nämlich die Mehrwert-, Mineralöl-, Tabak-, Kaffee-, Teesteuer etc. Staatsverschuldung stellt damit eine gravierende Verteilungsungerechtigkeit dar.

Die Christliche Sozialethik sieht aus ihrer Perspektive also einen erheblichen Reformbedarf für die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik, die in wichtigen Punkten nicht den genannten Anforderungen einer ökosozialen Marktwirtschaft entspricht. Neben institutioneilen Reformen hat aber innerhalb der Ordnung auch die individuelle Einstellung des einzelnen eine Bedeutung.

IV. Das Ethos der Wirtschaftsbürger

Unter den Bedingungen weithin gerechter Regeln der Wirtschaftsordnung kommt dem individuellen Verhalten der Bürger eine komplementäre Bedeutung zu. Markttransaktionen können um so kostengünstiger ablaufen, je begründeter das Vertrauen in die Vertragstreue der Geschäftspartner ist. Ansonsten würden in der Gesellschaft hohe Kosten der Abwicklung und Durchsetzung wirtschaftlicher Transaktionen auftreten, etwa durch detaillierte Verträge und das Einklagen jeder einzelnen Forderung. Ebenso ist die staatliche Verwaltung auf eine mehrheitliche Rechtstreue der Bürger angewiesen, kann sie doch letztlich nicht bürokratisch umfassend kontrollieren, ob sie Gesetze (z. B. im Umweltbereich) einhalten, Steuern und Sozialabgaben zahlen, nur in berechtigten Fällen Sozialleistungen in Anspruch nehmen etc.

Wenn ein hinreichend soziales Ethos nicht gegeben ist (siehe z. B. Entwicklungsländer, Ostblock) oder langsam verfällt (Beispiel: Korruptionsskandale in der Bundesrepublik), sind die gesellschaftlichen Transaktionskosten hoch bzw. steigen. Überhöhte Transaktionskosten mindern aber Arbeitseinkommen und Gewinne. Eine sinkende Geschäftsmoral (z. B. Insidergeschäfte an Börsen) stellt eine Vernichtung gesellschaftlich wertvollen Kapitals dar. Häufig ist ein solcher Verfall durch verfehlte gesellschaftliche Regeln oder durch das Verhalten von einflußreichen Entscheidungsträgern (Politikern, Managern, Gewerkschaftsfunktionären) induziert. Die Christliche Sozialethik fördert das individuelle Ethos und versucht, es durch die Mitarbeit an der Erstellung von Verhaltenskodizes zu stabilisieren und zu stärken.

V. Internationale Wirtschaftsordnung

Eine gerechte internationale Wirtschaftsordnung setzt voraus, daß die Ordnung für möglichst viele Länder annehmbar ist. Gemäß der „Option für die Armen“ ist aus der Perspektive von Entwicklungsländern die gegenwärtige Weltwirtschaftsordnung zu analysieren: Auch nach Abschluß der Uruguay-Runde des GATT gibt es für viele Entwicklungsländer keineswegs ausreichende Möglichkeiten, auf dem Wege der Selbsthilfe ihre Produkte auf den Märkten der Industrieländer abzusetzen. Die vielfältigen protektionistischen Hindernisse, als Verstöße gegen die internationale Leistungsgerechtigkeit, verursachen nach Berechnungen der Weltbank 1989 Verluste von rd. 100 Mrd. US-Dollar jährlich, die sich damit auf das Doppelte der Entwicklungshilfe von damals 50 Mrd. US-Dollar belaufen.

Weiterhin gibt es keine internationale Wettbewerbsbehörde, die private Wettbewerbsbeschränkungen (z. B. transnationaler Konzerne) überwacht. Darüber hinaus sind in einer Reihe von Entwicklungsländern die ökonomischen Ausgangsbedingungen so unzureichend, daß sie selbst bei globaler Leistungsgerechtigkeit nicht in der Lage wären, ausreichend profitabel am Weltmarkt teilzuhaben. Hier müssen erst die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen aufgebaut werden, wozu die Entwicklungshilfe beizutragen hat.

Oben wurde aufgezeigt, daß der Wettbewerb als „Prozeß schöpferischer Zerstörung“ immer wieder erhebliche Risiken mit sich bringt. Diese Markt-risiken können für Entwicklungsländer soweit gehen, daß das nackte Überleben von Millionen von Menschen bedroht ist. Eine internationale Wettbewerbsordnung bedarf daher auch einer komplementären globalen Sozialordnung, die dafür sorgt, daß dort, wo der Staat eines Entwicklungslandes nicht in der Lage ist, das Überleben aller Menschen in seinem Territorium zu sichern, dies durch externe Hilfe gewährleistet wird.

Weiterhin stellt sich die Aufgabe, die von einzelnen Ländern ausgehenden Umweltbelastungen insgesamt so zu begrenzen, daß die globale Umwelt nicht gefährdet wird Dazu bedarf es einer Verminderung der Umweltbelastungen der Industrieländer, damit in Entwicklungsländern das wegen einer wachsenden Bevölkerung und verbreiteter Armut notwendige Wirtschaftswachstum ökologisch möglich wird.

VI. Fazit

Es wurde versucht aufzuzeigen, daß aus der Perspektive der Christlichen Sozialethik kritische Anstöße für die Gestaltung nationaler und internationaler Wirtschaftsordnungen gegeben werden können. Menschliche Gesellschaften sind aus christlicher Sicht immer unvollkommen und daher für institutionelle Reformen zu je größerer Gerechtigkeit offen. Die Christliche Sozialethik ist der Überzeugung, daß sie diese Positionen auch rational nachvollziehbar im Rahmen einer Sozialphilosophie zu begründen vermag und damit auch für Nichtchristen einsehbar machen kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Enzyklika Sollicitudo rei socialis von 1987, Nr. 42, in: KAB (Hrsg.) (Anm. 1).

  2. Vgl. Karl Homann/Franz-Josef Blome-Drees, Wirtschafts-

  3. Innovation ist das Spezifikum moderner Wirtschaft. Vgl. Wilhelm Korff, Wirtschaft und Ethik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30-31/90, S. 32-38.

  4. Vgl. Johannes Hackmann, Konkurrenz und Nächstenliebe, in: ORDO-Jahrbuch, 45 (1994), S. 251-271.

  5. In der kirchlichen Sozialverkündigung ist dieses Anliegen besonders in der Enzyklika Laborem Exercens Johannes Pauls II. von 1981 herausgestellt worden. Vgl. KAB (Hrsg.) (Anm. 1).

  6. Vgl. John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 175. Rawls fordert für eine gerechte Ordnung, daß „die am wenigsten Begünstigten gewissermaßen ein Vetorecht“ erhalten.

  7. Vgl. Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer 1983s. S. 307.

  8. Vgl. Manfred Broder, Arbeit und Eigentum, Darmstadt 1992.

  9. Dies übersieht Manfred Spieker, Eigentum und Gemeinwohl. Zur Problematik der Eigentumsregelung im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung, in: Die Neue Ordnung, 46 (1992), S. 371-381.

  10. Vgl. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, München 1983, S. 106.

  11. Der Ausdruck Humankapital wird von manchen Theologen nicht geschätzt, weil sie zutreffend unterstreichen wollen, daß Menschen unabhängig von ihrem Arbeitsvermögen eine Würde zukommt.

  12. Vgl. Erwin K. Scheuch/Ute Scheuch, USA -ein maroder Gigant? Amerika besser verstehen, Freiburg-Basel-Wien 1992, S. 183.

  13. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 19754, S. 134.

  14. Vgl. etwa Gerd Habermann, Der Wohlfahrtsstaat. Die Geschichte eines Irrwegs, Bonn 1994.

  15. Vgl. Lieselotte Wohlgenannt/Herwig Büchele, Den öko-sozialen Umbau beginnen: Grundeinkommen, Wien-Zürich 1990, Kritisch zur Grundeinkommensidee: Joachim Wiemeyer, Grundeinkommen ohne Arbeit?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/88, S. 43-51.

  16. Vgl. ausführlicher zur Ökologie: Michal Schramm, Vom Geldwert der Schöpfung, Paderborn 1994.

  17. Vgl. Franz Furger/Joachim Wiemeyer, Gutes Geld für alle, Bonn 1991.

  18. Vgl. F. Furger (Anm. 2), S. 257.

  19. Vgl. Joachim Wiemeyer, Die Weltwirtschaftsordnung aus sozialethischer Sicht, in: M. Heimbach-Steins u. a. (Hrsg.) (Anm. 3), S. 347-366.

  20. Vgl. Neunter Bericht der Bundesregierung zur Entwicklungspolitik, Drucksache 12/4096, Bonn 1992, S. 27.

  21. Vgl. Franz Furger/Joachim Wiemeyer, Wirtschaft: global

Weitere Inhalte

Joachim Wiemeyer, Dr. rer. pol., lic. theol., geb. 1954; Studium der Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Katholischen Theologie in Münster; seit 1993 Professor für Sozialpolitik und Politikwissenschaft an der Katholischen Fachhochschule Norddeutschland in Osnabrück/Vechta. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Franz Furger) Von der Dependenz zur Interdependenz, Bonn 1994; (Hrsg. zus. mit Marianne Heimbach-Steins und Andreas Lienkamp) Brennpunkt Sozialethik, Freiburg -Wien -Zürich 1995; zahlreiche Beiträge zu Fragen der Wirtschaft und der Sozialethik in Periodika und Sammelbänden.