I. Dimensionen und Herausforderungen der Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße
Region der wirtschaftlichen Wunder oder der politischen Krisen?
Am 7. Oktober 1995 hat Taiwans nationale Flug-linie, China Airlines, endgültig ihr neues Logo vorgestellt, das an die Stelle der Flagge der Republik China treten wird*. Die größtenteils staatseigene Linie vollzieht diesen Schritt, da sie andernfalls nicht an der bald erwarteten Eröffnung direkter Routen zwischen Taiwan und dem Festland teilhaben könnte und also eines ungemein attraktiven Geschäftsfeldes verlustig ginge. Dies geschieht natürlich nicht ohne Zustimmung der Regierung, die ungeachtet der weiterhin schwierigen politischen Beziehungen zwischen der Republik und der Volksrepublik gerade zu Beginn dieses Jahres erneut und klar bekräftigt hat, daß die Intensivierung des wirtschaftlichen Austausches höchste Priorität besitzt Hierfür gibt es innen-wie außen-politische Gründe: Alle Parteien des inzwischen auf Taiwan entstandenen Mehrparteiensystems
Ich bin dem Erziehungsministerium der Republik China zu Dank verpflichtet, mir im Rahmen einer zwölftägigen Reise im Oktober 1995 die Gelegenheit gegeben zu haben, über die im folgenden vorgetragenen Überlegungen mit Vertretern vieler Organisationen und Institutionen sprechen zu können, die sich mit den Beziehungen Taiwans zum chinesischen Festland befassen. In dieser Arbeit wird das Pinyin-System zur Transkription des Chinesischen verwendet, es sei denn, es gibt bei Eigennamen eine andere, offizielle Transkription. Die Wahl eines Transkriptionsverfahrens ist politisch neutral.
müssen einer starken Gruppe von Wählern, deren Einkommen direkt oder indirekt vom Handel und Wandel mit dem Festland abhängt, demonstrieren, daß sie eine konstruktive Haltung in dieser Frage einnehmen. Nach außen gerichtet, kann die enge wirtschaftliche Verflechtung mit dem Festland die Pekinger Führung in ein Netz ökonomischer Interessen einweben, die letztlich militärische Eskapaden unwahrscheinlich werden lassen
Auf den ersten Blick dürfte also die wirtschaftliche Entwicklung im chinesischen Kulturraum eine friedenstiftende Kraft zu sein. So erscheint dann auch der westlichen Politik der Raum kaum als krisen-verdächtig, wie auch in der Entscheidung der Bundesregierung deutlich wurde, das Gebiet nicht mehr als „Krisengebiet“ im Sinne der deutschen Gesetzgebung zu Waffenexporten zu betrachten Die Spannungen zwischen beiden Seiten werden freilich immer dann schmerzhaft bewußt, wenn die VR China Marktzugangsbarrieren für Unternehmen jener Nationen errichtet, die es wagen, der Republik China Waffen zu verkaufen, oder ihren politischen Status bilateral aufwerten, wie es durch die USA geschah, als im Sommer 1995 der taiwanesische Staatspräsident Lee Teng-hui erstmals ein „privates“ Visum zum Besuch seiner Alma Mater Cornell erhielt Vor allem zwischen den USA und der VR China spielt diese Frage inzwischen eine überragende Rolle in den bilateralen Beziehungen. Bevor wir uns also mit diesem Gegensatz zwischen politischer Spannung und wirtschaftlicher Dynamik näher beschäftigen, sollten die wichtigsten Dimensionen der Herausforderungen bezeichnet werden, die sich in der Region entfalten. a) Insbesondere in Deutschland wird die wirtschaftliche Dynamik der Region oft verzerrt wahrgenommen: Falsche politische Verantwortlichkeiten werden gesehen und falsche Erfolgszuweisungen vorgenommen. Die Dynamik des festländischen Marktes mit ihren großen Hoffnungen für ausländische Investoren ist wesentlich durch die wirtschaftliche Integration im chinesischen Kulturraum bedingt und daher weniger einer aktiven wirtschaftspolitischen Strategie der VR China zuzurechnen
Gerade jene Gebiete Chinas, die besonders dynamisch sind, sind auch solche, die den stärksten Zustrom auslandschinesischen und auch taiwanesischen Kapitals erfahren. Insofern gilt aber umgekehrt: Die wirtschaftliche Dynamik wird nur bewahrt werden können, wenn die weitere Internationalisierung des Festlandes durch endogene Kräfte des chinesischen Kulturraumes in politisch stabilen und berechenbaren Bahnen verläuft. Diese Kräfte bilden aber ein gleichgewichtiges System mit verschiedenen politischen Einheiten -jede außenpolitische Auseinandersetzung mit der Region muß daher diese Einheiten mit gleicher Gewichtung ins Auge fassen, und nicht, wie leider eher üblich, gerade die Interessen und Forderungen der VR China einseitig berücksichtigen. b) Politisch tritt vor allem in den bilateralen Beziehungen USA-VR China zutage, daß die westliche Politik an den Rand der Glaubwürdigkeit ihrer eigenen normativen Grundlagen getrieben wird. Beobachter weisen den USA nicht ohne Berechtigung einen großen Teil der Verantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen zu, denn in der Tat ist die Regierung Clinton aus chinesischer Sicht zu einem schwer berechenbaren Dialogpartner geworden Auf der anderen Seite aber besteht das reale Problem, daß im „Kampf der Kulturen“ Taiwan zu einem der wichtigen (ähnlich wie auch Südkorea) Beispiele geworden ist, wo sich asiatische Werte mit einer -sicherlich noch jugendlich-ungeordneten -Demokratie vereinen. Damit wird solchen Ideologien die empirische Grundlage entzogen, die dem asiatischen Autoritarismus eine dauerhafte Bedeutung für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik der Region zuschreiben, wie etwa die Propagandisten des „neokonfuzianischen Modells Singapur“ behaupten Dann ist aber der Westen verpflichtet, klare Positionen zu beziehen. In diesem Zusammenhang ist das Problem der Republik China besonders schmerzhaft, da die Verdrängung Taiwans von der offiziellen internationalen Bühne nichts anderes ist als ein Unrechtstatbestand, der durch keine Norm des internationalen Rechts schlüssig begründet werden kann Der Westen gibt aber die von ihm selbst vertretenen Werte auf, wenn Machtpolitik und wirtschaftliche Interessen über alle anderen Wertskalen die Oberhand gewinnen. Die eindeutige pro-taiwanesische Stimmung in den USA, aber auch in anderen westlichen Politikzirkeln, ist auf eine entsprechende Unzufriedenheit mit dem eigenen Verhalten zurückzuführen. c) Besonders bedenklich ist in dieser Hinsicht, daß ein gewisser Zweckoptimismus zur Folge hat, die militärischen Krisenpotentiale in der Region zu unterschätzen Freilich hängt dies auch damit zusammen, daß die tatsächlichen Interessen und Wahrnehmungen der Beteiligten höchst undurchsichtig sind und daß die nach außen demonstrierten Haltungen zum Teil eher innere Probleme und Konflikte widerspiegeln. So ist die Propagierung von „T-Day“ -Szenarien in Taiwan sicherlich ein lukratives journalistisches Geschäft mit den Sorgen der Bevölkerung, und erscheint es für die Legitimation bestimmter politischer Positionen als wichtig, die militärische Bedrohung durch die Volksrepublik als besonders brisant darzustellen Auf der anderen Seite der Taiwanstraße gibt es offenbar recht gegensätzliche Positionen in unterschiedlichen Institutionen wie dem Außenministerium und der Volksbefreiungsarmee. Dennoch sollte klar sein, daß die nationalen Ansprüche der VR China eindeutig auch im Sinne militärischer Potentiale umgesetzt werden, und daß somit ein echtes Problem militärischen Gleichgewichts in der Region entsteht
2. Die Verantwortung des Westens und der deutschen Außenpolitik
Vor dem Hintergrund dieser drei Dimensionen der Herausforderung muß also grundsätzlich festgestellt werden, daß für alle Akteure der Weltpolitik ein substantielles Interesse bestehen muß, eine vorausschauende Politik der Krisenprävention zu verfolgen. Eine politische und militärische Destabilisierung der Region liegt im Bereich des Möglichen und würde im Falle des akuten Auftretens die Träume von der „Weltwirtschaftsmacht China“ platzen lassen. Wenn der Westen also die wirtschaftliche Dynamik bewahren und fördern will, ist er gehalten, eine konstruktive, aktive Politik der Krisenvermeidung zu betreiben.
Dies gilt vor allem auch für Deutschland. Deutschland betreibt bislang eine vorsichtige Politik der Anpassung und wohlgesinnten Begleitung der Entwicklungen, mit zeitweiligen Verweisen auf Fragen der Menschenrechte, insgesamt aber ohne eine klare Linie zu Grundsatzfragen wie dem Taiwan-Problem, das sich nur wegen der massiven Oktroyierung der Thematik durch Peking auf die Frage des „Ein-China“ zu reduzieren scheint: Diese groben Kategorien spiegeln aber keine eigenständige außenpolitische Wahrnehmung und Position des Westens wider, sondern kolportieren lediglich die Sicht der VR China. Rechtfertigung erfährt diese Haltung durch die wissenschaftlich kaum abzustützende These, wirtschaftliche Entwicklung würde über kurz oder lang zu Demokratisierung führen: Dabei zeigt gerade die deutsche Geschichte, daß dieser -sicherlich langfristig notwendige Zusammenhang -mit gewaltigen politischen Rückschlägen und schlimmsten Fehlentwicklungen verbunden sein kann, die sich in der VR China bereits anzudeuten scheinen
Deutschland hätte aber eigentlich die Möglichkeit und -meiner persönlichen Ansicht nach -auch die Verpflichtung, eine konstruktive, gestaltende Ostasienpolitik in der Region selbst zu betreiben, die auf klaren Vorstellungen über künftige Ordnungsverhältnisse im pazifischen Raum beruht. Es sollte sich nicht in die amerikanisch-asiatischen Schaukämpfe von „Kulturen“ verwickeln lassen, in denen Systeme als „Modelle“ verkauft werden, von denen, wie im Fall Singapur, in der Region gewitzelt wird, „they go into the grave with their leaders“. Bislang wird aber eine kreative Vermittlungs-und gegebenenfalls sogar geistige Dialogfunktion weltweit im wesentlichen den Vereinigten Staaten überlassen. Diese sind jedoch aufgrund ihrer strategischen Interessen und Lasten ebenso wie wegen einer normativ wesentlich zugespitzteren Ausrichtung von Außenpolitik selbst ein pazifischer Akteur und damit kaum noch unabhängig
Japan ist aufgrund der weiterhin unbewältigten Weltkriegsvergangenheit ebenfalls belastet, tat-sächlich aber bemüht, eine balancierende Rolle zu spielen, nicht zuletzt, weil die eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten auf dem Festland immer stärker auf Vernetzungen mit der chinesischen Gemeinschaft angewiesen sind Großbritannien ist wegen der Hong Kong-Frage kaum zusätzlich zu beanspruchen, und Länder wie Frankreich besitzen in der Region nicht die hohe Reputation wie Deutschland.
So ist Deutschland also eigentlich der unwillige „Dritte“ in einer zunehmend komplizierter werdenden ostasiatischen Region. Die deutsche Außenpolitik hat diese Sachlage, wie es scheint, noch gar nicht wahrgenommen und krankt unter anderem an einer zum Teil erstaunlichen Naivität bezüglich der Verhältnisse in der Region, manchmal verbunden mit diplomatischen Fauxpas. Versuchen wir also, dem Kern der Problematik der Beziehungen zwischen Taiwan und der VR China etwas näher zu kommen.
II. Nationalismus und Kultur in der gespaltenen chinesischen Modernisierung des 20. Jahrhunderts
Die Hauptschwierigkeit, die Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwanstraße zu verstehen, besteht darin, daß die Entfaltung der wirtschaftlichen Integration vor dem Hintergrund eines historisch tief verwurzelten Problems der nationalstaatlichen Modernisierung Chinas stattfindet und daß jede einigermaßen realistische Lösung der Probleme -abgesehen von der langfristigen Fortschreibung des Status quo -einen weitreichenden Wandel kultureller Werte voraussetzt.
Als Ergebnis des militärischen Konfliktes zwischen unterschiedlichen politischen Kräften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sich in China zwei politische Parteien als Hauptakteure durchgesetzt, die beide als politischen Grundwert die Einheit Chinas unter Führung einer zentralstaatlichen Macht und auf der Basis einer nationalistischen Konzeption von „Chineseness“ vertraten. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil mit der Kommunistischen Partei ebenso wie mit der leninistisch organisierten Guomindang Sun Yatsens im Grunde organisatorische Instrumente gefunden worden waren, um den klassischen unitarischen Zentralstaat Chinas über den Zusammenbruch des Kaisertums hinwegzuretten, das eine seiner sicherlich bedeutendsten Institutionen war.
Die jüngere wissenschaftliche Diskussion um den chinesischen Nationalismus ist von Vorstellungen abgerückt, zwischen dem traditionellen „Kulturalismus“ (also der politischen Legitimation der Zentralmacht durch ihre Schlüsselposition im kulturellen Repertoire nach innen und außen) und dem „Nationalismus“ als Phänomen des Übergangs zu moderner Staatlichkeit einen Gegensatz bzw. eine Entwicklungsfolge zu konstruieren. Statt dessen wird nun gerade der Nationalismus als Ausdruck der Kontinuität des unitarischen Zentralstaates qua kulturelles Konstrukt begriffen, also eine moderne kulturelle Metamorphose des Gedankens, daß die chinesische Gesellschaft durch ein monolithisches politisches Zentrum dominiert, ihre Vielfalt in dieses Zentrum projiziert und kulturell standardisiert wird. Dieser Gedanke der Zentrumsorientierung war wesentlicher Bestandteil der chinesischen „Great“ ebenso wie der „Little Tradition“ und wird gerade im Konzept nationalstaatlicher Integration fortgeführt, wie es die herrschenden politischen Kräfte im 20. Jahrhundert prägte
Beide chinesischen staatsbildenden Kräfte haben entsprechend sehr früh ein politisches Programm vertreten, das die formale Einheit und Einheitlichkeit der chinesischen Nation gegen die Realität großer regionaler und lokaler Unterschiede durchzusetzen suchte, die stets als dysfunktional und rückwärtsgewandt begriffen wurden. Ganz in der Tradition konfuzianisch-moralisierender Geschichtsschreibung ist auf beiden Seiten der Taiwan-Straße gezielt das historische Gedächtnis von chinesischen Alternativen ausgelöscht worden, die als Folge der zunehmenden Regionalisierung Chinas in der späten Qing-Zeit vor und nach dem Sturz der kaiserlichen Institutionen im Jahre 1911 entstanden waren. Chinas modernste und fortschrittlichste politische Vorschläge zur Verfassungsbildung -ganz im Sinne des Übergangs zu moderner Nationalstaatlichkeit -auf föderaler Grundlage, die damals in den Wettbewerb der politischen Kräfte und Ideen eintraten, wurden moralisierend mit der Realität des Bürgerkrieges und der „Warlordisierung" zu einem Gesamtbild der „Gegenmodernisierung“ verwoben und damit denunziert und diffamiert. Die damals lauten, weit verbreiteten und zunehmend stärkeren Forderungen nach staatlicher Autonomie von Provinzen als Grundlage einer freiwilligen Neukonstitution der zentralen Macht zeigen in aller Deutlichkeit, daß die Existenz des unitarischen Zentralstaates keine Selbstverständlichkeit der politischen Entwicklung Chinas ist
Mit Gewalt haben dann beide Kräfte ihr kulturalistisch-nationalistisches Programm durchzusetzen gesucht. In der VR China geschah dies entweder auf dem Wege der Etablierung einer zentral kontrollierten, kommunistischen Bürokratie, die ihren einheitlichen Stempel allen Vorgängen im Lande aufzuzwingen versuchte, oder auf dem Wege der Propagierung quasi-religiöser Massenbewegungen des Maoismus. In der Republik China wurde der lokalen Bevölkerung ein von der regierenden Guomindang konzipiertes, kulturelles Konzept von „Chineseness“ oktroyiert, das ähnlich tief und brutal in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingriff wie der japanische Kolonialismus und die Einheit der chinesischen Kultur in der Normierung von Sprache, Kochbüchern, Architektur oder Kleidung zu suggerieren suchte
Aus dieser Perspektive müssen die inneren Entwicklungen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße in den achtziger und neunziger Jahren eigentlich in sehr ähnlicher Weise gedeutet werden, nämlich als schrittweise Rücknahme kulturalistischer Ansprüche der jeweiligen Zentralmacht mit dem Ziel, die immer schärfer werdende Spannung zwischen Lokalismus und Zentralmacht zu lösen. In der Republik China ist entsprechend die rasche Demokratisierung der Gesellschaft wesentlich auch darauf zurückzuführen (neben dem Entstehen einer starken Mittelschicht), daß sie notwendige Bedingung einer unumgänglichen Taiwanisierung wichtiger Institutionen war, sollte das Bild der einheitlichen chinesischen Kultur nicht letztlich an einem (sub) ethnischen -und damit kulturell desintegrativen -Konflikt zwischen Festländern und Taiwanesen auf Taiwan zerbrechen. Entsprechend besaß auch die Frage der Unabhängigkeit Taiwans lange Zeit eine zentrale Rolle für die Ausdifferenzierung der politischen Kräfte (und weniger innertaiwanesische Sachfragen), nachdem sich politische Parteien in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre formieren durften In der Volksrepublik wiederum hatte der maoistische Radikalismus in paradoxer Weise eine zunehmende gesellschaftliche Desintegration zur Folge gehabt, die nur dadurch aufzufangen war, daß der faktisch gestärkte Lokalismus eine konstruktive Funktion erhielt: Er wurde treibende Kraft der institutioneilen Veränderungen und der wirtschaftlichen Entwicklung nach 1978
Beide Prozesse hatten aber zur Folge, daß eine grundlegende Neudefinition der Beziehungen zwischen beiden Seiten notwendig wurde, die eigentlich bis heute nur ansatzweise gefunden worden ist. Während die Guomindang inzwischen ihren Anspruch als regierende Partei auch des Festlandes aufgegeben hat, beharrt die KPCh weiterhin auf der Position, Taiwan sei eine Provinz Chinas und damit formal der Zentralregierung in Peking untergeordnet. Noch wichtiger ist aber der Tatbestand, daß in der Dyade Volksrepublik/Republik China (PRC/ROC) die Seite Taiwans für die Volksrepublik viel schwerer berechenbar geworden ist. Seine zunehmend pluralistische und demokratische Gesellschaft entfaltet eine Eigendynamik auch in Fragen der Festlandpolitik, die aus der Sicht Pekings nur noch indirekt gesteuert werden kann, wie etwa in Gestalt des Versuches, Wähler-präferenzen durch Demonstrationen militärischer Macht zu beeinflussen. Aus der Sicht vieler Taiwanesen versucht die VR China aktiv, durch politische und militärische Akte die Gesellschaft, aber auch konkret die Wirtschaft der Insel -etwa in Gestalt ihrer Börse -zu verunsichern
Freilich ist für die regierende Guomindang die eigene Gesellschaft ähnlich schwierig geworden. Der taiwanesische Präsident Lee Teng-hui muß sich von vielen Seiten den Vorwurf gefallen lassen, er vertrete die chinesische Einheit nur noch als Lippenbekenntnis -die politischen Parolen und Reden sind derart verklausuliert und für Außen-stehende schwer verständlich, daß die tatsächliche Überzeugung kaum nachvollziehbar ist Umgekehrt reagierten die taiwanesischen Medien mit großer Aufregung, als der Parteivorsitzende der „Democratic Progressive Party“, Shih Ming-te, in den USA verkündete, die DPP würde im Falle eines Wahlsieges nicht zwingend sofort die Unabhängigkeit erklären -nach seiner Rückkehr wurde erläutert, in Entsprechung mit der Auffassung der Mehrheit der Parteimitglieder sei diese Bemerkung so aufzufassen, daß Taiwan angesichts der gewandelten politischen Verhältnisse bereits ein unabhängiger Staat sei, der dies nicht mehr gesondert zu erklären brauche, sondern nur noch formale Fragen der Repräsentation dieses Status nach außen zu lösen habe
Derartige politische Schauspiele und Schachzüge werden nun aber erheblich verkompliziert durch den Prozeß der wirtschaftlichen Integration beider Seiten der Taiwanstraße, dem sich alle Parteien und Positionen als Tatsache zu stellen haben.
III. Wirtschaftsintegration, nationale Identität Taiwans und die internationale chinesische Kaufmannsgemeinschaft
1. Die chinesische Integration: Wachstum, regionale Arbeitsteilung und komparative Vorteile
An dieser Stelle ist kein Raum, auf die wirtschaftlichen Aspekte der chinesischen Integration im Einzelnen einzugehen Wir wollen uns statt dessen auf die politischen und kulturellen Aspekte konzentrieren und es bei der Feststellung bewenden lassen, daß zwar die politischen Spannungen des Jahres 1995 die Dynamik der Integration verlangsamt haben, doch weiterhin gilt, daß die Volksrepublik China nun der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner Taiwans geworden ist. In Zahlen ausgedrückt -Das gesamte Handelsvolumen erreichte 1994 17, 88 Milliarden US-Dollar und im ersten Quartal 1995 bereits 7, 2 Milliarden US-Dollar, mit einem Handelsbilanzüberschuß Taiwans von 7, 6 Milliarden US-Dollar 1994. Im ersten Quartal 1995 gingen 18, 08 Prozent aller taiwanesischen Exporte auf das Festland -Im ersten Quartal 1995 konzentrierten sich 51, 94 Prozent aller gemeldeten ausländischen Direktinvestitionen Taiwans auf das chinesische Festland; nach Angaben der VR China soll es sich bis 1995 um ein kumuliertes Volumen von mehr als 24 Milliarden US-Dollar handeln. Neue regionale Schwerpunkte der Investitionstätigkeit sind inzwischen Jiangsu und Shanghai neben den traditionellen Schwerpunkten in Guangdong und Fujian (einschließlich der Sonderzonen), Branchenschwerpunkte sind mittlerweile die Elektro-und Elektronikindustrie, die Nahrungsmittelverarbeitung und die kunststoffverarbeitende Industrie
-Im Zusammenhang der Integrationsprozesse haben zwischen 1988 und dem Juni 1995 über 7, 7 Millionen Besuche des Festlandes durch Taiwanesen stattgefunden.
-In den wichtigsten Exportmärkten USA und Japan hat das Festland inzwischen größere Marktanteile (gemessen an den jeweiligen Gesamt-importen der Länder) als Taiwan (USA: 5, 3 Prozent versus 3, 75 Prozent; Japan: 9, 92 Prozent versus 3, 92 Prozent), wobei allerdings Exporte taiwanesischer Festlanduntemehmen als Exporte der VR China betrachtet werden.
Gewöhnlich wird diese Entwicklung mit der Überlegung in Verbindung gebracht, daß möglicherweise Abhängigkeiten für Taiwan entstehen, die letztlich auch seine politische De-facto-Autonomie gefährden. Genauere Analysen belegen dies aber nicht, soweit die wirtschaftlichen Aspekte im engeren Sinne betroffen sind Die Verlagerung von Industrien zum Festland geschieht bislang nach dem Prinzip komparativer Vorteile und ist entsprechend, wenn überhaupt, mit der Entstehung gegenseitiger -nicht einseitiger -Abhängigkeit verbunden; sie betrifft auf Taiwan in der Regel Industrien mit ohnehin großen Anpassungsproblemen im übergreifenden pazifischen Strukturwandel. Auf der anderen Seite führt die Abwanderung aber zu starken Nachfrageeffekten für die einheimischen Produzenten und belebt die taiwanesische Wirtschaft, die gerade im Jahre 1995 mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat (Krise der Kreditgenossenschaften und neuer privater Banken, Überangebot und Preisverfall im Immobiliensektor, Kursverfall an der Börse usw.). Einfache Schätzungen weisen zwar auf einen insgesamt schwach negativen Effekt für die künftige Investitionstätigkeit in Taiwan hin, doch sind solche Prognosen stark von den unterstellten institutionellen und weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Hinzu kommt, daß taiwanesische Unternehmen eine aktive internationale Diversifikation betreiben und dabei zum Beispiel versuchen, hochwertige Produkte an europäischen Standorten mit dortigen Technologien und Organisationsmitteln herzustellen
Daß die Regierung Taiwans die Auswirkungen der wirtschaftlichen Integration mit (dem Festland genauso sieht, demonstriert die Tatsache, daß ungeachtet der politischen Spannungen wichtige wirtschaftspolitische Maßnahmen weiter implementiert und angestoßen werden, wie etwa Verhandlungen zwischen Staatsunternehmen der Petrochemie beider Seiten zur Frage der gemeinsamen Exploration des südchinesischen Meeres (eine auch außenpolitisch sensible Frage), die Einrichtung einer indirekten Flugroute über Macao-Peking/Shanghai oder das erneut verstärkte Bemühen, direkten Schiffsverkehr zwischen dem Festland und einer eigens geschaffenen Freihandelszone im Hafen von Kaohsiung einzurichten. Selbst Gespräche über eine Zusammenarbeit im Bereich der militärischen Forschung und Entwicklung sind möglich und offenbar aussichtsreich Insofern ist die eigentlich zentrale Frage diejenige, inwieweit die wirtschaftliche Integration letzten Endes die Stabilisierung der taiwanesischen Demokratie dadurch gefährdet, daß sie eine nationale Identität der Wirtschafts-Bürger Taiwans unterminiert.
2. Tai wanesisehe Festlandinvestitionen
In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei prinzipielle Überlegungen bedeutsam, die an die oben skizzierte Problematik der Beziehung von Kultur und Nationalismus in China anknüpfen. Zum einen bedeutet die wachsende Bindung taiwanesischer Unternehmer an das Festland natürlich, daß viele ihrer Probleme und Interessen nur noch im Dialog mit den Autoritäten der VR China, nicht aber der Republik China Berücksichtigung finden können Zum anderen wäre es jedoch verfehlt, diese Interessenartikulation nicht von vornherein in einen regionalen Kontext zu stellen, denn der Wettbewerb von Regionen um taiwanesisches Kapital bedeutet natürlich auch, daß die Regionen gegebenenfalls gemeinsame Interessen mit den taiwanesischen Investoren besitzen und damit einheitliche nationale Strategien der Taiwan-Politik der KPCh gebrochen werden. Dies wird selbst bei wesentlichen außenpolitischen Manövern der VR China augenfällig, denn beispielsweise ist die Politik der Einschüchterung, die im Sommer 1995 von der Pekinger Zentralregierung gegenüber Taiwan betrieben worden ist, gar nicht auf Zustimmung jener Provinzen gestoßen, die stark auf den Zustrom taiwanesischen Kapitals angewiesen sind und die Auswirkungen der Spannungen rasch durch weitere Verbesserungen der Investitionsbedingungen aufzufangen suchten
Zugespitzt gesprochen, ist also eine regional verwurzelte, gleichwohl internationalisierte chinesische Kaufmannsgemeinschaft im Entstehen begriffen, die nach gewissen gewohnheitsrechtlichen Normen und der internationalen Lex mercatoria (internationale Handelsgewohnheiten) interagiert und die als Gesamtheit keinesfalls deckungsgleich ist mit der Reichweite nationalstaatlicher Ansprüche auf beiden Seiten der Taiwanstraße Beide Regierungen versuchen, die Entwicklung von Institutionen dieser Kaufmannsgemeinschaft im eigenen Interesse zu steuern, denn die Möglichkeit der Kooptation durch die Gegenseite besteht natürlich im Falle taiwanesischer Geschäftsleute ebenso wie im Falle politischer Kader und Manager der VR China. Die in Frage stehenden Pro-zesse sind aber komplex und nur auf lokaler Ebene wirklich nachvollziehbar.
Inzwischen -nachdem die VR China im Rahmen der Verkündigung des Investitionsschutzgesetzes für Taiwanesen nach langem Zögern die entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen hat-organisieren sich die taiwanesischen Kaufleute landesweit in regionalen Verbänden, wobei freilich eine nationale Repräsentation untersagt bleibt, informell aber über die Vermittlung des Pekinger Verbandes stattfindet Aus der Sicht der VR China können diese Verbände als Instrument langsamer Kooptation auf lokaler Ebene dienen, denn nolens volens müssen die Verbände Vertreter der festländischen Seite aufnehmen, um überhaupt in Gesprächskontakte eintreten zu können; hinzu kommt, daß für maximale Transparenz der Vorgänge in den Verbänden gesorgt werden muß, um jeglichen Verdacht politischer Betätigung auszuräumen. Hier finden verschiedene Lösungen Anwendung, von „Ehrenberater“ -Positionen für den Leiter des lokalen Büros für Taiwan-Angelegenheiten (eine stark von der Pekinger Zentrale kontrollierte Einrichtung) und anderer Abteilungen der lokalen Regierung bis hin zur automatischen Mitgliedschaft der festländischen Joint-Venture-Partner.
Für die Republik China werden die Verbände wiederum zu einer wichtigen Instanz der Kommunikation zwischen Regierung und taiwanesischen Festlandunternehmen, etwa in Gestalt regelmäßiger Veranstaltungen in Taiwan, an denen Vertreter der taiwanesischen Verbände teilnehmen. Auf Zusammenkünften wie der „Tai shang shijian" -der „Zeit für taiwanesische Festlandunternehmer“ des Wirtschaftsministerium -, aber auch bei zunehmend bedeutenderen Großveranstaltungen, setzen sich hohe Vertreter der Regierung unmittelbar mit Problemen der Kaufleute auseinander, etwa mit der Frage der taiwanesischen Importregulierungen, aber auch mit grundsätzlichen Aspekten der taiwanesischen Festlandpolitik
Insofern ist die Bedeutung der Verbände für die Frage der nationalen Identität der Taiwanesen auf dem Festland schwer einzuschätzen; dies spiegelt interessanterweise ähnliche Probleme bei der Analyse festländischer Assoziationen wider, die im Rahmen der Anwendung des Korporatismus-Paradigmas auf China eine große Rolle erhalten haben Denn die Anwesenheit lokaler Vertreter des Staates in Verbänden bedeutet nicht zwingend, daß diese Vertreter auch die Steuerungsinteressen der Zentralregierung realisieren, sondern kann auch dazu führen, daß sich eine regionale, staatlich-private Interessengemeinschaft formiert, also ein regional-korporatistisches, nicht aber nationalkorporatistisches Politikregime entsteht. Hier sind viele Konstellationen denkbar und auch bereits aufgetreten. Lokale Regierungen können, wie in Fujian, eine aktive Standortpolitik betreiben und in Kooperation mit taiwanesischen Kaufleuten Maßnahmen der Deregulierung und Infrastruktur-politik durchführen, oder es können, wie in Shanghai, auch direkte Interessenkonflikte zwischen taiwanesischen und festländischen Exporteuren auftreten, wenn etwa der Marktzutritt in den USA durch Quoten beschränkt ist und sich nun die Frage stellt, wie derartige Quoten auf die unterschiedlichen Produzenten in der VR China verteilt werden
Dieses Beispiel verdeutlicht gut, daß derartige Institutionen bislang weder eindeutig im Sinne der festländischen Strategie der „friedlichen Wiedervereinigung“ noch im Sinne der taiwanesischen Hoffnung auf „friedliche Evolution“ des Festlandes zur Demokratie gedeutet werden können. Zudem ist nur der kleinere Teil der Investoren in den Verbänden organisiert, da viele gerade die indirekte Kontrolle durch die festländische Seite meiden. Spitzt man die Frage jedoch in Richtung des Problems der nationalen Identität zu, dann läßt sich wohl einigermaßen klar erkennen, daß die Interessenkonstellationen weiterhin die taiwanesi-sehe Kaufmannschaft als Subgruppierung der internationalen chinesischen Kaufmannsgemeinschaft bewahren In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, daß gerade die Festlandaktivitäten vornehmlich von gebürtigen Taiwanesen realisiert werden, die den Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen in Taiwan dominieren, während die gebürtigen Festländer eher eine untergeordnete Rolle spielen, da sie zumeist in Bereichen von Staat und Politik Taiwans tätig sind, die bislang nur marginal vom Festlandgeschäft betroffen sind.
Um so bemerkenswerter ist es aber, daß in Taiwan soeben eine Auseinandersetzung zur Frage der nationalen Identität der taiwanesischen Kaufleute auf dem Festland beginnt In einem Forschungsbericht für den „Mainland Affairs Council“ wird in deutlichen Worten die These formuliert, daß sich bei vielen Festlanduntemehmem die Neigung zeigt, auf dem Festland „Wurzeln zu schlagen“ („ben tu hua“) und daß sich eine Migrantenhaltung verfestige („yi min xingtai“). Der Grund bestehe darin, daß zwischen festländischen Kadern und Taiwanesen eine „Interessengemeinschaft“ entstanden sei („li yi gongtongti“): Die taiwanesischen Unternehmer sind in vielerlei Hinsicht auf die Unterstützung durch Kader angewiesen (Versorgung mit Energie und Wasser, Schutz vor irregulärer Besteuerung etc.), andererseits suchen die Kader die Nähe der reichen „Landsleute“ („tong bao“), um viele kleine Gefälligkeiten zu genießen. Es gibt auch sehr erfolgreiche Taiwanesen, die auf dem Festland mit nichts begonnen haben, nun dort hohes Ansehen genießen, mit höchsten regionalen Eliten verkehren und gegenüber der eigenen Regierung die Auffassung vertreten, diese habe sie stets als „Waisenkinder“ behandelt und möge sich nun nicht beklagen.
Diese Diskussion wird noch weite Kreise ziehen, denn eine „Umpolung“ der mehr als 20000 Unternehmer und zum Teil auch Unternehmerfamilien würde mit Sicherheit sehr weitreichende Folgen für die Beziehungen zwischen beiden Ländern haben. Argwöhnisch wird also etwa das Verhalten der Taiwanesen beim Nationalfeiertag der Volksrepublik China betrachtet, da sie von den lokalen Autoritäten mehr oder weniger zur Teilnahme an den Feierlichkeiten gedrängt werden. Die Vertreter taiwanesischer Vereinigungen weisen hingegen darauf hin, daß es sich bei all solchen Verhaltensweisen nur um zwangsweise Anpassungen an das Unvermeidliche handele, nicht aber um eine Veränderung der eigenen Identität, die sich auch künftig in weitreichenden Unterschieden der Normen, Sitten und Standards niederschlage. Dennoch ist sicherlich zu beachten, daß manche der taiwanesischen Unternehmerverbände zunehmend auch lokale Ordnungsfunktionen erhalten und beispielsweise nicht nur an der lokalen Infrastrukturentwicklung teilhaben, sondern unter Umständen sogar zur Finanzierung und Organisation von Ordnungskräften beitragen, wenn die lokalen Behörden nicht mehr der wachsenden Probleme der öffentlichen Sicherheit Herr werden
Die Position der taiwanesischen Kaufmannschaft besitzt in der gesamtchinesischen Kaufmannsgemeinschaft auch eine starke regionale und internationale Komponente. Taiwan wird etwa mehr und mehr zu einer wichtigen Drehscheibe für die Aktivitäten amerikanischer Chinesen bzw. von Taiwanesen auf dem Festland, und umgekehrt werden zum Beispiel Serviceleistungen für taiwanesische Investoren in Kooperation zwischen einer festländischen Einrichtung und einem amerikanischen Investment-Broker unter Leitung eines US-Chinesen entwickelt Innerhalb der pazifischen Region investieren taiwanesische Mutterunternehmen in verschiedenen Gebieten, um etwa, wie im Falle Vietnams, besondere Vorteile im Außenhandel dieser Gebiete zu nutzen (wie die vietnamesisch-französischen Beziehungen als Eintrittstor zum europäischen Markt) und die möglichen Kontakte zu dortigen Chinesen geschäftlich zu aktivieren Doch bedeutet dies auch, daß im Kontakt mit anderen auslandschinesischen Gemeinschaften und den Hong Kong-Chinesen erneut Aspekte der nationalen Identität Taiwans berührt werden, etwa im Bereich der populären Kultur, und damit vielleicht eine Auflösung taiwanesischer Identität weniger in der nationalen Identität der VR China als vielmehr in einer grenzüberschreitenden chinesischen Kultur der Moderne erfolgt.
Fassen wir zusammen: Die wirtschaftliche Integration zwischen Taiwan und dem Festland berührt bislang die nationale Identität Taiwans nicht direkt im Sinne der wachsenden realen Abhängigkeit vom Festlandgeschäft, aber indirekt im Sinne einer Erosion des „Taiwan-Bewußtseins“ im Medium einer internationalen „Chineseness“. Welche politischen Konsequenzen ergeben sich dann für die Beziehungen zwischen beiden chinesischen Staaten?
IV. Perspektiven der Stellung Taiwans im chinesischen Kulturraum und in der Welt
1. Strategien Taiwans für das 21. Jahrhundert
Die Ende der achtziger Jahre in Taiwan weit verbreitete Vorstellung, die Abwanderung seiner gewerblichen Industrie auf das Festland werde zu einer „Aushöhlung“ („kongdong hua“) seiner Wirtschaft führen, ist heute nicht mehr haltbar. Dennoch ist eindeutig erkennbar, daß die weitergehende Integration schon rein wirtschaftlich eine große Herausforderung für Taiwan darstellt. Diese Herausforderung trifft auf eine gesellschaftliche Grundstimmung in Taiwan, die gerade 1995 durch das Zusammentreffen zwischen inneren wirtschaftspolitischen Problemen und äußerer Spannung einen weiteren Schub zum Pessimismus erhalten hat
Die Regierung hat auf diese Herausforderung mit dem Konzept reagiert, erstens, die regionale Diversifikation der taiwanesischen Investitionen aktiv zu fördern (sogenannte „Südstrategie“ vom Beginn des Jahres 1994), und zweitens plant sie, Taiwan zu einem regionalen Verkehrs-, Kommunikations-und Finanzzentrum fortzuentwickeln, das freilich anders als Hong Kong auch eine große Bedeutung als Standort für technologisch weit entwickelte Industrien und vor allem auch multinationale Unternehmen besitzen soll, die im ostasiatischen Wirtschaftsraum mit einer besonderen Ausrichtung zum chinesischen Festland operieren
Im Prinzip ist diese Vorstellung eine notwendige Konsequenz der realen Erfordernisse, die aus einer weitergehenden Liberalisierung des Außenwirtschaftssystems im Kontext des baldigen WTO/GATT-Beitritts und der gleichzeitig zunehmenden Integration mit dem Festland entstehen Eine Internationalisierung Taiwans bedeutet nämlich auch, daß der Einfluß der festländischen Wirtschaft auf Taiwan weiter zunehmen wird, und zwar dann in Gestalt festländischer Exporte nach Taiwan und vor allem auch möglicher Kapitalimporte aus der VR China. Bezüglich des ersteren verfolgt Taiwan schon seit längerem eine Handelspolitik der raschen Öffnung, denn es kann nur dann Standort für Industrien an fortgeschrittenen Positionen der Wertschöpfungskette bleiben, wenn diese Industrien die Option besitzen, das Festland als verlängerte Werkbank zu verwenden und Halb-fertigprodukte eigener Unternehmen zu reimportieren, um sie in Taiwan weiterzuverarbeiten und mit dem Label „Made in ROC“ zu versehen. Gleiches gilt dann natürlich auch für multinationale Unternehmen, die eine koordinierte Standortpolitik im gesamten chinesischen Kulturraum betreiben, wie zunehmend die japanischen Großunternehmen. Ähnlich klare Zusammenhänge zwischen Standortsicherung und Liberalisierung gibt es auch in anderen Bereichen. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß festländische Exporteure, seien sie taiwanesische oder andere, wachsenden Wettbewerbsdruck auf taiwanesische Produzenten in Taiwan ausüben Je besser sich also die festländische Industriestruktur zumindestens in einigen Regionen entwickelt, desto wahrscheinlicher würde eine Abwärtsspirale von Importdruck und weiterer Abwanderung von Industrien von Taiwan. Insofern ist eine rasche Anpassung der taiwanesischen Industriestruktur ein zwingendes Gebot und hat weitreichende Implikationen etwa für die Deregulierung des gesamten Dienstleistungsbereiches, die Praxis der Vergabe öffentlicher Aufträge oder die Arbeitsmarktpolitik.
Wirklich problematisch könnte freilich die Öffnung des Kapitalmarktes werden, wenn auf diese Weise das sogenannte „rote Kapital“ die Möglichkeit erhielte -ähnlich wie bereits in Hong Kong direkt Einfluß auf die taiwanesische Wirtschaft auszuüben und Kontrollmacht in Unternehmen an sich zu ziehen Wegen des hybriden Charakters vieler Unternehmen der VR China besitzt die KPCh weitreichende Möglichkeiten, über Fusionen und Unternehmenskäufe letzten Endes politische Machtpositionen in der Wirtschaft zu erlangen. Taiwan reagiert auf diese Problematik bislang mit besonderen Regulierungen für die Aktivitäten von Unternehmen Hong Kongs, in deren Hintergrund „rotes Kapital“ steht Aber auch, was die taiwanesischen Unternehmen betrifft, so zeichnen sich bereits heute Probleme ab, denn viele Töchter auf dem Festland sind inzwischen schon größer als die Mutterunternehmen in Taiwan. Fehlentwicklungen etwa von taiwanesischen Unternehmen, die auf dem Festland börsengängig sind, könnten also auf die Mutterunternehmen durchschlagen und den taiwanesischen Kapitalmarkt destabilisieren, weil nach wie vor viele Festlandunternehmen wesentlich von der Finanzierung über die taiwanesische Mutter abhängen
Ein wesentlicher Aspekt der Anpassungsstrategie Taiwans besteht auch darin, daß es nur auf der Grundlage der Devise „Stillstand ist Rückschritt“ seinen Einfluß in der asiatisch-pazifischen Region bewahren und möglicherweise ausbauen kann. Wirtschaftliche Liberalisierung und Wachstumspolitik stehen im Zentrum fast aller Bemühungen in der Region, politische Prozesse und Entscheidungen in verschiedenen Institutionen und Organisationen zu koordinieren Naturgemäß ist dabei der Einfluß des mächtigen Kapitalexportlandes Taiwan groß und wird nur durch die Möglichkeiten der VR China begrenzt, um so mehr auf Ausschluß Taiwans zu drängen, je stärker der Charakter der Institutionen als zwischenstaatlicher Arrangements zum Tragen kommt. Jedoch spielen in der asiatisch-pazifischen Region weiterhin informelle und paranationale Institutionen eine bedeutende Rolle für die Politik-Koordination, bieten daher weiten Raum für entsprechende Aktivitäten Taiwans und bereiten dann auch den Boden für die Aufnahme in formelle Gremien, wie im Falle der Asia Pacific Economic Cooperation (APEC) im Jahre 1991 erfolgreich demonstriert. So hat Anfang Oktober die Energiekonferenz der APEC in Taipei stattgefunden und auf diese Weise nach Auffassung taiwanesischer Kommentatoren zu einer weiteren Zunahme der Bedeutung Taiwans in der APEC beigetragen
Seit einiger Zeit wird diese Strategie freilich seitens des Präsidenten Lee Teng-hui in einer Weise auch mit politischer Bedeutung belegt, die genau den Anstoß für die VR China gab, mit einer groß angelegten Diffamierungskampagne indirekt auf die Stimmung der taiwanesischen Öffentlichkeit Einfluß zu nehmen. So wurde dem Gedanken des . „Da Taiwan“ -des „großen Taiwan“ -der Rede zum Nationalfeiertag eine explizite ökonomische und selbstbewußte Sprache unterlegt Die vielfältigen sprachlichen Auseinandersetzungen haben inzwischen eine sehr barocke Form auch in Taiwan selbst angenommen, in denen die politischen Antagonisten stets versuchen, die eigentlichen Intentionen feiner Varianten offenzulegen, wie etwa in Gestalt der Kritik der „Neuen Partei“ an der diesjährigen Praxis vieler ausländischer Vertretungen Taiwans, die Bezeichnung „ROC on Taiwan“ zu verwenden und damit also die „Republic of China“ als Kürzel hinter „Taiwan“ treten zu lassen.
2. Die Einheit Chinas und die deutsche Politik
Wie stellen sich nun aber angesichts derart komplizierter Verhältnisse die Perspektiven einer möglichen Einigung Chinas dar? Während die festländische Seite naturgemäß am Ziel der raschen Einigung nach dem Modell Hong Kong, freilich mit noch erweiterten Rechten Taiwans, festhält, ist es kein vorgeschobenes Argument der Regierung der Republik China, daß ein demokratisches Taiwan eine Politik verfolgen muß, die den Willen seiner Bevölkerung widerspiegelt Dieser Wille spricht aber eindeutig für die Wahrung des Status quo bei gleichzeitiger Stärkung der internationalen Präsenz Taiwans und mehrheitlich gegen eine Politik der nationalen Unabhängigkeit, freilich unter dem Eindruck der entsprechenden Konditionierung der VR China, die in diesem Fall eine militärische Invasion angekündigt hat Vertreter der „Democratic Progressive Party“ weisen außerdem wohl zu Recht darauf hin, daß die kommende, erste direkte Wahl des Staatspräsidenten einer chinesischen Gemeinschaft selbst ein Verfassungsakt ist, der formal eine nationale Autonomie vom Festland konstituiert, da dieses ein solches Rechtsinstitut gar nicht kennt: Die Wahl des Präsidenten ist nichts anderes als der äußerliche Ausdruck der Souveränität des taiwanesischen Volkes und würde als unverzichtbarer Bestandteil einer Einigung gleich welcher Art weitreichende Implikationen für die hypothetische gesamtchinesische Verfassung besitzen
Bei genauer Betrachtung gibt es kaum ein sinnvolles institutionelles Szenario für die Vereinigung beider chinesischer Nationen, das nicht den taiwanesischen Entwicklungserfolg und die taiwanesische Demokratie substantiell gefährden würde. Selbst das Modell eines föderativen chinesischen Staates ist kaum realistisch, da dies eine umfassende Liberalisierung des Binnenmarktes verlangte und damit vor allem der Migration zwischen dem Festland und Taiwan. Insofern erschiene nur das Modell der Konföderation oder gar des „Commonwealth“ als greifbar, in dem Taiwan schon durch die Vertragskonstruktion indirekte Rechte als Nation durch den Vertragspartner VR China zugesprochen erhielte. Dies wiederum widerspräche fundamental den Interessen der VR China und vor allem der nationalistisch-kulturalistischen Überzeugung, daß zwischen dem Zentrum und der Peripherie keine gleichberechtigten, sondern allenfalls multilaterale Verhandlungen geführt werden können. Die Einigung Chinas bleibt also ein fernes Ziel, das eher visionär als realistisch begriffen werden kann.
Kehren wir also abschließend zu der Frage zurück, was der Westen tun kann, um die Entwicklung in der Region auch im eigenen Interesse zu stabilisieren. Die Unterstützung eines weiterhin friedlichen Wachstumsprozesses ist im Interesse der Welt -ein entsprechendes konstruktives Engagement erkennt also dessen große Bedeutung für die Welt an und stellt keine „Einmischung fremder Mächte“ dar, auf die seitens der VR China ominös im Kontext der militärischen Bedrohung Taiwans hingewiesen wird. Welche Handlungsmöglichkeiten besitzen andere Länder jedoch?
Um diese Frage nicht als abstrakt im Raum stehen zu lassen, seien folgende konkrete Vorschläge formuliert, die zumal an die Adresse der deutschen Außenpolitik gerichtet sind:
Erstens: Unter klarer Anerkennung des Prinzips, daß die Existenz nur einer chinesischen Nation ein schutzwürdiger politischer Wunsch, aber keine Rechtstatsache ist, muß die De-facto-und auch formale Anerkennung Taiwans so weit wie möglich vorwärtsgetrieben werden. Hierzu ist eine gewisse Abstimmung zwischen den verschiedenen westlichen Staaten erforderlich, die andernfalls stets wirtschaftspolitisch erpreßbar bleiben und gegenseitig ausgespielt werden. Begründet wird ein positives Taiwan-Engagement mit der Einsicht, daß die Dynamik der Region wesentlich durch politischen Wettbewerb zwischen den verschiedenen politischen Gemeinschaften des chinesischen Kulturraumes getragen wird.
Zweitens: Dieses Maximalprogramm ist natürlich schwer durchsetzbar. Realistisch ist aber eine rasche und maximale Erleichterung aller Kontakte zwischen Taiwan und dem Westen, die nicht politisch belastet sind, wie etwa Reisen und Aufenthalte von Unternehmern in Europa und der Kulturaustausch. Hier gibt es im Reisealltag von Taiwanesen immer wieder Probleme. Bedenklich sind aber beispielsweise Geschehnisse im Umfeld einer Taiwan-Konferenz der internationalen Studentenorganisation AIESEC in Linz (Juli 1995), die explizit unpolitischen Charakter trug und dennoch erheblichem informellen Druck durch die Botschaft der VR China in Österreich ausgesetzt wurde, bis hin zur Abschreckung von Sponsoren und anderen Formen der Sabotage. Hier Rollten auf ähnlich informeller Ebene eindeutige Positionen der jeweiligen europäischen Institutionen bezogen werden -statt dessen sagten österreichische Politiker bereits bestätigte Zusagen zur Teilnahme an der Konferenz ab.
Drittens: Deutschland sollte versuchen, eine stärkere Position als Vermittler in der Region einzunehmen, etwa in Gestalt von VIP-Reisen, die von vornherein den chinesischen Kulturraum ins Auge fassen und seine verschiedenen politischen Einheiten. Hierzu ist auch eine größere politische Transparenz erforderlich sowie eine aktive Förderung der Öffnung bestehender Vereinigungen und Verbände für sämtliche Gemeinschaften des chinesischen Kulturraumes, nach dem Vorbild mancher chinesischer Verbände in Deutschland, in denen Taiwanesen und Festländer bereits seit längerem reibungslos und konstruktiv zusammenarbeiten. Diese Beispiele könnten auch für Einrichtungen wie die „Deutsch-chinesische Wirtschaftsvereinigung“ Schule machen, die bislang de facto dem „Ein-China-Prinzip“ verpflichtet sind.
Viertens: Besonders wichtig kann der Ausbau der subnationalen Länder-und Städtediplomatie werden, bei der Taiwan künftig wesentlich flexibler agieren kann als in der Vergangenheit, da die verschiedenen gebietskörperschaftlichen Ämter inzwischen nach demokratischen Prozeduren besetzt und damit auch von Vertretern unterschiedlicher Parteien repräsentiert werden. Zu denken wäre etwa an Doppel-Partnerschaften deutscher Städte mit Peking und Taipeh als Städten oder zwischen Ländern der Bundesrepublik und der Provinz Taiwan der Republik China auf Taiwan, die unterhalb des Zentralstaates angesiedelt und damit keine nationale Institution ist. Auf diese Weise ließen sich viele Konflikte vermeiden, die bei engeren Kontakten auf der nationalen Ebene auftreten.
Fünftens: Schließlich sollte es erklärtes Nahziel westlicher Außenpolitik sein, die VR China zu bewegen, die militärische Bedrohung Taiwans formell fallen zu lassen. Angesichts der zunehmenden Unsicherheit in der pazifischen Region, was die strategischen Perspektiven der VR China betrifft, und auch im Kontext der fortlaufenden Auseinandersetzung über Menschenrechtsfragen, wäre es ein Akt großer historischer Bedeutung, wenn beispielsweise eine große Konferenz von Vertretern der Eliten chinesischer Gemeinschaften (nicht „Staaten“) und der internationalen chinesischen Kaufmannschaft eine „pax sinica“ verkünden würde, die Friede und Handel, nicht Gewalt und Bedrohung, zu den Grundwerten jeder chinesischen Gesellschaft erklärte. Ohne größeren Gesichtsverlust könnte dann auch die VR China schlicht auf die weitere Erwähnung der militärischen Bedrohung gegenüber Taiwan verzichten.
Diese Beispiele zeigen, daß westliche Politiker mit ein wenig Zivilcourage durchaus Mittel und Wege besitzen, dem vielleicht vielversprechendsten Wirtschaftsraum der Zukunft dabei zu helfen, nicht letztlich an der Unfähigkeit zu zerbrechen, die nationale Frage zu lösen. Die Gratwanderung der VR China und der Republik China ist bereits erstaunlich weit gelangt. Nun reicht aber allein der Applaus der Zuschauer nicht mehr aus, um sie fortzusetzen.