I. Einleitung
Ein Schlaglicht auf die französischen Verhältnisse im September 1995: 70 Prozent der Franzosen zeigten sich nicht schockiert über eine Sendung namens „Osons!“ (Wagen wir's), in der vor 9, 8 Millionen Zuschauern ein parodistisch gemeintes, aber offensichtlich rassistisches Chanson („Schwarze aufklatschen“, „Casser du noir“) intoniert wurde und sich der Chef der französischen Rechtsextremisten darüber nach eigenem Bekunden köstlich amüsierte. Zwar waren für diese Umfrage nur 380 Personen befragt worden und zeigten sich immerhin 23 Prozent „etwas schockiert“, sechs Prozent „sehr schokkiert Die Antirassismusorganisationen MRAP und LICRA haben Anzeige erstattet; die Femsehaufsichtsbehörde CSA sah die Grenze zur „Aufstachelung zum Rassenhaß“ erreicht (incitation ä la haine raciale) Aber die Tatsache, daß eine solche Sendung im privatisierten Ersten Fernsehprogramm TF 1 überhaupt möglich ist, spricht für sich.
Paradoxerweise erhält der Eindruck, Frankreich werde von Einwanderern, den „immigrds“, überschwemmt, eine zunehmend breitere Basis, obwohl die Zahl der Ausländer von 4 Millionen im Jahr 1975 auf 3, 5 Millionen 1990 zurückging Die Ausländer nehmen die Arbeitsplätze weg -so eine weitere verbreitete Ansicht, faktisch repräsentierten sie 1990 aber nur noch sechs Prozent der Erwerbspersonen gegenüber neun Prozent 1987. Zudem nehmen -entgegen landläufigen Vorstellungen -die Portugiesen mit 28 Prozent den ersten Platz auf der Rangliste der ausländischen Beschäftigten ein und nicht etwa die Algerier, die auf 19, 3 Prozent kommen
Das staatsbürgerliche französische Integrationsmodell bedeutet generell Zustimmung der Immigranten zu den Werten der Republik, darauf auf bauend soziale Gleichstellung mit den Einheimischen, soziale Unterstützung, Gewährung von Wohn-und Ausbildungsbeihilfen, Prävention und Verfolgung fremdenfeindlichen Verhaltens, Dialog mit den kulturellen und religiösen Gemeinschaften und vor allem: Durchmischung statt Ghettobildung. Die französische Republik beansprucht, alle ihre Staatsbürger ohne Ansehen ihres sozialen Stands, ihrer ethnischen Herkunft oder religiösen Zugehörigkeit zu integrieren, aber das politische Ideal wird von ökonomischen, sozialen und urbanen Verhältnissen untergraben. Die Präambel der französischen Verfassung bestimmt die Republik als „laizistisch“ und „sozial“; die sozialen Konflikte der französischen Vorstädte, in denen sich „soziale Deprivation mit pluriethnischer Ghettobildung zu einer hochexplosiven Mischung“ verbinden stellen den sozialen Anspruch, die „Kopftuchaffären“ das sakrosankte Prinzip der Laizität des öffentlichen Schulwesens in Frage. In den französischen Vorstädten und Hochhausghettos haben sich soziale Probleme verknüpft mit ethnischen Konflikten, die sich zu einem sozialen Sprengsatz entwickeln können.
Die langjährige Verdrängung der schwarzen Jahre des Pdtain-Regimes mit seinen antijüdischen Gesetzen, aber vor allem die unbewältigte koloniale Vergangenheit haben dazu beigetragen, daß der Haß auf „Nichtfranzösisches“ und der Wille zu dessen Vernichtung bzw. zumindest Vertreibung weiterleben. Identitätsängste, soziale Ängste, Orientierungs-und Sinnkrisen und soziale Vorurteile können offenbar unter bestimmten Umständen aus ihrer Latenz aufsteigen zu rassistischen Diskursen und Reaktionen bis hin zu Anwendung von Gewalt.
Der unaufgehaltene Aufstieg der rechtsextremen Nationalen Front unter Jean-Marie Le Pen seit 1983, kurz: des Lepenismus, hat in Frankreich xenophobe und rassistische Ideen wieder hoffähig gemacht. Beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl im Mai 1995 erreichte die Partei Le Pens mit 15 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte: 4, 57 Millionen Stimmen. Die Partei ist zu einem festen Bestandteil des politischen Lebens geworden und stellt seit den Wahlen vom 11. /18. Juni 1995 sogar die Bürgermeister der südfranzösischen Städte Orange, Marignane, einer Nachbarstadt von Marseille, sowie der 100000-Einwohner-Stadt Toulon.
Die machtvollen Demonstrationen gegen Le Pen in den achtziger Jahren, an denen sich vor allem Jugendliche beteiligten, vermittelten den Eindruck, die Jugend sei gegenüber xenophoben und rassistischen Versuchungen immun. Zwar erklärten fast 90 Prozent der befragten Jugendlichen im Sommer 1990 daß man den Rassismus bekämpfen müsse, aber immerhin 11 Prozent bezeichneten sich offen als rassistisch und 21 Prozent vertraten die Auffassung, daß Ausländer in ihrer Heimat bleiben sollten. Die Präsenz von Rassismus im Alltagsleben ist unübersehbar: 78 Prozent der Jugendlichen antworteten, daß sie bereits Zeuge rassistischer Aggressionen waren.
II. Einwanderung und Ausländer in Frankreich
Die offizielle Einstellung Frankreichs zur Einwanderung ist von der bundesdeutschen Position grundverschieden: „Die Zuwanderung ausländischer Bürger ist aus wirtschaftlichen und demographischen Gründen für viele Gesellschaften eine Notwendigkeit“, lautet die Einleitung einer Dokumentation des offiziösen, von der französischen Botschaft herausgegebenen „Frankreich-Info“ zum Thema „Einwanderer in Frankreich“. Die vermutlich auf das Konto von algerischen Gruppen gehende Welle terroristischer Attentate in Paris im Sommer/Herbst 1995 hat erneut das Mißtrauen gegenüber fremden ethnischen Gruppierungen geschürt und erheblich zu den Spannungen zwischen Franzosen und den seit langem ansässigen Arabern beigetragen, die ohnehin aufgrund gängiger Klischees leicht in Verdacht geraten, ihre Finger im Spiel zu haben „Früher hieß es: Islam = Fundamentalismus, heute: Araber = Terrorist“ gleichgesetzt werden auch „Immigrant“ und „Maghrebiner“, „Islam“ und „Terrorismus“. Der Ruf nach Sicherheit ist wie Wasser auf die Mühlen der Nationalen Front. Trotz Erosionserscheinungen hält die französische Republik an ihrem Integrationsmodell, das sich an der Eingliederung von Individuen, die nicht als Mitglieder einer ethnischen oder religiösen Gruppe betrachtet werden, in die laizistische Gesellschaft orientiert, fest.
1. Historischer Rückblick
Im Vergleich zur Bundesrepublik ist Frankreich ein erfahrenes Einwanderungsland, gemessen an den USA ein junges. Die Revolution von 1789 öffnete Ausländern die Pforten nach Frankreich. Die Einwanderungswellen waren mit der Industrialisierung und ihrem Arbeitskräftebedarf verbunden, die 1850 begann und 1880 ihren Höhepunkt erreichte. Bis zum Jahre 1851 stammten die Einwanderer hauptsächlich aus den Nachbarländern Frankreichs und aus Polen. Die Volkszählung von 1851 gab zum ersten Mal Aufschluß über die Zahl der in Frankreich ansässigen Ausländer: 381000, davon 128000 Belgier. Die Zahl der Zuwanderer wuchs stetig: 1881 wurde die erste Million erreicht, 1921 waren es 1, 5 Millionen, darunter erste Portugiesen und Maghrebiner (also Nordafrikaner). Im Jahre 1931 wurden bereits 2, 7 Millionen gezählt, davon 808000 Italiener, 508000 Polen und 352000 Spanier. Die nationale Zusammensetzung veränderte sich erheblich. Mit dem Ersten Weltkrieg wurde 'Frankreich ein wichtiges Einwanderungsland, dessen Immigrationsrate in den zwanziger Jahren die der USA überrundete. Diese zweite Einwanderungswelle stammte hauptsächlich aus dem Mittelmeerraum und dem französischen Kolonialbereich in Nordafrika. Im Zuge von Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg gingen die Einwanderungszahlen zurück. Die provisorische Regierung unter General de Gaulle richtete 1945 ein Einwanderungsamt ein, das „Office National de lTmmigration“, das später in „Office des Migration Internationales“ (OMI) umbenannt wurde, und legte die Voraussetzungen für die Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft, für Einreise und Aufenthalt fest.
Mitte der fünfziger Jahre setzte die dritte Massen-einwanderung ein. Die Reform des Gesetzes über die Staatsangehörigkeit im Jahre 1973 bewirkte, daß mehr Ausländer die französische Staatsangehörigkeit annahmen -ein zentraler Punkt der französischen Integrationspolitik. Unter Verweis auf die Wirtschaftskrise stoppte die Regierung 1974 die Zuwanderung, aber aufgrund von Ausnahme-regelungen für Asylbewerber, politische Flüchtlinge, Ehepartner sowie Staatsangehörige aus schwarzafrikanischen Ländern, für die aufgrund der kolonialen Vergangenheit Sonderregelungen bestanden, stieg die Zahl weiter an. 1979 wurde unter Giscard d'Estaing ein Gesetz verabschiedet, das die Ausweisung illegaler Einwanderer erleichterte. Eine 1977 eingeführte Rückkehrprämie fand so wenig Anklang, daß sie 1981 von Mitterrand wieder abgeschafft wurde, der auch den zu diesem Zeitpunkt in Frankreich lebenden illegalen Einwanderern die Möglichkeit bot, ihre Situation zu legalisieren. Unabhängig von derjeweiligen Staatsangehörigkeit der Einwanderer bildete deren Integration stets ein Problem und gelang, wenn überhaupt, dann erst mit der zweiten oder dritten Generation. Gerard Noiriel zufolge war der Integrationswillen um so ausgeprägter und waren die Anstrengungen, die unternommen wurden, um Unterschiede zu verwischen, um so erheblicher je schärfer die Konflikte, je heftiger die xenophoben Reaktionen ausfielen. Imanuel Geiss betont, daß es Probleme und Konflikte zwischen Einheimischen und Fremden stets und überall gegeben hat Aufgrund dieser und weiterer Studien ließe sich Xenophobie als innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen „normales“ Phänomen deuten, „normal“ in dem Sinne, daß Konflikte regelmäßig im Zusammenhang mit Integration auftreten und Harmonie den Ausnahmefall darstellt. An dieser Stelle sei angemerkt, daß der vage und vieldeutige Begriff „Ausländerfeindlichkeit“, der in Deutschland mittlerweile zum Instrument gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, zum Kampfbegriff und damit auch zum Indiz für Hilflosigkeit geworden ist, im Französischen keine Entsprechung hat; dort ist präziser von Xenophobie, also Fremdenangst, und Rassismus die Rede. Integration ist also nicht als harmonischer, konfliktfreier Prozeß zu denken, auch nicht als möglichst reibungslose Einfügung, Eingliederung und Assimilation, Anpassung der Zuwanderer, sondern erfolgt in der Regel konfliktuell.
2. Einwanderung und Ausländer heute
Die jüngste Volkszählung (von 1990) hat ergeben, daß die ausländische Bevölkerung bei 3, 58 Millionen stagniert (1982 waren es 3, 70 Millionen) -sie stellt 6, 3 Prozent der 56, 6 Millionen Einwohner Frankreichs und 6, 5 Prozent (1, 6 Mio.) der 25, 1 Mio. Erwerbstätigen.
Die Relationen zwischen französischer und ausländischer Bevölkerung insgesamt haben sich kaum verändert -ein Aspekt von erheblicher Relevanz. Prozentual betrachtet, lagen die Zahlen 1990 in derselben Größenordnung wie 60 Jahre zuvor. Erheblich verändert hat sich hingegen seit den dreißiger Jahren die Zusammensetzung. Damals stellten die Europäer die große Mehrheit (83 Prozent) der ausländischen Bevölkerung. 1993 kam fast die Hälfte der Einwanderer -und 40 Prozent der Asylbewerber -aus Nord-und Schwarzafrika.
Auch die Zahl ausländischer Schüler blieb zwischen 1983 und 1993 relativ konstant bei einer Million, die sich 1993 prozentual wie folgt aufschlüsselt: Afrika 63, 1 (davon Maghreb 53, 8); EU 19, 1; Türkei 6, 5; Südostasien 4, 7 Prozent.
Als Katalysator der gesellschaftlichen Integration erwiesen sich Mischehen, die jedoch häufig von beiden beteiligten Gruppen, den Einheimischen wie der Zuwanderergemeinschaft, abgelehnt werden. Die Zahl der Mischehen hat 1972 die Marke von 20000 überschritten und blieb bis 1988 in dieser Größenordnung. Im Jahre 1989 wurde dann mit 26200 das höchste Niveau seit Kriegsende erreicht, das in den folgenden Jahren weiter anstieg: 1991 auf 32 900. Auch wenn die Existenz von Gefälligkeitsehen berücksichtigt werden muß, stellen Mischehen weiterhin einen zuverlässigen Indikator für Integration dar. Die Erwerbstätigkeit spielt eine wichtige integrative Rolle: Von den 1, 5 Millionen ausländischen Erwerbspersonen 1993 waren 1, 1 Mio. abhängig Beschäftigte.
Um die abstrakten, trockenen Zahlen zu illustrieren, einige Einblicke in die Mikroebene: Paris ist mittlerweile mit 150000 Südostasiaten die Hauptstadt der asiatischen Diaspora in Europa geworden. Die Bezeichnung „Chinatown“ für das Pariser Stadtviertel um die Place dTtalie ist allerdings ein Klischee, auch wenn dort 35 000 der 150000 Asiaten des Pariser Raums (Ile-de-France) wohnen, denn gerade drei Prozent der Einwohner dieses Viertels besitzen die Staatsangehörigkeit eines asiatischen Landes. Für Frankreich insgesamt beträgt die Zahl der Chinesen, Laoten, Vietnamesen etc. 400000 Personen, von denen allerdings nur 142000 als Ausländer registriert sind die Mehrheit ist also eingebürgert. Die asiatischen Einwanderer, die nach dem französischen Desaster von Dien Bien Phu 1954 und nach dem Fall Saigons 1975 nach Frankreich strömten, haben generell weniger öffentliche Aufmerksamkeit erregt als andere Einwanderernationalitäten.
Das Erziehungs-und Schulsystem hat in Frankreich eine zentrale integrative Funktion. Seit Erziehungsminister Bayrou im September 1994 das „ostentative“ Tragen von religiösen Zeichen per Dekret verboten hat und auf dieser Basis verschleierten muslimischen Mädchen die Teilnahme am Unterricht verweigert werden kann sind die „Kopftuchaffären“ zu einem Kristallisationspunkt der Debatte über Integration, darüber hinaus die Stellung des Islams in Frankreich und eine etwaige Ausbreitung fundamentalistischer Strömungen geworden. Der Anthropologe Emmanuel Todd warnt vor einer Dramatisierung der „Kopftuchaffären“, vor einer kollektiven Fixierung auf den Islam, die durch die geradezu obsessive Perzeption des vergangenen wie des aktuellen Algerienproblems hervorgerufen werde. Inzwischen hat die Justiz 44 von 74 Schulausschlüssen im Schuljahr 94/95 annulliert, 30 für Rechtens erklärt, wobei ein Gericht in Nancy einer Schülerin Schadensersatz für entgangenen Unterricht zugesprochen hat Der renommierte Islamforscher Gilles Kepel hat als treibende Faktoren für die Suche nach und den Wiederaufbau einer -religiösen -Gemeinschaft die zunehmende Anomie, die Zerstörung von Biographien und Identitäten durch Arbeitslosigkeit, Drogen und Gewalt ausgemacht: Gerade in den unwohnlichen französischen Vorstädten, den „banlieues“, kristallisieren sich soziale Probleme und entzünden sich regelmäßig Konflikte.
Kepel weist gleichzeitig darauf hin, daß mehr als tausend Moscheen und moslemische Kultstätten in Frankreich existieren und mehr als 600 islamische Vereine, daß es „den“ Islam als monolithischen Block folglich nicht gibt Die islamische Gemeinde stellt mit drei Millionen Gläubigen die zweitgrößte Religionsgemeinschaft Frankreichs dar. Die islamischen Vereine bieten ein vollkommen am Islam ausgerichtetes Lebensmodell an, das in zunehmendem Maße seine Attraktivität entfaltet, da die Vereinskultur im Umfeld der Moscheen oft allein konkrete Hilfe anbietet. Die zunehmende Islamisierung ist nicht zuletzt auch eine Antwort auf die Wahlerfolge der rechtsextremen Nationalen Front, wie der „banlieue“ -Forscher Adil Jazouli konstatiert. Noch ist die Rückkehr zum Islam kein Massenphänomen, und die Zahl derer, die die Französische Republik abschaffen und einen islamischen Staat gründen wollen, bewegt sich auf Sektenniveau, aber die generelle Tendenz der Rückkehr zur Religion ist unübersehbar.
Die Haltung der französischen Behörden sollte nicht vorschnell als intolerant bezeichnet werden, wie Emmanuel Todd betont, der die gängige Deutung in Frage stellt, der zufolge die Akzeptanz des Schleiers als tolerant und dessen Verbot als xenophob gilt: Die differentialistische Mentalität, wie sie häufig in Großbritannien anzutreffen sei, basiere auf der Idee verschiedener „races“, die man auseinanderhalten müsse, und in dieser Logik wird eine Auflösung der jeweiligen nationalen -z. B. der pakistanischen -Gemeinschaft gar nicht erst angestrebt. Die französische Haltung basiere auf einer universalistischen Grundannahme und arbeite auf Integration, Vermischung hin, die unvereinbar sei mit Erhalt und Förderung der Einwandererkulturen. Die „intermediären Mächte“ wie das Erziehungssystem fungierten als gigantische Vermischungs-und Integrationsmaschinerien, die eine spezifisch französische Form des republikanischen Kommunitarismus hervorbringt *D*ie erste Generation algerischer Einwanderer, die sich visä-vis von Algerien in Frankreich niedergelassen hatte, hatte die Verhältnisse in Algerien zum Bezugspunkt genommen und erlebte ihre Integration häufig als sozialen Aufstieg, während die zweite Generation sich auf die Verhältnisse in Frankreich bezieht und sich gegenüber gleichaltrigen Franzosen als benachteiligt, diskriminiert begreift, und so wird die stark ausgeprägte Tendenz erklärbar, sich von den Franzosen abzugrenzen und die eigene Differenz, mithin kulturelle oder religiöse Unterschiede, zu behaupten.
III. Die Gesetzgebung
Den institutioneilen Rahmen für Einwanderungsfragen regelt -trotz unterschiedlicher Auslegungen infolge von Regierungswechseln -das Gesetz von 1984. Es bekräftigte das Recht auf Familienzusammenführung, sieht jedoch strengere Prüfungen und Wiedereingliederungshilfen für Rückkehrwillige vor, die bis 1989 über 70000 Personen in Anspruch nahmen, bei stark rückläufigen Zahlen: 1991 erhielten nur noch 355 Personen eine Wiedereingliederungshilfe. Dieses Gesetz wurde gemeinsam von den großen Parteien der Rechten und Linken verabschiedet, die sich auf einige grundlegende Prinzipien einigten: Anerkannt wurden 1. die dauerhafte Präsenz von Ausländem in Frankreich, 2.der definitive Einwanderungsstopp und 3. die Freiwilligkeit als Basis von Rückkehr-hilfen, also die Ablehnung jeglichen Rückkehr-zwangs. 1983 wurden die Personenkontrollen verschärft, 1984 die Flughafen-und Grenzpolizei verstärkt. Das Gesetz von 1984 sieht zwei Arten von Aufenthaltsgenehmigungen vor: die ein Jahr gültige „carte de sdjour temporaire“, die zehn Jahre gültige „carte de resident“, wobei mit dieser Aufenthaltsgenehmigung automatisch die Arbeitserlaubnis erteilt wird.
Die Familienzusammenführung, in Frankreich seit 1975 erlaubt, ist aufgrund einer übertriebenen Toleranz ins Gerede gekommen, da die Administration das Recht auf polygame Familienzusammenführung anerkannt und damit den Import von Polygamie nach Frankreich ermöglicht hat. Die Polygamie, die von guten Seelen als kulturelle Eigenart gedeutet wird, wird von Einwanderern aus bestimmten afrikanischen Ländern zum Teil als Mittel genutzt, um von Kindergeldzahlungen profitieren zu können. Wer wie der Bürgermeister von Vincennes polygame Familienstrukturen nicht mit den urbanen europäischen Verhältnissen für vereinbar hält, wird von den antirassistischen Organisationen MRAP und LICRA als „Rassist“ tituliert
1. Asyl
1989 wurde das Recht auf Asyl erneut bestätigt; als daraufhin die Zahl der Anträge stieg, wurden die Möglichkeiten der Prüfung seitens des zuständigen Amtes „Office de Protection des Räfugiäs et Apatrides“ (OFPRA) ausgebaut, extraterritoriale Zonen in den Flughäfen eingerichtet und die Strafen für Fluggesellschaften, die Passagiere ohne Personalpapiere befördern, erhöht. Die Zahl der Asyl-bewerber entwickelte sich wie folgt: 1981: 20000, 1989: 61000, 1992: 29000, 1993: 27500.
Seit 1981 erhalten jährlich zwischen 9000 und 15 000 Personen Asyl in Frankreich, das entspricht 15 Prozent der 1990 gestellten Anträge. Insgesamt leben hier 160000 Asylberechtigte. Frankreich sieht sich historisch als Aufnahmeland für Flüchtlinge und Exilanten, aber in den letzten Jahren hat sich ein Konsens herausgebildet, daß eine Pause nötig sei, um das strapazierte Sozialgeflecht nicht zu gefährden
Die wöchentlichen Ausweisungen illegaler Einwanderer per Charter, die der derzeitige französische Innenminister Jean-Louis Debrä am 10. Juli 1995 zur Abschreckung von illegalen Neuankömmlingen angekündigt hat, sind im Grunde nur eine technische Neuerung eines alten Verfahrens: 1933 wurde die Einwanderung gestoppt, und ganze Züge polnischer Bergarbeiter wurden heimgeschickt. Die Charter-Technik wurde im Oktober 1986 von Chiracs Innenminister, dem neogaullistischen Hardliner Charles Pasqua (1986-1988), „eingeweiht“ und hatte stürmische Proteste ausgelöst. Die 1995 wiederaufgenommenen Ausweisungen von Rumänen und Sinti nach Rumänien (17. Juni, 10. Juli), von Zairern nach Kinshasa (18. Juli) und Afrikanern verschiedener Nationalitäten in den Senegal, nach Cöte-dTvoire, Guinea etc. (6. September) sind banal geworden und haben in der Öffentlichkeit kaum für Aufregung gesorgt
Robert Badinter als Präsident des Conseil Constitutionnel hat bedauert, daß der Innenminister keinen Versuch unternommen hat, unter den Unterzeichnerstaaten des Schengener Abkommens eine gemeinsame Definition des Asylrechts zu erzielen selbst wenn die historischen Hintergründe und verschiedenartigen Gesetzgebungen nicht gerade dazu entladen, sich auf dieses verminte Terrain zu begeben. Die Zuwanderung aus den Ländern des ehemaligen sowjetischen Imperiums hat in Frankreich, das nur geringfügig betroffen ist, den Effekt gehabt, die Bedeutung der Hautfarbe zu relativieren: Der Bedrohungsdiskurs hat stets auf Afrika und besonders den Maghreb (Nordafrika) Bezug genommen, die neue Migration aus dem Osten führt dazu, globale Migrationsströme stärker wahrzunehmen.
2. Einwanderung und Staatsbürgerschaft
Die Regierung Balladur mit Pasqua als Innenminister (1993-1995) hat unmittelbar nach Aufnahme der Amtsgeschäfte 1993 die Ausländergesetze verschärft und neue rechtliche Maßnahmen zur Begrenzung der Einwanderung verabschiedet. Die Einschränkung der Einreise-und Aufenthaltsmodalitäten richtet sich gegen Schein-und Doppeleheschließungen. Das Asylgesetz wurde reformiert, so daß Anträge strenger geprüft werden. In dem Gesetz über die Staatsangehörigkeit von 1973 wurde 1993 eine wesentliche Änderung vorgenommen: Fiel zuvor den in Frankreich geborenen Kindern ausländischer Eltern die französische Staatsangehörigkeit automatisch zu, muß der betroffene Jugendliche nun im Alter zwischen 16 und 21 Jahren einen Antrag auf Erwerb der Staatsbürgerschaft stellen. Diese Notwendigkeit wurde von SOS-Racisme und der Opposition scharf kritisiert, da sie zur Folge hat, daß gerade Unterprivilegierte vor dieser Hürde zufückschrecken. Darüber hinaus kann jeder ausländische Ehepartner eines Franzosen oder einer Französin nach zweijährigem Zusammenleben die französische Staatsbürgerschaft beantragen, kann jeder volljährige ausländische Staatsbürger die Einbürgerung beantragen, wenn er seit fünf Jahren ununterbrochen in Frankreich ansässig ist, über regelmäßiges Einkommen, Wohnung, ein einwandfreies Führungszeugnis verfügt und seine „Anpassung an die französische Gemeinschaft“ belegt Laut Volkszählung von 1990 haben von 56, 6 Millionen Personen 3, 58 Millionen eine ausländische Staatsangehörigkeit, also 6, 3 Prozent, und 1, 77 Millionen haben die französische Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung erworben, also 3, 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. 90, 5 Prozent sind Franzosen von Geburt an. Allein im Jahre 1991 haben 112500, 1993 ca. 110000 Personen die französische Staatsbürgerschaft erworben. In den siebziger und achtziger Jahren lagen die Zahlen zwischen 35 000 und 60000, ab 1987 stiegen sie an und erreichten 1991 70000. Die französische Einbürgerungsquote lag jahrzehntelang erheblich höher als die deutsche
IV. Rassismus und Xenophobie in Frankreich
Laut Umfrage von IFOP-L’Express unter Ausländern in Frankreich fühlen sich 1993 92 Prozent der Einwanderer in Frankreich wohl -bei einer ähnlichen Umfrage zehn Jahre zuvor waren es nur 82 Prozent -gegenüber 6 Prozent, die dies verneinen. 87 Prozent (1983: 82 Prozent) halten ihr Verhältnis zu den Franzosen für gut und 68 Prozent (1983: 59 Prozent) wünschen, an Kommunalwahlen teilnehmen zu können. Die überwiegende Mehrheit hält die Franzosen insgesamt nicht für Rassisten, aber 30 Prozent bejahen diese Frage und waren auch schon Opfer rassistischer Akte. Selbst das Verhältnis zu den Behörden wird von 75 Prozent für gut gehalten, und in Postämtern, Geschäften, sogar, in der Konfrontation mit der Polizei fühlt sich eine überwältigende Mehrheit in einer Gleichheitssituation mit den Franzosen. Eine knappe Mehrheit von 56 Prozent erlebt sich selbst bei der Arbeits-oder Wohnungssuche als gleich. 91 Prozent wollen da wohnen, wo auch Franzosen leben, nur vier Prozent wollen unter sich bleiben. 68 Prozent interessieren sich für das politische Leben in Frankreich, 31 Prozent nicht, 53 Prozent für die Politik in ihrem Ursprungsland, 46 Prozent nicht. 80 Prozent waren mit einer verstärkten Bekämpfung illegaler Einwanderung einverstanden
1. Rassistische Gewaltakte
Eine Quantifizierung rassistischer oder antisemitischer Gewaltakte ist schwierig. Ein Bericht von 1990 gibt zumindest grobe. Anhaltspunkte. Das Innenministerium registriert rassistische Fakten, speziell solche, die sich gegen Juden und Maghrebiner richten, aufgeteilt nach Bedrohungen (durch Flugblätter, Graffitis, Beleidigungen, anonyme Telefonanrufe etc.) und Taten (Attentate, Angriffe auf Personen, Brandstiftung etc.): -Die antisemitischen Drohungen erreichten 1980 mit 190 einen Höhepunkt, ebenso die Aktionen mit 76. In der Folgezeit sind sie gesunken, ab 1986 wieder angestiegen. -Die Zahl der antimaghrebinischen Drohungen ist von 1979 bis 1989 schubweise angestiegen (bis auf 188), die der Taten erreichte 1983 einen Höhepunkt (65) und pendelte sich seither bei 50 ein. -Die rassistisch motivierten Bedrohungen stiegen von 1979 bis 1989 an bis auf 237, die Aktionen bis auf 70 im Jahr 1985, ehe sie dann geringfügig bis auf 53 in 1989 zurückgingen.
Die Gewalt richtet sich vornehmlich (zu 80 Prozent) gegen Maghrebiner, und drei Viertel der Täter sind „Skinheads“. Während die Aktionen sich nicht signifikant erhöht haben, haben sich die Drohungen vervielfacht. Der Rassismus-und Gewalt-forscher Michel Wieviorka warnt jedoch zu Recht davor, von Worten auf Taten schließen zu wollen Die Nationale Front hat mit ihren jüngsten Wahlerfolgen ihre regionale und lokale Präsenz ausbauen können: Die Eroberung südfranzösischer Rathäuser bildet den Hintergrund für die Zunahme rassistischer Sprüche in Bistros, am Arbeitsplatz, in der Schule und für eine Politik der Präferenz des Nationalen, die den republikanischen Wert des Universalismus in Frage stellt.
Die Verwüstung des jüdischen Friedhofs von Carpentras in der Nacht vom 9. zum 10. Mai 1990 bildete mit einer Leichenschändung einen Höhepunkt einer ganzen Reihe antijüdischer und rassistischer Anschläge, die Anfang der achtziger Jahre wieder eingesetzt hatten: -Bombenattentat auf die Jüdische Synagoge in Paris im Oktober 1980: vier Tote und zwanzig Verletzte; -Schüsse auf das Restaurant Goldenberg im Pariser Marais im August 1982: sechs Tote, zwölf Verletzte; -Ermordung einer Jüdin durch einen Nazi im August 1984; -Ermordung eines jungen Algeriers im Schnellzug Bordeaux-Ventimiglia durch drei Fremdenlegionärsanwärter im November 1986; -Ermordung eines Marokkaners durch einen Mann, der sich als Verteidiger der „weißen Rasse“ präsentierte, im Juni 1987; -Anschlag auf ein Ausländerwohnheim in Cagnes-sur-Mer im Dezember 1988: ein Toter, zwölf Verletzte; -Ermordung eines Algeriers in Lyon 1989; -Ermordung eines maghrebinischen Schülers im März 1990.
Nach Carpentras war die Verunsicherung so stark, daß eine jüdische Organisation innerhalb von fünf Tagen nach dem Geschehen 2 000 Anfragen wegen Auswanderungsmöglichkeiten nach Israel registrierte. Auf Carpentras folgten weitere Grab-schändungen, und in Buch-und Schallplatten-läden, die Eintrittskarten für Veranstaltungen von SOS-Racisme verkauften, in Ausländerwohnheimen, vorwiegend von Arabern bewohnten Billig-hotels etc. gingen Sprengsätze hoch. Auch in jüngster Zeit sorgten Fälle für Schlagzeilen: Im April 1993 wurde ein 17jähriger Jugendlicher aus Zaire in einem Kommissariat des 18. Pariser Arrondissements erschossen. Im November 1994 hat ein Polizist versucht, einen Algerier in der Pariser Polizeipräfektur zu vergewaltigen. Im Februar 1995 erschoß ein Plakatekleber der Nationalen Front in Marseille einen 17jährigen Farbigen. Im August 1995 knüppelten in Marseille drei Polizisten einen 30jährigen Franco-Algerier in einem Steinbruch zusammen, der bei einer vprausgegangenen Ausweiskontrolle ordentliche Papiere vorweisen konnte. Verhaftet werden konnten die Täter, weil einer von ihnen seinen Schlagstock am Tatort vergessen hatte. Ebenfalls im August hat ein vermutlich vom Hausbesitzer geschicktes Kommando ein Pariser Wohnhaus, in dem 38 afrikanische Familien lebten, verwüstet.
2. Rassismus und Antirassismus
Rassismus ist kein neuartiges Phänomen. Der Rassismus hat in Frankreich durch die als „Neue Rechte“ bezeichneten Zirkel von Rechtsintellektuellen seit Ende der siebziger Jahre und die Nationale Front seit Mitte der achtziger Jahre einen politischen Ausdruck gefunden Die Konsolidierung der rechtsextremen Partei setzt sich fort. Spätestens seit der Etablierung Le Pens auf der politischen Bühne hat das ursprünglich von der Linken verfochtene Recht auf kulturelle und ethnische Differenz einen zwiespältigen und zweifelhaften Charakter bekommen, weil es die „Kulturisierung“ und „Ethnisierung“ der Einwanderer und Ausländer fördert, mit anderen Worten: weil es die kulturelle oder ethnische Prägung verabsolutiert, in den Vordergrund rückt und bestärkt. Statt auf Integration hin zu orientieren, wird in der binären Logik der nationalen oder ausländischen Präferenz gedacht und das Risiko in Kauf genommen, daß die Diskurse, die negative oder positive Diskriminierung legitimieren, sich gegenseitig stützen und stärken.
Das Denken in Kategorien des Rechts auf Differenz, auf Anderssein, ist sozusagen politisch neutral, denn es läßt sich mühelos in einen linken wie in einen rechten Diskurs einweben. „Die Ghettos der Differenz dienen nur dazu, Segregationen zu verewigen“, unterstrich der Gründer von SOS-Racisme, Hartem Desir, der mittlerweile 1991 die Bewegung Action Egalite gründete. Das Ziel der segregativen Bewahrung kultureller Identität ist somit durchaus fragwürdig, da es sich in den rassistischen Diskurs einbauen läßt: Rassismus kombiniert zwei grundlegende Prinzipien, die Naturalisierung, Biologisierung des Anderen (in der modernen Form der Ethnisierung bzw. Kulturisierung) zur Konstruktion einer Hierarchie, also der Einteilung in höher-und minderwertige Menschen (prefdrance nationale), und das Postulat der unverminderbaren Differenz, der Unvereinbarkeit von (hier: französischer) Nationalkultur und der Kultur der Einwanderer. Der moderne Rassist stellt sich schützend vor die bedrohten Völker, „zu denen er -in aller Bescheidenheit -vor allem das eigene rechnet“ So lautet eine Parole Le Pens: „Nein zum antifranzösischen Rassismus.“
Die großen politischen Leitlinien, die sich gegenüberstehen, heißen also (ethnische und/oder religiöse) Segregation und Separation auf der einen, Integration auf der anderen Seite. Eine Konkretisierung der integrativen Leitlinie beinhaltet, daß der Französischunterricht absolute Priorität hat und nicht muttersprachlicher Unterricht, der die Einwanderer einseitig auf die Kultur, die Sprache, die Religion etc.der Herkunftsländer festlegt. Rassismus und Nationalismus dürfen nicht in eins gesetzt werden, denn die Idee der „Rasse“ hebelt die der Nation aus: Mission einer „Rasse“ kann nur sein, alles zu vernichten, was ihr nicht gleicht, da es eine Bedrohung, eine Gefahr für ihre Integrität, ihre Reinheit ist
Konzise Analysen des Rassismus haben in Frankreich schon früh Vorgelegen und die Diskussion bestimmt, so das herausragende Werk „Face au racisme“ von 1991, in dem französische Forscher von Rang und Namen unter Leitung von Pierre-Andr 6 Taguieff sich des Phänomens annahmen, indem sie minutiös rassistische Diskriminierungen untersuchten -in Stadt, Schule, Arbeitswelt die gesetzlichen Maßnahmen vorstellten, sodann die Argumentationsmuster rassistischer Diskurse unter die Lupe nahmen und Gegenargumente vorschlugen. Dieses Werk markierte die Abwendung von einer bis dato vorherrschenden Einstellung und Haltung, den Rechtsextremisten nicht argumentativ Paroli zu bieten, sondern sie sich selbst entlarven zu lassen, sie moralisch von einer höheren, besseren Warte mit Nazi-und Faschismusvorwürfen aus zu verurteilen, um sich nicht auf das „Spiel“ von Le Pen einzulassen.
Bei dieser Taktik wurde übersehen, daß das Phänomen Le Pen einer tiefsitzenden politischen und sozialen Malaise zum Ausdruck verhalt und dadurch eine hohe Anziehungskraft auf die ausübte, die am meisten unter ihr litten. Die antirassistische Strategie, sich nie auf das Terrain der Rechtsextremisten zu begeben (Einwanderung, öffentliche Sicherheit etc.), den Kontakt zu vermeiden, Distanz zu halten und nicht über etwas zu diskutieren, dessen Existenz man bestritt (ein etwaiges „Programm, „Ideen“ oder „Thesen“ Le Pens), erwies sich als kontraproduktiv, denn Le Pen erhielt im Fernsehen reichlich Rederecht und konnte ungestört seine Ideen verbreiten, da die Interviewpartner häufig nur als Stichwortgeber fungierten und es vornehmlich darauf anlegten, daß er sich mit einem Lapsus entlarvte -als Rassist, als Nazi -oder durch Ausfälle oder Beleidigungen eine Handhabe bot, ihn juristisch verfolgen zu lassen.
Le Pen nutzte alle ihm gebotenen Gelegenheiten des massenwirksamen Auftretens, und der politische Erfolg gab ihm recht: Aus der politischen Wüste (1981 0, 4 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen) gelang der 1972 gegründeten Front National der Sprung auf 11 Prozent bei den Europawahlen 1984 und 14, 4 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen 1988. In Umfragen über Wahlabsichten erklomm Le Pen im Mai 1990 sogar die Höhe von 18 Prozent, fiel aber wegen Carpentras umgehend zurück auf die 10-Prozent-Marke Jüngst konnte die Partei sogar mehrere Rathäuser erobern. Im Gegensatz zu deutschen Verhältnissen, wo der politische Rechtsextremismus implo-diert ist, setzt sich in Frankreich seine Konsolidierung fort.
Der Präsident von SOS-Racisme, Fode Sylla, hat Konsequenzen aus dieser Situation gezogen. Er anerkannte, daß die wesentlich moralische Bekämpfung der Nationalen Front, wie sie in den achtziger Jahren praktiziert wurde, ihre Grenzen erreicht hat Sylla zufolge würde niemand bestreiten, daß Gesetze notwendig sind, um die Migrationsströme zu lenken; Goodwill reiche nicht aus. Jacques Chiracs Premierminister, Alain Juppe, hat wieder ein Integrationsministerium, das die Ausgrenzung und die Ghettoisierung bekämpfen sowie die Integration fördern soll, ins Leben gerufen; für eine seriöse Beurteilung ist es aber zu früh. Der Minister für Integration und Kampf gegen Exklusion, Eric Raoult, behauptet einen Zusammenhang zwischen Demonstrationen von SOS-Racisme und steigenden Sympathien für die Nationale Front rückt also denunziativ die Antirassismusorganisation in die Nähe eines heimlichen Komplizen Le Pens. Gleichzeitig läßt der Minister bei bestimmten Konflikten über SOS-Racisme Erkundigungen zur Situation einholen.
3. Antirassistische Gesetzgebung
Das von Pompidou ratifizierte Gesetz vom 2. Juli 1972 bildet die Grundlage amtlichen Vorgehens gegen Rassismus. Bestraft werden kann, wer zu Diskriminierung aufruft, zu Haß oder Gewalt gegen Personen oder Gruppen auf Grund ihrer Herkunft, ihrer ethnischen Gruppenzugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit, ihrer Staatsangehörigkeit, Religion oder Rasse. Dieses Gesetz ist in den folgenden beiden Jahrzehnten achtmal ergänzt worden
Durch das Gesetz vom 13. Juli 1990 gegen rassistische, antisemitische und xenophobe Akte, das auf einen Vorschlag der Kommunistischen Partei zurückgeht und das Sozialisten und Kommunisten gegen die Stimmen von UDF und RPR verabschiedet haben, wurde eine Nationale Konsultativkommission für Menschenrechte eingerichtet, die jährlich einen Bericht über die „Bekämpfung von Rassismus und Xenophobie“ herausgibt, in dem rassistische Aktionen registriert und Vorschläge zur Eindämmung unterbreitet werden. Seit 1991 fertigt der Hohe Rat für Integration jährlich einen Bericht für den Premierminister an. Im Mai 1994 haben Deutschland und Frankreich auf dem Gipfel von Mulhouse eine gemeinsame Initiative gegen Rassismus und Xenophobie vereinbart, und der Europäische Rat von Korfu hat im Juni eine Konsultativkommission gleichen Namens geschaffen, die 1995 einen Bericht vorgelegt hat: Nach dem Typus einer europäischen Umweltagentur soll eine europäische Beobachtungsagentur rassistischer und xenophober Phänomene errichtet werden.
V. Fazit
„Sind die Franzosen rassistisch?“ Mit dieser Frage eröffnete Le Monde im November 1990 eine Ausgabe ihrer monatlichen „Dossiers & Documents“, um fortzufahren: nein, aber einer Umfrage zufolge sind 90 Prozent der Befragten davon überzeugt, daß Rassismus in Frankreich „ziemlich“ oder „sehr verbreitet“ sei. 76 Prozent der Befragten gaben allerdings die Ansicht zu Protokoll, daß das Benehmen gewisser Personen -sprich: Ausländer -manchmal Anlaß geben könne, sich ihnen gegenüber rassistisch zu verhalten.
Die Situation in Frankreich hat sich gegenüber den achtziger Jahren grundlegend geändert: Die Front National ist nicht mehr der populistische Politneuling wie in der ersten und zweiten Amtszeit Mitterrands, sondern stellt mittlerweile mehrere Bürgermeister. Die antirassistische Organisation SOS-Racisme hat Lernprozesse durchgemacht, ihre Positionen modifiziert und vertritt beispielsweise nicht mehr das fragwürdige „droit ä la difference“, das Recht auf Unterschied, wie es noch Ende der achtziger Jahre der Fall war, geht auch mit Schuldzuweisungen vorsichtiger um.
Die Stärke der Front National beruht darauf, daß die Partei soziale und ökonomische Schwierigkeiten mit einem Bedrohungsgefühl, einem Gefühl einer Krise der nationalen, aber auch lokalen und regionalen Identität, kurzum: sozialer Deprivation verbindet. Die rechtsextreme Partei ist zwar Vehikel rassistischer und nationalistischer Ideen, aber nicht darauf reduzierbar. Die Partei bietet die Perspektive einer Renaissance oder zumindest des Erhalts regionaler und lokaler Bindungen, versucht dafür Ideen und Projekte zu erarbeiten ist also nicht eine reine Protestpartei.
Der differentialistische, inegalitäre Diskurs mit seinen Bezügen auf nationale oder kulturelle Identität wird von der Nationalen Front, die auf keine substantiellen Gegenprojekte stößt, orchestriert. Es besteht eine Spannung zwischen der Ideologie, dem Apparat der Führungsschicht und der Wählerschaft, die sich heterogen zusammensetzt: Ne-ben antisemitischen, rassistischen und rechtsextremen Wählern finden sich solche, die einfach von der tiefgehenden sozialen Malaise betroffen sind. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, wird die Partei sich zunehmend seriöser, weniger populistisch geben und bedarf daher nicht mehr eines charismatischen Führers wie in der Aufbauphase.
Die Wahrnehmung von Andersartigkeit und Fremdheit ist noch kein Rassismus im Sinne von rassisch -bzw. neuerdings: kulturell, ethnisch -begründeter Diskriminierung, die erst einsetzt, wenn die Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der Menschen in Frage gestellt und aus natürlichen, kulturellen oder ethnischen Unterschieden eine soziale Rangordnung, eine Klassifizierung und eine begünstigte Sonderstellung abgeleitet wird. Persönliche Vorlieben oder Abneigungen, mit denen die Rechtsextremisten gerne argumentieren, bleiben davon unberührt. Die Organisation SOS-Racisme hat ihre weite Rassismusdefinition revidiert und ordnet nicht mehr a priori und systematisch jede Äußerung über tägliche Schwierigkeiten mit Ausländern in die Rubrik „rassistische Reaktionen“ ein „Frankreich ist nicht rassistisch, aber ...“ -so beginnt eine Studie des Soziologen Michel Wieviorka dem zufolge diese Sentenz immer häufiger ersetzt wird durch: „Ich werde noch zum Rassisten.“ Mit anderen Worten: Die Vorstellung, die Ausländer selbst gäben Anlaß zu rassistischem Verhalten, ist auf dem Vormarsch. Die vermeintliche Integrationsfähigkeit und -Willigkeit der Einwanderer wird dabei zum Hauptkriterium für die Akzeptanz oder Ablehnung der Neuankömmlinge hochstilisiert. Diese Diskurse werden von der Nationalen Front aufgegriffen und politisch umgesetzt. Gesellschaftliche Veränderungen -wie die Erosion der Industriegesellschaft, die Zweiteilung der Gesellschaft in eine Welt der Arbeit und intermediären Organisationen und eine Welt der Exklusion und Arbeitslosigkeit, die rasante Urbanisierung mit dem Verfall alter Stadtviertel und der Herausbildung unwohnlicher ghettoartiger Vorstädte, die Erschütterung althergebrachter Werte und Kulturen, damit Identitäten, schließlich die Krise des Wohlfahrtsstaates, des laizistischen Modells, und der parallel sich vollziehende Niedergang der einst mächtigen Französischen KP und der Aufstieg der Nationalen Front -bilden den Hintergrund des Einwanderungsproblems und des Aufschwungs eines erneuerten Rassismus, der neue Bedingungen für eine Verschärfung der Spannungen zwischen Einheimischen und Ausländern schafft und sie zugleich nutzt.