I. Einführung
Am 17. Februar 1991 schrieb Le Nouvel Observateur: „Italien, traditionelles Emigrationsland, hat sich in nur drei Jahren zu einem der wichtigsten europäischen Staaten für die Immigration billiger Arbeitskraft gewandelt.“ Auf diese Entwicklung, so die französische Zeitung weiter, sei das Land völlig unvorbereitet gewesen, und so sehe man sich nun einem plötzlichen, „alltäglichen Rassismus“ gegenüber
Die Umschreibung des Rassismus als etwas Alltägliches drückt eine gewisse Hilflosigkeit in der Kennzeichnung des Problems aus. Das Unreflektierte und zugleich Gewöhnliche, das hier anklingt, bringt die Distanz des beschriebenen Phänomens gegenüber einer geplanten Rassenpolitik zum Ausdruck, wie sie Nationalsozialisten und Faschisten bis 1945 betrieben haben. Jedoch ist mit Blick auf Italien der Terminus „Rassismus“ auch im Kontext Einwanderung mit Vorsicht zu gebrauchen. In diesem Zusammenhang wurde er für die Zeit nach 1945 für einige Länder mit massiver Einwanderung beschrieben. In Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland wurden 1973/74 nach dem Stopp der Immigration aus den ehemaligen Kolonien beziehungsweise der „Gastarbeiter“ Modelle zur Eingliederung der bereits anwesenden Ausländer entwickelt, was in der Folge Protestbewegungen und das Wiederaufleben rassistischer Theorien hervorrief. Auf Italien trifft keine der Wanderungsbewegungen der europäischen Nachbarländer mit ihren bereits untersuchten politischen und sozialen Folgen zu (Kapitel II)
Im Gegensatz zu Frankreich kannte Italien 1989, als es zu ersten auffälligen Übergriffen gegen Ausländer kam, noch keine Theoretisierung der Haut-färbe als festen Bestandteil einer rassistischen Typologie des Einwanderers Es gab keine politische Partei, die wie die französische „Front National“ oder die deutschen „Republikaner“ ihr Programm auf den Ausschluß von Einwanderern gestützt hätte. Dies gilt im Prinzip auch für die beiden Parteien, die am deutlichsten die italienische Einwanderungsgesetzgebung von 1990 abgelehnt haben und ein verschärftes Vorgehen gegen Illegale fordern, den neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI), heute AN (Alleanza Nazionale), und die Lega Nord Die italienische Variante der aus Großbritannien stammenden Skinhead-Bewegung schließlich, die sogenannten „Naziskins“, hat die Erscheinungs-und Protestformen deutscher Neonazis imitiert, jedoch keine eigenständige theoretische Basis ausgebildet
Die sprachliche Entwicklung deutet auf noch wenig verfestigte Stereotypen hin. Das Wort „Asyl“ ist im Italienischen nicht wie hierzulande nach der Asyldebatte zum Reizwort geworden. „Richiedenti asilo“ (Asylbewerber) und „rifugiati“ (anerkannte Asylbewerber) sind schon wegen ihrer numerischen Geringfügigkeit eher bürokratische Kategorien geblieben. Eine zunehmend negativ beladene und speziell italienische Bezeichnung ist „extracomunitario“ (außereuropäischer Einwanderer). Gerade dieser Terminus spiegelt jedoch die geringe Vertrautheit mit dem Einwanderungsproblem wider: Studierende und Touristen aus reichen Ländern werden hier, oft unwissentlich, mit Armutseinwanderem aus der Dritten Welt vermischt.
In diesem Aufsatz wird episodisch auftretender und strukturell angelegter Fremdenfeindlichkeit in Italien als neuem Phänomen (Kapitel III) und offenem Problem (Kapitel IV und V) nachgegangen.
II. Modellfall einer neuen Wanderungsbewegung
1. Die Zeit bis 1989
Italien galt bis weit in die sechziger Jahre hinein -ohne eine eigene, relevante Einwanderungsproblematik -als klassische als Auswanderungsland. di emigrazione:
Vor allem in den Jahren 1961/62 profitierte man von der Öffnung der innereuropäischen Grenzen, um den eigenen Überschuß an Agrararbeitern an die Nachbarstaaten im Norden abzutreten. In umgekehrter Richtung blieb es lange ruhig. Zwar sah Artikel 10 der Verfassung von 1947 ein allgemeines Asylrecht vor. Seiner Umsetzung stand jedoch die beim Beitritt zur Genfer Konvention 1954 von der italienischen Regierung angewandte „geographische Reserve“ entgegen Die Aufnahme weniger Flüchtlingsgruppen im Land entsprach in Abwesenheit entsprechender Asylgesetze der Logik des politischen Klientelismus in einer um Democrazia Cristiana (DC) und Partito Comunista Italiano (PCI) polarisierten Parteienlandschaft. Dabei waren den einen Verfolgte rechter Regimes in Südamerika, den anderen Opfer kommunistischer Regierungen in Osteuropa willkommen.
Eine Tendenzwende zeichnete sich erst 1975 ab. Zum ersten Mal übertrafen in diesem Jahr die Rückkehrer italienischer Herkunft zahlenmäßig die Auswanderer, gleichzeitig setzte eine Neueinwanderung ein, in deren Folge sich die Zahl der von den italienischen Behörden ausgestellten Aufenthaltsgenehmigungen verdreifachte, von 1975 bis 1987 von 186000 auf 572000. Dazu kam eine unbekannte Anzahl illegaler Aufenthalte. Die Ursachen dieser Entwicklung lagen zum einen in der strukturellen Krise der nördlichen Industriestaaten, die Arbeitskräfte freisetzten und gleichzeitig die Neueinwanderung stoppten. Andererseits hatte ein gewisser Wohlstand in Italien Einkehr gehalten, der einer raschen Industrialisierung und nicht zuletzt den Überweisungen aus dem Ausland zu verdanken war. Tunesier und Albaner konnten sich über den Fernsehsender „Rai Uno“, der in ihren Ländern empfangen wird, im wahrsten Sinne „ein Bild“ vom neuen Reichtum des Nachbarstaates machen. Ende der siebziger Jahre förderten Bürgerkriege und Hungersnöte die Immigration aus den ehemaligen italienischen Kolonien Eritrea und Somalia. Dazu kam Mitte der achtziger Jahre, daß Großbritannien und Frankreich die Einreise für Migranten aus ihren ehemaligen Kolonien erschwerten, was insbesondere den Druck von Tamilen und Marokkanern auf die italienischen Grenzen verstärkte.
Italien gilt so seit Ende der achtziger Jahre als historischer und geographischer Musterfall eines neuen Trends, in dem sich „der Norden“ des bis dahin gültigen Migrationsmodells weit nach Süden verschoben hat und die nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainerstaaten zum Auflaufgebiet und zur Spitze einer Armutsemigration aus dem „neuen“ Süden geworden sind
Dieses Modell, das auch für die anderen südlichen EU-Staaten Griechenland, Portugal und Spanien Gültigkeit beansprucht, liefert zugleich eine erste Erklärung für das Aufkeimen fremdenfeindlicher Stimmungen. Für die Vorstellung, Italien sei „einer unkontrollierbaren Flut von Immigranten aus der Dritten Welt ausgesetzt“ schien dabei eine Reihe von Gründen zu sprechen.
Erstens waren die Push-Faktoren, also die Motivationen für die Auswanderung, stärker als die Pull-Faktoren in Italien, die eine Regulierung der Einwanderung hätten bewirken können. Die Immigranten waren nicht selten „fehlgeleitet“, das heißt, ihr eigentliches Zielland war ein anderes als Italien, ihr Anwesenheitswunsch daher oft kurzfristig ausgerichtet
Zweitens standen die anziehenden Momente (PullFaktoren) in direktem Zusammenhang mit illega-len Formen der Einreise und der Anwesenheit. Da Italien im Gegensatz zu den nördlichen Nachbar-ländern die Einreise ohne Visum mit Sichtvermerk ermöglichte, blieben immer mehr „Touristen“ im Land, immer mehr Anwesenheiten wurden illegal.
Drittens fanden die Immigranten aus der Dritten Welt reichlich Nischen in einer „untergetauchten Ökonomie“. Der Grund: In den siebziger Jahren, als die strukturellen Veränderungen in der industriellen Produktion auch Italien erreicht hatten, reagierte die Wirtschaft mit Instrumenten, die nur für konjunkturelle Krisen geeignet waren, insbesondere mit „prepensionamento“ (Frühpensionierung) und „Cassa integrazione“ (Zwangspause ohne Kündigung des Arbeitsverhältnisses). Die freigesetzten Arbeitskräfte fanden oder gründeten auf dem schwarzen Arbeitsmarkt neue Beschäftigungen, insbesondere im Handwerk und im Handels-und Dienstleistungsbereich. Arbeitgeber griffen zunehmend auf dieses Billigangebot ohne Sozialabgaben zurück.
Viertens wies die auf diese Situation treffende Einwanderung eine starke Streuung nach etwa 180 Herkunftsländern auf. Grob skizziert lassen sich unter den Ende der achtziger Jahre anwesenden Einwanderern aus armen Ländern drei Kategorien ausmachen: Die erste Gruppe, viele Südamerikaner, Philippinen, Äthiopier, Eritreer, Iraner und Osteuropäer, einte die Tatsache, daß sie entweder in ihr Land zurück oder Weiterreisen wollten, ihr Aufenthalt aber dauerhafte Formen angenommen hatte. Unter ihnen waren nicht wenige Höhergebildete, Männer aus Eritrea und Iran, Frauen von den Philippinen, die in Italien allenfalls prekäre intellektuelle und vor allem niedrig qualifizierte Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich fanden. Bei den Einwanderungsgründen überwogen politische und religiöse Motive, was ihnen die spätere Legalisierung und eine begrenzte Integration erleichterte.
Für die zweite Kategorie sind vor allem Ägypter, Tunesier und Chinesen repräsentativ. Für sie ist die Konzentration auf bestimmte Gegenden im Empfängerland und auf bestimmte Tätigkeiten charakteristisch. Dabei handelt es sich sowohl im industriellen als auch im landwirtschaftlichen Bereich um von Einheimischen gemiedene und krisenanfällige Wirtschaftszweige wie Stahlindustrie oder Fischfang.
Eine dritte Gruppe umfaßte vor allem Marokkaner und Senegalesen, in der großen Mehrzahl junge Männer, die ohne definitive Ziele zwischen Italien und der Heimat pendelten und als ambulante Händler tätig waren. Die illegale Präsenz war hier besonders hoch. Wegen der mangelhaften Bindung zur Umgebung im Empfängerland, der gering ausgeprägten Seßhaftigkeit und der Affinität zu illegalen Tätigkeiten sind auch die aus Osteuropa eingewanderten Roma dieser Kategorie zuzurechnen. Diese Gruppe im besonderen vermittelte nach außen den Eindruck der Instabilität der Einwanderung.
2. Die Zeit nach 1989
Italienische Regierungen hatten aus der beschriebenen Neuausrichtung der Migrationsströme bis dahin keine Konsequenzen in Form einer substantiellen Anpassung der Einwanderungs-und Ausländergesetzgebung gezogen, die in vielen Teilen noch aus den dreißiger Jahren stammte. Rechtliche Probleme, die aus der Einwanderung erwuchsen, wurden auf administrativer Ebene gelöst, soziale den nichtstaatlichen Organisationen, allen voran der katholischen Kirche, überlassen. Die Grenzpolizei schickt auch heute noch Flüchtlinge, die am internationalen Flughafen Fiumicino ankommen, direkt an private oder kirchliche Hilfsorganisationen weiter.
Die erste Neuregelung kam im Dezember 1986 zustande -nach der Einrichtung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe der EG-Innenminister im gleichen Jahr, mit der die europäische Zusammenarbeit in Einwanderungsfragen institutionalisiert worden war. Gesetz Nr. 943/1986 trug zunächst einmal nur den Forderungen aus der Wirtschaft nach einer Legalisierung der unselbständigen Arbeit Rechnung, klammerte aber alle anderen Einwandererkategorien, insbesondere Selbständige und Flüchtlinge, aus Nach insgesamt dreimaliger Verlängerung einer im Gesetz vorgesehenen Amnestie legalisierten bis 1988 etwa 188000 Einwanderer ihre Anwesenheit.
Erst in der Gesetzgebung von 1990 ist zu spüren, daß Italien sich der Europäischen Gemeinschaft anpassen mußte, wenn es nicht -wie eine Studie der Kommission voraussah -mit den anderen südlichen Nachbarn den ganzen Druck der außereuropäischen Einwanderung auf die EG tragen wollte. Gesetz Nr. 39/1990 (nach dem damaligen sozialistischen Justizminister „legge Martelli“ genannt) brachte im wesentlichen drei Neuerungen: erstens die gesetzliche Festlegung der allgemeinen Bedingungen für den Aufenthalt und die Ausweisung von Einwanderern; zweitens die Aufhebung der geographischen Reserve und somit des Widerspruchs zwischen dem von der Verfassung garantierten Recht auf Asyl und der bis dahin praktizierten restriktiven Praxis; drittens die Delegierung von Aufnahme und Integration an die Regionen und deren finanzielle Ausstattung für diese Aufgaben. Daneben sind die Modernisierung der Grenzkontrollen und die jährliche Planung der Einwanderung zu erwähnen, die das Gesetz insgesamt zur ersten umfassenden Regelung machen.
Noch im gleichen Jahr trat Italien ebenso wie Portugal und Spanien dem Durchführungsabkommen von Schengen bei. Ministerielle Dekrete brachten in der Folge die Visapflicht für stark „emigrationsgefährdete“ Länder wie Tunesien, Marokko, Gambia und Senegal. Trotzdem wurde und wird dem Martelli-Gesetz wegen der verbesserten Garantien für die Einwanderer bei gleichbleibenden Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer Ausweisung nachgesagt, die Tür weiter geöffnet zu haben.
Die Immigration nach Italien hat sich in den letzten Jahren -infolge der neuen Gesetzgebung und des Falls der Grenzen im Osten -hinsichtlich der geographischen Herkunft deutlich verändert. In Lazien, dem „Umschlagplatz“ für die gesamte Einwanderung, nahm von 1992 bis 1993 die Zahl der Osteuropäer um 17, 6 Prozent zu, während die der Nordafrikaner sich um 21, 4 Prozent verringerte Derzeit werden etwa zehn Prozent der Aufenthaltsgenehmigungen für Familienzusammenführungen ausgestellt, nach letzten Umfragen haben jedoch nur 17 Prozent aller Einwanderer eine Familie in Italien
Die Einwanderung bestätigt die traditionelle Nord-Süd-Trennung des Landes. Wer eine Aufenthaltsgenehmigung erhält, wandert meist in den Norden weiter, während Illegale in Rom bleiben oder in den Süden ziehen
III. Fremdenfeindliche Erscheinungen
1. Die Zeit der Auflösung der Linksparteien
Noch 1985 hatte eine Untersuchungskommission des Europäischen Parlaments festgestellt, daß Italien sicher eines der Länder sei, in denen eine verschwindend geringe Zahl an rassistischen Zwischenfällen registriert werde. Seit 1987 berichtete die italienische Presse jedoch wiederholt von Diskriminierungen gegen Ausländer und widmete der Frage nach deren rassistischem Hintergrund zunehmende Aufmerksamkeit
An den Stränden und in städtischen Zentren des Landes sorgten bunt bekleidete, dunkelhäutige Verkäufer von Sonnenbrillen und Feuerzeugen erst für Abwechslung, dann für Verärgerung. ,, Vu’ cumprä?“, italienisch mit afrikanischem Akzent für „Willst du kaufen?“ wurde zur gängigen Bezeichnung für die ambulanten Händler und zugleich zum ersten Stereotyp, das eine deutlich reduzierte, wenn auch nicht eindeutig herabwürdigende Perzeption dieser Einwanderer zum Ausdruck brachte. In kleinen Küstenorten in der Nähe Roms, in denen Einwanderer aus dem Osten zum Teil mehr als 30 Prozent der lokalen Bevölkerung darstellten, entstanden zugleich Formeln wie „gekleidet sein wie ein Russe“ oder „stinken wie ein Russe“. Zigeuner erregten immer öfter das Mißfallen der Bürger, sie wurden schon deutlich unfreundlicher als „Vagabunden“ oder schlicht als „Diebe“ bezeichnet
Seit Sommer 1989 ereigneten sich massiv kleinere und größere Episoden von Ausländerfeindlichkeit, wobei die Gewaltschwelle wiederholt überschritten wurde. Am 24. August 1989 wurde bei Villa Litemo, südlich von Rom, ein Schwarzer erschossen. Er hatte sich gegen einen Raubüberfall auf eine Gruppe von Emtearbeitern zur Wehr gesetzt, in dessen Verlauf die fünf maskierten Täter ihre Opfer als „dreckige Neger“ bezeichneten. In den wenig entwickelten Gegenden des Südens waren die ausländischen Emtearbeiter mit Tageslöhnen zwischen 20 und 30 DM eine unschlagbar billige Kon-kurrenz auf dem schwachen Arbeitsmarkt. Aber auch das wohlhabende nördliche Zentrum, in dem traditionell Linksparteien regieren, wurde zum Schauplatz xenophober Untaten. In Florenz, Stadtteil San Lorenzo, kam es in der Karnevalszeit 1990 zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen schwarze Straßenhändler. Eine explosive Mischung aus Stadtteilbande, Fußballfans und Skinheads hatte sich zusammengefunden, um ihr Viertel zu verteidigen
Im November und Dezember 1990 wurden in der Gegend von Bologna zwei Zigeunerlager überfallen. Die sogenannte „Fiat-Uno“ -Bande, die in der Folge noch mehrmals durch Raubüberfälle in Verbindung mit politisch begründeten Gewaltakten auffiel, hinterließ dabei zwei Tote und elf Verletzte
Ihre auffällige Wohnsituation wurde den Immigranten noch öfters zur Falle: Bei einem Brandanschlag auf provisorische Behausungen wurden im Januar 1991 bei Caserta 20 farbige Einwanderer verletzt
Die Fremdenfeindlichkeit erfuhr wenige Monate später eine neue Dimension. Während nämlich von den fast unmerklich durch die Grenzen sikkemden Straßenhändlem meist nur Einzelschicksale bekannt wurden, bedeutete die Ankunft Tausender von Albanern auf überladenen Schiffen im Sommer 1991 die erste Auseinandersetzung mit einem Massenphänomen. Auch Teile der als liberal bekannten Presse gaben nun ihre Solidarität mit den Einwanderern und speziell mit den Albanern auf. Das „kleine Heer von 15 000 Immigranten“, so die Tageszeitung La Repubblica am 7. Juni 1991, bestehe durchweg aus Personen, die sich nur mit Mühe in ein industrialisiertes Land einpassen ließen und deshalb ein Risiko für die Bewohner Apuliens darstellten. Die Zentralregierung in Rom wollte Stärke demonstrieren, offenbarte jedoch mit der Unterbringung der Albaner in Stadien und ihrer im Einzelfall unüberprüften, rüden Ausweisung zugleich das Fehlen geeigneter Aufnahmestrukturen für diese und andere Flüchtlinge.
Das Kalkül der Parteien, die Einwanderer propagandistisch gegen den politischen Gegner und für die eigenen Interessen zu nutzen, ging nun -nicht nur wegen der hohen Zahl der Neuankünfte -nicht mehr auf. Mit der Umwandlung der Kommunistischen Partei (PCI) in eine sozialdemokratische Partei namens PDS im März 1990 entfiel die antikommunistische Komponente der Solidarisierung mit den Osteuropäern. Gleichzeitig begann der unaufhaltsame Abstieg der sozialistischen Partei (PSI), die sich dank der Gesetzgebung von 1990 und mit der Besetzung eines bald wieder abgeschafften Immigrationsministeriums vorübergehend als Einwandererpartei profilieren konnte. Auf der anderen Seite begann der Aufstieg der Lega. Beim ersten nationalen Kongreß der Partei im Dezember 1989 äußerte der Parteiführer Umberto Bossi die Überzeugung, daß die klassischen Mechanismen der sozialen Integration für die farbigen Immigranten nicht funktionierten.
Im Sommer 1992 fiel in Rom auch das Tabu des Antisemitismus gewalttätigen Aktionen zum Opfer, wobei „Naziskins“ als Provokateure auftraten, denen Verbindungen zur rechten Parteienszene nachgesagt wurden. Reflexe der europäischen Szene und spezifisch italienische begannen sich zu vermischen
2. Die Regierungen Berlusconi und Dini
Im März 1994 übernahm ein von dem Unternehmer und Medienzar Silvio Berlusconi geführtes Mitte-Rechts-Bündnis die Regierung, der auch die Lega Nord und AN angehörten Wer glaubte, die Fremdenfeindlichkeit würde in der neuen Regierung ein institutionelles Ventil finden, sieht sich getäuscht. Weder Berlusconi noch die Nachfolge-regierung Dini sind bisher in der Lage gewesen, das Martelli-Gesetz zu reformieren oder zu vervollständigen. Der politische Umgangston radikalisiert sich, Drohungen und sogar Handgreiflichkeiten im Parlament sind keine Seltenheit. Neuere fremdenfeindliche Delikte haben dieselben Opfer und Täter wie in den Vorjahren, die Brutalität hat eher zugenommen.
Am 9. September 1994 berichtete La Repubblica: Zehn Jugendliche, angeführt von zwei Schaustellern, haben einen Senegalesen so geprügelt, daß er mindestens zehn Tage im Krankenhaus bleiben muß. Der Straßenhändler wurde noch ins Gesicht getreten, nachdem er schon bewußtlos war. Am 16. März 1995 las man im Corriere della Sera: In Pisa sind zwei kleine Zigeuner im Alter von drei und 13 Jahren von einer als Geschenk getarnten Bombe, die ihnen aus einem Auto gereicht wurde, schwer verletzt worden. Die beiden Kinder hatten an einer Straßenkreuzung gebettelt.
Der Soziologe und Abgeordnete der italienischen Grünen Luigi Mancori -der das Fehlen wissenschaftlich erhobener Daten beklagt -hat anhand von Zeitungsnotizen für das Jahr 1994 und die ersten beiden Wochen des Jahres 1995 in Italien 124 Gewalttaten in Verbindung mit Fremden-feindlichkeit registriert, davon allein 84 in Rom und Umgebung. Die wahre Zahl hält er aufgrund der nicht zur Kenntnis genommenen Dunkelziffer für mindestens doppelt so hoch. Die Zeitschrift Panorama bezifferte in ihrer Ausgabe vom 15. Januar 1995 die Zahl der xenophoben Übergriffe für das Jahr 1994 auf 300. Nach Angaben der Caritas waren 1992 noch 200 und 1993 insgesamt 352 Fälle aufgetreten. Damit würde sich eine „Stabilisierung“ des Phänomens abzeichnen, vielleicht als Folge einer 1993 verschärften Gesetzgebung gegen Diskriminierung Durch ihre vor allem in den letzten zwei Jahren erfolgte Einbindung in die nationale und kommunale Politik neigen Lega Nord und AN heute weniger dazu, subversive Gruppen zu unterstützen. Entwarnung ist indes nicht angesagt.
Mauro Valeri von der „Beobachtungsstation Rassismus“ in Rom sieht heute drei potentielle Typen von Opfern unter den Einwanderern: den Obdachlosen oder anderweitig sozial Exponierten, Personen, die mit einem bescheidenen Wohlstand Neid auslösen und den x-beliebigen Andersaussehenden, der stellvertretend für alle Einwanderer zum Opfer wird. Die Täter sind meist Jugendliche aus sozial schwachen Gegenden und ohne formale Anbindung an übergeordnete Organisationen.
IV. Untersuchung der Ursachen
1. Analyse der Zahlen Die beinahe tägliche Verbreitung von Ziffern über Ankünfte illegaler Einwanderer kennzeichnet das Jahr 1995 und führt zur Vernachlässigung der legalen Entwicklung. Ende 1994 befanden sich 922 000 Ausländer legal in Italien, was einem Ausländeranteil von 1, 61 Prozent entspricht. Der Rückgang der Anwesenheiten beträgt somit gegenüber 1993 immerhin 6, 5 Prozent; er beruht auf einer Revision abgelaufener und doppelter Genehmigungen, die in der überwiegenden Zahl der Fälle für maximal zwei Jahre ausgestellt werden Somit kann man davon ausgehen, daß die Zahlen des Innenministeriums für die regulären Anwesenheiten mindestens bis 1993, als die Revision begann, zu hoch waren.
Bei den Illegalen war und ist die Gefahr der Mehrfachzählung noch größer Die italienische Caritas hat kürzlich von der Notwendigkeit gesprochen, die ebenso verbreitete wie „aufgeblasene“ Zahl von 800000 Illegalen zu halbieren. Die Hilfsorganisationen sind am engsten mit den Einwanderern befaßt und führen eigene Statistiken, da das Innenministerium nur die legale Einwanderung erfaßt
Die trotz der vorgetragenen Einschränkungen erheblichen Zuwachsraten der Einwanderung nach Italien müssen bei einer qualitativen Analyse weiter relativiert werden. Nach 1975 begann in Italien ein dramatischer und anhaltender Geburtenschwund, der dem Land die international niedrigste Natalitätsrate eintrug. 1987 übertraf zudem die Zahl der Auswanderer bereits wieder die der Rückkehrer. Durchaus maßvoll schlossen die Ein-Wanderer entstandene Lücken Die qualitative Analyse zeigt auch, daß die Befürchtung, Italien ziehe nur Einwanderer aus der Dritten Welt an, zumindest übertrieben ist. Nach Ziffern, die im Auftrag des Ministerrats über alle Medien verbreitet werden, lag der Anteil der „extracomunitari“ in Italien 1994 bei 83 Prozent, in Deutschland bei 75 Prozent und im europäischen Durchschnitt bei 67 Prozent. Wie bereits einführend erklärt, umfaßt die unpräzise Kategorie „extracomunitari“ aber auch Einwanderer aus reichen Ländern. So stellen US-Amerikaner in Italien die drittgrößte, in Rom sogar die zweitgrößte Einwanderergruppe. Zählt man zu den „extracomunitari“ -den Vorurteilen entsprechend -nur die Armutseinwanderer, so fällt deren Anteil für 1994 auf 68 Prozent. Dieser Anteil erhöht sich natürlich wieder, wenn man die Illegalen mitrechnet. Nimmt man jedoch deren Zahl mit 400000 an, so erreichen legale und illegale Anwesenheiten zusammen für 1994 knapp 2, 4 Prozent der Gesamtbevölkerung, ein im internationalen Vergleich geringer Ausländeranteil.
Es drängt sich in diesem Zusammenhang der Verdacht auf, daß durch die Immigration ans Licht gezerrte, hausgemachte Probleme auf die „Einwanderermassen“ selbst abgewälzt wurden und werden. Eine gefährliche Entwicklung, wenn man sich vor Augen hält, daß bereits bei Umfragen 1987/88 eine Mehrzahl der Befragten die Zahl der Einwanderer für höher hielt als sie sein konnte und 1991 eine Mehrheit sie für in jedem Fall zu hoch hielt
Schlimmer noch als die Verbreitung zu hoher Zahlen ist, daß „extracomunitari“ zunehmend mit Gesetzesbrechem identifiziert werden. La Repubblica betitelte sie in der Ausgabe vom 24. September 1995 auf der ersten Seite rundweg als Menschen, die offenbar von der Beachtung der zivilen, der Straf-, der Verwaltungs-und Handelsrechte entbunden seien.
Zu den hausgemachten Problemen gehört jedoch außer den spät eingeführten Grenzkontrollen und der Schwarzarbeit auch die organisierte Kriminalität. Die üblichen mafiosen Gruppierungen der italienischen „malavita“ organisieren die illegale Einreise und Beschäftigung der Einwanderer. In Bozen sind im Oktober 1995 insgesamt 52 Haftbefehle gegen eine von der Mafia unterstützte Schlepperorganisation verhängt worden, die in zwei Jahren 20000 Flüchtlinge nach Italien und von dort zum Teil nach Deutschland geschleust hat. Mit Lieferwagen werden ausländische illegale Händler und Prostituierte von organisierten Banden morgens „verteilt“, abends abgeholt und in miserable Behausungen gebracht. 26000 farbige Prostituierte an Italiens Küsten, so beklagte im September die italienische Caritas, seien praktisch versklavt. Ein leitender Beamter im Sozialministerium, Guido Bolaffi, stellte in diesem Zusammenhang fest, die illegale Einwanderung, die ihrerseits Rechtsbrüche provoziere, werde in keinem Land derart zur Schau gestellt wie in Italien. Eine Umfrage ergab: 15 Prozent der Italiener denken bei dem Begriff Einwanderer an Drogenhändler, 14 Prozent an Prostituierte. 43 Prozent waren der Ansicht, daß eine Ausweisung von Illegalen und Straffälligen die Fremdenfeindlichkeit verringern würde
2. Rechtliche und institutionelle Probleme
Die Umsetzung des „legge Martelli“ weist in der Praxis erhebliche Mängel auf. Was die Situation an den Grenzen angeht, sind trotz modernisierter Kontrollen und Visumpflicht außerordentliche Maßnahmen zur Regel geworden. In Sizilien und Apulien wurde 1994/95 das Militär gegen illegale Einwanderer eingesetzt. Man schätzt, daß trotzdem die Hälfte der oft von professionellen Schlepperbanden unterstützten Versuche erfolgreich ist -und zwar längerfristig. Von 45000 Ausweisungen, die 1993 gegen Illegale verhängt wurden, sind nach Angaben des damaligen Innenministers Maroni (Lega Nord) nur 10 Prozent vollzogen worden
Das Asylrecht wurde in der Praxis nicht entscheidend verbessert. Trotz im europäischen Vergleich niedriger Asylbewerberzahlen gelingt es den Behörden nicht, eine Einzelfallprüfung zu garantieren, wie die Fälle der Albaner 1991 und der Kurden 1994/95 gezeigt haben. (Die Zahl der Asylbewerber war 1991 auf über 28000 hochgeschnellt, lag aber im letzten Jahr nur noch bei 6600.) Es fehlen nach wie vor Aufnahmestrukturen. Flüchtlinge sind wie die Illegalen und alle Einwanderer, die keinen ersten Wohnsitz in Italien haben, von der nationalen Gesundheitsfürsorge ausgeschlossen.
Das Integrationsinstrument Arbeit wird nicht im möglichen Umfang zur Verfügung gestellt. Die nach den Legalisierungen bis 1991 auf über 20 Pro zent hochgeschnellte Arbeitslosigkeit der Einwanderer ist zwar bis 1994 auf rund 12 Prozent abgesunken. Vor allem in Industrie und Landwirtschaft wurden in letzter Zeit Einwanderer absorbiert. Aber Arbeitsgründe machen nur gut die Hälfte der Aufenthaltsgenehmigungen aus, da deren Erlangung nach wie vor erschwert ist
Insgesamt bleibt der Eindruck der Absenz des Staates erhalten, obwohl auf kommunaler Ebene und von seiten der Hilfsorganisationen zum Teil beachtliche Eingliederungsanstrengungen unternommen werden. Ein wesentliches Problem stellt die fehlende Koordinierung aller restriktiven und integrativen Maßnahmen durch den Ministerrat dar. Der Innenminister hat zwar im September 1994 einen „Kommissar für Immigration“ eingesetzt, jedoch ist dieser, wohl auch wegen seiner institutionell untergeordneten Rolle, bisher kaum in Erscheinung getreten. Dazu kommt die Knappheit der Mittel: Kein Geld für soziale und kulturelle Einrichtungen und die schon jetzt völlig unzureichenden Studien
3. Gesellschaftliche Probleme
Italien hat erst in den letzten zehn Jahren auf Druck der europäischen Institutionen eine moderne Einwanderungsgesetzgebung in Gang gebracht. Mit der zunehmenden Schließung der Grenzen, die das Abkommen von Schengen mit sich bringt -Italien und Griechenland können den Vertrag aus datenschutz-und informationstechnischen Gründen noch nicht erfüllen -, verlagert sich das Problem Fremdenfeindlichkeit von der Neu-einwanderung auf die Integration, wo es keine europäische Zusammenarbeit gibt.
Die öffentliche Meinung zum Problem Einwanderung ist gespalten, wobei die ethische Position, die mehr Engagement und Verantwortung fordert, von der Kirche, den Hilfsorganisationen und der historischen Linken -eher Splittergruppen -repräsentiert wird. Ihr steht eine ebenso pragmatische wie vage Position gegenüber, die von den Mitte-Rechts-Parteien vertreten wird und besagt, daß Italien -so Berlusconi in seinem Regierungsprogramm -soviel Einwanderer aufnehmen soll, wie das Land in würdigen Verhältnissen aufnehmen kann.
Die gesellschaftlichen Grundvoraussetzungen für eine dauerhafte Integration sind trotz der traditionellen Gastfreundschaft der Italiener derzeit nicht günstig. Kurzfristig kann man bei der Stabilisierung der Einwanderer wegen der raschen Veränderung ihrer Zusammensetzung in den letzten Jahren und dem großen Reservoir an Illegalen in geringerem Maße wie die nördlichen Nachbarländer auf gefestigte Gruppen zurückgreifen. Längerfristig hat man sich bisher weder zu einer Assimilation der Einwanderer nach französischem, noch zu einer pluralistischen Gesellschaft nach britischem oder einer Mischform nach deutschem Vorbild entschieden Die italienische Situation scheint den Beweis zu liefern, daß nicht ihre Zahl, sondern die soziale Situation, auf die Einwanderer treffen, eine eher freundliche oder eher feindliche Aufnahme prägen.
V. Vorschläge zur Problemlösung
Die damalige Sozial-und Familienministerin Fernande Contri hatte 1993 einen Reformvorschlag vorgelegt, der eine ständige Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer vorsah, die länger als fünf Jahre in Italien leben und arbeiten. Dieser Personenkreis sollte das Kommunalwahlrecht erhalten. Die Familienzusammenführung sollte erleichtert und auf legal arbeitende Selbständige ausgedehnt werden. Die im Martelli-Gesetz vorgesehene jährliche Bestimmung einer Höchstzahl von Neueinwanderem sollte die Nachfrage nach Einwanderern in bestimmten Wirtschaftssektoren berücksichtigen und Saisonarbeiter legalisieren. Derzeit deutet jedoch alles darauf hin, daß eine Verschärfung der Ausweisung Kernpunkt einer Gesetzesreform wird. Die zuständige Kommission der Kammer faßte am 19. September 1995 mit den Stimmen von AN und Lega den Beschluß, daß Illegale schneller als bisher deportiert werden können. Wer Illegalen bei der Einreise behilflich ist, soll mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden. Das Bündnis der progressiven Parteien hielt noch dage-gen, aber der PDS sucht die Lega als Bündnispartner und ist zu Zugeständnissen bereit. Einzelne Ressortchefs versuchen nun, die Möglichkeiten für Kompromisse auf breiterer Basis auszuloten Arbeitsminister Treu schlug vor, 400000 Illegale zu legalisieren und die anderen „nach Hause zu schicken“, allerdings ohne vorherige Zwangskasernierung, wie sie der AN-Vertreter und ehemalige Staatssekretär im Innenministerium, Maurizio Gasparri, unter ausdrücklichem Hinweis auf die Ermahnungen von Bundesinnenminister Kanther an die Italiener fordert. Gesundheitsminister Guzzanti führt den notwendigen Schutz vor Infektionskrankheiten als Begründung für seine Forderung an, auch illegale Ausländer an der staatlichen Gesundheitsfürsorge teilhaben zu lassen. Dabei leistet sich der italienische Staat jedes Jahr Mindereinnahmen in Milliardenhöhe, da Illegale häufig arbeiten, aber weder sie, noch ihre Arbeitgeber Sozialabgaben entrichten