I. Präliminarien
Während im Zuge der Wende in der DDR und des Beitritts zur westdeutschen Republik direkte Auswirkungen auf die in den Schulen angebotenen Fächer kaum oder nur mittelbar einsetzten, wurde die neue Situation für das Politikfach unmittelbar aktuell: Die vormalige „Staatsbürgerkunde“ war obsolet geworden und wurde durch ein Fach ersetzt, das mit den Inhaltsvorgaben der westdeutschen politischen Bildung den Systemwechsel unmittelbar signalisierte. Die ersten Rahmenpläne waren schnell gefertigt, westdeutsche Schulbuch-verlage erschlossen sich das neue Absatzgebiet, die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn und recht bald auch die neu entstandenen Landeszentralen für politische Bildung engagierten sich, die lehrerbildenden Institutionen in den neuen Ländern fanden in der politischen Fortbildung einen ersten Schwerpunkt ihrer Arbeit, und das neue Fach wurde an den Schulen unterrichtet.
Von wem eigentlich? Wohl in aller Regel nicht von ehemaligen Lehrern der Staatsbürgerkunde, aber zunächst fast ebenso regelmäßig von Lehrkräften, die das Politikfach auch nur von daher kennengelernt hatten. Autodidaktisch zunächst und dilettierend, nach und nach auch auf der Grundlage von Fort-und Weiterbildung, gestalten sie seither ein Fach, in das sie vielfach aus ganz anderen Gründen als Neigung und Interesse geraten waren, nach den Vorstellungen, die sie sich von Politik und dem machen, was sie an professionellen Anforderungen erreicht. Die folgenden Überlegungen siedeln in diesem Spannungsfeld und sind vielfältig angeregt durch Erfahrungen des Autors in einem großen brandenburgischen Weiterbildungsprojekt für Lehrerinnen und Lehrer im hier so genannten Schulfach „Politische Bildung“.
Die Überschrift dieses Beitrags signalisiert die Verhandlung von Problemen auf delikatem Terrain. Sie auf die hier vertretenen Anliegen zu konzentrieren, seien drei Feststellungen vorab getroffen, die implizit die Tatsache mitteilen, daß ihr Autor aus der westdeutschen Republik stammt (genauer: aus West-Berlin), vielleicht auch, daß ihn einschlägige Erfahrungen seit Sommer 1990 vor (ostdeutschem) Ort zu diesen Vorbemerkungen veranlassen. Im übrigen ist er es als Sozialwissenschaftler gewöhnt, gruppenbezogene Merkmalshäufungen zu registrieren, ohne daraus schon den Schluß zu ziehen, daß die Beobachtungen auf ein gleichförmiges Verhalten der betreffenden Gruppen oder gar ihrer einzelnen Mitglieder schließen lassen. 1. Es gibt wenig Sinn, die -möglichst noch langjährige -eigene Erfahrung von Lebensumständen zur Voraussetzung zu deren Beurteilung machen zu wollen. Wohl resultiert aus dem Erlebthaben eine besondere Exklusivität, die sich teilweise überhaupt nicht vermitteln läßt, aber es ist ja gerade die Annahme intersubjektiver Kriterien und Nachvollziehbarkeiten, die den Austausch von Argumenten und Meinungen ermöglicht und reizvoll werden läßt.
Eine Anwendung dieser These: Auch DDR-Verhältnisse und ihre Folgeerscheinungen sind keine reservierten Intimbereiche für die unmittelbar davon Betroffenen.
2. Grundnormen menschlichen Zusammenlebens, etwa im Sinne von Menschenrechten, finden zwar 'jeweils historische Entfaltungs-und Ausdrucksformen, entziehen sich aber in ihrem Kern jeder Verfügbarkeit. Folglich lassen sich Verletzungen weder durch eine hehre Absicht rechtfertigen noch durch das Aufrechnen einer besonders guten Erfüllung einer Grundnorm gegen solche, die besonders verletzt wurden.
Eine Anwendung dieser These: Die DDR war in dieser Hinsicht die eindeutig schlechtere Alternative der nachkriegsdeutschen Zweistaatlichkeit; und die Behauptung, Funktionäre des Systems, zu denen Lehrer eindeutig gehörten, wären nicht an dessen Rechtsverwerfungen beteiligt gewesen, ist nur dann und in dem Maße haltbar, in dem Widerstand praktiziert wurde.
3. Da Individuen und Gruppen verinnerlichte Verhaltensmuster nur langsam (wenn überhaupt) ver-oder umlernen, bleiben die Kembestände von solchen Sozialisationseffekten -zumal, wenn sie im Unterbewußtsein angesiedelt sind -auch über abrupte Systemveränderungen hinweg noch lange wirksam. Dabei werden mehrdeutige Beurteilungs-und Verhaltensoptionen recht schnell neu organisiert; was vorerst bleibt, sind die (politischen) Grundorientierungen in ihren Ängsten, Befangenheiten und Plausibilitäten.
Eine Anwendung dieser These: Die rapide Abnahme der Erkennbarkeit spezifischer DDR-Eigenheiten ist vor allem Ausdruck des Verschwindens vormaliger Gelegenheiten und Zwänge, nicht schon eines veränderten politischen Bewußtseins. Die Annahme einer umstandslosen Einmündung in das neue Normensystem zeugt vor dem Hintergrund eines konfliktarmen Zurechtkommens im alten System lediglich von der Richtigkeit der eben aufgestellten These.
Die Einseitigkeit dieser Thesenanwendungen ist dem konkreten Klärungsanliegen geschuldet und verkennt keineswegs, daß auch die Lehrertätigkeit an westdeutschen Schulen u. a. aus ostdeutscher Perspektive durchaus kritisch betrachtet werden kann, daß auch westdeutsche Lehrer Funktionsträger ihres Systems waren und sind und daß schließlich auch hier die Ideologieproduktion nicht unbekannt ist.
II. Was politische Bildung (nicht) sein soll
Die ebenso abrupten wie fundamentalen Veränderungen eines ihrer wichtigsten Objekte haben im Gefolge der deutschen Vereinigung die politische Bildung in den beiden vormaligen Teilstaaten zu grundlegenden Erörterungen über Selbstverständnis und anstehende Aufgaben geführt. Wenn dies auf westdeutscher Seite oftmals vor dem Hintergrund historisch inspirierter Bestandsaufnahmen geschieht ist dies von der Sache her naheliegend und dem Problem durchaus angemessen: Schließlich reagiert die politische Bildung auf die Situation, sich unverhofft mit den verloren geglaubten ostdeutschen Geschwistern unter einem Dach wiederzufinden, was innerhalb kürzester Frist die kuriose Situation mit sich brachte, daß aus Objekten plötzlich Subjekte wurden. Der üppig subventionierte vormalige bloße Gegenstandsbereich „gesamtdeutsche Bildungsarbeit“ ist seither zu dem geworden, was der Name immer nur unterstellte.
Der Rollenwechsel macht im Westen wie im Osten Schwierigkeiten, und deren professionelle Bewältigung -ohnehin mangels fortwirkender Professionals im Osten weithin noch von Westdeutschen getragen -kann auf kaum mehr als eben auf die westdeutschen Nachkriegserfahrungen zurückgreifen. Das Ereignis der Implosion des osteuropäischen Sowjetsystems und damit auch des kleineren deutschen Staates traf die Beteiligten im Westen noch mehr als im Osten (die hatten wenigstens das verbreitete Empfinden, so wie vorher könne es einfach nicht weitergehen) völlig unvorbereitet. Die der Vereinigungseuphorie folgende, noch zunehmende Unübersichtlichkeit zwischen jeweils ost-/westdeutsch-hausgemachter und vereinigungsbedingter Zuordnung von ökonomischen Strukturkrisen über nationale Identitätsprobleme bis hin zu nostalgischen Rückwendungen erzeugt in der Tat einen erheblichen Orientierungsbedarf auch und gerade für die politische Bildung.
Deutliche Symptome hierfür zeigen sich bereits beim Verständnis dessen, was politische Bildung sein soll. So oszillieren beispielsweise in einem 1993 erschienenen Sammelband „Politische Bildung im vereinten Deutschland“ die Auffassungen ganz erheblich: Rolf Wernstedt etwa erhebt die Forderung „Politische Bildung kann ... in den nächsten Jahren nur der Versuch sein, möglichst aktuell und präzise die politische Situation aus der Perspektive Ost-und Westdeutscher zu analysieren.“ Wolfgang Dümke stellt sich eine Art Generalinventur vor: „Es darf nicht um die Aneignung vorgegebener, unreflektierter Werte gehen, die durch wissende Subjekte vorgegeben sind, sondern darum, alle politischen Sachverhalte und Lösungsansätze zu hinterfragen“ und insbesondere „die institutioneilen Möglichkeiten zu geben, daß Erwachsene und Heranwachsende vor allem aus den neuen Bundesländern sich mit den politischen Gegebenheiten der alten Bundesrepublik vorurteilsfrei (sic!) und ohne unmittelbaren existentiellen Druck (sic!) beschäftigen, identifizieren und zu-gleich kritisch auseinandersetzen können“ Klaus-Dieter Block sieht gar die Gefahr, daß politische Bildung ins Leere laufen könnte, „weil z. B. Schülerinnen erneut eine Kluft zwischen Theorie und Praxis konstatieren“, und erst „solche politischen Bedingungen und eine entsprechende Atmosphäre anzustreben (sind), daß auch die Ostdeutschen die Überzeugung gewinnen und dementsprechend handeln, , daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht“
Die Vermutung, daß diese Zitate -um ihren Autoren gerecht zu werden -ausführlicher belegt werden müßten, trifft zu; auch ist die Zusatzinformation sicher nicht belanglos, daß es sich bei den beiden Letztzitierten um Ostdeutsche handelt. So sollen sie hier auch nicht mehr als den Anlaß geben, das eigene Verständnis von politischer Bildung als notwendigen Hintergrund für die folgenden Ausführungen definitorisch kurz zu skizzieren. Demnach soll „Politik“ die übergreifenden Steuerungs-, Regelungs-und Koordinierungsfunktionen zum Erhalt von sozialen Systemen -ein weiter Politikbegriff also -bezeichnen; „Bildung“ die durch Kenntnisse und Einstellungen gespeiste Urteils-und Handlungsfähigkeit zwischen (technischen) Verfügbarkeiten und (wertbezogenen) Orientierungen und schließlich die Konnotation „politische Bildung“ die Didaktik der Politik. Also: Warum (Lernzielbestimmung) werden welche Inhalte (Informationsselektion) mit welchen Methoden (Methodologie) und mit welchen Resultaten (Evaluation) thematisiert bzw. gefordert?
Diese Skizze verkäme zum sozialtechnologischen Programm, würde sie nicht in die beiden Dimensionen des gleichsam axiomatischen Wertekonsenses und einer pädagogischen Ethik eingebunden:
Bei ersterer Dimension (axiomatischer Wertekonsens) halte ich mich an Hilligens drei Optionen -die Wahrung der naturrechtlich begründeten personalen Grundrechte, -die Überwindung struktureller sozialer Ungleichheiten, -die Erschließung politischer Gestaltungsräume durch Demokratisierung.
Bei der pädagogischen Ethik, von der politische Bildung getragen sein muß, halte ich die im „Beutelsbacher Konsens“ gefundenen Prinzipien für anhaltend konstitutiv: -das Überwältigungsverbot, -das Authentizitätsgebot (kontroverse Sachverhalte sind als solche zu vermitteln), -die allgegenwärtige Interessenperspektive, letztere (mit Hans-Georg Wehling durchaus als bloße Individualinteressen relativierende Sichtweise.
Mit dieser absichtsvoll nicht originellen Definitionsskizze von politischer Bildung will ich zweierlei erreichen: Einmal die starke Vermutung nähren, daß dieser zunächst nur westdeutsche Grundkonsens auch von Ostdeutschen mitgetragen werden kann, und zum zweiten -daraus folgend -die Frage nach der Verfügbarkeit dieser Prinzipien beantworten. Sie sind wohl immer neu zu konkretisieren, sind aber sofort verletzt, wenn sie auch nur partiell oder zeitweise suspendiert werden -und sei es auch um höchster Ziele willen. Übrigens eine Einsicht, die bekanntermaßen nicht aus der westdeutschen Republik stammt, vielmehr eine wesentlich von außen implementierte Erfahrung darstellt, deren Grad an Etablierung Indikator für die nachholende „Verwestlichung“ der alten und der neuen Bundesrepublik ist. Was politische Bildung demnach nicht leisten soll -und nicht leisten kann -, ist die Herstellung umfassender Bedingungen eines „repressionsfreien“ Diskurses; auch kann sie nicht darauf warten, bis die politischen Verhältnisse die Differenzen zwischen Anspruch und’Wirklichkeit hinter sich gelassen haben.
III. Politische Bildner in der Ost-West-Gemengelage
Der durch die Vereinigung ausgelöste Orientierungsbedarf in der politischen Bildung transportiert vielfach Skrupel, Vorurteile und Fehleinschätzungen besonders in der Ost-West-Rollenteilung. Es ist nach 40 Jahren jeweils eigenständiger Entwicklung als Brückenköpfe zweier feindlicher Machtsysteme eigentlich trivial, festzustellen oder zu bedauern, daß die gemeinsamen Selbstverständlichkeiten in beiden Deutschländern sich weithin erst hersteilen müssen. Die Vermutung, daß dies auch ein Generationenproblem darstellt, ist angesichts der in der Regel sehr verschiedenen Biographiemuster naheliegend. Schließlich hatten sich die Westdeutschen im Status quo ante trefflich eingerichtet, und auch die Ostdeutschen hatten sich in ihrer großen Mehrheit mit den in der DDR obwaltenden, beschränkten, aber -in des Wortes ambivalenter Bedeutung -umfassend abgesicherten Verhältnissen arrangiert.
Diese Situation ist eine, mit der Pädagogen (im weitesten Sinne) nur schwer umgehen können: Im Mitfühlen geübt, können sich die Westdeutschen in deren mißliche Lage sehr vieler Ostdeutscher und in deren Unzufriedenheit hineinversetzen. Da Empathie von „oben“ nach „unten“ leichter fällt als umgekehrt, dominiert im Osten deutlich die Vertiefung der „Wir-hier-unten“ -Perspektive (im Westen gerne als Jammerhaltung aufgefaßt). Westlicherseits weiß man zugleich ziemlich konkret (jedenfalls konkreter als vor der Vereinigung), was die nicht nur angenehmere, sondern auch bessere Variante der deutschen Nachkriegs-geschichte ausmacht. Ihr unverdienter (nicht ungerechtfertigter!) Genuß führt zu Befangenheiten, die bis zu Verklemmungen reichen. Vielfach erst nach der Wende bewußt gewordene kleine und große Illusionen über den von den Betroffenen in der DDR alltäglich erfahrbaren (post) totalitären Charakter des anderen deutschen Staates und seine faktische Entwicklungsblockade erzeugen Vorbehalte gegen neuerliche Positionsbestimmungen. Das Changieren der alten Links-rechts-Schemata tut ein übriges.
Kurz: Das dem pädagogischen Ethos innewohnende Helfersyndrom wird im ökonomischen, sozialen und kommunikativen Ost-West-Gefälle zu einem Problem von Zumutbarkeiten. Deren Schwelle wird nicht selten von ostdeutscher Seite ziemlich niedrig gesetzt, vor allem dort, wo an das Glück derjenigen, die Deutsche im Westen waren, von den Benachteiligten im Osten so umstands-wie gegenstandslos mit dem Gerechtigkeitspostulat herangegangen wird Östlicherseits ist der Kolonialismusvorwurf allgegenwärtig und Gelegenheiten, ihn exemplarisch -auch für Westdeutsche nachvollziehbar -belegen zu können, sind Legion. Im Gegenzug ist diese offensichtliche Einbahnstraße natürlich Ausdruck des realsozialisti-sehen Erbes -und das wiederum ist den Bundesdeutschen nicht anzulasten.
Diese -mit zugegebenermaßen groben Strichen gezeichnete -Skizze zeigt eine prekäre Gemenge-lage, die gegenseitig, aber auch innerhalb beider Seiten, eine auch nur näherungsweise symmetrische Auseinandersetzung außerordentlich schwierig macht. Die allgegenwärtigen sozialen, ökonomischen und eben auch politischen Unterschiede zwischen Alt-und Neubundesbürgern werden als Gefälle wahrgenommen, das in der direkten Konfrontation anzusprechen beiden Seiten unangenehm ist. So nehmen nicht zuletzt in der politischen Bildung beide Seiten reichlich Anlaß, sich dümmer zu stellen, als sie sind, und dies gegenseitig zuzulassen.
Es ist eben einfacher, in freundlich-distanziertem Oberflächeninteresse zu verharren, als sich auf Malaisen einzulassen, die die eigenen Vorurteile sehr schnell in Frage stellen könnten. Die wahrscheinlich notwendige Entlastungsfunktion dieser Kommunikationsstruktur soll hier nicht gering geachtet werden. Nur ist sie kein Programm, das auf die wohl unstrittige Notwendigkeit eines Austauschs zur politischen Bildung im nunmehr gemeinsamen Land reagiert. Ich will daher im folgenden den riskanten -weil nicht ent-sondern belastenden -Versuch unternehmen, in einer Art Bestandsaufnahme Eckpunkte zur Ausgangslage zu formulieren.
IV. Zur Ausgangslage
Die politische Bildung in Westdeutschland war bekanntermaßen eine Nachkriegsgeburt, an deren Zeugung hauptsächlich die beiden Demokratien angelsächsischer Provenienz, voran die US-Amerikaner, beteiligt waren und deren deutsche Paten aus eben diesen Traditionen schöpften. Der Versuch -übrigens aus einem zutiefst pädagogisch gespeisten anthropologischen Optimismus (der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey anstelle der in den USA politisch nicht durchsetzbaren Morgenthau-Variante alttestamentarischer Verdammung) -, einer ganzen Bevölkerung maßgeblich über Bildung aus einem zivilisatorischen Abgrund herauszuhelfen, war eine Reaktion auf die Diagnose sozialpathologischer Empfänglichkeiten in Deutschland zwischen Kadavergehorsam und sozialstrukturellen Verwerfungen, die insgesamt den braunen Totalitarismus begünstigt haben. Und in der Tat ist die jüngere deutsche Geschichte bestimmt durch wiederholte Versuche, die auch hier sich herausbildenden Modernisierungs-(und das sind Differenzierungs-) prozesse der bürgerlichen Gesellschaft auf Gemeinschaft zurückzuführen. Es war weniger das oft beschworene Phänomen einer „zu spät gekommenen Nation“ als vielmehr eine spezifische, besonders in Deutschland verbreitete Ideologie, der Ferdinand Tönnies Ende des vorigen Jahrhunderts so exemplarischen Ausdruck gab: Das harmoniebestimmte, romantisch verklärte und rückgewandte Gemeinschaftsbild gegen die moderne bürgerliche Gesellschaft der Interessenansprüche, der sozialen Konflikte und der immanenten Dynamisierung: „Der Classenkampf zerstört die Gesellschaft und den Staat, welche er umgestalten will. Und da die gesamte Cultur in gesellschaftliche Civilisation umgeschlagen ist, so geht in dieser, ihrer verwandelten Gestalt die Cultur selbst zu Ende.“ Volks-gemeinschaft gegen Zivilgesellschaft, würde man mit heutigen Worten diese von Dahrendorf so genannte „Folklore deutschen sozialen Selbstbewußtseins“ bezeichnen. Ihre soziologische Entsprechung findet sie im strukturbildend häufigen Auftreten autoritärer Persönlichkeitscharaktere und aliberaler Politikmuster, die das -nicht hinreichende, aber notwendige -Fundament für die zivilisatorischen Defizite und Katastrophen deutscher Politik seit der Reichsgründung bildeten.
Wie bekannt, reagierte die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft auf die Konfrontation mit den liberaldemokratischen Prinzipien der Westalliierten mit deutlicher Distanz, ablesbar nicht zuletzt an den Diskussionen um die Einrichtung eines Politikfachs an den Schulen. Ein KMK-Beschluß vom Sommer 1950 stellte zwar die Benennung des Faches zur politischen Bildung frei, schlug jedoch Namen vor, die in der bezeichnenden Reihenfolge „Gemeinschaftskunde“, „Bürgerkunde“, „Gegenwartskunde“, „Politik“ genannt wurden. Daß bei der „Bürgerkunde“ nicht gerade der Citoyen gemeint war und auch die beiden folgenden Benennungsvorschläge nicht im Kontext der liberaldemokratischen Traditionen siedeln, erhellt indirekt aus der völligen Ausblendung des Wortes „Demokratie“ und direkt aus der zusammenfassenden Zielformulierung: „Es ist zu hoffen, daß solche politische Bildung zu einer Haltung führt, die zu lebendigem Gemeinsinn und entscheidungsfreudiger Mitverantwortung an der Gestaltung dfes öffentlichen Lebens im (sic!) Volk und zwischen den Völkern den Weg weist.“ Es brauchte etliche Jahre, bis die erst in den sechziger Jahren einsetzende „didaktische Wende“ (K. G. Fischer) über eine Verwissenschaftlichung und Politisierung ihren inzwischen nachhaltig gewandelten Gegenstandsbereich einholte.
Dieser Exkurs bereitet die Bühne für den nun nicht mehr unerwarteten Auftritt des „Ersten Arbeiter-und Bauernstaates auf deutschem Boden“. Ihn in diesem Zusammenhang ankündigen heißt, ihn der gemeinschaftsseligen Traditionslinie zuzuordnen. Nicht nur für westliche Besucher bot die DDR in dieser Hinsicht eine Fülle von Dejä-vu-Erlebnissen. Nach fast einhelligem Urteil gerade derer, die es als vormalige DDR-Bürger wissen müssen war der östliche deutsche Teilstaat eine zwangsharmonisierte Gemeinschaftsveranstaltung, in der wieder bzw. immer noch eine (sozialistische) „Menschengemeinschaft“ das bürgerlich-demokratische Gesellschaftsmodell für sich als obsolet betrachtete. Diesmal zwar als internationalistisches Projekt (mit Ausnahme des skurrilen Schlußakkords eines „Sozialismus in den Farben der DDR“) und von seiten der großen Bevölkerungsmehrheit zu keinem Zeitpunkt begeistert betrieben, aber natürlich nicht wirkungslos. Weder die hehren humanistischen Ziele noch die antifaschistische Traditionspflege haben die Fortzeugung des beflissenen, vorauseilend gehorsamen Untertans auch nur behindert. Die für die Ostdeutschen rund 56 Jahre währende Abschottung von den Quellen liberal-demokratischer Gesellschaftsentwicklung mag bereits aus dem Abstand von nur fünf Jahren selbst für die Betroffenen eine gespenstische Schattenrealität sein. Die Sozialisationsfolgen für das politische Bewußtsein sollten hingegen als ein Generationsproblem begriffen werden.
Gerade angesichts verbreiteter Tendenzen, das Alltagsleben auch in DDR-Schulen mit der augen-zwinkernden Normalitätsbehauptung zu versehen: „Schließlich haben alle gewußt, was gespielt wird, und in Wirklichkeit wollten oder konnten die Lehrer den Schülern doch nichts vormachen“, dürfen nach meiner Überzeugung die Folgen des faktischen Teilausstiegs des staatssozialistischen Projekts aus den emanzipatorischen Traditionen der westlichen Moderne nicht gering geachtet werden. „Mangels lebbarer Alternativen faßte das fremdzwangdominierte Zivilisationsmuster...sehr wohl Wurzeln in den Persönlichkeitsstrukturen, erzeugte es Anpassungsleistungen an autokratische Macht-und provinzielle Lebensverhältnisse, führte es zu einer Fixierung auf eindeutige Verhaltensvorgaben und Wegweiser durch den sozialen Raum, auf Existenz-und Laufbahngarantien.. ,“ Ich zitiere diese ostdeutsche Einschätzung als Westdeutscher, der die in der Bundesrepublik inzwischen etablierten demokratischen Prinzipien und Verfahrensweisen bei allem Bedarf an Weiterentwicklung um so mehr schätzt, als noch keineswegs ausgemacht ist, daß sie in tiefen Wurzeln gründen, und der die Prognose einer durch die Vereinigung verlangsamten Verwestlichung (Wolfgang Zapf) mit einigem Unbehagen teilt.
Die Bürger der DDR als politische Mangelwesen? Ja und nein: Gemessen an den Standards der Gesellschaften mit langen, demokratischen Traditionen, zweifellos. Gegenüber den Westdeutschen stellt sich diese Mangellage schon differenzierter dar: Im Wissen um demokratische Verfahren, bei den Erfahrungen mit demokratischer Praxis und wohl auch in der Verbreitung der Einsicht in die positiven Werte liberal-demokratischer Politikformen dürften sich die Ostdeutschen in einem, nach etlichen Jahren zu bemessenden, Rückstand befinden. Über diese eher schlichte Feststellung hinaus wird es schon delikat: Während die traditionell demokratischen Gesellschaften des Westens seit vielen Generationen eine außerordentliche Stabilität in der Einhaltung der demokratischen Politikprinzipien gerade in schwierigen ökonomischen und sozialen Phasen bewiesen haben, stehen in Deutschland Proben auf solche Exempel noch bevor. Die entscheidende Frage ist, ob es tatsächlich inzwischen in Westdeutschland eine gewachsene politische Kultur liberal-demokratischer Konfliktaustragung gibt, die ihre Stabilität nicht nur auf den Wohlstandszuwachs breitester Bevölkerungskreise gründet. Solange dies aber eine entscheidende -und übrigens auch politikleitende -Frage ist, kann auch das gerne gepflegte Eigenbild einer intakten Civil society in der alten Bundesrepublik über ihr vergleichsweise zartes Alter und damit ihre Unberechenbarkeit nicht hinwegtäuschen. Im Gegenteil: Die häufigen Beschwörungen der festen Verankerung Deutschlands im Kreise der liberal-demokratischen Länder hat immer auch etwas vom Pfeifen im dunklen Wald. ,
Es bleibt ein erheblicher Wissens-und Erfahrungsvorsprung, den die westdeutsche Seite hat sammeln können und als Vermittlungswissen über die politische Bildung mehr oder weniger dezent, aber in aller Regel wohl nicht usurpatorisch anbietet. Das schon häufigere Auftrumpfen mit vermeintlichen oder tatsächlichen Demokratie-Errungenschaften mögen die davon verständlicherweise genervten ostdeutschen Adressaten dem bisweilen immer noch pubertierenden Verhalten der westdeutschen Jung-Demokraten zugute halten. Auf der anderen Seite gibt es eine Fülle von Argumenten, die die als mißlich beschriebene Ausgangsposition in Ostdeutschland immerhin sehr deutlich von allen Vergleichen mit den deutschen Nachkriegsverhältnissen abhebt.
Die DDR war sicher ein repressives System, das je nach Entwicklungsphase und Normenverstoß mit teilweise drakonischen bis mörderischen Sanktionen agierte. Ihre Politik nach innen und nach außen blieb jedoch auf der weltweiten Skala nationaler Menschenrechtsverletzungen und internationaler Aggressionen zumindest quantitativ im unteren Bereich. Keinesfalls muß sich die große Masse ihrer vormaligen Bewohner mit einer dem deutschen Terror zwischen 1933 und 1945 vergleichbaren zivilisatorischen Katastrophe auseinandersetzen. Ansprüche an die Lern-und Einsichtsfähigkeit oder -bereitschaft der Ostdeutschen treffen also auf solcherart nicht diskreditierte Adressaten.
Auch lassen sich unschwer gegenteilige Faktoren aufzählen. So die Tatsache, daß die ehemalige sowjetische Besatzungszone -weit mehr noch als die ehemaligen westlichen Besatzungszonen -auch nach der Einräumung der staatlichen Souveränität mit erheblichen Einschränkungen derselben zu tun hatte. Bis etwa 1987/88 war die Rote Armee die Stütze der Ostberliner Machthaber, so daß sich alle Reformambitionen auf diese Ultima ratio ostdeutscher Staatsräson einzustellen hatten. Der reale Politikspielraum der DDR-Staatsführung wird inzwischen recht unterschiedlich groß eingeschätzt; es mag richtig sein, daß weit mehr, als bislang vermutet, ohne die sowjetische Zustimmung lief, nichts wirklich Substantielles jedoch gegen sie.
Ebenso ist die faktische Selbstbefreiung kaum zu überschätzen. Sowohl die trotz der „Tien An Men-Option“ vom Frühjahr 1989 mit ihrem auch ohne die sowjetischen Streitkräfte nicht kalkulierbaren Risiko stetig anschwellende Protestbewegung als auch die schnelle Einmündung in konstruktive Politikversuche (hier sind die Runden Tische ebenso zu nennen wie die heute schon wieder gerne übersehene Tatsache, daß die SED ganz wesentlich durch ihre eigene Basis demontiert wurde) legen bleibendes Zeugnis für einen Politikstil ab, der in immerhin revolutionärer Situation in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht.
Die Beendigung der Existenz des ostdeutschen Staates durch den Beitritt zur westdeutschen Bundesrepublik erfolgte in der Euphorie gesamtdeutscher Illusionen zwar weitgehend umstandslos, war doch aber immer handlungsrational naheliegend, ging also ohne jeden Hinweis auf irgendwelche defizitären oder absonderlichen politischen Verhaltensweisen vonstatten. Das beginnt beim Andocken an das westdeutsche Währungs-und Sozialsystem und erfüllt sich in einem Bundestagswahlverhalten, das in vielerlei Hinsicht an dasjenige früher westdeutscher Wahlgänge erinnert. Im übrigen ist -nach allem, was aus seriösen Umfragen geschlossen werden kann -die kolportierte Stimmung in Ostdeutschland weit schlechter als die tatsächliche Einschätzung der Situation und der zu bewältigenden Schwierigkeiten; erst recht nicht wird ernsthaft über die Alternative zur Vereinigung nachgedacht.
Die neuen Länder haben sich in bemerkenswert kurzer Zeit die eigenen politischen Gestaltungsbereiche in der föderalen Zuständigkeit erschlossen. Seither gibt es auch für die schulische und außerschulische politische Bildung Eigen-und Besonderheiten aus eigener Kompetenz -wo immer diese waltet. Der Wert der politischen Bildung wird dabei zumindest deklamatorisch hoch gehandelt; offensichtlich ist die Grundannahme, auf politische Wissens-und Einsichtsdefizite mit politischer Bildung reagieren zu müssen, zwischen West-und Ostdeutschen einvernehmlich. In der Umsetzung besonders bei der schulischen politischen Bildung gibt es jedoch deutliche Unterschiede zwischen den fünf neuen Ländern, die insbesondere die Präsenz des Politik-Faches in den Stundenplänen und -gravierender noch -die Qualifizierung der Lehrer betreffen.
Faßt man die kurze Eröffnungsbilanz der ostdeutschen Einstandsbedingungen auf der Habenseite im Hinblick auf die politische Bildung zusammen, so ergeben sich zwei wichtige Elemente von ostdeutscher Politikerfahrung, die zugleich breiten-wirksam und zukunftweisend zu Buche schlagen: Einmal haben die Ostdeutschen gelernt, in den oft krassen Widersprüchen zwischen Anspruch und realsozialistischer Wirklichkeit ihren gesunden Menschenverstand gegen eine allgegenwärtige Ideologie zur Geltung zu bringen. Zum zweiten verfügen insbesondere Lehrerinnen und Lehrer in großer Zahl über die Grunderfahrung des auch persönlichen Scheitems in einem makrosoziologischen Erziehungsprojekt, das die Erreichung hoher humanitärer Ziele mit totalitären Mitteln zu einem aussichtslosen Ende betrieb. Die hieraus resultierende Skepsis gegen große, möglichst auch noch endgültige Politikentwürfe ist ein wichtiger Aktivposten für die politische Bildung in den neuen und alten Bundesländern.
Die Ostdeutschen sind also gerade in der politischen Bildung keine unmündigen Schutzbefohlenen, die der Umerziehung bedürften, sondern Partner, die als Subjekte politischer Bildung auftreten und zu akzeptieren sind. Wenn diese Partnerschaft sich, wie noch auszuführen sein wird, auf ungleichen Voraussetzungen entwickeln muß, dementiert dieser Umstand doch nicht die eben gemachte Feststellung. Die „Gnade“ der westdeutschen Geburt kann nur darin bestehen, den naheliegenden Heimvorteil im vertrauten eigenen, nunmehr gemeinsamen politischen System als Dialogangebot zu artikulieren.
In dem von Tilman Grammes und Georg Weißeno herausgegebenen Band „Sozialkundestunden“ findet sich ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie das eben Ausgeführte völlig verfehlt werden kann. In dem Sammelband abgedruckt ist die Vorbereitung und das Verlaufsprotokoll einer Unterrichtsstunde zu DDR-Bürgerbewegungen, die eine Ost-Berliner Lehrerin im Rahmen eines Lehrer-fortbildungskurses an der Berliner Freien Universität in einer West-Berliner Schulklasse gab und die anhand dieses Materials von drei westdeutschen Fachleitern beurteilt wurde. Abgesehen davon, daß auch aus meiner Sicht die gute Absicht und die Courage der Lehrerin weit mehr zu rühmen sind als die von ihr gehaltene Stunde, verrät eine der Besprechungen, daß ihr Autor den Unterrichtsversuch der Ost-Lehrerin weit jenseits seiner Auffassung von Satisfaktionsfähigkeit einordnet. So teilte die Lehrerin auf eine Frage nach der Situation an ihrer Ost-Berliner Schule und mit Bezug auf ihre Umschulung vom Fach Staatsbürger-kunde auf das Fach Sozialkunde neben weiterem Trivialem mit: „... und da muß man natürlich als Lehrer auch umdenken“. Kommentar des Juroren zu diesem Teilsatz: „... sagt sie in einer Mischung aus Selbstmitleid und Aufbruchstimmung, zumal sie nicht zu den privilegierten Historikerinnen gehört, deren Fach im Gegensatz zur Staatsbürger-kunde nicht vom Verdikt des Umlerngebots be troffen war.“ Mit dem eindeutig auf eine laxe Schülerformulierung zielenden Monitum der Lehrerin, „der SED auf die Füße zu treten“ sei doch „ein bißchen komisch“, zieht sie sich den pädagogischen Zorn des Beurteilers zu: „Hier hapert es noch mit dem neuen Selbstverständnis. Es braucht eben seine Zeit, distanziert und pietät-los über eine Partei sprechen zu können, deren Mitglied man nolens volens (eben! B. M.) noch vor kurzem war.“ Die anerkennende Bemerkung, die Lehrerin hätte in einer Sequenz „sich durchaus moderner Unterrichtsmethoden“ bedient, entpuppt sich sogleich als Scheinkompliment: „Denn schließlich sind neue Methoden am einfachsten zu übernehmen.“
Es muß hier die Versicherung genügen, daß diese drei kurzen Zitate Geist und Diktion der gesamten Beurteilung charakterisieren. Die beiden anderen Beurteilungen gehen zwar mit der Unterrichtsstunde auch hart ins Gericht, bleiben jedoch sachlich und führen die „Ossi-Lehrerin“ und ihr „StaBü“ -Handicap nicht vor. In diesem Zusammenhang ist übrigens auf die Beobachtung hinzuweisen, daß ehemalige Lehrer der DDR-Staatsbürgerkunde -sofern man sie überhaupt läßt -in der Weiterbildung für ostdeutsche Politik-Lehrer oft gerade diejenigen sind, die mit besonderem Eifer und einem entwickelten Vorverständnis für politische Zusammenhänge sich das neue Fach erfolgreich erschließen. Ein Phänomen, das bei näherer Überlegung auch ohne diese Erfahrungen plausibel ist und in den zuständigen Ministerien dazu führen sollte, die mehr oder minder strikte Ausschließung dieser Personengruppe vom Fach Politik zu revidieren.
V. Ostdeutsche Handicaps
Daß westdeutsche Politik-Didaktiker von einem ganz erheblichen Wissens-und Erfahrungsvorsprung ausgehen können, bedarf keiner weiteren Begründung. So ist mit dem Dialogvorschlag auch nicht gemeint, so zu tun, als hätte man es nur mit interessanten Gesprächspartnern zu tun, die neben einer anderen Biographie lediglich einige fachliche Defizite aufzuweisen hätten. Dazu liegt das Problem zu offensichtlich in den fortdauernden Beständen einer politischen Sozialisation, die die meisten DDR-Lehrer zu intakten Funktionsträ gern ihres politischen Systems gemacht hat. Die soziale Kontrolle in der DDR war weitgehend außengeleitet und über starke strukturelle Gewalt sanktioniert, die auch den Schulalltag bestimmte
Insbesondere die Lehrer, die in erheblicher Zahl nicht oder völlig unzureichend ausgebildet das neue Politik-Fach unterrichten sollen, sind in ihren oft nur mehr oder weniger reformierten Schulen gleich einem ganzen Bündel von Schwierigkeiten ausgesetzt, die das ganze Spektrum zwischen beruflichem Selbstverständnis und Schülerakzeptanz abdecken. Dabei sind die essentiellen Brüche im Rollenverhalten vieler ehemaliger DDR-Lehrerinnen und -Lehrer offensichtlich: Zwischen völligem „Gedächtnisverlust“, partieller Ignoranz und bisweilen auch in sehr ernsthafter Auseinandersetzung mit den eigenen und den Schülern zugemuteten Anpassungsleistungen in der DDR-Schule findet gerade im Politikunterricht die überfällige pädagogische Wende einen meist mühsamen, oft hilflosen Ausdruck.
Die verbreiteten Orientierungsprobleme im ostdeutschen Transformationsprozeß mit all seinen Unsicherheiten, Sackgassen und Zumutungen beschäftigen Pädagogen natürlich besonders intensiv. Ihr Verhältnis zu dem Neuen, das sie ja pädagogisch vermitteln und mitgestalten sollen, ist weithin noch zutiefst diffus und gipfelt in der (trivialen, aber natürlich gezielt als Schutzfeststellung getroffenen) Aussage, es wäre nicht alles schlecht an der DDR gewesen, und auch die Westdeutschen kochten nur mit Wasser. Dabei ist der kognitive Zugang noch der leichteste; die Mängel des staats-sozialistischen Systems sind allgemein bekannt, und die Attraktivität der westlichen Wohlstandsgesellschaften ist begründbar. Die Schwierigkeiten beginnen aber sofort, wo lebensweltliche Erfahrungen auf alltagsrelevante Systemeigenschaften zurückgeführt werden müßten. Ein Beispiel, das ich in der Lehrerweiterbildung immer wieder erlebt habe: Über die Zumutungen, Gängelungen und Anpassungszwänge in der DDR besteht weithin Einvernehmen, wenn auch gerne die Tatsache, daß derlei in Westdeutschland ebenfalls nicht ganz unbekannt ist, zu oft völlig überzogenen Vergleichbarkeitsvermutungen führt. Die prominente Rolle der Schule in der DDR als staatliches Einwirkungsinstrument erster Ordnung, das sich ja immer der besonderen Zuwendung der vorgelagerten Weisungs-, Kontroll-und Sanktionsinstitutionen sicher sein konnte, wird meist so gar nicht gesehen: Da habe man ein ohnehin „unpolitisches“ Fach unterrichtet, wozu zwischen Sport und den naturwissenschaftlichen Fächern bedarfsweise alles gesehen wird, was nicht der vordergründigen Ideologievermittlung diente. Indoktrination und Anpassung habe eigentlich nicht stattgefunden -sei es, daß entsprechende äußere Einflußnahmen mangels Linientreue der Lehrer und/oder Widerständigkeit der Schüler nicht zum Tragen kamen, sei es, daß man die vielen Inszenierungen von DDR-Emmgenschaften im gegenseitigen Einvernehmen als Mummenschanz abgetan hätte, kurz: Lehrer und Schüler gemeinsam auf dem privaten, dem „normalen“ Ufer der oft beschriebenen Schizophrenie von DDR-Alltagsexistenzen.
Die Lehrer waren in der DDR Exponenten des Systems, wollten sie überhaupt in ihrem Beruf bestehen. Entsprechend dem autoritären Systemcharakter hatte formelle Disziplin einen hohen Stellenwert, ja, einen Wert an sich; die pädagogischen Vermittlungsformen zielten auf Steuerungsprozesse (vulgo: Frontalunterricht), und gegenüber den Eltern waren die Lehrer Hoheitsträger, deren Feststellungen um so gewichtiger waren, je konfliktträchtiger der Fall wurde. Nach oben befanden sidh DDR-Pädagogen unter strengem Kurateil der Schul-und Parteiaufsicht. Das in Ostdeutschland vergleichsweise junge Durchschnittsalter der Lehrerkollegien mildert diesen Hintergrund beruflicher Sozialisation kaum. DDR-Lehrer kamen bereits in die Berufspraxis, als ihre westdeutschen Alterskollegen gerade ihre erste Studienorientierungsphase mühsam bewältigt hatten. Nicht in langen Semestern, vielfach bis zum Überdruß „voll-studiert“ wie im Westen, dafür aber zwischen Wohnheim und verschultem Studienplan gut behütet und mit geringen Dosen von Wissenschaft versehen, jedenfalls, wenn man darunter mehr als nur die wissenschaftlichen Sekundärmerkmale wie Systematik, logische Widerspruchsfreiheit, Reflexivität usf. versteht. Entsprechend geradlinig war die Einmündung in die wiederum so umfassend kontrollierte Berufspraxis, daß vielen offensichtlich spätestens hier das Bewußtsein über die politisch (im weiten Wortsinne) nur sehr engen Spielräume abhanden kam. Oder doch nicht so völlig? Auf die Frage zu Beispielen für offene und geschlossene soziale Rollen in einem Lehrerweiterbildungsseminar rangiert die Lehrerrolle spontan unter den ersteren, und selbst das mit Verblüffung aufgenommene Gegenbeispiel des Bandarbeiters wird erst nach einigem Hin und Her akzeptiert.
Da sich diese berufliche Sozialisation als Routine sedimentiert hat, aus der auszubrechen bei äußerlich vielfach ja kaum verändertem Schulbetrieb -im Kreise der überwiegend altvertrauten Kollegen -ganz außergewöhnliche Fähigkeiten und Anstrengungen erfordert, begegnen sich die viel flexibleren Rollenerwartungen von Schülern, auch von Eltern, und diejenigen vieler Lehrerinnen und Lehrer hart im Raume. Nicht nur, daß der persönliche Autoritätsverfall des noch vor wenigen Jahren mehr oder weniger linientreuen Lehrpersonals grassiert, auch die fachlichen Schwächen in den geistes-und sozialwissenschaftlichen Fächern sind natürlich kaum zu kaschieren.
Für den Unterrichtsgegenstand Politik verdichten sich diese schlechten Gegebenheiten zum Exempel. Es beginnt im Atmosphärischen: Da ist eine in Ostdeutschland quer durch alle Milieus verbreitete Unlust auf Politisches, die so und in dieser Breite spätestens seit Mitte der sechziger Jahre im Westen nicht mehr zu beobachten ist. Noch aus der DDR durch die penetrante Politisierung aller Lebensbereiche angewidert, finden sich in den neuen Ländern deutliche Züge der für die fünfziger Jahre der westdeutschen Republik so genannten „skeptischen Generation“, die sich heute wie damals nicht nur ideologieresistent gibt und Politikabstinenz zur Tugend erklärt, sondern sich bei Vollentfaltung in trotziger Ignoranz in bezug auf die eigene und die gesamtdeutsche jüngere Vergangenheit an altklugem Politikverdruß und brauner Tabuverletzung delektiert. Es ist ja aus Westdeutschland bekannt: dieses Gebräu aus Selbstmitleid, Larmoyanz und Meckerlust, das gegen politische Bildung immunisiert und natürlich in die Schulklassen überschwappt. Die viel zu oft um ihre politische Glaubwürdigkeit gebrachten Lehrer im Politikunterricht an ostdeutschen Schulen verfügen fachlich oft über keine andere Qualifikation, als früher nicht Staatsbürgerkunde unterrichtet zu haben oder politisch abstinent geblieben zu sein, und ringen nun mit ihrem privaten und beruflichen Umfeld, oft auch mit sich selbst, um die Emanzipation des neuen Politik-Fachs von der Staatsbürgerkunde gewohnter Prägung, deren Lehrpersonal zudem kein hohes Ansehen genoß.
VI. Was tun?
Die Konsequenzen aus diesem notgedrungen pointierten Szenario sollen in vier Punkten angerissen werden:1. Es führt nur ein Weg aus dem zuletzt angesprochenen Dilemma: Die Ausbildung von Politik-Bildnern in Ostdeutschland muß ganz entschieden auf einem breiten politikwissenschaftlichen Fundament gründen. Im Unterschied zu Westdeutschland, wo sich politische Bildung immerhin -aber doch „nur“ -in Konkurrenz zum Common sense befindet, geht es in den neuen Ländern darum, daß das Wissenschaftsattribut durch die vormals allgegenwärtige „Wissenschaftliche Weltanschauung“ absorbiert wird und daher in der Außenwahrnehmung der Verdacht eines Ideologie-Fachs bestehenbleibt. Aufgrund dieser Erfahrung sollten soziologische, historische und ökonomische Studienanteile besonders berücksichtigt werden. Bei den Bildungsministerien ist Einsicht dafür zu wecken, daß Crash-Kurse keine fachwissenschaftlich fundierte Weiterbildung ersetzen können, und in den neuen politikwissenschaftlichen Fachbereichen an ostdeutschen Hochschulen muß das Verständnis für eine zeitweise bevorzugte Berücksichtigung der politischen Bildung gegen die Tendenz des politikwissenschaftlichen business as usual deutlich verbreitert werden.
2. Vormundartige Haltungen und Strategien, zumal wenn sie -wie in dem oben ausgeführten Beispiel -den Kalten Krieg noch einmal gewinnen wollen, sind nicht zu rechtfertigen und disfunktional: Es führt schon aus praktischen Gründen kein Weg daran vorbei, den Umgang mit der DDR-Vergangenheit und der gemeinsamen Zukunft als zunächst endogenen Prozeß für die Ostdeutschen zu begreifen. So notwendig und angebracht das westdeutsche Insistieren auf dem liberal-demokratischen Entwicklungsweg gerade aus der Erfahrung eigener Schwierigkeiten und Rückschläge ist, so unsinnig ist es, die -ja auch aus pragmatischen Gründen akzeptierten -Grund-bedingungen der politischen Bildung, wie sie einleitend kurz angerissen worden sind, gegenüber ostdeutschen Adressaten auch nur partiell auszusetzen.
3. Politische Bildung in Ostdeutschland muß an Punkten ansetzen, an denen sich ihre Adressaten oft gar nicht wähnen und zu denen sich Westdeutsche überhaupt erst hinbegeben müssen. Es sind dies DDR-spezifische Erfahrungs-und Bewußtseinsfelder, die auch aus heutiger Perspektive eher positiv besetzt und zumindest latent noch verfügbar sind. Dazu gehören beispielsweise in partizipatorischer Hinsicht die in der DDR sehr verbreitete Beteiligung von Laien an der Beilegung von Rechtskonflikten in Konflikt-und Schiedskommissionen oder die subtilen Mechanismen, unter denen der Interessenausgleich in den Arbeitsbeziehungen stattfand. In historischer Hinsicht ließe sich von der Tatsache ausgehen, daß natürlich auch DDR-Bürger Zeitgenossen sind, über deren Geschichtsinterpretation zwar verfügt werden kann, nicht jedoch über deren Erlebnisse zwischen dem Kalten Krieg und dem 9. Oktober 1989, der alles entscheidenden Leipziger Montagsdemonstration.
4. Die auch in Westdeutschland noch nicht lange überwundenen Präferenzen für normative oder institutionenbezogene Politikzugänge treffen bei sehr vielen ostdeutschen Adressaten politischer Bildung auf naheliegende Affinitäten mit der Gefahr einer Fortzeugung von Traditionen DDR-typischer politischer Unterweisung. Die hier immer wieder reklamierte „Orientierungskrise“ ist in diesem Zusammenhang der Verfall von einfachen Wahmehmungs-und Interpretationsmustern. Sich von diesen zu verabschieden und sich auf ein Programm von normativen Unvereinbarkeiten, konkurrierenden Theorien und allgegenwärtigen Phänomenen von „Unregierbarkeit“ einzulassen wird für einige Jahre die Agenda der politischen Bildung in Ostdeutschland bestimmen. Erst die Bearbeitung dieses Projekts, das für die politische Bildung in West-und Ostdeutschland trotz unterschiedlicher Ausgangsniveaus gleichermaßen bedeutsam ist, eröffnet die Möglichkeiten, unterschiedliche Politikerfahrungen an gemeinsamen Problemstellungen fruchtbar werden zu lassen.