I. Vorbemerkung
Das politisch-administrative System der Sowjetunion war extrem zentralisiert. Funktionsprinzipien, wie der in Art. 3 der Sowjetverfassung von 1977 fixierte Demokratische Zentralismus, legten die direkte Unterstellung von Sowjets der jeweils unteren unter die der unmittelbar übergeordneten Ebene fest. Entscheidungen standen demnach unter dem Vorbehalt einer „hierarchischen“ Korrektur, die keiner rechtlichen Begründung bedurfte; Weisungen mußten verbindlich vollzogen werden. Gemäß dem Grundsatz der „doppelten Unterstellung“ waren die Exekutivkomitees und deren Verwaltungseinheiten horizontal ihrem Kreationsorgan, dem Sowjet, und vertikal ihrem gleichartigen Fachorgan auf der jeweils übergeordneten territorialen Stufe unterstellt. Es lag indes in der Logik der gesamten Verfassungskonstruktion, daß sich die Behörden eventuellen Weisungen der Sowjets durch Berufung auf „übergeordnete“ Anweisungen stets zu entziehen vermochten.
Alle wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Institutionen und Organisationen wurden zudem von der KPdSU unmittelbar angeleitet. Der Apparat der monopolistischen Staatspartei, ebenfalls nach dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus aufgebaut, war spiegelbildlich auf den Staatsapparat zugeschnitten und diesem in politischer Hinsicht übergeordnet. Auch die Verfahren der imperativen Planungspraxis ließen keine Finanz-und Planungshoheit für untergeordnete Organe oder Gebietskörperschaften zu. Die parteiliche Kader-und Nomenklaturpolitik vereitelte jedwede Art von Personalhoheit für Organisationen, Unternehmen, Sowjets und Verwaltungen.
Jedes Entscheidungsorgan war somit in ein dichtes Geflecht von vertikalen und horizontalen Anleitungen und Unterstellungen eingebunden. Dies galt auch und vor allem für die lokalen Sowjets und ihre Organe. Je stärker jedoch volkswirtschaftliche Effizienzprobleme drängten, die offenkundig aus der übermäßigen Zentralisierung der Wirtschaftsund Staatsverwaltung herrührten, desto mehr rückte die Kompetenzausstattung der lokalen Gebietskörperschaften auf die politische Tagesordnung. Die Dezentralisierung des politisch-administrativen Systems, d. h. die organisatorische Verselbständigung von Entscheidungsbefugnissen „unterhalb“ der zentralen Führungsspitze, war frühzeitig ein wesentlicher Baustein der System-reform in Rußland und bereits seit den siebziger Jahren, in der deutschen Sowjetforschung weitgehend unbeachtet, ein ständiges Thema in sowjetischen Fachzeitschriften sowie Bestandteil einer regen gesetzgeberischen Tätigkeit. Teile der während der Breschnew-Ära eingeleiteten, jedoch nur ansatzweise realisierten Reforminitiativen wurden nach 1985 wieder aufgegriffen. Die konkrete Ausgestaltung lokaler Selbstverwaltung in Rußland blieb dabei -bis heute -von den Machterhaltungsund Steuerungsinteressen der politischen Führung abhängig. Der Stellenwert lokaler Politik für die Systemreform kann deshalb nur dann angemessen erfaßt werden, wenn sie als integraler Bestandteil zentralstaatlicher Entscheidungsstrukturen und Reformprogramme begriffen wird.
II. Die Vorläufer der Breschnew-Ära: aufgeschobene Dezentralisierung
Die Schere zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und gesellschaftlicher Anspruchshaltung begann sich in der Breschnew-Ära zusehends zu öffnen -eine Entwicklung, die auch die Legitimität zentralstaatlicher Planungspolitik in einer an staatliche Versorgungsleistungen gewohnten Gesellschaft zu schmälern drohte. Alltägliche Versorgungsengpässe, das ausgeprägte Anbietermonopolin der Konsumgüterindustrie, die Stagnation des Wirtschaftswachstums und der kaum noch aufholbare Innovationsrückstand gegenüber dem kapitalistischen Westen legten eine Ergänzung zentraler Plansteuerung durch dezentrale, problemorientierte Entscheidungsbefugnisse nahe.
Die lokalen Sowjets und ihre Exekutivkomitees sowie die ihnen unterstellten Verwaltungsabteilungen verfügten bis dahin über keine Instrumente, um vor Ort auftretende Koordinationsprobleme und Mängel im Konsumgüter-und Dienstleistungsbereich beheben zu können. An die in den Orten angesiedelten großen Unternehmen der Wirtschaftsbranchen, welche den Allunions-oder unionsrepublikanischen Ministerien direkt unterstellt waren, war eine Infrastruktur geknüpft, die dem verbindlich planenden Zugriff der lokalen Organe weitgehend entzogen blieb Die Ministerien und ihre Behörden stimmten intern die zu ihrem Wirtschaftszweig gehörenden Betriebe und deren Lieferbeziehungen detailliert aufeinander ab. Sie verteilten Geldmittel und Ressourcen auf die Orte und Regionen, ohne ihre Aufwendungen ausreichend zu koordinieren und lokale Bedürfnisse zu berücksichtigen So wurde in den Spitzen der Ministerien bestimmt, wie sich die Infrastruktur in den Orten entwickelte (Zweig-oder Branchen-prinzip).
Diese Praxis wiederum stimmte mit der in der Sowjetära vorherrschenden und heute noch nachwirkenden staatsrechtlichen Interpretation örtlicher Politik überein: Die lokale Ebene galt nicht als Ort, an dem materielle politische Entscheidungen getroffen wurden, sondern als hierarchisch nachgeordnete Verwaltungsinstanz Im dreistufigen „lokalen“ Territorialgefüge, das die Gebiete (oblasti) den Städten und Kreisen sowie ländlichen Siedlungen und Dörfern überordnete, nahmen die unteren Stufen nur Vollzugsaufgaben wahr. Die Gaue (kraj) und Gebiete -territoriale Einheiten, welche mitunter mehr als die Größe eines deutschen Bundeslandes annehmen -übten gegenüber den ihnen unterstellten Stufen immerhin Koordinationsbefugnisse aus.
Bereits zu Beginn der siebziger Jahre wurden die ersten zaghaften Reformversuche in Gang gesetzt, um das unflexible „Zweigsystem“ an lokale Bedürfnisse anzupassen. Eine systematische Auswertung sowjetischer Fachzeitschriften und Gesetzes-texte von den siebziger Jahren an gibt Aufschluß über Motive und Inhalte der initiierten Reformen, aber auch über die Gründe, warum Reformpläne nicht oder nur ansatzweise verwirklicht wurden. Nur wenn die lokalen Sowjets mehr Befugnisse erhielten, könne -so lautete seinerzeit die Argumentation -ihr Interesse an den örtlichen Verhältnissen geweckt werden. Die unzureichenden Haushaltsrechte wurden als Dreh-und Angelpunkt einer Dezentralisierung erkannt. Örtliche Budgets waren nach dem Schachtel-oder Integrationsprinzip in den Haushalt der übergeordneten territorialen Stufe eingeschlossen. Die jährlichen Ausgaben wurden nach zugewiesenen Planaufgaben „von oben“ errechnet, die Finanzmittel in entsprechendem Umfang zugewiesen: Alle territorialen Stufen konnten daher mit Hilfe des integrierten Finanz-plans kontrolliert werden.
Eine vom Präsidium des Obersten Sowjet 1971 erlassene Musterordnung sowie ein Beschluß des Ministerrates verfügten eine Palette von Reformmaßnahmen, die insbesondere den Exekutivkomitees der Kreise und Städte zugute kommen sollten Eingesparte Haushaltsmittel durften demnach nicht länger durch die übergeordnete Finanzbehörde beschlagnahmt werden. Das Haushalts-gesamtvolumen sollte generell durch Abführung von Gewinnsteuern aufgestockt werden, die von unionsrepublikanischen und örtlichen Unternehmen aufzubringen waren. Die Betriebe der Allunionsministerien, in denen immerhin knapp zwei Drittel der industriellen Produktionsgüter hergestellt wurden, blieben von dieser Regelung bezeichnenderweise ausgenommen. Konsumgüter-und Dienstleistungsunternehmen, welche die Versorgung der ansässigen Bevölkerung sicherstellten, waren in örtliche Unterstellung zu übergeben. Die Musterordnung legte zudem fest, daß „Entscheidungen“ der lokalen Sowjets und ihrer Organe für alle auf dem Territorium angesiedelten Personen,Unternehmen und Organisationen „verbindlich“ zu gelten haben. Der Sowjet könne über sämtliche „Angelegenheiten von örtlicher Bedeutung“ selbst entscheiden (Territorialprinzip).
Mit diesen Regelungen -die zuletzt angeführten finden sich in den Art. 146 und 148 der Sowjetverfassung von 1977 wieder -wurde jedoch keineswegs ein verfassungsrechtlich garantierter eigener Wirkungskreis lokaler Selbstverwaltung begründet. Über eine Gebiets-und Rechtsetzungshoheit verfügten die lokalen Sowjets weiterhin nicht. Der zentralistischen Konstruktion der Verfassung und der imperativen Planungspraxis entsprechend, waren örtliche Bedürfnisse zentralstaatlichen Interessen nachzuordnen. Wirksame Sanktionsmittel gegenüber den Zweigbehörden hatten die lokalen Sowjets nicht an der Hand, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab es nicht.
Die sich widersprechenden Bestimmungen -mehr dezentrale Befugnisse bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung extrem zentralistischer Funktionsprinzipien -wurden schließlich auf unverbindliche Weise verknüpft: Der Widerstreit der Kompetenzverteilung zwischen den Organen der „allgemeinen, territorialen Leitung“, den Sowjets, und denen der Wirtschaftszweige sei, so die beharrlich wiederholte Lesart, auf „harmonische“, einvernehmliche Weise zu regeln -unter Leitung des hochzentralisierten Parteiapparats, der gleichsam als Anwalt und anstelle der Sowjets das Territorial-prinzip gegen die Branchen durchsetzen sollte („podmena“) Dies wiederum stand in krassem Widerspruch zu einer vorangegangenen Weisung des Zentralkomitees der KPdSU an die örtlichen Parteikomitees, die Arbeit der Sowjets -als der die „Volkssouveränität“ verkörpernden Organe -nicht länger kleinlich zu bevormunden
Im Ergebnis dieser Reformmaßnahmen wurden weder die erhofften Effizienzsteigerungen erzielt, noch erhielten die Sowjets mehr eigenständige Kompetenzen. Zwischen 1965 und 1987 wurden keine nennenswerten Veränderungen im Verhältnis zwischen Zweig-und Territorialprinzip mehr vorgenommen Auch die Übergabe von Versor gungseinrichtungen in lokale Verwaltung kam nicht voran. Nach sowjetischen Angaben sank der Anteil der lokalen Budgets an den Haushalten der Unionsrepubliken entgegen den ursprünglichen Zielsetzungen seit Anfang der siebziger Jahre bis 1988 von 41, 9 Prozent auf 30, 9 Prozent Das starr zentralistisch genormte Planungsverfahren blieb im Kern unangetastet. Selbst wenn informelle Flexibilitäten und Anpassungen geduldet wurden, brachten diese keine rechtlich abgesicherten Entscheidungskompetenzen für die lokalen Sowjets.
Es gibt vielfältige Gründe dafür, warum die in sich widersprüchlichen Reformansätze nicht verwirklicht, sondern aufgeschoben worden sind Die Ursachen seien hier nur in groben Umrissen skizziert: Zum einen vereitelte die Personalunion von Betriebsdirektoren, Angehörigen des Parteiapparats und lokalen bzw. regionalen Mandatsträgern eine Entflechtung institutionell verfestigter Interessen. Zum anderen hätte eine wirksame Dezentralisierung nicht nur den Einfluß der Zweigministerien und Fabrikdirektoren beschnitten, sondern auch grundlegende Funktionsprinzipien des Sowjetstaates und die imperative Planungspraxis -und damit den allumfassenden Macht-und Steuerungsanspruch der KPdSU -eingeschränkt. Ein solcher Schritt, der einen allmählichen System-wechsel hätte einleiten können, stand jedoch bis in die späten achtziger Jahre hinein nicht zur Diskussion.
III. Systemfunktionen der lokalen Sowjets -die innersowjetische Diskussion
Je länger Effizienzprobleme und Innovationsrückstände unbewältigt blieben, desto offener verlief die innersowjetische wissenschaftliche Diskussion darüber, in welchem Umfang dezentralisiert und wie das Verhältnis zwischen den lokalen Territorialstufen sowie den örtlichen Machtorganen untereinander ausgestaltet werden sollte. Die Hauptursache übermäßiger Zentralisierung -das Parteimonopol -blieb von einer kritischen Über-prüfung jedoch ausgeschlossen. So wurde weniger auf legitimationsgefährdende demokratietheoretisehe Argumente, sondern auf Effizienzkriterien zurückgegriffen, um die Notwendigkeit einer behutsamen Dezentralisierung zugunsten der lokalen Sowjets zu begründen. Die strukturfunktionale Systemtheorie, seit Beginn der siebziger Jahre auch in der Sowjetunion bekannt schien für diesen Zweck besonders geeignet, bestimmt sie doch die Funktionen von Teilsystemen im Hinblick auf die Berücksichtigung des umfassenden Systemziels der Selbsterhaltung und Funktionsfähigkeit eines politischen Systems. Die Einführung der „westlichen“ Systemtheorie drohte die Legitimität des Sowjetstaates somit keineswegs in Frage zu stellen, sofern sie auf die normativ-ideologischen Bedürfnisse der sowjetischen Führung hin ausgerichtet werden konnte. Die starke Akzentuierung der In-put-Funktionen wurde von sowjetischen Autoren freilich in eine zentralistische Perspektive gerückt: Die Mitglieder der Gesellschaft sollten demnach für die von den „politisch-leitenden Strukturen“ verbindlich festgelegten Ziele mobilisiert werden.
Mit systemtheoretischen Deutungsmustern wurden -im Zuge der „Selbstkritik“ durchaus erwünscht -noch in der späten Breschnew-Ära Fehlentwicklungen offengelegt, welche die Funktionsfähigkeit und Legitimität des Systems beeinträchtigen Die politische Elite sei von den Bedürfnissen der Massen abgehoben und verfolge zu Lasten des Gemeinwohls eigene Interessen -eine Erscheinung, die den Protest der Werktätigen hervorzurufen drohe. Der zentralistische Staats-aufbau führe zu Informationsdefiziten und zu einer Entscheidungsüberlastung „in den oberen Staffeln der Führung“. Die Möglichkeiten, Probleme zentralisiert zu lösen, seien -dies zeige die Erfahrung der letzten Jahrzehnte -begrenzt. Eine zentralistische Steuerung über Kader sei überdies, da man das Entwicklungsniveau der Gesellschaft angehoben habe, nicht länger von essentieller Bedeutung
Von der auf sowjetische Legitimationsbedürfnisse zugeschnittenen Systemtheorie wurden zudem Ersatzlösungen abgeleitet, welche notwendige Anpassungsleistungen des politischen Systems begründen sollten. Auch in dieser Perspektive schien eine Dezentralisierung unabweisbar. Die lokalen Sowjets und ihre Organe wurden kraft ihrer „Nähe“ zu den Bürgern dazu bestimmt, Input-Leistungen zu erbringen, die in westlichen Demokratien vornehmlich von Parteien und Interessengruppen wahrgejiommen werden: Der Informationsfluß zwischen Wählern und Deputierten sollte intensiviert werden, um die „gesellschaftliche Meinung kennenzulernen“, d. h., die Information-und Planungskapazität des Systems zu erweitern. Die Arbeit der lokalen Sowjets müsse „transparent“ (glasno) gestaltet werden, damit sie bei den Bürgern nicht auf Desinteresse stoße. Nur so könnten die Sowjetbürger in den Staat integriert werden.
Die hiermit geforderte Anbindung staatlicher Funktionsträger an die Gesellschaft und die davon abgeleitete Forderung nach Kompetenzerweiterung der lokalen Sowjets hatte indes unter der Kontrolle der Staatspartei zu erfolgen Eine solche parteilich gelenkte Bedürfnisartikulation verkam letztlich zum langweiligen Ritual, an dem weder die Wähler noch die Deputierten ernsthaftes Interesse zeigten Letztere waren aufgrund des Partei-und Organisationsmonopols der KPdSU den Bürgern ohnehin nur eingeschränkt verantwortlich.
Die auf der Grundlage der Systemtheorie in der späten Breschnew-Ära geführte Diskussion um Dezentralisierung und lokale Politik bot nur Ersatzkonstruktionen an, welche längst überfällige Reformen auf die lange Bank schoben. Gleichwohl erbrachte der langjährige wissenschaftliche Disput einen „doppelten“ Ertrag: Zum einen legte er die Defizite übermäßiger Zentralisierung offen und schuf damit die Voraussetzung für einen gleitenden Übergang zur Reformperiode nach 1985/86. In dieser Perspektive lagen auch Forderungen nach Pluralisierung und Demokratisierung nahe. Zum anderen identifizierte er die lokalen Sowjets als bedeutsame Akteure einer überfälligen System-reform.
IV. Von der Konzeption zur Umsetzung der Reformen: die Jahre 1986-1991
Nachdem mit dem Amtsantritt M. Gorbatschows im Jahr 1985 der Generations-und Machtwechsel an der Führungsspitze vollzogen worden war, wurden wesentliche Bestandteile der bereits in den siebziger Jahren initiierten und dann aufgeschobenen Reformen wieder aufgenommen und in eine rechtlich verbindliche Form gebracht. Dem XXVII. Parteitag (Februar/März 1986) folgte ein auf lokaler Ebene Aufsehen erregender Beschluß mit welchem die Rolle der Sowjets -auch der lokalen -so umgestaltet werden sollte, daß diese zur „Beschleunigung“ (uskorenie), d. h. zur Intensivierung der sozial-ökonomischen Entwicklung beizutragen vermochten. Ein „Umbau“ des Systems wurde noch nicht angestrebt, auch wenn von „Perestrojka“ die Rede war. Vielmehr sollte der „menschliche Faktor“, d. h. die individuelle Leistungsbereitschaft, für die neuen Leitziele mobilisiert werden; dies war von vorsichtigen Systemreformen zu flankieren. Der Beschluß wies den lokalen Sowjets ein weiteres Mal die Systemfunktionen zu, die bereits Gegenstand der Diskussion in der späten Breschnew-Ära waren. Erneut wurden die Parteikomitees als maßgebliche Reformakteure bestimmt, welche die „Verbindung zwischen Sowjets und den Volksmassen“ knüpfen und die „Selbständigkeit und Verantwortlichkeit“ der gewählten Vertretungskörperschaften garantieren sollten
Die eingeleiteten Maßnahmen unterschieden sich jedoch in wesentlichen Punkten von denen der siebziger Jahre: Zum einen wurde im Zuge der Mobilisierungsstrategie und von „Glasnost“ das Meinungsmonopol gelockert, so daß auch auf lokaler Ebene solche Forderungen artikuliert werden konnten, welche nicht nur „konstruktiv“ Kritik übten, sondern den Einparteienstaat und seine autoritär-zentralistischen Ausprägungen in Frage stellten. Zum anderen wurde die Bedeutung der Sowjets gegenüber den sie bislang dominierenden Exekutivkomitees gestärkt. Trafen die örtlichen Deputierten bislang nur viermal im Jahr im Plenum zusammen, um von Exekutiv-und Partei-komitee bereits gefaßte Beschlüsse zu ratifizieren, so ist ihre Sitzungstätigkeit von 1987 an tatsächlich zusehends intensiviert worden. Zu den Kommunalwahlen am 21. Juni 1987 waren in einigen Städten -unter Parteiaufsicht -zudem erstmals versuchsweise mehrere Kandidaten in einem Wahlkreis zugelassen.
Diese ersten „Beschleunigungsmaßnahmen“ setzten auch auf lokaler Ebene eine Eigendynamik in Gang, die sich bald kaum noch von der Spitze aus steuern ließ. Um die Einheit der Union zu wahren, kam die politische Führung dem Verlangen von Unionsrepubliken und lokalen Akteuren nach mehr territorialer Autonomie oder gar Austritt aus dem bislang scheinföderalen Einheitsstaat mit gesetzlichen Regelungen entgegen. Die Föderationsverträge aus dem Jahr 1991 und die Einführung lokaler Selbstverwaltung waren als Eckpunkte vertikaler Gewaltenteilung und als Meilensteine auf dem Weg zur Dezentralisierung und Demokratisierung des Staatswesens gedacht. Zwischen Maßnahmen zur Bewahrung zentralstaatlicher Autorität und notwendiger Dezentralisierung und Föderalisierung schwankend, begab sich die sowjetische Führung zwischen 1986 und der Auflösung der Union im Jahre 1991 jedoch auf den Weg einer inkonsistenten Reformpolitik. Dies galt auch für die lokale Selbstverwaltung, deren Entwicklung in dieser Zeit anhand fünf grundlegender Problemkreise veranschaulicht werden kann. Die hier aufgeführten empirischen Ergebnisse beruhen u. a. auf Fallstudien, die in der Gebietshauptstadt Vladimir/Zentralrußland durchgeführt wurden 1. Machtverteilung und Organstruktur Ein erster Konflikt entstand durch die Aufwertung der lokalen Sowjets, welche glaubwürdiger als bislang das Prinzip der Volkssouveränität verkörpern sollten (Betonung des Territorialprinzips). Die Exekutivkomitees, bis dahin den Sowjets faktisch übergeordnet, verweigerten sich den nun rechtlich abgesicherten Versuchen reformorientierter Räte, Entscheidungskompetenzen an sich zu ziehen. Das Begehren der Sowjets nach mehr eigenständigen Kompetenzen blieb jedoch vorerst zum Scheitern verurteilt, weil die vertikale Unterstellung der noch von der Parteinomenklatura gesteuerten Exekutivkomitees unter die Gebietsbehörden Vorrang vor der horizontalen Verantwortlichkeit gegenüber den Sowjets genoß Das städtische Paris teikomitee schließlich wurde der mangelnden Durchsetzungskraft bezichtigt, weil es sich als „Schirmherr“ der Sowjets gegenüber beharrenden Kräften nicht hinreichend durchsetzte: Der dadurch eintretende Autoritätsverlust der KPdSU nahm mit der sich zusehends abzeichnenden Stagnation der Wirtschaftsreformen seit 1988 rapide zu. Der städtische Sowjet und sein Exekutivkomitee wiederum identifizierten die Staatsbetriebe und ihre Direktoren -d. h. das Zweigprinzip -als hartnäckige „Reformbremse“, die sich den Weisungen der Sowjets und finanziellen Verpflichtungen entzogen. Seit 1990 wurden als Gegengewicht zu den städtischen Exekutivkomitees auch unterhalb der Gebietsebene Präsidien der lokalen Sowjets eingerichtet, welchen bislang von den Exekutivkomitees ausgeübte Vollzugs-und Kontrollkompetenzen überantwortet wurden. Die Zuständigkeitsverteilung zwischen beiden Organen, die nun eine Art kommunale „Doppelspitze“ bildeten, blieb bis 1991 weitgehend ungeklärt.
Erstmals kam jedoch die Konstruktion der „doppelten Unterstellung“ -und damit ein wesentliches „zentralistisches“ Strukturmerkmal -ins Wanken: Das Präsidium des Sowjet machte nun Ernst mit der Kontrolle und Unterordnung des Exekutivkomitees, das sich bis dahin den Einflußwünschen des Sowjet durch Hinweis auf die vertikale Unterstellung unter das nächsthöhere Exekutivkomitee zu entziehen vermocht hatte. Gleichzeitig jedoch wurde die vertikale Unterstellung noch immer aufrechterhalten An dieser Stelle zeigt sich exemplarisch einer der für den Systemwechsel Rußlands typischen Strukturbrüche: Weil mit Hilfe der hergebrachten oder von zusätzlich eingerichteten politischen Institutionen bestehende autoritär-zentralistische Funktionsprinzipien aufgebrochen und Machtressourcen umgeschichtet werden mußten, waren unklare Kompetenzabgrenzungen und Machtkonflikte in der Phase des Übergangs unvermeidbar. 2. Verteilungskonflikte Seit 1987/88 wurden die gesetzlichen Voraussetzungen für eine effektive Dezentralisierung und die Einführung einer lokalen Selbstverwaltung geschaffen. Hierfür bedurfte es in erster Linie einer Aufteilung des staatlichen Eigentums auf die einzelnen territorialen Stufen. Laut Eigentumsgesetz vom 6. März 1990 sollten vor allem solche Objekte in kommunales Eigentum übergehen, die für die ökonomische und soziale Entwicklung der entsprechenden administrativ-territorialen Einheit unverzichtbar waren. Die erwarteten Verteilungskonflikte wurden nach Maßgabe des Demokratischen Zentralismus hierarchisch geregelt. Die oberen „lokalen“ Einheiten, die Exekutivkomitees der Gebiete, agierten als Koordinationsorgane auf dem ihnen unterstellten Territorium. Ihre Entscheidungen galten für die Machtorgane der unterstellten Einheiten als verbindlich. Die Städte und Kreise besaßen lediglich die Möglichkeit, „Vorschläge“ für die Übergabe von Betrieben und Einrichtungen in kommunales Eigentum zu unterbreiten.
In Vladimir z. B. wurden unrentable Objekte in örtliche Unterstellung übergeben. Eine solche „Entlastungsstrategie“ der Gebietsorgane entfachte schwerwiegende Konflikte zwischen den Sowjets der Gebietskörperschaften. Der Stadt konnte an einer Eskalation der Auseinandersetzung jedoch nicht gelegen sein, blieb sie doch auf die Zuteilung von Ressourcen durch die Gebiets-organe angewiesen. Beschlüsse und Weisungen der Gebietsorgane wurden deshalb -wenn auch unwillig -vollzogen. Gleichwohl gingen von diesen Konflikten destabilisierende Wirkungen aus, da die lokalen Sowjets die Bürger gegen hierarchische Entscheidungen zu mobilisieren suchten. Im Ergebnis blieb die Ausstattung der lokalen Gebiets-körperschaften weiterhin zu schwach, um die materiellen Voraussetzungen für eine funktionierende lokale Selbstverwaltung zu schaffen.
Diese „territorial“ motivierte Auseinandersetzung wurde in manchen Gebieten überdies von einer „reformerischen“ Konfliktlinie überlagert und vertieft. Die Wahlen zu den lokalen Vertretungskörperschaften vom März 1990, in denen erstmals flächendeckend auch unabhängige Kandidaten um einen Sitz konkurrieren durften, erbrachten in Vladimir -wie in etlichen anderen Gebieten -unterschiedliche „Mehrheiten“ in Gebiet und Stadt. Während die städtischen Wähler sich der Protagonisten und Vorteilsnehmer des alten „befehls-administrativen Systems“, der „roten Direktoren“ der Staatsbetriebe und der Funktionsträger der KPdSU, weitgehend entledigten, bestellte die Bevölkerung in den ländlich geprägten Kreisen, die dem Gebiet unterstanden, weiterhin Mitglieder der Parteinomenklatura als Mandatsträger für den Gebietssowjet. Auf den unteren territorialen Stufen erschwerten somit vielfältige Widerstands-und Konfliktpotentiale den Umbau des politischen und wirtschaftlichen Systems. 3. Lokales Parteiensystem Die für die Institution einer lokalen Selbstverwaltung konstitutiven Hoheitsrechte, wie Personal-, Gebiets-oder Satzungshoheit, konnten nur dann eingeführt werden, wenn die KPdSU ihr Partei-monopol und damit den allumfassenden Lenkungsanspruch aufgab. Bereits bevor die Staatspartei im März 1990 diesen Schritt tatsächlich vollzog, hatte sich eine Vielzahl von Gruppierungen und Parteiorganisationen auf lokaler Ebene ausgebildet. Die Befunde, die für das zentralstaatliche Parteiensystem Rußlands gelten, treffen in etlichen Punkten auch auf die lokale Ebene zu: Die unübersichtliche Parteienlandschaft unterliegt einem raschen Wandel. Da sich stabile Interessenlagen -v. a. um die Konfliktlinie Arbeit und Eigentum -vor der Privatisierung staatlichen Eigentums kaum ausbilden konnten, sind die Mitgliederzahlen der lokalen Parteiorganisationen noch immer ausgesprochen gering: So zählte z. B. die Sozialdemokratische Partei Rußlands im Vladimirer Gebiet zwischen 1991 und 1994 nur ca. ein Dutzend Mitglieder. Die Plattformen der neuen, „demokratisch“ orientierten lokalen Parteiorganisationen und Gruppierungen waren meist auf allgemeine Forderungen nach Demokratisierung, nicht jedoch auf kommunale Probleme gerichtet.
Insofern müssen die neuen Parteien zwar einerseits als „Programmparteien“ gelten, andererseits eröffnete diese mangelnde Festlegung aber auch Möglichkeiten zur Zusammenarbeit in kommunalen Belangen, die -zumal vor der Privatisierung -als entideologisierte Verwaltungsfragen, die das „örtliche Gemeinwohl“ betrafen, definiert werden konnten. Potentielle Parteienkonflikte innerhalb des Sowjet wurden in Vladimir zudem durch die Auseinandersetzungen mit den Gebietsorganen weitgehend außer Kraft gesetzt. So traten auch Sowjets mit KPdSU-Mehrheit mitunter als Reform-akteure auf, die zusammen mit „demokratischen“ Deputierten „örtliche“ Interessen gegen beharrende Kräfte zu vertreten suchten. Nach dem zeitweiligen Verbot der KPdSU im Jahr 1991 verteilten sich die kommunistischen Deputierten auf die anderen, im Sowjet registrierten Deputierten-gruppen.
Als weiteres Indiz für die schwache Organisationsbindung müssen die zahlreichen Fälle von Mehrfachmitgliedschaften gelten. Etliche Deputierte wußten die Parteizugehörigkeit anderer Mandats-träger nicht einmal zu benennen. Parteimitgliedschaften spielten für das Entscheidungsverhalten im 1990 gewählten und 1993 schließlich aufgelösten Stadtsowjet keine bedeutsame Rolle.
Die neuen Parteiorganisationen sind stark dezentralisiert. Eine durchgängige Hierarchie von der Führungsspitze zu den lokalen Zirkeln, wie sie in der KPdSU üblich war, gibt es in aller Regel nicht. Das auf lokaler Ebene bis heute angewandte relative Mehrheitswahlrecht fördert das Element der Persönlichkeitswahl und hemmt die Ausbildung stabiler organisatorischer Strukturen. 4. Rechtliche Ausgestaltung Das Selbstverwaltungsgesetz der Union am 9. April 1990 vom ersten Präsidenten der Sowjetunion, Gorbatschow, unterzeichnet, galt als wichtige Etappe der auf der XIX. Parteikonferenz von 1988 abgesteckten Reformroute. Mit seiner Hilfe sollten „Paternalismus“ -die autoritäre Bevormundung der Bevölkerung durch die Sowjets -und „Etatismus“ -die Inanspruchnahme der Sowjets durch den Zentralstaat -endgültig überwunden werden Kern des Selbstverwaltungsgedankens war, die schon lange diagnostizierte „Verstaatlichung“ der sowjetischen Gesellschaft mit Hilfe lokaler Selbstverwaltung zurückzunehmen und kommunale Hoheitsrechte zu garantieren. Erstmals wurden wesentliche zentralistische Regelungsprinzipien beseitigt, die bislang den Zuwachs an lokaler Autonomie begrenzt hatten. Das Selbstverwaltungsgesetz brach mit der doppelten Unterstellung der vollziehend-verfügenden Organe. Das Exekutivkomitee und seine Abteilungen waren nur noch dem Sowjet, nicht aber den jeweils gleichartigen Organen auf der unmittelbar übergeordneten territorialen Ebene unterstellt. Die Sowjets wurden somit in einem weiteren Schritt als „ursprüngliche Organe der Volksherrschaft“ aufgewertet.
Diese weitere Kompetenzverschiebung zugunsten der lokalen Sowjets gefährdete allerdings die ohnehin schwindende zentralstaatliche Autorität Auch Reformer warnten davor, daß eine „schwache ausführende Macht“ in den Orten zu einem Bruch in der „vertikalen Kette“ führe, was die Einführung marktwirtschaftlicher Bedingungen und die Regelung der damit verbundenen Verteilungskonflikte erschweren werde. Um diesen Riß nicht vor der geplanten Aufteilung staatlichen Eigentums entstehen zu lassen, Unterzeichnete Gorbatschow am 23. Oktober 1990 ein Ergänzungsgesetz das die Beziehungen zwischen den (örtlichen) Sowjets vorerst wieder auf den Boden des „Demokratischen Zentralismus“ zu stellen versuchte.
Die konkrete Ausgestaltung lokaler Selbstverwaltung oblag den Unionsrepubliken, die das Unionsgesetz an ihre Bedingungen anpassen konnten. Das Gesetz der RSFSR vom 6. Juli 1991 folgte weiterhin dem Grundsatz der doppelten Unterstellung, um die „gegenseitige Beeinflussung“ der Verwaltungsorgane über die örtliche Ebene hinweg auch in einem dezentralisierten Staatswesen sichern zu können. Davon ausgenommen waren die Fachorgane, die lediglich der Verwaltungsspitze verantwortlich waren. Gleichwohl wurden der Weisungsbefugnis übergeordneter Organe Grenzen gesetzt, indem die Wirkungskreise der Selbstverwaltungsstufen nun präziser definiert wurden. Innerhalb der kommunalen Zuständigkeiten war die staatliche Kontrolle auf eine Rechts-aufsicht begrenzt. Beschlüsse örtlicher Organe durften somit nicht mehr ohne weiteres, wie bisher üblich, durch übergeordnete Organe geändert werden.
Das Selbstverwaltungsgesetz gestaltete auch das Verhältnis zwischen den lokalen Machtorganen neu. Die Exekutivkomitees, bislang von den Sowjets gewählte und von den Parteikomitees dominierte Kollegialorgane, waren ab 1. November 1991 aufzulösen und durch eine verantwortliche Person, den Verwaltungschef (glava administracii), zu ersetzen. Der Verwaltungschef, nach dem neuen Selbstverwaltungskonzept die starke Person auf lokaler Ebene, sollte für eine Amts-dauer von fünf Jahren direkt von der Bevölkerung gewählt werden. Er stand der Verwaltung vor, während der Sowjet weiterhin durch einen aus seiner Mitte gewählten Vorsitzenden angeführt wurde. Die Kompetenzverteilung zwischen Verwaltung und Sowjet war insgesamt eher zugunsten des Verwaltungschefs ausgestaltet *Die Verwal tung war dem Sowjet nicht länger formal „unterstellt“, sondern wurde von diesem nur noch kontrolliert. Die hiermit institutionalisierte lokale „Doppelherrschaft“ zwischen rechtsetzender und vollziehender Gewalt, bereits in der Einführung der Präsidien der Sowjets angelegt, wurde von Praktikern von Beginn an kritisiert: Sie sei geeignet, Machtkrisen und Auseinandersetzungen herbeizuführen -zumal dann, wenn Legislative und Exekutive unterschiedliche reformpolitische Orientierungen verfolgten. 5. Lokale Haushaltspolitik Seit 1986 wurden auch Reformen der lokalen Haushalts-und Finanzplanung eingeleitet, die in den Selbstverwaltungsgesetzen schließlich ausgebaut und als kommunale Haushalts-und Finanz-hoheit fixiert wurden. Als erste Maßnahme wurden die Branchenunternehmen, die sich in nicht-örtlicher Unterstellung befanden, in erheblichem Umfang zur Finanzierung lokaler Haushalte herangezogen. Das Haushaltsgesamtvolumen sank jedoch im Jahre 1989 erneut, weil gleichzeitig den Unternehmen ein beträchtlicher Teil der Umsatzsteuer und der Gewinnabführungen aus dem Handel zur autonomen Verfügung überlassen wurde. Der Anteil der örtlichen Steuern an den Gesamteinnahmen der Stadt betrug einer Erhebung der Haushaltsunterlagen von 1986 bis 1992 zufolge in Vladimir im Jahr 1987 nur rd. drei Prozent. Die fast vollständige Abhängigkeit der lokalen (städtischen) Budgets von Zuführungen übergeordneter territorialer Haushalte und Unternehmen blieb somit erhalten.
Seit 1990 spitzten sich die gesamtwirtschaftliche Lage und die inflationären Prozesse derart zu, daß die Haushaltspläne fortlaufend „berichtigt“ werden mußten. Zuweisungen fehlten, weil die Betriebe ihre Pläne nicht mehr zu erfüllen vermochten und ständig nach unten korrigierten. Kennzeichnend war die Tendenz zur Aufgabenverlagerung „nach unten“ bei gleichbleibend mangelhafter Finanzausstattung. Im Jahre 1991 wurden in Vladimir über 80 Prozent aller städtischen Einnahmen zur Subventionierung von Lebensmitteln, Produkten für Kinder, der Energieversorgung und des öffentlichen Nahverkehrs verwendet. Eine autonom planende Funktion vermochte der kommunale Haushalt somit nicht wahrzunehmen. Zwar verfügte auch das 1991 verabschiedete Selbstverwaltungsgesetz der RSFSR, daß zusätzliche kommunale Ausgaben, die auf „übergeordnete“ Entscheidungen zurückzuführen seien, aus dem Haushalt des Verursachers getragen werden müßten. Die Fallstudien zeigen jedoch, daß die ge setzlichen Vorschriften in aller Regel mißachtet wurden. Entgegen zugesicherter kommunaler Planungs-und Finanzhoheit, errechnete die Gebiets-verwaltung auch 1992 noch detailliert Ausgaben und Einnahmen der Budgets der Städte und Kreise. Eingesparte Finanzmittel wurden weiterhin von der übergeordneten Behörde beschlagnahmt.
Das neue Steuergesetz der Russischen Föderation, am 27. Dezember 1991 verabschiedet, legt zwar eine Palette von 22 örtlichen Steuern fest, von denen die Städte und Kreise drei obligatorisch erheben müssen. Diese lokalen Steuern -meist Bagatellsteuern -bestreiten einen nur unwesentlichen Anteil an den kommunalen Einnahmen. Ausschlaggebend sind nach wie vor die „föderalen Steuern“ (Mehrwertsteuer, Gewinnsteuer und Einkommensteuer). Der Umfang der Zuweisungen von Gewinn-und Einkommensteuern wird jährlich im Republikhaushalt festgeschrieben, also durch Republikgesetz zentralstaatlich geregelt. Über stabile Sätze der Zuweisung verfügen Städte und Kreise nicht. Die Gebiete, in der Verfassung von 1993 endgültig zu „Subjekten der Russischen Föderation“ aufgewertet und im Föderationsrat an der Gesetzgebung beteiligt, sind aus dem lokalen Organgefüge gelöst. Sie nehmen für die Städte und Kreise erneut die Funktion einer „Verteilstation“ ein.
V. Unter dem Vorzeichen der Rezentralisierung: die Jahre 1991-1993
Je mehr sich territoriale Konflikte einerseits und die Auseinandersetzungen zwischen den politischen Kräften um Notwendigkeit und Richtung des Reformkurses andererseits zu einer bedrohlichen Krise auswuchsen, desto stärker wurde auch die lokale Selbstverwaltung in den Machtkampf zwischen Präsident Jelzin und der reformunwilligen Legislative einbezogen. Als Reaktion auf den Putsch vom August 1991 wurde das kurz zuvor verabschiedete Selbstverwaltungsgesetz der RSFSR in wesentlichen Teilen wieder außer Kraft gesetzt, der legislative Schlingerkurs damit fortgeführt. Am 5. September 1991 wurde die UdSSR schließlich aufgelöst. Die Entwicklung der lokalen Selbstverwaltung in den GUS-Staaten nimmt seither einen unterschiedlichen Verlauf
Um „radikale Wirtschaftsreformen“ und die anstehende Privatisierung in der RSFSR gegen widerstrebende Gebietskörperschaften und politische Kräfte durchsetzen zu können, leitete Jelzin seit September 1991 mit mehreren Dekreten eine Doppelmaßnahme ein: Zum einen wurden die Verwaltungschefs nicht direkt gewählt, sondern für eine Übergangszeit mit Hilfe eines hierarchischen Ernennungsverfahrens in den Gebieten vom Präsidenten persönlich, in den Städten und Kreisen „unter Berücksichtigung der Vorschläge der Sowjets“ von den Verwaltungschefs der Gebiete, den sogenannten „Gouverneuren“, bestimmt. Damit wurde erneut der Verwaltungsgedanke lokaler Selbstverwaltung akzentuiert, welche nun entschieden die „Interessen des Zentrums in den Orten“ zu vertreten hatte
Zum anderen führte Jelzin -als Pendant zur Präsidialexekutive -eine Kontrollverwaltung in den Gebieten mit „Stellvertretern des Präsidenten“ an der Spitze ein. Den Stellvertretern arbeiteten „Inspektoren“, meist Deputierte örtlicher Sowjets, als Informationslieferanten in den Ortschaften zu. Mit Hilfe dieser „Kontrollverwaltung“ sollte die Effizienz des vorhandenen, noch von „alten“ Parteigängern besetzten Verwaltungsapparats mit einer neuen, straff organisierten Überwachungsinstanz verknüpft und in reformerische Richtung gelenkt werden. Illoyale Funktionsträger waren, falls nötig, aus ihren Ämtern zu entfernen.
Die neu eingerichtete doppelgleisige Hierarchie war formal direkt dem Präsidenten unterstellt. Während die Präsidialexekutive eine konforme Willensbildung -auch gegen die meist reform-feindlichen Sowjets -durchzusetzen hatte, war die Kontrollverwaltung für die Überwachung des sinngerechten Entscheidungsvollzugs zuständig. Damit wurde zusätzlich zu den bestehenden, in sich zusehends widersprüchlichen politischen Strukturen ein Lenkungsapparat eingerichtet, von dem man sich einen Ersatz für die inzwischen gebrochenen Vollzugshierarchien des Sowjetstaats erhoffte. Diese Brüche waren nicht zuletzt aufgrund des Niedergangs der bis zur Reformära alle Entscheidungseinheiten bündelnden Staatspartei entstanden. Die Leitziele der Demokratisierung und Dezentralisierung wurden zugunsten einer vermeintlich effektiveren Steuerbarkeit des Reform-prozesses vorerst hmtangestellt.
Freie Wahlen zu den lokalen Sowjets, für Dezember 1991 angesetzt, schienen nach dem Augustputsch unwägbar, hatte sich die Bevölkerung in den Provinzen doch eher desinteressiert gezeigt oder gar mit den Putschisten sympathisiert. Die in den meisten Provinzen antireformerisch gesinnten Sowjets blieben bestehen und standen nun den von Jelzin eingesetzten Verwaltungschefs gegenüber. Der sich auf föderaler Ebene zuspitzende Machtkampf zwischen Präsident und Legislative wiederholte sich daher in vielen Städten und Gebieten in verkleinertem Maßstab, zumal lokale Sowjets und Verwaltungen nicht selten mit gegensätzlichen Weisungen „von oben“ konfrontiert wurden. Neue Konfliktherde entstanden sowohl innerhalb der beiden parallelen Verwaltungsstränge als auch zwischen den Akteuren der neu eingerichteten Präsidial-und Kontrollverwaltung. Die Effizienz der örtlichen Verwaltung wurde dadurch erheblich beeinträchtigt. Auch die Kapazitäten der Kontrollverwaltung wurden sichtlich überschätzt. Informelle Koalitionen und Konflikte zwischen einzelnen Akteuren von Kontrollverwaltung und Präsidialexekutive zerlegen das Bild des Systemumbruchs in den Regionen und Orten inzwischen in vielfältige Facetten. Regionale und lokale Akteure lassen sich auch deshalb, trotz der von Jelzin eingeschlagenen Rezentralisierungsversuche, kaum noch in zentralistischer Manier lenken.
Nachdem die Verfassungskrise zwischen Präsident und Legislative im Oktober 1993 in den zweiten Umsturzversuch gemündet war, löste Jelzin die lokalen Sowjets per Dekret vom 26. Oktober 1993 ausnahmslos auf. Ihre Befugnisse wurden der Verwaltung übertragen. Das Selbstverwaltungsgesetz wurde erneut in wesentlichen Punkten außer Kraft gesetzt. Auf den lokalen Ebenen blieben für eine Übergangszeit nur noch die Exekutivorgane mit den von Jelzin eingesetzten Verwaltungschefs arbeitsfähig. Das Datum für Neuwahlen hing von der Entscheidung des Gebietssowjet bzw.der im April 1994 neu gewählten Gebietsduma ab, die den Termin wiederum auf Vorschlag des Gouverneurs festsetzte. In manchen Regionen dauerte diese Vakanz mehr als eineinhalb Jahre an. Als Folge dieser Maßnahmen verlor Jelzin den Rückhalt auch in reformorientierten Kreisen auf lokaler Ebene, die den „Rückfall“ in autoritäre Traditionen nicht zu akzeptieren bereit waren.
VI. Ausblick und Fazit
In Art. 12 der Verfassung von 1993 ist der institutioneile Bestand lokaler Selbstverwaltung ausdrücklich garantiert. Ungeklärt war jedoch auch noch zur Jahresmitte 1995 die bundesgesetzliche Ausgestaltung. Seinerzeit wurden drei Gesetzes-entwürfe über die „allgemeinen organisatorischen Grundsätze der lokalen Selbstverwaltung“ diskutiert. Einer dieser Entwürfe war von Präsident Jelzin eingebracht worden, die beiden anderen tragen die Handschrift der gegensätzlichen in der Duma vertretenen politischen Kräfte: Nach wie vor ist die Ausgestaltung lokaler Selbstverwaltung Gegenstand grundsätzlicher Richtungskonflikte. Die Entwürfe weichen dementsprechend hinsichtlich der Binnenstruktur, der garantierten Hoheitsrechte und insbesondere der materiellen und finanziellen Bestandssicherung lokaler Selbstverwaltung voneinander ab. Regelungsbedarf besteht ebenfalls in der für den materiellen Umfang lokaler Entscheidungskompetenzen maßgeblichen Frage, welche Angelegenheiten in einem komplexen Staatswesen als von „örtlicher Bedeutung“ (Art. 130) gelten können und dergestalt unter die Rechtsetzungshoheit der kommunalen Gebiets-körperschaften fallen.
Die Organe der lokalen Selbstverwaltung sind laut Verfassung nicht Bestandteil der Staatsgewalt, sie bilden demnach keine „dritte Ebene“. Die lokale Organstruktur sei vielmehr eine „Macht besonderer Art“, welche die Staatsverwaltung mit der gesellschaftlichen Selbstverwaltung verbinde Gleichwohl ist das Koordinationsproblem noch ungelöst, auf welche Weise die lokale Selbstverwaltung in das Staatswesen integriert werden kann. Ein Verständnis dafür, daß ein föderales, dezentralisiertes Staatswesen weniger durch Mechanismen der Über-oder Unterordnung, sondern durch vielfältige Kooperationsbeziehungen zusammengehalten wird, muß sich erst noch ausbilden. Die in den Gesetzentwürfen niedergelegten „Grundsätze“ sind überdies nur dann realisierbar, wenn sie durch ein Gesetz ergänzt werden, das die Beziehungen zwischen den „Subjekten der Föderation“, den Gebieten, und den lokalen Gebietskörperschaften verbindlich regelt. Immerhin sind in die „Gebietsversammlungen“ bzw. „Gebietsdumen“ seit 1994 eine beträchtliche Anzahl von lokalen Verwaltungschefs gewählt worden. Inwiefern diese aufgrund ihrer Doppelfunktion die Gebietsversammlungen zugunsten örtlicher Belange „kolonisieren“ und lokale Interessen in regionale Politik zu integrieren vermögen, bleibt abzuwarten. Organisationen wie der „Bund russischer Städte“ versuchen immerhin, Einfluß auf die föderale Entscheidungsbildung zu nehmen. Die finanzielle und materielle Ausstattung der örtlichen Selbstverwaltung ist derzeit -trotz Munizipalisierung und Privatisierung staatlichen Eigentums -nicht zuletzt aufgrund gesamtwirtschaftlicher Umstellungsprobleme und der kaum reglementierten Zuweisungspraxis mangelhaft. Der Befund unzureichender Gestaltungsmöglichkeiten reicht indes für eine Einschätzung der realen Macht lokaler Organe nicht hin. Föderation und Gebiete sind für den Vollzug ihrer Entscheidungen auch auf die lokalen Verwaltungen angewiesen, bedürfen somit eines einigermaßen kooperativen Verhältnisses zu den unteren Macht-organen. Diese haben aufgrund genauerer Informationen über Planungsbedarfe und Koordinationsschwierigkeiten ein potentiell machtvolles Druckmittel an der Hand. Die ehedem rigide Praxis direkter Unterstellung von Verwaltungsabteilungen ist einer Aufgabenteilung zwischen den territorialen Ebenen gewichen, die durchaus subsidiäre Züge trägt.
Mit der Privatisierung der Branchenbetriebe und dem Ende des Einparteienmonopols der KPdSU sind wesentliche Voraussetzungen für die Dezentralisation des politisch-administrativen Systems geschaffen worden. Die Wahlen zu den Gebietsdumen und den lokalen Vertretungskörperschaften seit 1994, die durch eine ausgesprochen geringe Wahlbeteiligung von oftmals unter 30 Prozent gekennzeichnet waren, brachten zwar in vielen Fällen „kommunistische“ Mehrheiten. Das relative Mehrheitswahlrecht begünstigte insbesondere Verwaltungschefs sowie Direktoren von inzwischen privatisierten Betrieben. Dennoch zeigen die Angehörigen der alten Nomenklatura, die inzwischen in der Privatwirtschaft tätig sind, kein Interesse an einer Rückkehr zum befehlsadministrativen System. Ob diese Haltung auch mit einer Akzeptanz demokratischer Spielregeln verbunden ist, müssen weitere Entscheidungsprozeßanalysen zeigen.
Verlauf und Probleme des russischen Transformationsprozesses können auf lokaler Ebene in gleichsam „verdichteter Form“ analysiert werden. Dabei ist die Dezentralisierung des politischen Systems, nach einer langen Zeit des Vordenkens, aber letztlich mangelnder Reformbereitschaft unter Breschnew, seit dem Beginn der Reformära Gorbatschow kontinuierlich fortgeschritten. Die seither periodisch wiederkehrenden Maßnahmen, Entscheidungsbefugnisse zu rezentralisieren, sind als -im Ergebnis nur bedingt wirksame -Versuche zu werten, den Übergangsprozeß mit all seinen Widersprüchlichkeiten und Widerständen unter Kontrolle zu halten. Der sich dem Betrachter bietende Eindruck eines Zickzackkurses russischer Dezentralisierungspolitik ist somit Bestandteil einer Umbruchsituation, in der der Systemwechsel gegen weitreichende innere Widerstände gesteuert werden muß.