I. Einleitung
In der Tschetschenien-Krise werden die Kernprobleme der russischen Innen-und Außenpolitik wie durch ein Brennglas dramatisch gebündelt: die problematische Identität der Russischen Föderation als multi-ethnische Gemeinschaft; die Frage der Machtverteilung zwischen Zentrum und Regionen sowie des zusätzlichen Freiraums für nationale und ethnische Autonomien; das Spannungsverhältnis zwischen autoritärer Versuchung, demokratischer Gewaltenteilung und Reformwillen; die unzureichende staatliche Institutionalisierung und Verantwortungsfähigkeit; die kontraproduktiven, nicht zuletzt sicherheitspolitisch relevanten Wirkungen nach außen, wie etwa auf die Diskussion um die Osterweiterung der NATO und auf die offenkundige Abbremsung einer durch Rußland geführten GUS -Integration. Hinzu kommen der zusätzliche innenpolitische Vertrauensverlust wie auch eine weitere Schwächung des außenpolitischen Kredits der derzeitigen russischen Führung unter Präsident Boris Jelzin.
Doch so schwierig die Lage in Rußland und ihre angemessene Bewertung auch ist, es wäre verfrüht, diese Krise bereits als Wasserscheide der weiteren russischen Innen-und Außenpolitik zu betrachten, auch wenn sich eine solche Sichtweise vor allem in Rußland selbst auszubreiten scheint. Die notwendige kritische Gesamtbetrachtung darf weder vorrangige strategische Zielsetzungen der politischen Gestaltung im Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok aus dem Auge verlieren noch sich auf politikunfähig machendes Moralisieren zurückziehen.
Worum es in strategischer Perspektive geht, hat der Budapester KSZE-Gipfel am 6. Dezember 1994 mit der Erklärung von 53 Staats-und Regierungschefs erneut klargestellt. Ihre Leitvorstellung ist die Herausbildung „einer Staatengemeinschaft, ohne alte oder neue Teilungen, in der die souveräne Gleichheit und die Unabhängigkeit aller Staaten in vollem Umfang geachtet werden, in der es keine Einflußsphären gibt und in der die Menschenrechte und Grundfreiheiten aller, ungeachtet von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, sozialer Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer Minderheit nachdrücklich geschützt werden“ Dies ist der Kern einer kooperativen Konzeption, deren Verwirklichung insbesondere von den größeren Teilnehmerstaaten eine Politik der Zurückhaltung bei der Verfolgung nationaler Interessen erfordert. Sie verbietet im Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok jede imperiale Politik, läßt aber Spielraum für eine an den KSZE-Prinzipien -insgesamt -orientierte Interessenpolitik.
Für die zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur ist die Verwirklichung dieser Leitvorstellung durch alle Teilnehmerstaaten von zentraler Bedeutung. Dabei richten historische Erfahrungen, machtpolitische und geopolitische Realitäten sowie das Zukunftspotential des größten Flächen-staats dieser Erde die Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf die innen-und außenpolitische Entwicklung der Russischen Föderation, die ungeachtet ihrer derzeitigen inneren Schwächen einen Status als Großmacht beansprucht. Rußland sucht entsprechend einen besonderen Mitsprache-und Mitgestaltungsanspruch im internationalen System, vor allem aber im Gürtel der unmittelbaren Nachbarstaaten aufzubauen. Die damit verbundene, seit 1992 allmählich entfaltete Selbstbehauptungsstrategie wird von einem beachtlich breiten außenpolitischen Konsens unter den ansonsten innen-und wirtschaftspolitisch vielfach zersplitterten politischen Kräften getragen Sie beruht insofern auf längerfristig wirkenden Grundlagen und schlägt sich entsprechend in offiziellen außen-und sicherheitspolitischen Äußerungen nieder
Parallel zur Entfaltung dieser Selbstbehauptungsstrategie ist in westlichen Reaktionen hierauf ein immer kritischerer Trend aufgekommen der teilweise durch die Kritik in Rußland selbst und aus seinen Nachbarstaaten verstärkt wurde. Die exzessive russische Gewaltanwendung in Tschetschenien, die dahinter stehenden machtpolitischen Konstellationen und Entscheidungsprozesse haben diesen Trend verstärkt und dürften ihn noch verschärfen, falls eine politische Lösung im Kaukasus ausbleibt und sich möglicherweise zusätzlich negative Rückwirkungen auf die inneren Reformen insgesamt ergeben. Historische Erinnerungen an die Zeiten des zaristischen Imperialismus wie auch der sowjetischen Gewaltpolitik wurden inzwischen wachgerufen, in der Regel jedoch wenig reflektiert und eher auf Emotionalisierung ausgerichtet als auf eine nüchterne Überprüfung von der Kritik jeweils zugrundeliegenden Kriterien, Motiven und Interessen.
II. Zukunftssicherung: Durch Kooperation oder verschärften Wettbewerb?
Mit Blick auf das strategische Gestaltungsziel im OSZE-Raum ist angesichts der derzeitigen komplizierten Entwicklungen im Raum der ehemaligen Sowjetunion Nüchternheit ebenso geboten wie Kontinuität der westlichen Dialog-und Kooperationsbereitschaft. In der Anfangsphase der russischen Unabhängigkeit war die Nüchternheit gegenüber den Möglichkeiten der russischen Reformpolitik offenkundig zu gering ausgeprägt. Derzeit hingegen scheint die westliche Einschätzung der inneren Entwicklung und der äußeren Selbstbehauptungsstrategie Rußlands zunehmend durch einen entgegengesetzt wirkenden Mangel an Nüchternheit, ja durch Enttäuschung und ein abnehmendes Verständnis für die komplexe russische Ausgangs-und Interessenlage bestimmt. Entsprechend verfestigt sich vor allem in konservativen westlichen Äußerungen der Verdacht, Rußland betreibe erneut eine imperiale Politik Gleichzeitig gerät die Berücksichtigung von möglicherweise legitimen russischen Interessen im Bereich der Außen-und Sicherheitspolitik zunehmend in den Hintergrund.
Es scheint, daß derartige Bewertungen auch durch eine aufkommende Paradigmaverschiebung beeinflußt werden. Hinter dem zwischenstaatlichen Bekenntnis zur Zusammenarbeit gewinnt gleichzeitig das Paradigma eines verschärften zwischenstaatlichen bzw. interregionalen Wettbewerbs an Kraft. Seit dem Ende des Kalten Krieges und eher im politischen Widerspruch zu der diese historische Zäsur würdigenden „KSZE-Charta von Paris für ein neues Europa“ (vom 21. November 1990) ist erneut eine beachtliche Betonung des nationalen Eigeninteresses aufgekommen. Das Bewußtsein eines sich verschärfenden Wettbewerbs um eine angemessene Führungsstellung innerhalb des sich neu formierenden internationalen Systems wirkt auf die Bewertung (und Abwertung) der Außen-und Sicherheitspolitik anderer Staaten und Zusammenschlüsse deutlich ein. So werden z. B. in Teilen der amerikanischen Politikwissenschaft, der Medien und allmählich auch des politischen Bereichs negative Bewertungen der russischen Politik immer spürbarer mit der allgemeinen Diskussion über die weitere Entfaltung einer globalen Führungsstellung der USA verbunden. Die Rückwirkung derartiger Tendenzen auf die bislang gegenüber Rußland überwiegend kooperative offizielle amerikanische Rußlandpolitik bleibt zwar noch abzuwarten. Aber russische Sorgen, daß aufgrund der neuen Machtkonstellation im amerikanischen Kongreß an die Stelle einer offenen, breiten Zusammenarbeit mit den USA eine eher präventive amerikanische Strategie mit dem Ziel einer neuen Eindämmung der russischen Macht treten könnte, sind nicht von der Hand zu weisen
Was auf amerikanischer Seite teilweise als legitime und notwendige Chancennutzung zur Sicherung einer globalen amerikanischen Führungsrolle angesehen wird, erscheint in der russischen Wahrnehmung als besondere geopolitische Herausforderung. Rußland nimmt insofern an der Renaissance eines umstrittenen Begriffs teil. Geopolitische Analysen aller Art haben in russischen Medien und in Publikationen politikwissenschaftlicher Institute Konjunktur, nähren diese Entwicklung weiter und beeinflussen auch die außen-und sicherheitspolitischen Äußerungen Präsident Jelzins Dabei wirkt sich konzeptionell auch die Erbschaft der sowjetischen Systemtheorie zur „Korrelation der Kräfte“ aus. Nicht nur der Wunsch, ein nach dem Zerfall der Sowjetunion in vielfacher Hinsicht aufgekommenes Verlustgefühl außenpolitisch zu kompensieren, dürfte in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Über derartige, auf mehr innenpolitische Kohäsion angelegte Bedürfnisse hinaus geht es vor allem um den Versuch, für das größte Land der Erde nicht nur eine regionale, sondern möglichst auch eine angemessene globale Führungsrolle im 21. Jahrhundert zu sichern
Umgeben von einer Vielzahl sich jeweils recht erfolgreich entwickelnder Potentiale in Europa, Amerika und Asien, liegen Rußlands eigene Entwicklungschancen ausschließlich in der Kooperation. Ein verschärfter Wettbewerb wäre dem Lande allenfalls sektoral, d. h. im militärischen Bereich, und das auch nur zeitlich begrenzt möglich. Dies würde jedoch -ebenso wie eine von Shirinowskij inzwischen paranoid geforderte erneute Abschottung nach außen -eine umfassende Modernisierung und Zukunftssicherung Rußlands entscheidend unterminieren. Verantwortliche westliche Politik muß daher weiterhin das objektiv vorrangige Kooperationsinteresse der Russischen Föderation durch ein stabiles und empathisches Kurshalten bei der westlichen Dialog-und Kooperationsbereitschaft stimulieren. Vor allem hierdurch, nicht aber durch eine Politik der „Bestrafung“, die letztlich nur zur Selbstschädigung vorrangiger westlicher Interessen führen würde können die äußeren Rahmenbedingungen für Reformen ergänzend verbessert und eine dauerhafte Integration Rußlands in die Staatengemeinschaft gesichert werden. Ein gegenteiliger, auf eine erneute Eindämmung des russischen Machtfaktors zielender Kurs würde hingegen bereits bestehende nationalistische Tendenzen in der russischen Innen-und Außenpolitik stärken und dazu beitragen, daß sich Rußland für seine nahen und etwas ferneren Nachbarn zu einem qualitativ neuartigen Sicherheitsproblem entwickelt.
III. Imperial, hegemonial oder legitim?
Der Vorwurf einer erneuten imperialen russischen Außenpolitik muß nicht zuletzt wegen der sicherheitspolitischen Konsequenzen für den Westen genauer hinterfragt werden. Was ist mit „imperial“ in bezug auf Rußland gemeint? Wie wäre eine imperiale Politik abzugrenzen von hegemonialer Politik, von Integrationspolitik, von Interessen-politik und von legitimer Einflußnahme? Welche Kriterien sollten entsprechende Bewertungen leiten? Für eine ausgewogene Kritik bieten die Prinzipien der KSZE-Schlußakte und einige nachfolgende KSZE-Dokumente die beste und keinen Staat durch unterschiedliche Standards singularisierende Orientierung, zumal die Staats-und Regierungschefs in Budapest erneut bestätigt haben, daß sich die Politik aller 53 KSZE-Teilnehmerstaaten hiervon leiten lassen soll
Es ist nicht zu bestreiten, daß in Rußland bestimmte politische und wirtschaftliche Kräfte bzw. Organisationen von imperialen Denkansätzen ausgehen und entsprechende Aktivitäten außerhalb Rußlands fordern und fördern. Die kritische Annahme einer imperialen russischen Außenpolitik impliziert jedoch mehr. Sie unterstellt eine über das russische Territorium aggressiv hinausgreifende, der KSZE-Leitvorstellung entgegenstehende offizielle imperiale Konzeption und ein hierauf gestütztes, institutionell kohärentes Handeln der russischen Regierung. Präsident Jelzin, der die Richtlinien der Außenpolitik gemäß Artikel 86 der Verfassung bestimmt, hat angesichts einer vielschichtigen Realität des eurasischen Raums den undifferenzierten Vorwurf einer imperialen russischen Politik wiederholt zurückgewiesen Dennoch gibt es immer wieder auch aus dem Bereich staatlicher Strukturen Aktivitäten von Einzelpersonen und Interessensgruppen mit expansiven Zielsetzungen. Soweit erkennbar, sind diese zwar häufig nicht durch Beschluß der russischen Regierung gedeckt, werden aber oftmals toleriert, ja unter Umständen im Ergebnis einer nachfolgenden innenpolitischen Auseinandersetzung sogar gebilligt. Insofern muß eine analytisch fundierte Kritik auch die institutionellen Schwächen in Rußland berücksichtigen, die sich widersprüchlich in der russischen Außenpolitik auswirken, ja sogar die Frage der staatlichen Verantwortungsfähigkeit aufwerfen können.
Wichtig ist die begriffliche Klärung sowohl im zurückblickenden historischen Vergleich als auch un ter Berücksichtigung der sowjetischen Erfahrungen. Dabei ist zunächst festzustellen, daß imperiale Politik im Kern stets auf eine substantielle Kontrolle und möglichst unmittelbare Lenkung der inneren Entwicklung anderer Territorien und deren Außenbeziehungen bis hin zur territorialen Einverleibung abzielte. Das russische Imperium legte über den zaristischen Vielvölkerstaat ein Netz von Militärstützpunkten sowie von unter strikter zentraler Kontrolle stehenden Gouvernementsverwaltungen, in die eine im wesentlichen auf staatliche Auftragsverwaltung beschränkte lokale Selbstverwaltung eingefügt war. Das sowjetische Imperium nutzte in ähnlicher Weise vereinheitlichende administrative, planwirtschaftliche und militärische Strukturen, die über das Territorium der Sowjetunion hinausgehend bis nach Osteuropa und in Teile der Dritten Welt hinein -vor allem durch das Machtmonopol der die anderen kommunistischen Parteien weitgehend beherrschenden KPdSU -straff geführt wurden.
Heute steht der russischen Politik weder eine vergleichbare raumlenkende und gestaltungsfähige staatliche Struktur noch eine monolithische Partei-struktur für eine Rückkehr zu diesen imperialen Vergangenheiten zur Verfügung. Militärstützpunkte und -einrichtungen, soweit sie in einigen GUS-Staaten bestehen, dienen eher anderen Zwecken, auch wenn von ihnen ein umstrittener russischer Einfluß ausstrahlt. Ein aktives russisches Einwirken auf Gebietskörperschaften und politisch-gesellschaftliche Organisationen der Nachbarstaaten läßt sich zwar wiederholt feststellen, z. B. in Gebieten mit russischen Bevölkerungsanteilen. Dies ist aber nach Umfang und Qualität nicht in frühere imperiale Konzeptionen einzuordnen. Das gleiche gilt auch für ein durchaus spürbares russisches Interesse an Einflußnahme auf die Besetzung von Führungspositionen in den neuen Nachbarstaaten, wie dies z. B. bei der Machtübernahme Alijews in Aserbaidschan der Fall gewesen sein dürfte. Aber gerade in den islamisch geprägten Republiken deutet das Hineinwachsen von nichtrussischen Eliten in obere und mittlere Führungspositionen insgesamt eher auf eine gegenläufige Entwicklung.
Ein umfassender Rückgriff auf frühere Strategien, Mittel und Verfahren imperialer Expansion und Beherrschung erscheint heute auch nicht mehr möglich, ohne daß das russische Staatswesen selbstzerstörerischen Schaden nach innen davon-trüge. Nach außen würde dies zu einer Isolierung Rußlands, zu einer Neuauflage westlicher Eindämmungspolitik und zu einer Konfrontation mit der islamischen Staatenwelt führen. So wie die hohenKosten und Lasten imperialer Politik den Zusammenbruch des sowjetischen Systems geradezu herbeigeführt haben, so wären sie angesichts heutiger geschwächter staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen für Rußlands Bestand und internationale Stellung noch gefährlicher Der Vorwurf imperialer russischer Politik unterstellt indirekt, daß dies den -verantwortlichen -russischen Politikern und Eliten nicht bewußt wäre bzw. von diesen bewußt ignoriert würde.
Als weiteres stellt sich die Frage, inwieweit die offizielle russische Politik gegenüber den neuen Nachbarstaaten eher als hegemonial bezeichnet werden kann Auch hier ist die begriffliche Klärung wichtig, um politische Polemik zu vermeiden. Von der System-Analyse her wird Hegemonie als eine bewußte Alternative zur imperialen Politik verstanden. Im Gegensatz zur letzteren geht es im Rahmen einer Hegemonie nicht um die völlige Unterordnung anderer Gebiete oder gar um die Eliminierung anderer Staaten. Ziel der Hegemonie ist vielmehr, unter Wahrung der territorialen Integrität betroffener Staaten in diesen hierarchische Strukturen der Einflußnahme (als Mindestkonzeption) bis hin zur Kontrolle und Beherrschung (als Maximalkonzeption) im Rahmen eines unipolaren, regionalen oder globalen Staatensystems durchzusetzen.
Während Kontroll-und Dominanzstrategien (d. h. im Sinne der Maximalkonzeption) eines Hegemons im KSZE-Raum vor allem anhand der KSZE-Prinzipien unmittelbar einer kritischen Bewertung unterzogen werden können, ist die Grauzone hegemonialer Einflußnahme (d. h. im Sinne der Mindestkonzeption) schwieriger zu bewerten. In beiden Fällen ist das ursprüngliche griechische Doppelverständnis von Hegemonie als legitimer wie auch als illegitimer Führung und Herrschaft hilfreich. Voraussetzung bzw. Ausgangspunkt von Hegemonie ist in der Regel eine geopolitische und in vielfältiger Hinsicht machtpolitisch, d. h. wirtschaftlich, technologisch und militärisch bestimmte Asymmetrie im Verhältnis zu anderen Staaten oder Regionen. Im Sinne legitimer Führung ist sie dabei durch ethische und völkerrechtliche Normen des politischen Handelns, durch die freiwillige Zustimmung der betroffenen Partner zu gemeinsam definierten Interessen und der Art ihrer Durchsetzung sowie durch die korrekte Einhaltung von vereinbarten Verfahren und Verhaltensnormen ein-gehegt.
Hegemonie kann ferner über den politischen und sicherheitspolitischen Bereich hinaus in ein anderes Wirtschaftssystem und in eine andere Kultur verändernd eingreifen. Auch in diesen Fällen ist die Unterscheidung nach legitimer und illegitimer Hegemonie wichtig. Der Hegemonialstaat bestimmt in den genannten Bereichen durch seine eigene Gegenwart und sein Beispiel die Zukunft anderer Staaten und deren Modernisierung bzw. er wird in dieser Rolle gegebenenfalls in partnerschaftlicher Nachahmung akzeptiert. Hegemonie kann sich also in diesen beiden Bereichen bewegen zwischen Führung durch das in die Zukunft weisende Beispiel einerseits und durch illegitimen Druck auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Anpassung an den Hegemon andererseits.
Für die Differenzierung zwischen illegitimer Hegemonie und legitimer Führung sind schließlich noch die eingesetzten Mittel und Verfahren wichtig: Politischer, militärischer und wirtschaftlicher Druck anstelle einer Politik der Zurückhaltung werfen ebenso wie unsaubere Mittel der Einflußnahme auf fremde Eliten wie Bestechung, Erpressung und Nutzung von Korruption unmittelbar kritische Fragen auf. Der Zweck, und sei er noch so gut, heiligt in diesen Fällen nicht die Mittel, sondern auch die Mittel und Verfahren selbst bedürfen einer kritischen normativen und ethischen Bewertung. Verfahren und Mittel wirken stets auf die Ziele und die Art ihrer Verwirklichung zurück. So zeigte sich im Zusammenhang der Tschetschenien-Krise, die unter Berücksichtigung von KSZE-Verpflichtungen, insbesondere des militärisch-politischen Verhaltenskodexes von Budapest keine ausschließlich innerrussische Angelegenheit ist, ein auch für die russische Außen-und Sicherheitspolitik besorgniserregendes Handlungsparadigma. Beunruhigend war vor allem ein Mangel an wohl-strukturierter, die innen-und außenpolitischen Konsequenzen einer exzessiven militärischen Gewaltanwendung umfassend berücksichtigender Entscheidungsfindung, ein Mangel an koordinierter Nutzung wissenschaftlicher und politischer Expertise sowie an ausgewogener Abstützung auf die zuständigen Ressorts im Sinne einer integrierten Beratung und Entscheidungsfindung
IV. Selbstbehauptung und außenpolitischer Konsens
Keine verantwortliche politische Kraft in Rußland kann die hinter der russischen Selbstbehauptungsstrategie wirkenden grundlegenden Veränderungen der geopolitischen Ausgangslage außer acht lassen, sofern sie ein politisches Abseits vermeiden will. Es wäre daher ein fundamentaler Fehler, die objektiven Triebkräfte und den inhaltlichen Kern der außenpolitischen Konsensbildung in Rußland zu unterschätzen. Zu nennen wären hier insbesondere folgende Tatbestände: 1. Der mit der Entstehung unabhängiger Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion erfolgte politische Schnitt durch Bevölkerungsgruppen, durch das Geflecht wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Strukturen und vielfach auch durch persönliche Verbindungen ist ebenso wie der territoriale Rückzug Rußlands auf Grenzlinien des 17. und 18. Jahrhunderts im Westen (abgesehen von der Kaliningrader bzw. Königsberger Enklave) oder des 19. Jahrhunderts im Süden bzw. Südosten mit einem starken Verlustgefühl verbunden, das außerhalb Rußlands kaum nachvollzogen werden kann. Hinzu kommt insbesondere mit Blick auf die Kaukasusregion, auf den sich ungewiß entfaltenden Raum islamischer Nachbarstaaten sowie auf das riesige chinesische Potential das Gefühl, historisch gesicherte Grenzen verloren zu haben und nunmehr erneut in ungesicherten Grenzen zu leben
2. Über zwei Drittel der Bevölkerung Rußlands bedauern zwar den Zerfall der Sowjetunion, wünschen jedoch nicht deren Wiedererrichtung als monolithischer Staat. Die Unterstützung einer Wiedererrichtung der Sowjetunion in ihrer ehemaligen Form scheint auf rund zehn Prozent der Bevölkerung abzusinken, wenn auf die damit für Rußland entstehenden wirtschaftlichen und sozialen Kosten durch Transferleistungen aller Art an die ehemaligen Sowjetrepubliken und die damit verbundene weitere Absenkung des russischen Lebensstandards hingewiesen wird. Größere Zustimmung scheint hingegen die Idee einer Integration bzw. einer „Re-Integration“ mit den neuen unabhängigen Staaten zu erhalten, sofern diese auf einer Rußland nicht einseitig belastenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit basieren. Nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung lehnen auch dann eine Integration bzw. eine Re-Integration grundsätzlich ab
3. Rußland ist in ethnischer Hinsicht russischer geworden Während der Anteil der Russen beim Zerfall der Sowjetunion gerade noch bei 50 Prozent der Gesamtbevölkerung lag und bei deren Fortbestand bis zum Jahre 2050 knapp 38 Prozent erreicht hätte, liegt nun der Anteil der Russen innerhalb der Russischen Föderation bei ca. 82 Prozent (die nächstgrößte Bevölkerungsgruppe, die Tataren, erreichen gerade 3, 5 Prozent, die übrigen über 80 Ethnien verteilen sich entsprechend zersplittert auf die verbleibenden 14, 5 Prozent). Insofern unterscheiden sich die heutigen Verhältnisse auch grundsätzlich von der Lage im zaristischen Reich vor der Oktoberrevolution von 1917. Damals erreichte der Anteil der Russen an der Gesamtbevölkerung gerade 43 Prozent. Die heute vergleichsweise stärkere ethnische Konzentration der Russen in der Russischen Föderation wirkt sowohl als ein die nationale Identität nach innen besonders mitbestimmender Faktor wie auch als ein politischer Magnet für die rund 25 Millionen nunmehrigen Auslandsrussen auf dem übrigen Territorium der ehemaligen Sowjetunion
4. Die Risiko-und Bedrohungsvorstellungen der russischen Bevölkerung wie auch unter den Eliten haben sich gegenüber der Sowjetzeit grund legend verändert. Der Westen, insbesondere die USA, wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion praktisch nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen Gegen diesen sich auf Befragungen des Jahres 1993 stützenden Befund wirkt allerdings inzwischen eine Ernüchterung bezüglich der westlichen Rußlandpolitik und der dahinter russischerseits wahrgenommenen westlichen Ziele Zwar hat dies bislang nicht zu einem Rückfall hin zu früheren antagonistischen Bedrohungsvorstellungen geführt, jedoch könnte die in den nächsten Jahren zu erwartende Osterweiterung der NATO in dem Maße einen derartigen Rückfall bewirken, wie die Bemühungen um eine Rußland strukturell und politisch gleichberechtigt einbeziehende europäische Sicherheitsarchitektur zu keinem innenpolitisch vorzeigbaren Erfolg führen.
Als problematischer wird hingegen seitens der russischen Bevölkerung und der Eliten die Bedrohung nationaler Interessen und der Sicherheit Rußlands wahrgenommen, die von einigen der neuen Nachbarstaaten ausgehen könnte. Die Bedrohungsbzw. Risikowahrnehmungen auch unterschiedlicher politischer Kräfte haben sich z. B. beim Schutz der Interessen von Auslandsrussen sowie bei der Notwendigkeit einer Eindämmung von ethnischem Extremismus und politischer Instabilität in den neuen Nachbarstaaten einander angenähert. Ähnliches gilt mit Blick auf den islamischen Fundamentalismus, auch wenn dies in der Sache bislang wenig begründet erscheint, und für potentiell destabilisierende und Rußland möglicherweise berührende Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten sowie in Asien.
Die neue geostrategische Ausgangslage und deren wahrgenommene bzw. antizipierte Folgen haben in Verbindung mit der Frage nach der Identität und den nationalen Interessen Rußlands eine Vielfalt an außenpolitischen Konzeptionen stimuliert. Dabei wurden einige konzeptionelle Hauptrichtungen deutlich, die sich in den russischen Medien, in Beiträgen aus den Bereichen der Politik-und Kulturwissenschaften, der Philosophie und der Geschichtswissenschaften sowie in Äußerungen russischer Politiker vielfach widerspiegeln und überlappen. Derartige Konzeptionen sind nicht immer eindeutig mit bestimmten politischen Parteien verbunden National-demokratische Strömungen stehen z. B. neben national-kommunistischen und demokratisch-integrative neben nationalistisch-imperialen Denkansätzen. Diese Meinungsvielfalt wirkt teilweise wie eine ideenreiche Abrechnung mit der gedanklichen Unfreiheit des alten Sowjetsystems. Die außenpolitischen Hauptrichtungen -also nicht die Parteien als solche sind nachfolgend gemeint -können etwa wie folgt differenziert werden 1. Nationalrussische Außenpolitik auf der Grundlage der identitätsstiftenden „Russkaja Ideja“, d. h.der „Russischen Idee“ als nationale Beschreibung eines eigenen, russischen Kultur-und Zivilisationskreises. Diese Konzeptionminimiert entsprechend die multiethnische Realität der Russischen Föderation, propagiert die nationale Vereinigung der Russen und zielt in ihren extremen Varianten auch auf den Ein-bezug der Russen im benachbarten Ausland sowie auf eine forcierte Selbstbehauptung nach außen. 2. National-kooperative Außenpolitik auf der Grundlage einer identitätsstiftenden „Rossijskaja Ideja“, d. h. „der Rußländischen Idee“ als nicht einseitig russisch ausgerichtete Beschreibung einer multinationalen bzw. multiethnischen Identität. Diese Konzeption ist teilweise . bei der offiziellen Staatsbezeichnung, im Russischen „Rossijskaja Federacija -Rossija“, in der Präambel und in Artikel 1 der Verfassung von 1993 berücksichtigt. Sie ist nicht auf Abschottung nach außen angelegt, konzentriert sich aber mit Blick auf die ethnische Vielfalt Rußlands auf Beziehungen zu Nachbarstaaten mit entsprechenden ethnischen Anknüpfungspunkten. 3. Nationalistisch-extremistische Orientierung, z. B.des LDPR-Führers Shirinowskij, die über (1) hinausgehend eine nationale Wiedergeburt Rußlands mit einem imperialen (in den Motiven anscheinend auch präventiven) Ausgreifen bis hin zu den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion propagiert, sich aber bezüglich derartiger expansiver Zielsetzungen nicht kohärent äußert. Diese Richtung ist stark antiwestlich und wendet sich zugleich emotionalisierend gegen vermeintliche Gefahren des islamischen Fundamentalismus für den Bestand Rußlands. 4. Prowestliche Orientierung mit fließenden pro-europäischen und proamerikanischen Varianten als Ausdruck einer hauptsächlich europäischen Identität Rußlands. Diese anfänglich von Kosyrew und Jelzin bevorzugte Richtung nimmt im Gegensatz zu (1) und (2) die seit dem 17. /18. Jahrhundert strittige Frage der Modernisierung Rußlands neuartig auf. Sie strebt, anders als die meisten „Westler“ im früheren Rahmen der zaristischen Autokratie, nicht lediglich eine sektorale Modernisierung unter grundsätzlicher Wahrung des „alten Regimes“ an, sondern verbindet den umfassenden Systemwandel mit Integration in die westliche Wertegemeinschaft und in politische und wirtschaftliche Zusammenschlüsse des Westens. 5. Eurasistische Orientierung, die in verschiedenen Varianten über (2) hinausgeht und den größeren euro-asiatischen Raum, d. h. in etwa das Territorium der ehemaligen Sowjetunion, aufgrund seiner multiethnischen und multikulturellen Geschichte und Realität als eigenständigen Kultur-und Zivilisatonskreis zwischen Europa und Asien versteht. Diese Orientierung erlaubt sowohl int^grative (wie re-integrative) Ansätze in diesem Raum als auch, worin ihre eigentliche politische Gefahr liegt, die Verneinung einer betont islamischen oder europäischen Identität und Ausrichtung einzelner Staaten des eurasischen Raums. x 6. Kommunistisch-gemäßigte (z. B. KPR unter Sjuganow) und sozialdemokratische Orientierung (z. B. Russische Partei der Sozialen Demokratie unter Jakowlew, die noch wenig gemein hat mit westeuropäischer Sozialdemokratie) mit dem Ziel einer neuen, kooperativen Union auf der Grundlage von Pluralismus, stärkerer staatlicher Wirtschaftslenkung und gerechterer Verteilung. In dieser Orientierung ist zwar keine Abschottung gegenüber dem Westen, wohl aber sektorale Distanzierung (z. B. Ablehnung der westlichen Konsumgesellschaft) und Selbstbehauptung nach außen programmatisch angelegt. 7. Kommunistisch-imperiale Orientierung (neben national-kommunistischer Denkrichtung) als extremistisches Minderheitsdenken des alten Stils mit dem Ziel der Wiedererrichtung der Sowjetunion.
Insgesamt zeigt sich, auch wenn sich bestimmte politische Kräfte immer wieder anders äußern und verhalten, daß eine Rückkehr zu einer imperialen Politik im alten Sinne in Rußland nicht populär und nicht mehrheitsfähig ist. Entsprechend zielen die voranstehend skizzierten außenpolitischen Konzeptionen mehrheitlich, d. h. abgesehen von orthodox-kommunistischen und extrem-nationalistischen Strömungen, nicht einfach auf eine Wiederherstellung der ehemaligen Sowjetunion und ihrer ideologischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen ab. Sie liegen vielmehr, und dies schließt Reformkräfte durchaus ein, zwischen der Forderung nach Verwirklichung einer nationalen, russischen Staatsidee einerseits und der mit unterschiedlicher Tiefe und Intensität propagierten Forderung nach einer russisch geführten, wirtschaftlich und finanziell tragfähigen regionalen Integration bzw. „Re-Integration“ andererseits.Entsprechend ist auch die Annahme unberechtigt, daß die radikaldemokratischen und reformorientierten Kräfte in Rußland grundsätzlich zurückhaltender wären bei der Beschreibung nationaler Interessen, soweit sich diese auf den russischen Einfluß im Raum der ehemaligen Sowjetunion beziehen Die Zurückhaltung demokratischer Kräfte bezieht sich weniger auf die Definition von außen-und sicherheitspolitischen Interessen als solchen denn auf die Mittel und Wege zu deren Wahrung und Durchsetzung.
Diese Differenzierung ist wichtig, weil die immer wieder anzutreffende Behauptung, die offizielle russische Außen-und Sicherheitspolitik hätte sich seit 1992 nur unter dem Druck konservativer und nationalistischer Kräfte geändert, die sich aus der geopolitischen Ausgangslage Rußlands ergebenden objektiven Triebkräfte zu gering einschätzt. Diese hätten früher oder später in jedem Fall zu Kurskorrekturen der anfänglich von Außenminister Kosyrew vorrangig betriebenen Westorientierung Rußlands geführt
Legt man das voranstehende Raster außenpolitischer Konzeptionen über die offizielle russische Außenpolitik, so erscheint diese derzeit in erster Linie durch eine Mischung von (2), (5) und teilweise (6) bestimmt. Dies bedeutet also einerseits eine national-kooperative und zunehmende eurasistische Ausrichtung und andererseits eine zwar immer noch gewichtige, aber nicht mehr wie 1991/92 eindeutig vorrangige Westorientierung auf die strategische Partnerschaft mit den USA und die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und ihren wichtigsten Mitgliedstaaten.
V. Institutioneile Schwäche und außenpolitische Verantwortungsfähigkeit
Eine sich verfestigende außenpolitische Konzeption bedeutet noch lange nicht deren konsequente und stabile Umsetzung. Mangelnde Kohärenz und Durchsetzungsfähigkeit staatlicher Strukturen, geringe Professionalität sowie eine unter Politikern wie auch innerhalb der Bürokratie weit verbreitete Korruption werden bis auf weiteres immer wieder Fragen nach der Zuverlässigkeit russischer Außenpolitik aufwerfen. Rußland kann erst als „normalisierter“ Staat gelten, wenn die internen Machtbalancen zwischen den verfassungsmäßigen Institutionen der Gewaltenteilung wie auch innerhalb der Exekutive selbst stabil funktionieren. Unter den derzeitigen Umständen erlangen hingegen machtpolitisch relevante und vergleichsweise straff geführte Staatsstrukturen -wie die Organe der inneren Sicherheit und die Streitkräfte -einen relativen Machtzuwachs bis hinein in den außenpolitischen Bereich, auch wenn sie intern unter ähnlichen Mängeln leiden
Entsprechend ist die Herausbildung stabiler, ausgewogener und verantwortlicher staatlicher Strukturen für den Zusammenhalt der Russischen Föderation und ihre internationale Stellung entscheidend. Aufgrund der komplizierten politisch-kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und multiethnischen Erbschaft des Sowjetsystems sowie der territorialen Größe Rußlands sind derartige Strukturen aber möglicherweise ohne eine vorübergehende Beimischung autoritärer Herrschaftsverfahren kaum erreichbar. Westliche Beurteilungen sollten gegebenenfalls nicht allzu abstrakt vom Beispiel einer historisch gereiften westlichen Demokratie ausgehen, sondern auch die zunehmenden Gefahren berücksichtigen, die sich aus der derzeitigen Schwäche staatlicher Strukturen und der instabilen programmatischen Ausrichtung von sich erst noch herausbildenden Parteien nicht nur nach innen, sondern gerade auch im Bereich der russischen Außen-und Sicherheitspolitik ergeben können. Zugleich wäre es verfehlt, in aktuellen autoritären Tendenzen bereits eine Rückkehr zu sowjetischautoritären bzw. zaristisch-autokratischen Herrschaftsstrukturen zu sehen und entsprechende Gefahren eines tiefgreifenden außenpolitischen Kurswechsels zu unterstellen. Demokratische und marktwirtschaftliche Reformen sind in Rußland schon relativ fest verankert und ermöglichen bereits gegenhaltende politische Korrekturen, auch wenn Irrwege der russischen Entwicklung noch nicht auszuschließen sind. Hinzu kommt, oftmals übersehen, der sich anbahnende Generationen-wechsel, der unter demokratischen Reformbedingungen ausgebildete neue Eliten in verantwortliche Positionen bringen wird. Diese dürften angesichts einer für ihre Vorgänger nicht möglichen geistigen Freiheit und infolge intensiverer Berührung mit dem Ausland autoritären Lenkungsansprüchen gleich welcher Richtung immer kritischer begegnen
Zu einer ausgewogenen Beurteilung der russischen Außenpolitik gehört auch die Einsicht, daß der Zerfall der Sowjetunion in jeder Hinsicht viel dramatischer hätte erfolgen können. Vielleicht hat sich bei dieser dritten russischen Revolution in diesem Jahrhundert das für die russische Geschichte typische Phänomen der „Verspätung“ in mehrfacher Hinsicht auch außenpolitisch günstig ausge-wirkt. Die grundsätzliche Abkehr Rußlands, der russischen Gesellschaft und Wirtschaft vom ideologisierten, totalitären Sowjetsystem sowie die Wiederentfaltung des russischen Staates sollte in der Tat als Revolution verstanden werden. Sie mußte einfach wie viele andere historische Revolutionen Komplikationen bei der Suche Rußlands nach einem angemessenen Platz im sich neu formierenden internationalen System mit sich bringen. Als Verspätungen mit außenpolitischer Wirkung fallen bei einer derartigen Sichtweise unter anderem auf 1. Historische Erfahrungen zeigen, daß eine unzureichende Institutionalisierung vor allem in neuen unabhängigen Staaten bzw. revolutionären Regimen eine nach außen gerichtete Konfliktbereitschaft umso wahrscheinlicher macht, je mehr im Innern entgegengesetzt wirkende institutionelle Hemmschwellen fehlen Im Vergleich hierzu hatte die mit Beginn der Eigen-staatlichkeit Rußlands verbundene extreme Schwäche staatlicher Institutionen -bei einer allmählich aufkommenden Selbstbehauptungsstrategie -keine den internationalen Frieden gefährdende russische Konfliktbereitschaft zur Folge. Dieser positive Trend hält an, auch wenn die Umstände der militärischen Gewaltanwendung in Tschetschenien die Frage aufwerfen, ob sich dies -phasenverschoben -
ändern könnte. Hierauf wird erst die Art und Weise einer politischen Lösung dieses Konflikts und dessen Einbettung in die Fortsetzung der Reformen eine Antwort geben. 2. Der Erfahrung mit den Auswirkungen anderer Revolutionen würde auch entsprechen wenn die demokratische Revolution Rußlands bereits früher einen russischen Druck auf Veränderung des bestehenden internationalen Systems bewirkt hätte. Doch Rußland wollte sich anfangs in das westliche System der wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Zusam-menarbeit bzw.der Integration einfügen. Erst dessen aus russischer Sicht unzureichende Öffnung und die damit verbundene Enttäuschung und innenpolitische Schwächung der Reform-kräfte haben dann russische Forderungen nach einer Änderung und Anpassung der Strukturen internationaler Zusammenarbeit stimuliert. Besonders enttäuschend war für die russischen Demokraten, daß aus ihrer Sicht das Bekenntnis zur demokratischen Kultur in entscheidenden Bereichen der Außen-und Sicherheitpolitik westlicherseits nicht hinreichend honoriert wurde. Als die Frage einer Osterweiterung der NATO heranreifte, war zunächst weniger das Gefühl einer potentiellen sicherheitspolitischen Ausgrenzung Rußlands als vielmehr das der dahinterstehenden wertemäßigen Abgrenzung für die russischen Reformkräfte das Hauptproblem 3. Schließlich ist im Gegensatz zu manchen anderen Revolutionen der Geschichte die außen-und sicherheitspolitische Selbstbehauptungsstrategie Rußlands in ihrer Substanz bislang nicht durch eine alles bestimmende harte Linie bzw. von Politikern bestimmt, die aufgrund ihrer Persönlichkeit als Hardliner bezeichnet werden könnten Diese Strategie gibt sich bei aller zunehmenden Berücksichtigung des nationalen Interesses derzeit weder einem Hypernationalismus noch (auch nicht infolge der Krise in Tschetschenien) einem säbelrasselnden Militarismus hin. Entsprechend fehlt bislang auch jeder offizielle Versuch, die außen-und sicherheitspolitische Bedrohungsanalyse zwecks Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen für die Verteidigung zu manipulieren. Mit beträchtlichen Reduzierungen der für das Militär beantragten Mittel ist momentan eher das Gegenteil festzustellen, was die Möglichkeiten militärisch gestützter Expansion erheblich beeinträchtigen dürfte
Weit unterhalb einer derartigen, derzeit nicht existierenden Strategie einer allumfassenden Mobilisierung kommt allerdings der bereits behandelten Konsensbildung zu einigen zentralen außen-und sicherheitspolitischen Fragen, wie der NATO-Erweiterung, der Förderung der GUS usw., eine wichtige, vielleicht nicht unbedenkliche Bedeutung als Kompensation für mangelnden Konsens in wichtigen innenpolitischen Fragen zu. Der historische Vergleich zeigt, daß das hinter einer derartigen Konsensbildung stehende Hauptmotiv einer politischen Führung, nämlich eine von der inneren Krise ablenkende Herrschaftslegitimierung, im Maße der inneren Krisenverschärfung auch zur Verschärfung der Außenpolitik führen kann
VI. Schlußfolgerungen
Bewertet man die russische Politik gegenüber den neuen Nachbarstaaten anhand der bisherigen Überlegungen, so ergibt sich ein differenziertes Bild. Der russische Führungsanspruch entspricht der besonderen geo-und machtpolitischen Ausgangslage der Russischen Föderation. Dies kann auch mit Blick auf einen von anderen Staaten ähnlich begründeten regionalen Führungsanspruch gegenüber benachbarten, verbündeten Staaten oder Regionen nicht grundsätzlich bestritten werden. Dieser Führungsanspruch erscheint legitim, soweit er in seinen konkreten politischen, wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Manifestationen von den betroffenen Staaten gewünscht oder freiwillig akzeptiert wird und nicht auf die forcierte Durchsetzung imperialer, illegitim-hegemonialer sowie einseitiger nationaler Interessen abzielt. Dies läßt im Sinne der bisherigen Überlegungen Gestaltungsspielraum für eine legitime Hegemonie und eine durch das russische Potential geführte Integration, soweit dahinter nicht Konzeptionen zur Sicherung exklusiver russischer Einflußzonen stehen. Dieser Führungsanspruch erscheint ferner gerechtfertigt und akzeptabel, wenn er zusätzlich einer an den KSZE-Prinzipien orientierten Mitverantwortung für die Stabilisierung der politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage in den Nachbarstaaten Rußlands und damit des internationalen Systems insgesamt tatsächlich verpflichtet ist.
Demgegenüber neigen manche westlichen Äußerungen selbst mit Blick auf legitime Integrationsschritte im Rahmen der GUS dazu, die neuen Nachbarstaaten vor allem Zentralasiens und des Kaukasus rundweg als Opfer illegitimer russischer Zielsetzungen zu sehen. Dies dürfte bei einer Reihe von russischen Einzelaktionen in Teilbereichen der Sicherheit und der Wirtschaft zwar zutreffen und sollte dann auch gegenüber der russischen Seite sowohl von den Betroffenen wie auch von dritter Seite unter Berufung auf KSZE-Verpflichtungen in angemessener Form aufgebracht werden. Das Bild ist jedoch insgesamt komplizierter und entspricht nicht der Schlußfolgerung der bislang umfassendsten amerikanischen Analyse, in der betont wird, „that Central Asia and the Transcaucasus were coming under a new Russian hegemony, if not yet imperial control, by late 1994“
Zunächst sollte bei derartigen Bewertungen nicht vergessen werden, daß es Ende 1991 -nachdem Rußland, die Ukraine und Weißrußland in Minsk eine Dreier-Union verabredet hatten -die Führungen der meisten übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken (außer denjenigen der baltischen Staaten und Georgiens) waren, die eine Zusammenarbeit und Koordinierung im Rahmen einer größeren Gemeinschaft unabhängiger Staaten forderten. Seither wurde eine Asymmetrie der kurz-und langfristigen Interessen der Beteiligten deutlich: Der anfänglichen russischen Strategie des Abwerfens alter imperialer Lasten, die bis Mitte 1993 die russische GUS-Politik hauptsächlich bestimmte, stand das von Fall zu Fall unterschiedlich ausgeprägte Interesse der GUS-Staaten gegenüber, so wenig wie möglich vom Tropf bisheriger Moskauer Rohstoff-, Energie-und Warenlieferungen abgeschaltet zu werden und gleichzeitig die neue Unabhängigkeit stufenweise zu realisieren. Stufenweise deshalb, weil in praktisch allen'Bereichen der bislang planwirtschaftlich und zentralistisch geprägten Wirtschafts-und Finanzstrukturen, in Währungsfragen, in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit usw. die russische Unterstützung, Mitwirkung und personelle Präsenz (siehe z. B. die anfänglich hohen, inzwischen jedoch immer stärker abwandernden Anteile an russischen Wirtschaftsspezialisten, Wissenschaftlern, Lehrern und Verwaltungspersonal) im Interesse der inneren Stabilität unverzichtbar waren und in einer Reihe dieser Staaten bis auf weiteres noch bleiben werden.
Manche westliche Kritik tendiert dazu, dieses objektive Eigeninteresse bestimmter GUS-Staaten zu minimieren. Dabei wird nicht nur ein teilweise erhebliches Beharrungs-und Verweigerungsvermögen einiger dieser Staaten gegenüber der russischen Politik übersehen, wie zuletzt der GUS-Gipfel in Almaty vom 9. Februar 1995 gezeigt hat, sondern auch die gespaltene Haltung der dort jeweils herrschenden politischen Eliten. Diese möchten zwar bestimmte Vorteile der russischen Nähe kostengünstig sichern, haben aber zugleich als sich entfaltende neue nationale Eliten längerfristig kein Interesse an einer innen-und außen-politischen Unterordnung unter eine russische Vorherrschaft. Wichtig für diese Entwicklung ist auch die auf Unabhängigkeit bedachte Haltung der Ukraine, die im Maße ihrer Selbstbehauptung gegenüber Rußland zugleich für die kleineren Staaten Manövriermöglichkeiten innerhalb der GUS offen hält. Hinzu kommt mit ähnlicher Ausrichtung der Ausbau eines jeweils eigenen bilateralen Beziehungsgeflechts unter den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, d. h. außerhalb des GUS-Rahmens und damit unter Ausschluß Rußlands.
Das russische Interesse tendiert kurz-und mittelfristig bei allen Bemühungen um eine reale Stärkung der GUS-Integration dazu, die finanziellen und wirtschaftlichen Belastungen hieraus bis auf weiteres möglichst gering zu halten, jedoch in längerfristiger Perspektive eine stabile wirtschaftliche und sicherheitspolitische Einflußzone zu sichern. Wo sich dies im GUS-Rahmen als nicht möglich erweist, strebt die Russische Föderation selektive Verflechtungen aufgrund bilateraler Vereinbarungen an. Manche der sich insofern vielfach überlagernden multilateralen und bilateralen Entwicklungen in den GUS-Staaten deuten jedoch darauf hin, daß das „Fenster der Möglichkeiten“ für eine entsprechend expansive russische Politik nicht nur weniger groß sein dürfte als oftmals unterstellt, sondern mehr noch, daß es sich zukünftig auch langsam schließen könnte. Erste Ansätze hierfür sind mit der Herausbildung der Zentralasiatischen Union sowie mit der alternativen Orientierung islamischer GUS-Staaten hin zu neuen Formen regionaler Zusammenarbeit, z. B. unter türkischer Führung gegeben. Aufgrund der Interessenlage dieser GUS-Staaten läßt sich wahrscheinlich sagen: Je expansiver sich die russische Politik gegenüber diesem Raum entwickeln sollte, desto mehr dürfte sie am Ende in der eigenen Nachbarschaft ein kontraproduktives Interesse an alternativer Orientierung stimulieren.
Das für die derzeitige Entwicklungsphase zwar noch gültige Gegenargument, wonach die islamische Option sowie die Option regionaler Umorientierung hin zur Türkei bzw. zum Iran entgegen manchen Expertenprognosen für diese Staaten bislang keine wesentliche Rolle gespielt haben, unterschlägt die kulturellen und nationalen Triebkräfte der zukünftigen Entwicklung Für die Russische Föderation würde eine auch aufgrund der jeweiligen nationalen, religiösen und kulturellen Identitätssuche längerfristig nicht auszuschließende Umorientierung des zentralasiatischen und kaukasischen Potentials, zusammen mit der Osterweiterung der Europäischen Union und möglicherweise der NATO, eine in jeder Hinsicht neuartige geopolitische Ausgangslage schaffen. Unter Berücksichtigung dieser längerfristig nicht auszuschließenden Entwicklung wird die russische Doppelstrategie einer deutlichen Stärkung der GUS und einer vehementen Ablehnung der NATO-Erweiterung um so verständlicher.
Noch ist dies unsichere Zukunft. Gegenwärtig bestehen für die GUS-Staaten keine substantiellen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Alternativen gegenüber einer engen Zusammenarbeit mit Rußland. Neben beschränkten Aktivitäten der Türkei vor allem in Aserbaidschan bzw.des Iran in Turkmenistan hält sich auch China in der Region noch weitgehend zurück. Westliche Angebote, z. B. die bilateralen Partnership-for-Peace-Vereinbarungen mit der NATO oder die Kooperationsverträge mit der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, warten auf eine substantiellere Ausfüllung. Dies hat oberste Priorität, soweit westliche Politik tatsächlich mitwirken kann, und zwar unter gleichzeitiger Intensivierung partnerschaftlicher Beziehungen mit Rußland in allen Bereichen, d. h. einschließlich der Entfaltung eines gemeinsamen Sicherheitsraums. Hingegen kann eine sich lediglich gegen das russische Eindringen in den GUS-Raum wendende Kritik keine hinreichend glaubwürdige Alternative für diese Staaten bieten.
Und schließlich: Mit Blick auf die von Huntington unterstellten entscheidenden kulturellen Ursachen zukünftiger Konflikte zwischen den Zivilisationen sollten die Chancen und Notwendigkeiten einer derartigen konstruktiven Doppelstrategie ernst genommen werden. Ein marktwirtschaftliches, demokratisches und gegenüber den Nachbarregionen an die KSZE-Verpflichtungen gebundenes Rußland wäre der entscheidende Anker und Stimulator auch für einen in den kleineren GUS-Staaten, bis auf Armenien und teilweise Kirgistan, noch nicht recht vorangekommenen Systemwechsel. Ohne eine Transformation der dort überwiegend bestehenden „Entwicklungsdiktaturen“ wären negative Rückwirkungen auf den Reformprozeß in der Russischen Föderation wahrscheinlich unvermeidlich. Dann hätte die zu Beginn zitierte Leitvorstellung einer kooperativen Staatengemeinschaft zwischen Vancouver und Wladiwostok im 21. Jahrhundert keine Realisierungschance.