Rußland befindet sich gegenwärtig in einer tiefgreifenden Krise: Zum einen erlauben es die Verhältnisse in Rußland nicht, eine liberale Demokratie -im westlichen Sinne -und ein funktionierendes System freier Marktwirtschaft fest zu verankern. Zum anderen kennzeichnet die russische Politik ein imperiales Streben, das darauf zielt, die frühere Großmachtstellung -auf gleicher Ebene mit den USA -wiederzuerlangen. Für die politische Elite Rußlands hat die Restauration eines starken Staates im Innern und nach außen Vorrang. Die dramatische Verschlechterung der Wirtschaftslage in den letzten vier Jahren konnte zwar noch nicht gestoppt werden. Es gibt jedoch Anzeichen, daß eine konkrete Verbesserung und eine Umkehr des Trends gegen Ende des Jahres 1996 gelingen könnte. Die am 12. Dezember 1993 von der Bevölkerung mit knapper Mehrheit angenommene neue Verfassung Rußlands hat zur Stabilisierung des Landes beigetragen, weist dem Präsidenten jedoch im Vergleich zum Parlament eine außerordentlich starke Position zu. Bei den gleichzeitigen Parlamentswahlen erhielten die Kommunisten und die Nationalisten deutlich mehr Sitze als die Reformkräfte, auf die sich Präsident Jelzin zunächst stützte. Die für den 17. Dezember 1995 vorgesehenen Neuwahlen dürften die Machtverhältnisse im Parlament weiter zugunsten der Kommunisten und Nationalisten verschieben. Nach anfänglich prowestlicher Haltung und Politik hat sich inzwischen die Tendenz zu nationaler Eigenständigkeit in Rußland durchgesetzt. Auf vielerlei Weise versucht die politische Führung Rußlands, ihren Großmachtanspruch gegenüber den aus dem Zerfall des Sowjetimperiums hervorgegangenen unabhängigen' Republiken zur Geltung zu bringen. Dabei sind bereits bemerkenswerte Erfolge erzielt worden. Mit einer baldigen Verbesserung der Wirtschaftslage wird das wiedererstarke Selbstbewußtsein des Landes zusätzliche Impulse erhalten und jene politischen Kräfte weiter an den Rand drängen, die für die Anlehnung an den Westen plädieren. Diese heute schon klar erkennbaren Tendenzen werden auch zu häufigeren Interessenkonflikten Rußlands mit den westlichen Demokratien führen.
Der brutale Militäreinsatz in Tschetschenien hat wie kaum ein anderes Ereignis dieses Jahres eine intensive Debatte über die Frage ausgelöst, welchen Kurs die Entwicklung Rußlands nehmen könnte. Wer versucht, dieser Frage nachzugehen, wird aber häufig auf Skepsis stoßen, vor allem weil der nicht vorhergesagte Zusammenbruch des Sowjetimperiums zur Vorsicht mahnt und jede Prognose vor dem Hintergrund dieser noch nachwirkenden Erfahrung als anmaßend betrachtet werden könnte.
Der künftigen Entwicklung Rußlands kommt jedoch nicht nur für die regionalen Machtstrukturen in Europa, sondern auch für die Welt insgesamt eine so große Bedeutung zu, daß wir uns bei der Suche nach einer konkreten Antwort auf diese Frage nicht von Skepsis entmutigen lassen dürfen. Ebensowenig sollten wir uns von den idealistischen Vorstellungen leiten lassen, denen viele westliche Politiker, Publizisten und Wissenschaftler nach dem Zerfall des Sowjetimperiums zuneigten. So mochte es auf eher vorsichtig analysierende Beobachter der internationalen Politik befremdlich wirken, wenn die westliche Führungsmacht, die ihre Politik gegenüber der Sowjetunion jahrzehntelang am „Worst-Case“ -Denken orientierte, ihr Verhalten gelegentlich auf „Best-Case“ -Annahmen gründete und hochrangige Vertreter der Clinton-Administration noch lange Zeit die schnelle Umgestaltung Rußlands zu einer -im westlichen Sinne -demokratischen Ordnung mit einer funktionierenden freien Marktwirtschaft erwarteten
Bei der kritischen Betrachtung des epochalen Um-bruchs sollte die Tatsache, daß sich die Voraussagen über die Entwicklung der Sowjetunion so deutlich von der dann eintretenden Wirklichkeit unterschieden, nicht überbewertet werden. Immerhin war der Zerfall des Sowjetimperiums nicht zwingend. Die Art und Weise des Zusammenbruchs lag durchaus nicht allein in den objektiven Schwächen des sozialistischen Systems begründet. Dieses epochale Geschehen wäre ohne die eklatanten Fehleinschätzungen seitens der damaligen sowjetischen Staatsführung nicht möglich gewesen. Es konnte wohl niemand damit rechnen, daß Michail Gorbatschow zahlreiche Entscheidungen treffen würde, welche die Situation des Imperiums schließlich unhaltbar machten und die vertrauten Machtverhältnisse im internationalen System so grundlegend veränderten
Das in vielerlei Hinsicht überraschende und gelegentlich unprofessionelle Verhalten des letzten sowjetischen Staatspräsidenten mag einige Historiker sogar dazu verleiten, im Hinblick auf den Zusammenbruch der Sowjetunion die , Rolle des Zufalls in der Geschichte zu betonen, wenn sie die dramatischen Veränderungen im internationalen System der späten achtziger und frühen neunziger Jahre zu erklären suchen. Wie auch immer die Geschehnisse um den Zerfall des Sowjetimperiums gedeutet werden mögen, so wäre es in keinem Fall klug, unsere eigene Politik gegenüber Rußland auf die Annahme zu gründen, daß sich die politischen und strategischen Fehleinschätzungen, welche die Ära Gorbatschow kennzeichneten, fortsetzen werden und daß in den vergangenen vier Jahren ein jahrhundertelang gültiges Verhaltensmuster russischer Politik überwunden worden sei Die Vorgänge während des Zerfallsprozesses, die aktuellen Ereignisse in Rußland und nicht zuletzt die historische Erfahrung weisen vielmehr in eine andere Richtung.
I. Rußland in der Krise
Eine realistische Betrachtung der derzeitigen Situation in Rußland und der Perspektiven seiner Entwicklung gibt uns mannigfachen Anlaß zur Sorge. Rußland befindet sich gegenwärtig in einer tiefgreifenden Krise: Zum einen erlauben es die gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland nicht, eine westlich geprägte liberale und rechtsstaatliche Demokratie mit einem nach westlichen Maßstäben funktionierenden System freier Marktwirtschaft fest zu verankern. Zum anderen kennzeichnet die russische Politik in zunehmendem Maße ein imperiales Streben, das die »Verluste der Ära Gorbatschow wieder rückgängig zu machen sucht.
Was nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland so schnell gelang, nämlich eine von westlichen, vor allem amerikanischen Lebensweisen geprägte »Penetrated Society zu schaffen, läßt sich nicht einfach auf Rußland übertragen. Dies liegt nicht allein daran, daß man in Rußland nicht an frühere gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse anknüpfen konnte. Anders als in Deutschland fehlt in der russischen Gesellschaft vieles von dem, was zur Effizienz, zur Liberalität, zum Erfolg freier Marktwirtschaft und damit zum Gesamterfolg westlicher politischer Systeme beigetragen hat. Dies reicht von der Bereitschaft der Menschen zur Verantwortung, zur Übernahme von Pflichten, zur Beachtung von Gesetzen und einfachen Regeln des Zusammenlebens, der gegenseitigen Rücksichtnahme und der Zuverlässigkeit bis zur Bejahung einer gewissen Arbeitsethik.
Diese charakteristischen Eigenschaften und Regeln sind in westlichen politischen Systemen in Jahrhunderten gewachsen und tradiert worden. Die enorme Bedeutung solcher einfacher Voraussetzungen für den Erfolg der westlichen Demokratien und für die Lebensqualität des einzelnen wird uns meist erst bewußt, wenn sie -wie in Deutschland seit Ende der sechziger Jahre und vor allem in jüngster Zeit -von Minderheiten in Frage gestellt werden und dann teilweise verlorengehen. Während jedoch unser eigenes politisches System die notwendigen Korrektive noch bereithält, um die wichtigen Regeln des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens, d. h. die politische Kultur im weitesten Sinne, erneut zu festigen und auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts zuzuschneiden, befindet sich Rußland in einer tiefgreifenden Umbruchsituation, die eine Lösung im westlichen Sinne kaum zulassen wird. Die erforderlichen Lebens-und Ordnungsvorstellungen lassen sich nicht einfach in einem Land implantieren, das durch andere Maßstäbe und Denkweisen geprägt ist. Selbst unter günstigeren wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen blieben die mangelnden Einstellungen, Verhaltensweisen und Gewohnheiten der Bevölkerung Rußlands ein wesentliches Hindernis für schnellen Wandel im Sinne der westlichen Demokratien. Hinzu kommt, daß die nunmehr vierjährigen Reformbemühungen der russischen Regierung vor dem Hintergrund einer von Anfang an prekären und sich rapide verschlechternden Wirtschaftslage stattfinden. Die wesentlichen Gründe für den katastrophalen Niedergang der Wirtschaft Rußlands reichen weit in die Sowjetherrschaft zurück und liegen einerseits darin, daß Gorbatschows Politik die Produktionssphäre vernachlässigt und behindert hat. Andererseits erwies sich das Jelzin-Regime nach dem Zerfall des Sowjetimperiums den übernommenen wirtschaftlichen Problemen nicht gewachsen. Die Anfang 1992 eingeleitete Schocktherapie marktwirtschaftlicher Reformen und deren allmähliche Verwässerung bzw. Rücknahme machten die Lage zunächst nur noch schlimmer
Dem Jelzin-Regime gelang es nicht, eine konsequente Privatisierung durchzusetzen. Die Großindustrie wurde zwar umorganisiert, blieb jedoch überkommenen Zielen verhaftet. Die bereits 1991 angekündigte Konversion der Rüstungsbranche hat bisher nicht stattgefunden. Die Staatsbetriebe konnten ihre Macht nicht nur behaupten, sondern sogar wieder vergrößern. Zu ihrer wirtschaftlichen Macht kommt dank des Organisationstalents führender Direktoren, die sich in der , Union der Industriellen und Unternehmet zusammengeschlossen haben, eine beträchtliche politische Macht hinzu. Die Direktoren geben sich nach außen zwar stets verbindlich, vertreten jedoch ein Programm, das auf die weitgehende Wiederherstellung des früheren Systems hinausläuft Der dramatische Niedergang der Wirtschaft Rußlands läßt sich an vielen Indikatoren ablesen. Wegen ausbleibender Lieferungen an Rohstoffen oder anderen Materialien, wegen fehlender Energieversorgung oder Zahlungsunfähigkeit mußten viele staatliche Industrie-betriebe ihre Produktion zeitweise einstellen. So überrascht es nicht, daß die Industrieproduktion im Jahre 1992 um 22 Prozent, im Jahre 1993 um 16 Prozent, im Jahre 1994 um 21 Prozent gesunken ist und für 1995 ein weiterer Rückgang um zehn Prozent erwartet wird Nicht weniger beunruhigend sieht die Lage in der Landwirtschaft aus. Überdies hat die bereits 1991 einsetzende Geldentwertung gelegentlich Formen einer Hyperinflation angenommen. So lag die Inflationsrate im Jahre 1992 bei 450 Prozent, im Jahre 1993 bei 880 Prozent, im Jahre 1994 bei 320 Prozent und wird 1995 etwa 200 Prozent betragen Trotz der Bemühungen der russischen Regierung, die Inflation mit künstlichen Maßnahmen weniger schlimm erscheinen zu lassen und die Ausgaben zu begrenzen, konnte dieser Prozeß noch nicht gestoppt werden. Zu lange hat die Regierung eine verantwortungslose Ausgabenpolitik betrieben, die z. B. Militär-etats umfaßte, die angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage unangemessen erschienen, aber klar signalisierten, daß Rußland selbst in schwieriger Situation entschlossen blieb, starke Streitkräfte -einschließlich eines modernisierten nuklearen Arsenals -zu unterhalten, die sich an den militärischen Fähigkeiten der Supermacht USA orientieren Darüber hinaus sorgt die , Dollarisierung 1 der Wirtschaft dafür, daß es für den Rubel schwierig sein wird, seine Grundfunktionen als Zahlungsmittel wiederzugewinnen. Große Probleme bereitet auch die Gewohnheit, daß russische Banken und Unternehmen ihre Deviseneinlagen und -einkünfte vornehmlich im Ausland deponieren. Außerdem halten sich viele westliche Kapitalgeber und Unternehmer vor allem wegen der immer noch herrschenden Rechtsunsicherheit mit Investitionen zurück Der Widerstand ideologisch fixierter, gegen eine freie Marktwirtschaft westlichen Typs eingestellter einflußreicher Institutionen, wie z. B. die , Union der Industriellen und Unternehmer', die Verwässerung der ursprünglich ins Auge gefaßten Reformen und die weiterhin unsicheren politischen Verhältnisse in Rußland lassen überdies keine günstige Investitionsatmosphäre entstehen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß selbst das kleine Vietnam jährlich inzwischen mehr Investitionen anzieht als Rußland seit Beginn des Reformprozesses. Bei dem Versuch, den katastrophalen Niedergang der Wirtschaft aufzuhalten, war an eine rücksichtsvolle Behandlung der Umwelt und an eine ökologische Ausrichtung der Produktion nicht zu denken. Zur Beseitigung der von der Sowjetunion hinterlassenen und der täglich aufs neue hervorgerufenen ökologischen Schäden gigantischen Ausmaßes ebenso wie zur Vernichtung großer Mengen nuklearer und chemischer Waffen fehlen Rußland die technologischen Voraussetzungen und die finanziellen Mittel. Diese Probleme können derzeit nur mit westlicher Hilfe gelöst werden.
Für die Bevölkerung in Rußland war der katastrophale Niedergang der Wirtschaft mit einer beispiellosen Verarmung und Verelendung verbunden. Doch anders als zur Zeit der Sowjetunion, als die Armut der Bevölkerung noch nicht so schlimme Ausmaße erreicht hatte und relativ gleichmäßig verteilt war, verschärfen sich die sozialen Gegensätze seit mehr als vier Jahren in dramatischer Weise. So überrascht es nicht, daß die Zahl derer recht groß ist und weiter zunimmt, die alle Maßnahmen der russischen Regierung am inzwischen mythologisierten , Wohlstand’ der Breschnew-Ära messen und den katastrophalen Niedergang mit seinen schlimmen Auswirkungen als Ergebnis der Politik Gorbatschows und Jelzins begreifen. Folgerichtig mischen sich in die Kritik immer stärkere antiwestliche Untertöne
Wie u. a. die Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 12. Dezember 1993 und die innenpolitischen Debatten zeigen, finden die Befürworter der Staatswirtschaft bei den leidenden und erniedrigten Menschen immer mehr mit ihrer These Zustimmung, Rußland müsse eine große Industrie haben, die sich nicht unbedingt an der freien Marktwirtschaft westlichen Typs ausrichtet. Die Tendenz, marode Großbetriebe unter allen Umständen zu erhalten und wirtschaftliche Machtinstrumente zur Stärkung russischen Einflusses auf die politischen Entwicklungen in den früher zur Sowjetunion gehörenden Republiken und nun , unabhängigen Staaten zu nutzen, hat seit dem Ausscheiden der sogenannten , Radikalreformer Jegor Gaidar und Boris Fjodorow aus der russischen Regierung erheblich zugenommen.
Inzwischen hat sich in Rußland eine bemerkenswerte Machtverschiebung von den pro-westlichen Reformern zu den an russischer Eigenständigkeit und Macht orientierten Kräften vollzogen. Die Direktoren der Großbetriebe und die eher antiwestlich eingestellten Gruppen im Parlament geben mittlerweile den Ton an. Dies zeigt sich u. a. in den Zugeständnissen hinsichtlich der Besetzung wichtiger Regierungsämter und in der immer nachhaltiger verfolgten Politik der russischen Regierung, das in der Rüstungsindustrie konzentrierte Potential zu bewahren und an die Waffenexport-politik früherer Jahre wieder anzuknüpfen. Ihr unterliegt nicht allein das Motiv, Arbeitsplätze zu erhalten und Devisen zu erwirtschaften. Sie wird vielmehr -ähnlich wie in Zeiten des Sowjetimpe-riums als Instrument globaler Machtpolitik verstanden
Das von den führenden westlichen Industrieländern unterstützte und von Präsident Jelzin eingeleitete marktwirtschaftliche Experiment hatte in der ursprünglich beabsichtigten Form schon angesichts des Fehlens der dafür erforderlichen politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen wenig Chancen, verwirklicht zu werden. Der massive Widerstand mächtiger gesellschaftlicher Gruppen, die rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und die Enttäuschung der Bevölkerung über die Ergebnisse der , Reformen'dürften die einst ins Auge gefaßte Umwandlung Rußlands in ein westliches System wohl endgültig scheitern lassen. Charakteristisch für die derzeitige Situation ist die Polarisierung der Gesellschaft in die alle Hauptschichten der Bevölkerung umfassende und beständig weiter verarmende große Mehrheit einerseits und in eine kleine Gruppe von Profiteuren andererseits. Eine Mittelschicht, die in westlichen politischen Systemen eine so bedeutende, mäßigende Rolle spielt, konnte sich unter den gegebenen Umständen nicht entwickeln. Statt dessen bilden die mit der katastrophalen Wirtschaftslage verknüpften sozialen Probleme einen idealen Nährboden für faschistische und kommunistische Parteien, die sich mit allen Mitteln bemühen, ihren Einfluß zu vergrößern.
Der Zerfall des Sowjetimperiums und die katastrophale Entwicklung der Wirtschaft Rußlands haben auch zum Niedergang der Streitkräfte geführt. Sie mußten nicht nur die von Gorbatschow verfügten gewaltigen Rückzüge aus anderen Ländern verkraften, die mangels ausreichender Vorbereitung chaotische und deprimierende Verhältnisse bewirkten und vor allem von den Offizieren als bleibende Schmach empfunden werden. Die nach dem Zerfall des Imperiums mit Erlaß Präsident Jelzins am 7. Mai 1992 neu gegründeten russischen Streitkräfte, die damals ca. 2, 7 Millionen Mann umfaßten, mußten überdies innerhalb von drei Jahren eine weitere Reduzierung um 1, 2 Millionen Mann hinnehmen und ein gewaltiges Arsenal an Waffensystemen aufgeben. Angesichts der enormen Einschränkungen, denen die Streitkräfte im Gegensatz zu der nicht lange zurückliegenden Sowjetepoche unterworfen sind und vor dem Hintergrund des deutlichen Verlustes an Professionalität überrascht es nicht, daß die Moral der Truppe außerordentlich niedrig ist und es den Soldaten in hohem Maße an begründbarer Orientierung fehlt Überdies haben die Offiziere im Zuge der mit Gorbatschows »Perestroika 4 einsetzenden epochalen Veränderungen ihre einst privilegierte Stellung verloren. Auch materiell gehören die Offiziere und Soldaten zu den sozialen Absteigern. Die teilweise erniedrigenden Lebensbedingungen vieler Soldatenfamilien und die Umstände des sozialen Abstiegs haben wesentlich dazu beigetragen, daß die Streitkräfte in immer stärkerem Maße jene politischen Gruppen unterstützen, die sich den »nationalen Interessen 4 Rußlands und der Restauration früherer Machtverhältnisse im Innern wie nach außen verschrieben haben
Parallel zu dem Verlauf der wirtschaftlichen Umgestaltung zeigen die politischen Auseinandersetzungen in Rußland seit dem Zerfall der Sowjetunion, daß es bisher nicht gelang, effektive, allseits beachtete politische und verfassungsmäßige Institutionen zu errichten, die eine hinreichende Grundlage für einen demokratischen Rechtsstaat bieten könnten. Zwar hat die Bevölkerung Rußlands am 12. Dezember 1993 mit knapper Mehrheit der neuen Verfassung zugestimmt, die dem Präsidenten eine außerordentlich starke Position zuweist. Dennoch hat sich der derzeitige Amtsinhaber, Boris Jelzin, nicht immer mit seinem ohnehin schon großen Handlungsspielraum begnügt und gelegentlich Maßnahmen ergriffen, welche die Verfassung verletzten. Überdies löste er die wichtigsten Ministerien aus der Regierung heraus und unterstellte sie seiner direkten Weisung. Jelzin schuf sich damit eine eigene Präsidialexekutive und entwickelte den bereits 1992 eingerichteten Sicherheitsrat zu einem machtvollen, mit dem sowjetischen Politbüro vergleichbaren Gremium, in dem alle wichtigen politischen Entscheidungen getroffen werden.
Die neue Verfassung trug gleichwohl dazu bei, den Staat mit seinen zahlreichen Regionen zusammenzuhalten, doch belegen die Ergebnisse der gleichzeitigen Parlamentswahlen und die niedrige Wahlbeteiligung, daß es die , Reformkräfte nicht vermochten, der russischen Bevölkerung eine zustimmungsfähige Vision eines völlig andersartigen politischen Systems zu vermitteln, als sie es bis dahin kannten Die Zusammensetzung der Duma zeigt vielmehr, daß die faschistischen, nationalistischen und kommunistischen Kräfte eine breite Mehrheit haben und diese auch zu nutzen wissen, wenngleich ihnen die geringe Reichweite ihrer Rechte und die mangelnde Professionalität gewisse Grenzen setzen. Dennoch weisen die bisherigen Debatten und Abstimmungsergebnisse darauf hin, daß die Duma dem Präsidenten und seiner Regierung erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann. Dabei wiegt um so schwerer, daß die Zusammensetzung des Parlaments im Gegensatz zu dem aus der Sowjetunion übernommenen Obersten Sowjet durch freie Wahlen bestimmt worden ist.
Nur in geringem Maße wird die politische Ausrichtung der Duma durch die zweite Kammer, den Föderationsrat, der die föderative Gliederung Rußlands repräsentiert, ausgeglichen. Die Tatsache, daß Wladimir Schumejko, ein Jelzin-Vertrauter, nur mit knapper Mehrheit zum Präsidenten dieser zweiten Kammer gewählt wurde, wies schon frühzeitig daraufhin, daß die Machtverhältnisse dort nur wenig günstiger sind und der Föderationsrat lediglich eine begrenzte , Filterfunktion'gegenüber der Duma wahrnehmen kann. Die nach dem 12. Dezember 1993 folgende politische Entwicklung hat immer wieder deutlich werden lassen, daß die Mehrheit in der Duma -nun durch freie Wahlen legitimiert -als permanentes öffentliches Forum der Kommunisten, Nationalisten und Faschisten wirkt. Diese Entwicklung ist durchaus kein Zufall Der weitgehend dem Jelzin-Regime und den pro-westlichen , Reformern 4 zugeschriebene Niedergang Rußlands mit seinen katastrophalen Folgen für die Bevölkerung erleichtert es den an paranoiden Feindbildern festhaltenden Kommunisten, Nationalisten und Faschisten, bei den Menschen zunehmend Anklang zu finden. Sie sind stärker in der russischen Gesellschaft verankert und zudem besser motiviert und organisiert als jene Kräfte, die sich für weitergehende Reformen engagieren. Die Tradierung früherer Machtstrukturen kommt vor allem den Kommunisten und Nationalisten zugute. Insbesondere in den Streitkräften, im Sicherheitsapparat und bei den Beschäftigten der Großbetriebe finden diese Gruppen großen Widerhall.
Die abnehmende Bereitschaft Rußlands, das politische System nach westlichen Maßstäben völlig umzugestalten, ist mit dem zweiten wichtigen Element der Krise, der Renaissance russischer Großmachtpolitik, eng verbunden. Wer mit Blick auf das heutige Rußland nach den Hintergründen für das politische Geschehen seit Ende 1991 sowie nach der künftigen politischen Ordnung und möglichen Entwicklung dieses großen Landes fragt, wird auch bedenken müssen, daß Rußland im Zuge des Zerfalls des Sowjetimperiums seine Identität verloren hat. Die dramatischen Veränderungen während des Zerfallsprozesses haben das Territorium Rußlands in einer Weise zusammenschrumpfen lassen, daß es etwa dem des Moskauer Reiches um die Mitte des 17. Jahrhunderts entspricht.
Diese Verluste werden nicht nur von den russischen Kommunisten, Nationalisten und Faschisten beklagt. Während vor allem den Kommunisten ohnehin ein nostalgisches Verhältnis zum früheren Sowjetimperium eigen ist, gehört die Wiederherstellung der imperialen Macht Rußlands ebenso zu den vorrangigen Zielen Jelzins und der russischen Regierung. Auch von der großen Mehrheit der russischen Jntelligencija 4 wird dem imperialen Streben immer stärker Ausdruck verliehen Dieses politische Denken der Russen reicht zu den populären Ursprüngen des traditionellen, von der orthodoxen Kirche gestützten russischen Nationalismus mit dem damit verknüpften Sendungsbewußtsein zurück. Wie stark auch Präsident Jelzin und die russische Regierung in diesem imperialen Denken verwurzelt sind, zeigen u. a. die schnelle und konsequente Übernahme von Funktionen und Institutionen der früheren Sowjetunion durch Rußland, die Weigerung Moskaus, die 1945 besetzten südlichen Kurilen an Japan zurückzugeben, die russische Politik gegenüber dem sogenannten , nahen Ausland* und das russische Verhalten im aktuellen Balkan-Konflikt. Immer offener sucht Rußland seine imperialen Interessen durchzusetzen, indem es regionale Konflikte zunächst schürt und dann einen Anspruch als alleinige Ordnungsmacht herleitet. In jeweils spezifischer Weise wird dies -auch mit militärischen Mitteln -besonders anschaulich im Kaukasus und in Tadschikistan demonstriert Mit welcher Härte und Konsequenz die russische Regierung ihre Interessen verfolgt, belegt das militärische Vorgehen in Tschetschenien und die mehrfach wiederholte Drohung, den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) vom 19. November 1990 zu brechen, falls dem Verlangen nach Revision zugunsten Rußlands von westlicher Seite nicht stattgegeben wird Bei den geforderten Korrekturen geht es Rußland darum, die lästigen Bindungen im Hinblick auf die Dislozierung seiner Streitkräfte vor allem an der Südflanke loszuwerden und nachträglich die am l. Juni 1995 bereits erfolgte Aufstellung der 58. Armee im Kaukasus sanktioniert zu bekommen. Angesichts der inzwischen sichtbaren westlichen Nachgiebigkeit in dieser Frage dürfte Rußland wohl bald einen weiteren Erfolg seiner machtbewußten Außenpolitik verbuchen können, der es erheblich erleichtern wird, die strategisch wichtige Kaukasus-Region zu beherrschen.
Auch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wird von Rußland als ein Instrument verstanden, um den Weg zu früherer imperialer Macht zu ebnen. Immerhin sind im Rahmen der von Moskau angestrebten Re-Integration der ehemaligen Sowjetrepubliken und trotz gravierender Schwächen beachtliche Verbände der russischen Streitkräfte außerhalb des Territoriums Rußlands stationiert. So befinden sich russische Truppen in Kasachstan, Weißrußland, Armenien, Turkmenistan, Moldova, Kyrgystan, Tadschikistan, Georgien und -mit der Schwarzmeerflotte -auch in der Ukraine. Dabei kommt es der russischen Regierung sehr entgegen, daß sich die meisten früheren Sowjetrepubliken nicht aus ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von Rußland lösen konnten oder sogar -wie z. B. Weißrußland -den Anschluß an Rußland suchen. Wenngleich der Wiederherstellung des Imperiums auf diesem Wege viele Hindernisse entgegenstehen, läßt sich bereits heute ein . innerer Kern'aus Rußland, Weißrußland und Kasachstan ausmachen, der eine Re-Integration auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet forciert und auch schon beträchtliche Fortschritte erzielt hat. Die häufigen regierungsamtlichen Aussagen, insbesondere von Außenminister Kosyrew und Verteidigungsminister Gratschow, zur Unterstreichung der imperialen Ansprüche Rußlands gegenüber den nunmehr unabhängigen Staaten, die aus der früheren Sowjetunion hervorgegangen sind -wie z. B. die Ukraine und die drei baltischen Republiken -, machen einmal mehr deutlich, daß im Zusammenhang mit dem Zerfall des Sowjetimperiums nicht das . Ende der Geschichte'gekommen ist. Die Rückbesinnung auf die Geschichte bestimmt vielmehr die Entwicklung Rußlands So rührt die Konfliktträchtigkeit der Beziehungen zwischen Rußland und der Ukraine oder den baltischen Staaten auch daher, daß sich die meisten Russen eine eigenständige Ukraine oder ein von Rußland völlig unabhängiges Baltikum im Grunde nicht vorstellen können. Es gehört heute zu den bemerkenswertesten Tatbeständen, daß die Mehrheit der politischen Elite in Rußland das Ende des Imperiums nicht akzeptiert und den Zerfall des Reiches als historisches Unglück betrachtet, das rückgängig gemacht werden müsse.
Eine gewisse Nähe dieses grundlegenden Denkens der politischen Elite in Rußland zur Politik der , Sammlung der russischen Erde'im 14. Jahrhundert unter Iwan I. Kalita läßt sich nicht leugnen. Im militärischen Bereich hat diese charakteristische Haltung sogar konkrete Ausprägungen erfahren. So ist die neue, von Präsident Jelzin am 2. November 1993 in Kraft gesetzte russische Militärdoktrin nicht auf ein , saturiertes'Rußland zugeschnitten, und die militärische Führung hat bisher nichts unternommen, ein System zur Verteidigung Rußlands in seinen heutigen Grenzen aufzubauen Einer der wesentlichen Gründe für dieses Verhalten liegt in der Auffassung der russischen Militärs, daß Rußland nur an den Grenzen des früheren Sowjetimperiums verteidigt werden könne. Dabei werden die Militärs nicht nur von der derzeitigen russischen Regierung unterstützt, die sich als Nachlaßverwalter der untergegangenen Sowjetunion sieht und ihren Einfluß auf das soge-nannte , nahe Ausland'verstärken will. Die Militärs wissen vielmehr die bestimmenden politischen Kräfte des Landes hinter sich, wenn auch auf die sem Wege der russische Großmachtanspruch geltend gemacht wird So bleibt festzuhalten, daß sich Rußland heute auf der Suche nach seiner Identität an den Grenzen, der Ausdehnung und der Macht eines Imperiums orientiert, das seit Ende 1991 nicht mehr existiert. Die Art und Weise, wie dies geschieht, läßt darauf schließen, daß die politische Elite des Landes den Schock, den der Zerfall der Sowjetunion ausgelöst hat, längst überwunden hat.
II. Aufstieg Rußlands zu neuer Macht?
Das bisherige Ergebnis des Neuaufbaus in Ruß-land wird politische Beobachter und Analytiker, die sich um eine realistische Sicht bemühen, im Grunde nicht überraschen. Bereits für die konkrete Ausprägung der Politik des Jelzin-Regimes während der vergangenen vier Jahre waren die Bedingungen des Zusammenbruchs des früheren Imperiums und die tiefe Verwurzelung der meisten Russen in den Traditionen des Landes sehr viel bedeutender als alle , neuen Ideen* und Einflüsse aus dem Westen Niemand sollte sich von dem derzeitigen äußeren Erscheinungsbild mancher westlich wirkender russischer Bürger -etwa den sogenannten . Businessmen* von dem heute beobachtbaren Verhalten der Jugend, von den Inhalten der Fernsehprogramme oder etwa von der Art der Werbung täuschen lassen. Eine tiefer gehende . Verwestlichung* bzw. . Amerikanisierung* ist der Gesellschaft Rußlands wesensfremd und wird -abgesehen von der Nutzung moderner Management-methoden -keinen dauerhaften Halt finden.
Die Labilität der . neuen Werte, die Verarmung der großen Masse der Bevölkerung, der Verfall der. Moral und der Verlust der unter Breschnew noch erzwungenen Disziplin, Ordnung und Sicherheit werden die Legitimation jedes Regimes aufzehren, wenn es nicht gelingt, diese negative Entwicklung zu stoppen. Es kommt in diesem Kontext nicht von ungefähr, daß sich in der politischen und intellektuellen Elite Rußlands inzwischen eine breite Strömung neuen Denkens herausgebildet hat, die auf verschiedene politische Parteien und Bewegungen übergreift Eine wichtige Triebkraft dieser Strömung ist die Furcht, zu einer Kolonie des Westens zu werden, wenn Rußland nicht zu jener Eigenständigkeit, Macht und Größe zurückfindet, die dieses Land, seine Politik und Kultur jahrhundertelang kennzeichneten. Russische machtpolitische Erwartungen beziehen sich dabei auf einen geographischen Raum, der dem früheren Imperium entspricht Die Rückbesinnung auf die . imperiale Würde*, auf Großmachtgedanken und auf die nationale Einheit und Eigenständigkeit Rußlands hat bereits ein ausgeprägtes neues Selbstbewußtsein entstehen lassen -auch im Hinblick darauf, daß die schmerzlich empfundene aktuelle Krise Rußlands überwunden werden kann. Alle Anzeichen deuten daraufhin, daß diese Denkweise immer mehr Anhänger gewinnen und die künftige Politik des Landes maßgeblich bestimmen wird. Die trotz der wirtschaftlichen Schwäche bereits erreichten Erfolge machtbewußter Außenpolitik dürften diese Tendenz noch verstärken.
Präsident Jelzin und die russische Regierung bestätigen fast täglich aufs neue, wie tief sie in . dieser klassischen russischen Denkweise verwurzelt sind. Einige Komponenten der russischen Außenpolitik, wie z. B. die regelmäßig vorgebrachten Machtansprüche und die zunehmenden wirtschaftlichen Pressionen gegenüber dem sogenannten , nahen Ausland*, die an traditionellen russischen Interessen orientierte Haltung im Balkan-Konflikt, der harte Widerstand gegen die Osterweiterung der NATO, das beharrliche Ringen um größeren Einfluß in Zentralasien und im Kaukasus und das bereits wieder deutlich erkennbare globale Engagement im Stile einer Supermacht fügen sich nahtlos in dieses Bild. Die verstärkte Kooperation mit der Volksrepublik China, die Wiederaufnahme der Unterstützung Kubas, das gegen den scharfen Protest der USA und Israels durchgesetzte Atomgeschäft mit dem Iran und die Forderung nach Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak zeigen an, in welche Richtung sich die russischen Interessen wenden. Im übrigen ist bemerkenswert, daß sich die politischen Entscheidungsträger Rußlands trotz des am 31. Mai 1995 erfolgten Beitritts zum NATO-Programm , Partnerschaft für Frieden'immer weniger bemühen, den oft markant anti-westlichen Kurs in der Außenpolitik zu verschleiern Auf die einst recht einflußreichen , Reformkräfte'wird kaum noch gehört. Zu sehr sind diese politischen Gruppen durch die erniedrigenden Begleitumstände der Veränderungen in Rußland und die aus der Sicht der machtorientierten Russen pro-westliche Haltung diskreditiert. Bei den Parlamentswahlen am 17. Dezember 1995 dürfte sich daher der Machtverlust der . Reformkräfte'erneut zeigen.
Auch bei der Wiederherstellung der wirtschaftlichen Grundlagen der Macht geht das Jelzin-Regime zunehmend eigene Wege. Das mittelfristige Wirtschaftsprogramm der Regierung sieht eine strikte Begrenzung des Staatshaushalts, eine diszipliniertere Finanzpolitik sowie eine stärker auf Konkurrenz angelegte Produktion vor. In der Tat erlaubt eine Analyse der jüngsten russischen Wirtschaftsdaten die Schlußfolgerung, daß sich der Niedergang der Wirtschaft Rußlands deutlich verlangsamt hat und daß es gelingen könnte, bereits Ende 1996 einen Wirtschaftsaufschwung einzuleiten Optimistische Schätzungen rechnen sogar mit einem geringen Wachstum der Industrieproduktion und einer wesentlichen Abnahme der Inflationsrate im Jahre 1996. Auch eine Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vom Sommer dieses Jahres bestätigt, daß für eine Stabilisierung der Wirtschaft Rußlands schon 1996 gute Aussichten bestehen
Vor diesem Hintergrund dürfte die russische Regierung wohl daran festhalten, ihre machtbewußte Außenpolitik fortzusetzen. Dabei verleiht die gelegentlich zu beobachtende Frustration über das Mißverhältnis zwischen den imperialen Zielen einerseits und den noch nicht ausreichenden Mitteln andererseits der russischen Politik eine zusätzliche Dynamik. In diesem Kontext weisen die in jüngster Zeit immer häufiger erhobenen Forderungen nach modeln ausgerüsteten Land-und Luftstreitkräften, einer starken Seemacht und einem großen Arsenal an nuklearen Waffen darauf hin, daß die Streitkräfte als Instrument russischen Machtstrebens erneut an Bedeutung gewinnen werden. Der Beschluß des russischen Parlaments vom 7. April 1995, die im Jahre 1993 verkürzte Wehrpflicht wieder von 18 auf 24 Monate bei den Land-und Luftstreitkräften und von 2 auf 3 Jahre bei der Marine zu erhöhen, liegt auf dieser Linie und fügt sich in die neuerdings ergriffenen Maßnahmen zur Reorganisation der russischen Militärmacht nahtlos ein. Darüber hinaus ist besonders bemerkenswert, daß die neue russische Militär-doktrin den nuklearen Waffen ein hohes Gewicht beimißt. Die politische und militärische Führung Rußlands folgt mit diesem Denken und Handeln der historischen Tradition, die Dominanz anderer Mächte oder Mächtegruppen nicht hinzunehmen, sondern den eigenen Großmachtanspruch -auf gleicher Ebene mit den USA -zu betonen
Die bereits heute sichtbar divergierenden Interessen zwischen Rußland und den westlichen Demokratien werden in der internationalen Politik bald noch deutlicher hervortreten und die Epoche , nach Jelzin'erst recht prägen. Schon Präsident Jelzin und die derzeitige russische Regierung haben immer häufiger erkennen lassen, daß sie die Rolle des Junior-Partners des Westens -mit allen daraus folgenden negativen Konsequenzen für die Eigenständigkeit und Identität der russischen Politik und Kultur -nicht akzeptieren. Diese Tendenz wird sich mit zunehmender Schärfe fortsetzen. Auch eine entgegenkommende westliche Politik wird daran nichts ändern können
III. Ausblick
Die vorherrschende Grundströmung im politischen Denken und Handeln der Russen weist daraufhin, daß die Vorstellung von einem machtpolitisch saturierten und nach westlichen Kriterien in jeder Hinsicht reformierbaren Rußland obsolet ist. Für die westlichen Demokratien birgt vor allem das russische Streben nach Wiederherstellung der imperialen Macht neue Herausforderungen und Risiken. Dies muß nicht zu einer neuen , Ost-West-Konfrontation'führen, doch werden sich die westlichen Demokratien auf häufige Interessen-konflikte mit Rußland einstellen müssen.
Angesichts der dramatischen Veränderungen im internationalen System und der eher idealistischen Perzeption dieser Veränderungen in den westlichen Gesellschaften dürfte es psychologisch schwierig werden, eine realitätsadäquate Politik gegenüber Rußland zu formulieren und durchzusetzen. Gleichwohl wird es notwendig sein, dem russischen Großmachtstreben Grenzen aufzuzeigen und beispielsweise jenen Staaten Schutz und Anlehnung an den Westen zu gewähren, die sich von Rußland bedroht fühlen und die eine Integration in westliche Gemeinschaften (EU und NATO) ausdrücklich wünschen. Dabei werden es sich die westlichen Demokratien nicht leisten können, mit ihrer Entscheidung über diese wichtigen Fragen lange zu warten. Es dürfte schließlich mit der wachsenden Macht Rußlands nicht leichter werden, die entsprechenden politischen Entscheidungen gegen die Interessen Rußlands zu fällen.
Die in ihren wesentlichen Konturen bereits sichtbar gewordene neue Situation sollte die Regierungen der westlichen Demokratien allerdings nicht davon abhalten, mit Rußland zusammenzuarbeiten und den sicherheitspolitischen Dialog weiterzuführen. Dabei wäre es zweckmäßig, Rußland konstruktiv in Europa einzubinden, ohne ihm zu erlauben, jene Staaten wieder zu beherrschen, die im Zuge des Zerfalls des Sowjetimperiums ihre Unabhängigkeit erlangt haben und diese Unabhängigkeit auch behalten wollen, ln dieser Frage werden sich die Regierungen der NATO-Staaten bald auf ein schlüssiges und den tatsächlichen politischen Tendenzen in Rußland angemessenes Konzept einigen müssen.
Walter Schilling, Dr. phil., geh. 1938; Studium der Politikwissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte und Slawistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 1973-1988 Referent im Bundesministerium der Verteidigung (Rüstungskontrolle und Militärstrategie) und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr (Internationale Beziehungen); 1988-1991 Militärattache in Moskau; seit 1993 freier Publizist. Zahlreiche Artikel und Buchbeiträge zu Themen der Sicherheitspolitik.
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